10

Zwei grundsätzlich verschiedene Dinge weckten Warstein: eine Frauenstimme, die eine atonale und trotzdem sonderbar wohlklingende Melodie summte, und ein ungleichmäßiges Schaukeln und Rütteln des Wagens. Noch bevor er die Augen öffnete, kam ein dritter Sinneseindruck hinzu: der intensive Geruch nach Kaffee.

Er identifizierte die Stimme als die Angelikas und die Melodie als die gleiche, die er sie schon einmal hatte summen hören. Etwas an dieser Erkenntnis war wichtig, aber er war noch zu träge, um sich der Anstrengung zu unterziehen, diesen Gedanken weiter zu verfolgen, und so beließ er es dabei, endlich die Augen zu öffnen und sich blinzelnd umzusehen.

Gelbes Zwielicht. Es war noch vor Sonnenaufgang, aber das mußte nicht bedeuten, daß es früh war. Auf dem kleinen Tischchen war ein einfaches Frühstück aufgetragen worden, und Angelika schenkte gerade Kaffee ein. Als sie registrierte, daß er wach war, hielt sie einen Moment inne und lächelte. »Gut«, sagte sie. »Das erspart mir die Mühe, dich zu wecken.«

»Das hast du bereits«, antwortete er. Auf ihren fragenden Blick hin fügte er hinzu: »Dein Lied.«

»Oh«, machte Angelika. »War es so schlimm?«

»Ganz im Gegenteil«, versicherte Warstein hastig. Er unterdrückte ein Gähnen, dann blickte er demonstrativ zum Fenster. Der Wagen schaukelte und bebte noch immer sacht. »Lohmann?« fragte er. Angelika nickte. Sie zog eine Grimasse. »Was tut er da?«

»Das siehst du dir am besten selbst an«, antwortete Angelika ausweichend. Sie seufzte. »Allmählich wird der Bursche mir unheimlich«, sagte sie. »Ich beginne mich zu fragen, ob er ein Genie ist - oder einfach nur bescheuert.«

»Vielleicht genial bescheuert?« schlug Warstein vor. Er lachte kurz. »Im Ernst - was treibt er da draußen?«

»Er frisiert unseren Wagen«, antwortete Angelika mit säuerlichem Gesichtsausdruck. »Wirklich, geh selbst hinaus und sieh es dir an. Und bei der Gelegenheit kannst du ihn gleich zum Frühstück rufen.«

Warstein wurde allmählich wirklich neugierig, aber Angelika wich seinem Blick nun so demonstrativ aus, daß er es vorzog, aufzustehen und zur Tür zu gehen, statt ihr noch eine Frage zu stellen, auf die er keine Antwort bekommen würde. Ein Schwall eiskalter Luft schlug ihm entgegen, als er das Fahrzeug verließ. Warstein blieb stehen, zog schaudernd die Schultern zusammen und atmete ein paarmal tief ein und aus, ehe er weiterging. Er spürte erst jetzt, wie verbraucht die Luft drinnen im Wagen gewesen war, verpestet von Zigarettenrauch und den Ausdünstungen dreier Körper, die die ganze Nacht hindurch darin eingepfercht gewesen waren. Allerdings auch warm. Er fror so heftig, daß er mit den Zähnen klapperte. »Lohmann?« rief er.

»Ich bin hier!« Lohmanns Stimme drang von der anderen Seite des Wagens an sein Ohr. Warstein machte sich frierend auf den Weg dorthin. Etwas stimmte nicht mit dem Wagen, aber er registrierte den Unterschied nur peripher, und er drang nicht wirklich in sein Bewußtsein.

»Na, endlich ausgeschlafen, Sie Murmeltier?« Lohmanns Stimme klang angesichts der frühen Stunde geradezu unverschämt fröhlich, fand Warstein. Er hantierte irgendwo vor ihm in der grauen Dämmerung herum und trug trotz der Kälte nur Jeans und Pullover.

»Nein, ich habe nicht ausgeschlafen«, knurrte Warstein. »Was zum Teufel tun -?«

Er brach ab. Seine Augen wurden groß, als sein Blick zum ersten Mal bewußt auf den Wagen fiel.

»Zufrieden?« Lohmann drehte sich zu ihm herum. Sein Gesicht und seine Hände waren voller schwarzer Sprenkel, und der Rest dieser Farbe befand sich auf dem Wagen.

»Was ... was wird denn das?« ächzte Warstein.

Der Van, der gestern abend noch weiß gewesen war, war jetzt fast schwarz. Lohmann hatte ihn angemalt.

»Jetzt sagen Sie bloß noch, daß es Ihnen nicht gefällt.« Lohmann gab sich alle Mühe, beleidigt zu klingen. »Ich habe mich wirklich angestrengt. Ein kleines Lob wäre gar nicht schlecht.«

Warstein starrte noch immer fassungslos den Wagen an. Er wußte nicht, ob er an seinem oder Lohmanns Verstand zweifeln sollte. »Das ... das ist...«

»Großartig, nicht?« grinste Lohmann.

»...vollkommen bescheuert!« beendete Warstein den Satz. »Sie bilden sich doch nicht wirklich ein, daß Sie damit durchkommen?«

»Den Preis für die schönste Lackierung werde ich nicht kriegen, ich weiß«, seufzte Lohmann. »Auf der linken Seite habe ich ein bißchen gekleckert, und an der hinteren Stoßstange sind ein paar Rotznasen. Aber sonst...« Lohmann zuckte, noch immer grinsend, die Schultern und wurde dann plötzlich ernst. »Ich weiß, daß es kein Kunstwerk ist, aber ich bin zufrieden.«

»Womit?«

»Mit meiner Idee«, antwortete Lohmann. »Immerhin habe ich etwas getan, während Sie und Ihre Freundin sich in Selbstmitleid geübt haben.«

»Darauf fällt doch nicht einmal ein Blinder herein!« protestierte Warstein. Seine Überraschung begann sich in Ärger umzuwandeln.

»Und warum nicht? Sie suchen einen weißen Ford mit Schweizer Kennzeichen, nicht wahr? Aber wir haben jetzt einen schwarzen Wagen mit italienischen Nummernschildern. Okay, näher als zwanzig Meter sollte man ihm nicht kommen, und ich bete zum Himmel, daß es innerhalb der nächsten beiden Stunden nicht regnet. Aber immerhin erkennen sie uns nicht schon auf ein paar Kilometer oder aus der Luft.«

»Woher stammen die Nummernschilder?« fragte Warstein mißtrauisch.

»Geklaut«, antwortete Lohmann fröhlich. »Genau wie die Farbe. Ich war vorhin unten im Dorf, zwei Kilometer von hier. Ein kleiner Spaziergang am frühen Morgen ist sehr gesund. Sollten Sie auch einmal probieren.«

»Und Sie denken, der Diebstahl fällt nicht auf?«

»Die Farbe bestimmt nicht«, behauptete Lohmann. »Franke wird kaum erfahren, daß jemand in eine Scheune eingebrochen ist - falls es überhaupt jemand merkt.«

»Er ist doch nicht blöd!« antwortete Warstein aufgebracht. »Wenn der Fahrer des Wagens merkt, daß seine Schilder weg sind, und es der Polizei meldet, dann zählen sie ganz schnell zwei und zwei zusammen.«

»Er merkt es aber nicht«, behauptete Lohmann fröhlich. »Wissen Sie, im Dorf standen zwei italienische Wagen. Ich habe ein bißchen Bäumchen-wechsle-dich mit den Nummernschildern gespielt.« Er deutete auf die Stoßstange des Van. »Der Fahrer dieses Wagens hat seine Nummernschilder noch. Oder zumindest die, die sein Landsmann jetzt vermißt.«

»Und Sie glauben, das merkt er nicht?«

»Sehen Sie sich jedesmal Ihre Nummernschilder an, ehe Sie losfahren? Außerdem gehört ein kleines bißchen Risiko dazu, wenn die Sache Spaß machen soll.« Er schürzte die Lippen. »Sie sind ein Miesmacher, Warstein, wissen Sie das? Ich verlange ja nicht, daß Sie mir die Füße küssen, aber ein wenig Anerkennung wird man doch wohl erwarten dürfen.«

»Was haben Sie mit der restlichen Farbe vor?« fragte Warstein. »Ich meine, vielleicht wäre es eine gute Idee, wenn Angelika und ich uns auch schwarz anmalen würden. Nach einem Weißen und zwei Negern suchen sie ganz bestimmt nicht.«

»Miesmacher«, antwortete Lohmann. Er klang noch immer geradezu unverschämt fröhlich, und der Umstand, daß es ihm ganz offensichtlich nicht gelang, ihn aus der Ruhe zu bringen, ärgerte Warstein noch mehr. Außerdem mußte er insgeheim zugeben, daß Lohmanns Vorhaben vielleicht doch nicht so verrückt war, wie es im ersten Moment den Anschein hatte. Sicher, der Wagen würde nicht einmal einem flüchtigen Blick aus der Nähe standhalten, geschweige denn einem kritischen. Aber er war nicht mehr das, wonach Frankes Leute Ausschau hielten.

»Das Frühstück ist fertig«, knurrte er. »Ich bin eigentlich nur gekommen, um Ihnen das mitzuteilen.«

»Fünf Minuten, okay?« Lohmann schwang schon wieder seinen Pinsel. »Ich mache das hier fertig. Die Farbe muß eine Stunde trocknen, ehe wir weiterfahren können. Laßt mir eine Tasse Kaffee übrig. Und beten Sie, daß es nicht zu regnen anfängt.«

Warstein hatte es plötzlich eilig, in den Wagen zurückzukommen - und nicht nur, weil er erbärmlich fror. Auch wenn es ihm nicht gelungen war, Lohmanns gute Laune zu erschüttern, so hatte er sich doch wie ein kompletter Idiot benommen. Aber darin, dachte er, hatte er ja hinlänglich Übung.

Angelika blickte ihm fragend entgegen, als er in den Wagen zurückkam und fröstelnd die Hände unter den Achselhöhlen verbarg. »Nun?«

»Kalt«, antwortete Warstein einsilbig.

»Das meine ich nicht. Lohmann. Was sagst du dazu?«

Warstein druckste einen Moment herum. Schließlich zuckte er die Achseln und setzte sich. »Keine Ahnung«, sagte er. »Die Idee ist so abgedreht, daß sie tatsächlich funktionieren könnte.«

»Wahrscheinlich helfen uns sowieso nur noch völlig verrückte Ideen weiter«, pflichtete ihm Angelika bei. Warstein konnte ihr nicht einmal widersprechen. Sie hatte recht. Franke würde jeden auch nur einigermaßen intelligenten Schachzug vorhersehen und entsprechende Gegenmaßnahmen einleiten. Wenn sie überhaupt eine Chance haben wollten, ihn zu übertölpeln, dann vermutlich nur mit etwas vollkommen Widersinnigem.

»Ich verstehe das alles nicht«, sagte Angelika plötzlich.

»Was?«

»Franke«, antwortete Angelika. »Wieso kann er das?«

»Er weiß mehr, als er zugibt«, vermutete Warstein. »Wahrscheinlich weiß er mittlerweile mehr über den Berg als ich.«

»Das meine ich nicht. Ich verstehe nicht, wieso er plötzlich über solchen Einfluß verfügt. Der Mann ist Wissenschaftler, und hier in der Schweiz noch dazu Ausländer! Du weißt, wie pingelig die Schweizer Behörden normalerweise sind, wenn es um ihre Belange geht. Und er schaltet und waltet plötzlich, als ... als gehöre ihm dieses Land! Er scheint über nahezu unbegrenzten Einfluß zu verfügen.«

Warstein schwieg. Natürlich hatte er sich diese Frage auch schon gestellt, und wenn er auch noch keine wirklich befriedigende Antwort gefunden hatte, so doch ein paar, die der Wahrheit zumindest nahekommen mochten. Das Problem war nur: keine davon gefiel ihm. Außerdem hatte er einfach keine Lust mehr, über Mutmaßungen zu diskutieren. Also sagte er gar nichts.

Leider gab Angelika nicht so schnell auf. Sie schenkte ihm einen Kaffee ein, entzündete eine Zigarette und begann den Rauch in kleinen rhythmischen Stößen durch die Nase auszuatmen. Warstein hustete demonstrativ - was Angelika ebenso demonstrativ überhörte - und überlegte einen Moment, sich auf die andere Seite des Tisches zu setzen. Aber er tat es nicht. Der Rauch wäre dann nur in die andere Richtung gezogen, das wußte er aus leidvoller Erfahrung.

»Trotzdem benimmt er sich wie der Hauptdarsteller in einem schlechten Agentenfilm.« Angelika spann den Faden weiter, während ihr Blick auf einen Punkt irgendwo über dem Armaturenbrett fixiert war. »Wenn er also ganz offenbar über solche Macht verfügt, dann kann das nur eines bedeuten - er hat Hilfe. Unterstützung von höchster Seite, wie man so schön sagt. Und das wiederum kann nur bedeuten, daß er in diesem Berg etwas ganz außergewöhnlich Wichtiges gefunden hat.«

»Oder Gefährliches«, sagte Lohmann von der Tür aus. Warstein spürte den eisigen Luftzug, den er mit hereinbrachte, noch ehe er aufsah und Lohmann erblickte. Gesicht und Hände des Journalisten waren gerötet, aber pieksauber. Außer der Kälte brachte er einen derart intensiven Geruch nach Nitroverdünnung mit, daß Warstein instinktiv die Luft anhielt und der Zigarette in Angelikas Hand einen erschrockenen Blick zuwarf, als er näherkam und sich zu ihnen an den Tisch setzte. Aber sie hatten noch einmal Glück. Lohmann fing nicht Feuer und sprengte sie alle in die Luft.

»Ich tippe eher darauf, daß das, was sich in diesem Berg verbirgt, ganz besonders gefährlich ist - oder Franke zumindest so tut, als wäre es das.« Lohmann schnüffelte hörbar, und Angelika beugte sich vor und stellte ihm wortlos eine Tasse hin. Er leerte sie in einem einzigen Zug, fuhr sich genießerisch mit der Zunge über die Lippen und warf der Kanne einen sehnsüchtigen Blick zu, den Angelika aber diesmal ignorierte, so daß er sich schließlich selbst bediente.

»Fertig?« fragte Warstein.

Lohmann trank sehr viel langsamer an seinem zweiten Kaffee und nickte. »Ja. Mit ein bißchen Glück können wir in einer Stunde weiterfahren. Sie müssen mir gleich noch helfen, draußen alle Spuren zu beseitigen.«

»Muß ich?« fragte Warstein. Der Ton, in dem er diese Frage stellte, fiel ihm selbst auf. Warum war er noch immer so feindselig Lohmann gegenüber? Doch es schien an diesem Morgen nichts zu geben, was die gute Laune des Journalisten beeinträchtigen konnte. Er grinste nur, angelte sich eine Zigarette aus Angelikas Packung und tat sein Bestes, um Warstein nun auch von der anderen Seite her einzunebeln. Er sah auf die Uhr und dann mit sichtlicher Ungeduld zu dem Telefon am Armaturenbrett.

»Er hat noch nicht angerufen«, sagte Warstein. Lohmann blickte ihn fragend an, so daß er nach einer Sekunde hinzufügte: »Franke.«

»Ach, das.« Irgendwie brachte Lohmann das Kunststück fertig, tatsächlich so zu tun, als wüßte er gar nicht, worüber Warstein sprach. »Nein, ich warte nicht darauf, daß unser Gönner und Beschützer anruft. Ich werde ein paar Telefonate erledigen. Und danach wird sich Ihr Freund wundern, wer sich plötzlich alles für ihn und seine Machenschaften interessiert.«

Warstein verzichtete darauf zu antworten. Möglicherweise unterschätzte er ja die Macht der Presse tatsächlich. Aber zum einen war Lohmann nicht die Presse, sondern allenfalls ein zweitklassiger Sensationsjournalist, und zum anderen unterschätzte Lohmann ganz offensichtlich den Einfluß, den Franke mittlerweile gewonnen hatte. Warstein bezweifelte insgeheim nicht einmal mehr, daß es auch in Frankes Macht stand, sie töten zu lassen, wenn er es für nötig erachtete. »Wie sieht es mit dem Benzin aus?« fragte er, im Grunde nur, um das Thema zu wechseln.

»Noch genug für ungefähr hundert Kilometer«, antwortete Lohmann. »Kein Problem. Selbst wenn wir einen Umweg machen und erst viel später wieder auf die Autobahn fahren. Unser Chauffeur war freundlich genug, uns auch einen kompletten Kartensatz dazulassen. Wir kommen an einem Dutzend Ortschaften vorbei, die groß genug für eine Tankstelle sind.«

»Sie kennen die Schweiz nicht«, seufzte Warstein. »Außerdem braucht man Geld, um zu tanken. Haben Sie welches - oder wollen Sie es bei passender Gelegenheit stehlen?«

Lohmann überging die Spitze. »Wir haben mehr als genug«, antwortete er. »Angelika und ich haben Kassensturz gemacht, während Sie geschlafen haben.« Er kramte seine Brieftasche hervor. »Meine Kreditkarte ist zwar gesperrt, aber ich habe noch vier Euroschecks - und Angelika hat sogar sechs. Sobald wir an einem Postamt oder einer Bank vorbeikommen, sind wir wieder flüssig.«

Er klappte seine Brieftasche auf, aber nicht, um Warstein die Schecks zu präsentieren, sondern ein einzelnes Blatt hervorzunehmen. Es war die Zeichnung, die Warstein am vergangenen Abend angefertigt hatte. Aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht wußte, war ihm der Anblick so unangenehm, daß er Lohmann das Blatt am liebsten weggenommen und es zerknüllt hätte.

»Das ist sehr hübsch«, sagte Lohmann, auf eine Art, die sich ehrlich anhörte. »Ich wußte gar nicht, daß Sie so gut zeichnen können.«

»Es gibt eine Menge über mich, was sie nicht wissen«, knurrte Warstein.

»Warum haben Sie es gezeichnet?«

»Warum nicht?« Warstein war plötzlich nervös. Der Anblick der Zeichnung beunruhigte ihn. Er zuckte unwillig mit den Schultern. »Es gibt keinen Grund. Nur so.«

»Nur so ist keine Antwort«, sagte Lohmann. Aber er beließ es dabei und packte das Blatt wieder weg. Erneut sah er auf die Uhr. »Wir haben noch eine gute halbe Stunde. Wie wäre es, wenn wir sie uns damit vertreiben, daß Sie uns auch den Rest der Geschichte erzählen?«

»Sie kennen ihn«, erwiderte Warstein. Er sah nicht hin, aber er spürte, daß auch Angelika sich umgewandt hatte und ihn anstarrte. Plötzlich hatte er das Gefühl, Objekt einer kleinen Verschwörung zu sein. Offensichtlich hatten die beiden mehr als nur Kassensturz gemacht, während er geschlafen hatte.

»Die offizielle Version, ja«, nickte Lohmann. »Aber mich interessiert, was wirklich passiert ist. Es war kein Unfall, nicht wahr?«

»Nein«, antwortete Warstein widerwillig. »Aber es ist...« Er druckste einen Moment herum. »Sie werden mich für verrückt halten, wenn ich es erzähle.«

»Das tue ich sowieso«, antwortete Lohmann grinsend. Aber es war kein echtes Lächeln. In seinem Blick war etwas Lauerndes, von dem Warstein das Gefühl hatte, daß es gar nicht ihm galt. »Die Frage ist nur, ob ich mich auch für verrückt halte, mit euch beiden hier zu sein, oder nicht. Also?«

Er sprach es nicht aus, aber Warstein hörte ganz deutlich das, was er in Gedanken hinzufügte: Außerdem bist du es mir verdammt noch mal schuldig, mir reinen Wein einzuschenken. Immerhin riskiere ich Kopf und Kragen für dich. Vermutlich hatte er recht damit. Und warum auch nicht? Es wurde allmählich Zeit, ihm - und auch Angelika - zu erzählen, worauf sie sich eingelassen hatten.

»Ich schwöre Ihnen, er war tot!« Die Stimme des jungen Streifenbeamten klang ganz so, wie sein Gesicht aussah - müde und erschöpft, mit einem immer stärker werdenden Anteil von Hysterie. Er war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren oder zusammenzubrechen, und Rogler verspürte nicht das erste Mal in den letzten beiden Stunden ein heftiges, ehrlich empfundenes Gefühl von Mitleid.

Er verscheuchte es. Ein Verhör war immer eine unangenehme Sache, für beide, den Verhörten wie den Verhörenden. Rogler gehörte nicht zu jenen Polizisten, denen es Befriedigung oder gar Vergnügen bereitete, jemandem so lange zuzusetzen, bis er zusammenklappte. Und einen Kollegen zu verhören, empfand er als geradezu ekelhaft. Aber es mußte sein. Je eher er sich Gewißheit verschaffte, nun auch wirklich alle Einzelheiten zu kennen, desto eher konnte er den armen Jungen entlassen und nach Hause und ins Bett schicken, wo er hingehörte. Und das schon seit Stunden.

»Vielleicht haben Sie sich getäuscht. Ich meine - Sie waren aufgeregt. Es war dunkel, und vielleicht hatten Sie ja auch ein bißchen Angst?« Franke, der mit vor der Brust verschränkten Armen an einem Aktenschrank neben dem Fenster lehnte, betrachtete den Polizeibeamten mit einem Lächeln, dem jegliche Spur von Wärme abging. Er war vor einer Viertelstunde hereingekommen, hatte den freien Stuhl neben dem Schreibtisch ignoriert und genau dort und genau so Aufstellung genommen, wie er noch jetzt dastand. Rogler ging erst jetzt auf, daß er von seinem Platz am Fenster aus sowohl den Streifenbeamten als auch ihn genau im Auge behalten konnte, ohne selbst direkt gesehen zu werden, solange nicht einer von ihnen den Blick wandte. »Vielleicht haben Sie ihn ja nur verletzt. Oder ganz danebengeschossen.«

»Aus einem Meter Entfernung?«

Franke nahm die Arme herunter, rührte sich aber nicht von der Stelle. »Erzählen Sie mir die ganze Geschichte«, sagte er.

»Aber das habe ich doch schon ein dutzendmal!«

»Mir nicht«, antwortete Franke ungerührt. »Bitte.«

Der Polizist warf Rogler einen beinahe flehenden Blick zu, aber Rogler blieb stumm. Seine Anweisungen waren eindeutig - Franke war der Boß.

»Also gut.« Die Stimme des Beamten klang jetzt nur noch resignierend. Und sehr müde. Er tat Rogler aufrichtig leid, nicht nur wegen des stundenlangen Verhörs, das hinter ihm lag. Jemanden zu erschießen, war eine schlimme Sache; der Alptraum jedes Polizeibeamten, der diese Bezeichnung wirklich verdiente. Rogler selbst hatte noch nie auf einen Menschen geschossen, geschweige denn, jemanden erschossen, aber er hatte es oft genug miterlebt, und er wußte, wie schwer es war, damit fertig zu werden. Manche schafften es nie.

»Wir hatten Streifendienst, Matthias und ich. Wir waren mit dem Wagen unterwegs, als die Alarmmeldung kam, und da wir in der Nähe waren, fuhren wir hin. Ich habe die beiden sofort gesehen. Sie waren noch nahe an dem Juweliergeschäft, aus dem der Alarm gekommen war, und außerdem sehr auffällig gekleidet. Also haben wir angehalten und sie aufgefordert stehenzubleiben. Aber sie sind nicht stehengeblieben.« Er stockte. In seinem Gesicht zuckte ein Muskel, und Rogler sah, wie sich seine Hände so fest um die Armlehnen des Stuhles schlossen, daß das Holz knirschte. »Ich ... ich habe meine Waffe gezogen und sie noch einmal aufgefordert stehenzubleiben. Als sie wieder nicht reagiert haben, habe ich einen Warnschuß abgegeben.«

Das stimmte nicht. Sein Kollege hatte etwas anderes ausgesagt, und Rogler hatte die Dienstwaffe des jungen Beamten vor sich in der Schreibtischschublade liegen. Aus dem Magazin fehlten drei Patronen. Nicht vier. Aber er sagte nichts dazu. Es hatte keinen Sinn, dem armen Kerl noch mehr Ärger zu bereiten. Nicht so, wie die Dinge lagen.

»Und?« fragte er, als der Beamte nicht von sich aus weitersprach, sondern nur aus starr geweiteten Augen ins Leere sah.

»Er ist trotzdem weitergegangen. Der ... der Ältere ist stehengeblieben, aber der Jüngere von beiden ist immer weitergegangen. Kam einfach auf mich zu und lächelte.«

»Und da haben Sie geschossen«, sagte Franke.

»Nicht sofort. Ich habe ihn angeschrieen, er sollte stehenbleiben, oder ich schieße. Aber er hat nicht gehört. Und dann hat er eine Bewegung gemacht, und ich dachte, er wollte mich angreifen, und habe abgedrückt. Dreimal.«

»Und Sie haben getroffen?«

»Ich konnte gar nicht vorbeischießen«, flüsterte der Beamte. »Ich ... mein Gott, ich habe gesehen, wie die Kugeln in seine Brust einschlugen. Er ist zurückgestolpert und gestürzt, und ... und alles war plötzlich voller Blut.« Er kämpfte jetzt sichtlich mit letzter Kraft um seine Beherrschung.

»Vielleicht war er nur verletzt«, sagte Franke. »Woher wollen Sie wissen, daß er wirklich tot war? Ich meine ... Tote stehen im allgemeinen nicht auf und spazieren davon.«

»Er war tot«, beharrte der Beamte. »Ich bin ... neben ihm niedergekniet. Ich wollte ihm helfen, aber dann habe ich sein Gesicht gesehen. Und seine Augen.«

»Was war damit?«

»Sie waren tot. Es war kein Leben mehr darin. Und er hat nicht geatmet.«

»Sie haben sich überzeugt?« fragte Rogler sanft, in ruhigem Ton, ehe Franke die gleiche Frage auf eine Art stellen konnte, die den Streifenbeamten vollends zusammenbrechen ließ.

Ein kaum sichtbares Nicken. »Er hatte keinen Puls. Sein Herz schlug nicht mehr.«

»Und weiter?«

»Ich ... ich weiß nicht, wie lange ... wie lange ich so dagesessen habe. Ich war ... wie vor den Kopf geschlagen. Ich meine, ich ... ich wollte ihn nicht erschießen, aber er hat nicht auf mich gehört, und ich dachte, er wollte mich angreifen, und...«

Es war soweit, dachte Rogler. Noch eine Sekunde, und er würde nur noch als wimmerndes Häufchen Elend dasitzen. »Wir glauben Ihnen«, unterbrach er ihn. »Sie müssen sich nicht verteidigen. Ihr Kollege hat Ihre Aussage voll bestätigt. Sie haben richtig gehandelt. Was geschah weiter?«

»Nach einer Weile ... berührte mich jemand an der Schulter«, antwortete der Beamte stockend. »Ich dachte, es wäre Matthias - mein Kollege. Aber es war ... der andere.«

»Der zweite Mann?« hakte Franke nach.

»Der Ältere, ja. Er ... er schob mich einfach weg. Ich wußte nicht, was ich tun sollte, und Matthias auch nicht. Er hatte schon einen Krankenwagen angefordert, glaube ich, also ließ ich ihn gewähren. Er hat ... er hat seine Stirn berührt und ... und irgend etwas gesagt. Und plötzlich stand er auf, als wäre nichts geschehen. Ich meine, da ... da war all dieses Blut und diese schrecklichen Wunden, aber er stand einfach auf, lächelte und sah mich an. Und ... und dann sagte er noch, daß Mutter Erde mich liebt und wir alle Kinder der gleichen Schöpfung sind und ich ihn nicht fürchten müsse und daß es an der Zeit wäre, zu mir selbst zu finden.« Er lachte hysterisch. »Genau das hat er gesagt.«

»Der andere Mann, der Ältere«, sagte Franke. »Was genau hat er gesagt, als er den Verletzten berührte?«

»Ich weiß es nicht«, murmelte der Beamte. »Bitte, ich ... ich kann nicht mehr. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Sie sind ... einfach weggegangen. Ganz langsam.«

»Und Sie haben nicht versucht, Sie aufzuhalten? Ich meine, die beiden waren immerhin wahrscheinlich gerade aus dem Juweliergeschäft -«

»Jetzt reicht es aber«, unterbrach ihn Rogler erbost. Er machte eine Handbewegung zu dem Beamten. »Sie können gehen. Nehmen Sie sich zwei Tage frei, aber reden Sie mit niemandem über das, was passiert ist.«

»Moment!« protestierte Franke, doch Rogler wiederholte seine auffordernde Bewegung, und der Polizist erhob sich hastig von seinem Stuhl und ging zur Tür. Bevor er den Raum verließ, wandte er sich noch einmal um und sah Rogler an, auf eine Weise, als gäbe es da doch noch etwas, was er zu erzählen vergessen hatte. Aber dann streifte sein Blick wieder Franke, und er öffnete mit einem Ruck die Tür und stürmte hinaus.

Rogler wartete, bis sie allein waren, ehe er sich mit einer betont langsamen Bewegung zu Franke herumdrehte. »Sie wissen anscheinend nie, wenn es genug ist, wie?« fragte er.

»Und Sie scheinen nicht zu wissen, was wirklich wichtig ist«, antwortete Franke, allerdings in erstaunlich friedfertigem Ton. Er deutete auf die Tür. »Dieser Mann hat uns gerade erzählt, daß vor seinen Augen ein Toter wiederauferstanden ist, und Sie lassen ihn so mir nichts dir nichts nach Hause gehen.«

»Noch eine Minute, und ich hätte ihn nach Hause tragen lassen müssen«, sagte Rogler. »Der Junge stand kurz vor dem Zusammenbruch, ist Ihnen das nicht aufgefallen?«

Franke setzte sichtlich zu einer scharfen Entgegnung an - aber dann zuckte er plötzlich mit den Schultern, stieß sich von seinem Halt ab und kam mit langsamen Schritten um den Tisch herum, um sich auf den gleichen Stuhl zu setzen, auf dem der Beamte Platz genommen hatte. »Wahrscheinlich verstehen Sie mehr davon als ich«, räumte er ein. »Okay, Sie haben recht. Ich entschuldige mich.« Er versuchte ein Gähnen zu unterdrücken, schaffte es aber nicht ganz, und während er die Hand vor den Mund hob, fiel Rogler zum ersten Mal auf, wie erschöpft und müde Franke an diesem Morgen aussah. Trotz seiner tadellos sitzenden Kleidung und der frischen Rasur machte er einen übernächtigten Eindruck. In seinen Augen stand ein wirres Flackern, das er zwar unterdrücken, aber nicht ganz verhehlen konnte.

»Wann haben Sie das letzte Mal geschlafen?« fragte Rogler.

Franke überging die Frage. »Was halten Sie davon?«

»Von der Geschichte?« Franke nickte, und Rogler fuhr nach einer Sekunde des Überlegens fort: »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Sie klingt unglaublich, aber auf der anderen Seite... Ich habe mit dem anderen Beamten gesprochen. Er bestätigt die Schilderung seines Kollegen Wort für Wort. Außerdem war ich da. Der Mann sagte die Wahrheit - es war wirklich eine Menge Blut auf dem Pflaster. Eigentlich mehr, als ein Mensch verlieren kann, wenn er danach noch einfach davonspazieren will. Andererseits stehen Tote nicht einfach so auf und marschieren davon.«

»Vielleicht stand er einfach unter Schock«, überlegte Franke. »So etwas soll vorkommen - daß Menschen schwer verletzt werden und es gar nicht merken.«

»Solche Geschichten werden zwar immer wieder erzählt, aber sie sind einfach nicht wahr«, antwortete Rogler. »Nicht bei so schweren Verletzungen, und nicht bei einem solchen Blutverlust. Und selbst wenn, wäre er fünf Minuten später tot umgefallen.«

»Also doch die wundersame Auferstehung von den Toten?« Franke lächelte schief.

»Ich habe nicht die mindeste Ahnung«, antwortete Rogler ernst. »Und ich weigere mich auch, darüber nachzudenken, was passiert sein mag. Wir haben eine gute Beschreibung der beiden, und wir haben die Werkzeugtasche, die sie in dem Juweliergeschäft zurückgelassen haben, mit jeder Menge wunderschöner Fingerabdrücke. Wir werden sie kriegen. Wenigstens den, der noch lebt.«

»Und wenn nicht?« fragte Franke.

»Wenn nicht«, antwortete Rogler, »schließe ich die Akte und lege sie in den gleichen Schrank, in dem schon einige andere liegen. Die über einen Zug, der in zwei Stunden um zweihundert Jahre altert, zum Beispiel. Oder die über eine Planierraupe, die vor den Augen ihrer Besitzer zu einem Schrotthaufen zerschmilzt.«

Franke war überrascht. »Sie wissen davon?«

»Ich bin nicht blöd«, sagte Rogler ruhig.

»Ich weiß. Wären Sie es, hätte ich Sie nicht zu meinem Assistenten gemacht.«

»Ihrem Laufburschen, meinen Sie«, antwortete Rogler. »Dem Dummkopf, der alles tut, was man ihm aufträgt, und keine lästigen Fragen stellt.«

Franke gähnte. »Sie sind verbittert«, stellte er fest. »Vielleicht sogar mit Recht. Ich habe Ihnen versprochen, Ihnen alles zu erzählen, ich weiß. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit. Auch wenn Sie enttäuscht sein werden.«

»Lassen Sie es darauf ankommen«, sagte Rogler. »Meine Kooperationsbereitschaft neigt sich allmählich dem Ende entgegen, wissen Sie? Was ist hier los, Doktor Franke? Was geschieht hier?«

Er hatte nicht mit einer Antwort gerechnet, aber einen Moment später sagte Franke leise: »Ich weiß es nicht, Rogler. Nicht mehr. Ich dachte, ich wüßte es, aber jetzt... Es stimmt nicht.«

»Was stimmt nicht?«

»Was passiert«, antwortete Franke. »Was hier vorgeht. In dieser Stadt und mit den Menschen hier. Es paßt nicht zu meiner Theorie.« Er lächelte schmerzlich. »Kennen Sie das Gefühl, Rogler? Sie haben eine Theorie, die ganz wunderbar zu ihrem Problem paßt. Alles scheint zu stimmen, und Sie wollen schon die Hand ausstrecken, um nach der Lösung zu greifen, und plötzlich geschieht irgend etwas, das ihre gesamte wunderbare Theorie über den Haufen wirft?«

»Das kenne ich«, sagte Rogler. »Es ist mir auch schon passiert. Oft sogar. Warum verraten Sie mir nicht einfach Ihre Theorie, und wir denken gemeinsam darüber nach, was daran nicht stimmt?«

»Ich glaube nicht, daß Sie mir helfen können«, antwortete Franke, aber es gelang ihm, die Worte nicht verletzend klingen zu lassen.

»Vielleicht doch«, sagte Rogler. »Ich bin kein Wissenschaftler wie Sie, aber in gewisser Weise ähnelt sich das, was wir tun. Wir beide suchen nach Lösungen für Probleme, die wir manchmal noch nicht einmal kennen.«

Franke überlegte lange und sichtlich angestrengt. Dann sah er auf die Uhr und nickte. »Okay. Ich muß ... ein paar Telefonate führen, aber ich verspreche Ihnen, daß wir uns heute nachmittag unterhalten. Sobald ich zwei, drei Dinge geklärt habe.« Er deutete auf das Telefon. »Darf ich?«

Es dauerte einen Moment, bis Rogler überhaupt begriff, aber dann stand er fast hastig auf. »Selbstverständlich. Ich muß sowieso weg. Einen Hausbesuch machen.«

Franke sah ihn fragend an.

»Der Stadtrat verlangt nach mir«, erklärte Rogler mit einem schiefen Grinsen. »Einige Hoteliers haben sich beschwert, daß ihre Gäste belästigt werden. Anscheinend denkt man im Rathaus, ich hätte nichts Besseres zu tun, als dafür zu sorgen, daß der Fremdenverkehr nicht gestört wird.«

»Strenggenommen haben Sie sogar recht damit«, antwortete Franke. Er streckte die Hand nach dem Telefon aus, zog den Arm dann aber wieder zurück und sah Rogler nachdenklich an. »Was genau haben Sie damit gemeint, ihre Gäste werden belästigt?«

Rogler zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht. Deswegen will ich ja hin. Aber ich nehme an, es sind diese seltsamen Hare-Krishna-Brüder und all die anderen.« Er seufzte tief. »Es kommt mir fast so vor, als ob sich alle Verrückten der Welt ein Stelldichein hier in Ascona geben.« Er dachte einen Moment lang daran, Franke von seinem eigenen Erlebnis mit den Verrückten zu berichten, schwieg aber. Er hatte ein ungutes Gefühl, wenn er an die Szene zurückdachte, aber es war ein Empfinden von seltsam privater Natur, daß er mit niemandem teilen wollte. Mit Franke schon gar nicht.

»Warten Sie«, sagte Franke. »Draußen auf dem Flur, bitte. Ich werde meinen Anruf erledigen, und dann begleite ich Sie.«

Der Tag hatte mit einem Versprechen begonnen, das bis jetzt nicht eingelöst worden war: am Morgen hatte es nach Regen ausgesehen. Die Temperaturen lagen noch immer über dreißig Grad, doch im Laufe des Vormittages hatte sich ein sanfter Wind erhoben, und die Menschen am Berg atmeten spürbar auf. Es war nicht einmal viel kühler als an den vorangegangenen Tagen, aber allein der Umstand, daß es nicht noch wärmer geworden war, stellte bereits eine fühlbare Erleichterung dar.

Saruters Besuch war drei Tage her, bisher hatte Franke die Chance nicht genutzt, Warstein endgültig den Garaus zu machen. Ganz im Gegenteil - am vergangenen Abend hatte er sich in erstaunlich versöhnlicher Haltung gezeigt und Warstein sogar auf ein Bier in die Kantine eingeladen, was Warstein ausgeschlagen hatte. Was Franke anging, betrachtete ihn Warstein mittlerweile aus dem Blickwinkel Homers: er mißtraute ihm - vor allem, wenn er mit Geschenken kam. Trotzdem begann er sich allmählich zu fragen, ob Franke nicht - zumindest teilweise - recht hatte. Nach ihrem Streit und dem Gespräch mit dem Einsiedler war er fest davon überzeugt gewesen, daß irgend etwas Furchtbares geschehen würde. Aber es war nichts geschehen. Weder hatte sich die Erde aufgetan, um sie alle zu verschlingen, noch war ihnen der Himmel auf den Kopf gefallen.

Warstein schloß geblendet die Augen, als er aus der Baracke trat. Es war Mittag. Er war hungrig, und er fühlte sich auf eine wohltuende Art müde. Er war sehr früh aufgestanden, an die Arbeit gegangen, und er war gut vorangekommen. Jetzt freute er sich auf eine gemütliche halbe Stunde beim Essen. Ein wenig überrascht registrierte er, wie hell die Sonne an diesem Tag schien. Der Himmel und die Luft über dem Berg schienen viel klarer als sonst, und der Blick reichte weiter. Außerdem war die Temperatur angenehmer als drinnen. In der Baracke sorgte eine Klimaanlage (die wegen der teuren Computer angeschafft worden war, nicht etwa, um den Mitarbeitern aus Fleisch und Blut die Arbeit zu erleichtern) für eine stets gleichbleibende Temperatur; hier draußen übernahm diese Aufgabe der Wind, auf eine natürlichere und angenehmere Art.

Er zog die Sonnenbrille aus dem Kittel, setzte sie auf und sah nach oben. Irgendwo, weit entfernt, grollte Donner, aber der Himmel über dem Berg war klar. Direkt über ihm standen ein paar Kumuluswolken, aber von dem Gewitter, dessen Grollen er hörte, war keine Spur zu sehen.

Das entfernte Rumoren wiederholte sich, während er den freien Platz vor dem weißgestrichenen Kantinengebäude überquerte. Es war jetzt lauter, aber Warstein wußte, daß das dazugehörige Gewitter bei der für einen Stadtmenschen wie ihn verwirrenden Akustik hier in den Bergen durchaus Hunderte von Kilometern entfernt sein konnte. Die Chancen, daß es einen Zwischenspurt einlegte und den Berg erreichte, ehe sich seine Wut selbst aufgezehrt hatte, waren minimal. Außerdem war er nicht sicher, ob er die drückende Hitze der zurückliegenden Tage wirklich sofort gegen ein Sommergewitter eintauschen wollte. Warstein hatte ein einziges Mal ein Unwetter hier in den Bergen erlebt, und obwohl es zwei Jahre zurücklag, verspürte er wenig Lust auf eine Wiederholung. Damals hatte er geglaubt, daß der Weltuntergang bevorstünde.

Als er sich in die Reihe der Wartenden vor der Essensausgabe einfädelte, entdeckte er Hartmann. Seit der häßlichen Szene mit Franke hatte er nicht mehr mit dem Sicherheitsbeamten gesprochen; was allerdings weniger daran lag, daß Hartmann ihm aus dem Weg gegangen wäre, sondern wohl eher an der Tatsache, daß die Sicherheitsbestimmungen auf der Baustelle auf Frankes Anordnung hin noch einmal verschärft worden waren und Hartmann vor Arbeit kaum mehr aus den Augen schauen konnte. Er sah auch jetzt müde und sehr erschöpft aus. Trotzdem lächelte er, als er Warstein erblickte, und nach ein paar Sekunden des Zögerns gab er seinen Platz ein gutes Stück weiter vorne in der Schlange sogar auf und trat an seine Seite. Warstein erwiderte sein Lächeln, aber er war zugleich verlegen. Er hatte noch immer ein schlechtes Gewissen, wenn er an Frankes Worte zurückdachte. Die Drohung war ernst gemeint gewesen. So war es auch Hartmann, der das Gespräch eröffnete, nicht er, und auf eine Art, die Warstein verriet, daß ihm die Situation mindestens ebenso unangenehm war wie ihm selbst.

»Hallo«, sagte er. »Sie wollen es wirklich riskieren?«

»Was?«

»Das Essen.« Hartmann deutete zur Theke, hinter der drei schwitzende Köche im Akkord Teller und Suppentassen füllten. »Heute ist Freitag. Da gibt es immer die Reste vom Vortag.«

»Ich dachte, das hätte es gestern gegeben«, antwortete Warstein.

Hartmann schüttelte mit todernster Miene den Kopf. »Gestern gab es die Reste von vorgestern«, sagte er betont. »Strenggenommen ist also das, was es heute gibt, mindestens schon drei Tage alt. Falls es da nicht schon vom Tag vorher war.«

»Dann wollen wir hoffen, daß es nicht bald wieder anfängt zu leben«, antwortete Warstein. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe der Männer vor sich hinweg einen Blick auf das Essen zu erhaschen. Statt dessen begegnete er dem verärgerten Blick eines Kochs. Sie hatten laut genug gesprochen, um auch auf der anderen Seite des Tresens noch verstanden zu werden, und der Mann schien nicht besonders viel Humor zu haben. Warstein zog eine entschuldigende Grimasse und sah rasch weg. Die Tradition, über das Essen zu witzeln, bestand vermutlich so lange, wie es Kantinen gab, aber im Grunde konnten sie sich nicht beschweren. Auch die beste Küche wurde langweilig, wenn man sie drei Jahre lang ununterbrochen genoß.

Die Schlange rückte rasch vor, und obwohl Warstein vorsichtshalber nichts mehr gesagt hatte, fielen seine und Hartmanns Portionen ausgesprochen mager aus. Er beschwerte sich nicht, sondern beeilte sich im Gegenteil, einen Platz an einem freien Tisch am Fenster einzunehmen. Hartmann gesellte sich zu ihm. Sie aßen schweigend, aber Warstein spürte, daß Hartmann nicht grundlos an seinem Tisch saß; so wenig, wie er aus purer Höflichkeit zu ihm gekommen war. So, wie die Dinge lagen, wäre er es ihm vermutlich schuldig gewesen, das Gespräch zu eröffnen. Aber er fühlte sich immer noch ein wenig unbehaglich, und so beendeten sie ihre Mahlzeit wortlos.

Erst als sie beim Dessert angekommen waren, brach Hartmann das mittlerweile peinliche Schweigen. »Hat er sich wieder beruhigt?«

»Franke?« Warstein zuckte mit den Schultern und versenkte den Blick in seinen Himbeerpudding. »So weit er dazu in der Lage ist, ja - glaube ich. Sicher kann man bei ihm nie sein.«

»Uns setzt er jedenfalls gehörig zu.« Hartmann seufzte tief. »Noch zwei Wochen, und diese Baustelle ist besser abgesichert als Fort Knox. Wußten Sie, daß er versucht hat, scharfe Waffen für die Hundepatrouillen zu bekommen?« Warstein sah überrascht auf, aber er mußte wohl auch ein wenig erschrocken gewirkt haben, denn Hartmann hatte es plötzlich sehr eilig, eine beruhigende Geste zu machen. »Es ist bei dem Versuch geblieben«, sagte er. »Hier gibt es im Umkreis von fünfhundert Kilometern nichts, auf das sich zu schießen lohnt. Und die Behörden hier sehen das wohl genauso.«

»Ein Ziel wüßte ich«, sagte Warstein versonnen.

Hartmann lachte. »Wenn Sie an dasselbe denken wie ich, besorge ich persönlich die Munition.« Er wurde wieder ernst. »Vielleicht liegt es auch nur an der Hitze. Dieses verdammte Wetter macht uns allmählich noch alle verrückt. Waren Sie in den letzten Tagen drinnen im Berg?«

Warstein schüttelte den Kopf.

»Der reinste Backofen«, fuhr Hartmann fort. »Die Jungs dort drinnen tun mir wirklich leid. Ich meine, niemand hat ihnen gesagt, daß sie in einem Mikrowellenherd arbeiten müssen.«

»Sind Sie sicher?« fragte Warstein. »Ich meine - ein Berg heizt sich nicht auf wie eine Wellblechhütte. Normalerweise müßte es dort drinnen eher kalt sein.« Es war zwei Wochen her, daß er den Tunnel das letzte Mal betreten hatte, aber er überprüfte regelmäßig die Meßergebnisse auf seinen Instrumenten, und die Daten hätten ihm verraten, wenn dort drinnen irgend etwas Ungewöhnliches geschehen wäre.

»Ich war heute morgen selbst dort«, versicherte Hartmann. »Schnuckelige vierzig Grad - schätze ich. Ich war froh, als ich wieder draußen war. Na ja - vielleicht gibt es ja bald Regen. Höchste Zeit.«

»Das Gewitter wird uns wohl kaum erreichen«, antwortete Warstein geistesabwesend. Er hatte das Terminal seiner Lasermeßstation vor einer halben Stunde kontrolliert, und die Geräte hatten nichts Außergewöhnliches angezeigt. Hartmann mußte sich irren.

»Welches Gewitter?« fragte Hartmann.

»Haben Sie den Donner nicht gehört?« Warstein riß sich fast gewaltsam in die Wirklichkeit zurück. Er würde den Computer noch einmal alles durchchecken lassen, sobald er zurück war.

»Donner?« Hartmann lachte leise. »Kaum. Aber ich habe vor einer halben Stunde den Wetterbericht gehört - die ganze Schweiz stöhnt unter einer Hitzewelle. Sie müssen sich getäuscht haben.«

Warstein war ziemlich sicher, sich nicht getäuscht zu haben, aber die Sache war es nicht wert, sich darüber zu streiten. Außerdem neigte sich die Pause bereits ihrem Ende zu, und er spürte, daß Hartmann noch etwas auf dem Herzen hatte. »Also?« fragte er geradeheraus. »Was kann ich für Sie tun?«

Hartmann zögerte, zugleich überrascht wie sichtlich verlegen. »Ich habe wohl kein großes Talent zum Schauspieler, wie?« fragte er.

»Vielleicht bin ich einfach nur ein guter Menschenkenner«, antwortete Warstein - was selbst bei optimistischer Betrachtungsweise geschmeichelt war. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er Franke für einen netten Menschen gehalten. Nach einer Sekunde fügte er hinzu: »Nur keine falsche Scheu. Ich bin Ihnen etwas schuldig.«

Hartmann tat ihm nicht den Gefallen zu widersprechen, aber er antwortete auch nicht gleich, sondern nippte an dem alkoholfreien Bier, das er sich zum Essen genommen hatte; nicht um seinen Durst zu löschen, sondern einzig um Zeit zu gewinnen - und sich unauffällig umzusehen. Die Tische in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft waren besetzt, aber die Männer waren allesamt in ihre eigenen Gespräche vertieft. Niemand hörte ihnen zu.

Trotzdem senkte er die Stimme zu einem halblauten Flüstern, als er schließlich antwortete: »Ich trage mich mit dem Gedanken zu kündigen.«

Warstein war kein bißchen überrascht. So, wie Franke Hartmann in den letzten Wochen und Monaten zugesetzt hatte, hatte er eigentlich schon längst damit gerechnet. »Das kann ich verstehen«, sagte er. »Trotzdem sollten Sie eine solche Entscheidung nicht vorschnell treffen. Es ist ein guter Job, trotz allem. Und er wird sehr gut bezahlt.« Konkret hatte er keine Ahnung, was Hartmann verdiente, und es interessierte ihn auch nicht besonders. Aber sie wurden alle übertariflich bezahlt. Dazu kamen noch diverse Zuschläge und Prämien, so daß die meisten Männer hier fast mit dem Doppelten dessen nach Hause gingen, was sie normalerweise für eine vergleichbare Arbeit hätten erwarten können. Hartmann machte da sicher keine Ausnahme.

»Ich weiß«, sagte Hartmann. »Und außerdem bin ich nicht mehr der Jüngste. Es ist fraglich, ob ich überhaupt noch einmal so einen Job bekomme.«

»Das Schlimmste haben wir hinter uns«, sagte Warstein. »Und Franke wird sich schon wieder beruhigen.« Warum überredete er Hartmann eigentlich hierzubleiben? Tief in sich spürte er, daß Hartmanns Entschluß, die Baustelle zu verlassen, das einzig Vernünftige war. Sie alle sollten von hier weggehen; und das schnell und so weit weg wie nur möglich.

»Es geht nicht um Franke«, sagte Hartmann.

»Nicht?«

Hartmann lächelte. »Wissen Sie, Herr Warstein, ich habe in meinem Leben eine Menge Frankes kennengelernt. Es gibt sie überall. Glauben Sie mir, es ist vollkommen gleich, wohin Sie gehen - es findet sich fast immer jemand, der glaubt, den Chef herauskehren zu müssen. Franke ist vielleicht ein bißchen unangenehmer als die meisten, aber um mich zu vergraulen, reicht das noch lange nicht. Ich habe etwas, was den meisten wie ihm abgeht - Geduld. Ich warte einfach ab. Meistens dauert es nicht einmal lange, bis sie sich mit dem Falschen anlegen und den kürzeren ziehen oder sich selbst ein Bein stellen und auf der Nase landen. Franke ist nicht der Grund.«

»Was dann?« fragte Warstein.

Hartmann zuckte die Achseln und begann mit dem Fingernagel die Ränder des Etiketts seiner Bierflasche nachzuzeichnen. »Das alles hier«, sagte er, noch leiser als bisher und in fast verlegenem Ton. »Es ... es macht mir angst. Manchmal stehe ich morgens auf und habe das Gefühl, belauert zu werden, und manchmal wache ich nachts auf und spüre, daß da draußen ... irgend etwas ist.« Er lächelte nervös. »Albern, nicht?«

»Keineswegs«, antwortete Warstein. Ob er ihm erzählen sollte, daß es ihm ganz genauso erging? Besser nicht. Bestenfalls würde Hartmann annehmen, daß er das nur sagte, um ihn zu beruhigen.

»Ich war schon auf vielen Baustellen. Kleinen, großen, guten, schlechten ... aber das hier...« Er seufzte, setzte seine Bierflasche an und stellte erst dann fest, daß sie leer war. »Irgend etwas hier ist unheimlich. Manchmal frage ich mich, ob dieser verrückte Alte, der da oben auf dem Berg haust, nicht recht hat.«

»Das hat er ganz bestimmt«, antwortete Warstein. »Aber vielleicht anders, als er glaubt. Ich denke auch, daß es falsch ist, was wir hier tun.« Er lächelte, als er Hartmanns überraschten Gesichtsausdruck bemerkte. »Vor drei Jahren, als Franke mir diesen Job angeboten hat, da hielt ich es für eine großartige Sache. Aber mittlerweile bin ich nicht mehr sicher.«

Das kam der Wahrheit nur entfernt nahe. Tatsächlich hatte er sich längst entschlossen, etwas wie das hier nie wieder zu machen. Er würde sich nicht die Haare lang wachsen lassen und in eine einsame Hütte am Amazonas ziehen, aber es gab auch in der Industrie genug andere Jobs, in denen ein Mann mit seinen Fähigkeiten gebraucht wurde. Ganz gleich wie diese Geschichte ausging, eines hatte er gelernt: man konnte die besten Absichten haben und trotzdem unermeßlichen Schaden anrichten.

»Waren Sie nicht der junge Wissenschaftler, der mir stundenlang davon vorgeschwärmt hat, wie großartig dieses Projekt doch ist?« fragte Hartmann.

»Genau der«, gestand Warstein. »Aber man lernt aus Fehlern, nicht wahr? Wissen Sie was - ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wir beißen beide die Zähne zusammen und halten das letzte Jahr noch durch, und anschließend sehen wir uns gemeinsam nach einem neuen Job um.«

Auch das war bestenfalls eine fromme Lüge und nicht einmal besonders überzeugend. Mit Ausnahme der Tatsache, daß sie für die gleiche Firma arbeiteten und den gleichen Intimfeind hatten, hatten sie wenig miteinander gemein. Ihre Wege würden sich trennen, sobald dieses Projekt abgeschlossen war, und Warstein konnte gar nichts für Hartmann tun; es sei denn durch einen reinen Zufall. Aber Hartmann begriff die gute Absicht hinter diesen Worten und lächelte dankbar.

»Überschlafen Sie es«, sagte Warstein. »Und danach unterhalten wir uns noch einmal. Man muß nicht immer gleich zum drastischsten Mittel greifen, finde ich.« Erneut fragte er sich, warum er Hartmann eigentlich mit aller Macht von seinem Entschluß abzubringen versuchte. Obwohl er diesen Mann kaum kannte, empfand er doch ein fast absurdes Verantwortungsgefühl. Ein Job war nicht nur ein Job. Hartmann hatte eine Familie zu versorgen, und er hatte es ja gerade selbst gesagt: es war fraglich, ob er jemals wieder ein solches Angebot bekam; nicht in seinem Alter, und nicht mit dem Zeugnis, das Franke ihm ausschreiben würde.

Bevor Hartmann antworten konnte, rollte das Echo eines fernen Donnerschlages von draußen herein. Warstein sah überrascht auf und blickte aus dem Fenster. So weit er erkennen konnte, war der Himmel noch immer wolkenlos und von einem schon beinahe kitschigen Blau.

»Was ist?« fragte Hartmann.

»Nichts«, antwortete Warstein. »Aber ich hätte die Wette gewonnen - wenn wir gewettet hätten.«

»Welche Wette?«

»Ob es regnet. Anscheinend kommt das Gewitter doch schneller, als ich dachte.«

»Gewitter?« Hartmann versuchte, an ihm vorbei einen Blick aus dem Fenster zu werfen. »Tut mir leid, aber ich sehe nichts.«

»Sie müssen den Donner doch eben gehört haben«, erwiderte Warstein, und wie um ihm recht zu geben, rollte ein zweites, lang nachhallendes Grollen über die Berge.

»Ich höre nichts«, behauptete Hartmann.

Warstein suchte aufmerksam in seinem Gesicht nach irgendeiner verräterischen Spur, aber da war kein Spott, kein unterdrücktes Lächeln. Entweder war Hartmann ein ausgezeichneter Schauspieler, oder er hatte tatsächlich nichts gehört. Allerdings - wenn es so war, dann waren wohl auch alle anderen hier mit Taubheit geschlagen. Warstein sah sich rasch in der Kantine um. Niemand blickte zum Fenster. Niemand hatte sein Gespräch unterbrochen.

»Vielleicht ... habe ich mich getäuscht«, sagte er zögernd. Das hatte er ganz bestimmt nicht. Aber er war plötzlich nicht mehr ganz sicher, daß es wirklich Donner gewesen war. Der Laut hatte irgendwie ... bösartig geklungen. Wie das Echo von etwas Schlimmem, das näher kam.

Bevor sie das Gespräch fortsetzen konnten, ging die Tür auf, und Franke kam herein. Er trug den gleichen, weißen Kittel wie Warstein und die anderen technischen Angestellten und schwenkte einen Stapel mit Computerausdrucken. Das Lächeln auf seinem Gesicht erfüllte Warstein schon wieder mit einer unangenehmen Vorahnung.

Er sollte recht behalten. Franke erblickte ihn und Hartmann schon von weitem und durchmaß den Raum mit weit ausgreifenden, schnellen Schritten, wobei er die Papiere in seiner Rechten schwenkte wie eine Kriegsfahne. Sein Lächeln war eigentlich gar kein richtiges Lächeln, sondern etwas wie das Grinsen eines Raubtieres, das seine Beute wehrlos und in bequemer Reichweite vor sich entdeckte.

»Störe ich beim Essen?« fragte er, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich, ohne eine entsprechende Aufforderung oder gar eine Antwort auf seine Frage abzuwarten. Warstein deutete ein Kopfschütteln an, während Hartmann vielsagend an ihm und Franke vorbei aus dem Fenster blickte.

»Na ja, die Pause ist sowieso gleich vorbei.« Franke legte seinen Papierstapel vor sich auf den Tisch. »Die zehn Minuten werden Sie mir verzeihen, denke ich. Ich habe hier ein paar Daten, die Sie interessieren dürften.«

»So?« fragte Warstein einsilbig.

»Ich habe gerade noch einmal die Meßergebnisse gecheckt, nur routinemäßig.« Franke fuhr vollkommen unbeeindruckt fort, aber das verräterische Glitzern in seinen Augen wurde stärker.

»Sie entschuldigen mich?« sagte Hartmann. Er stand auf und räumte sein und Warsteins benutztes Geschirr auf das Tablett. »Die Arbeit ruft.«

»Wenigstens einer, der auf diesem Ohr nicht taub ist«, sagte Franke. Er grinste, aber es reichte nicht aus, um aus der Spitze wieder einen Scherz zu machen. Kopfschüttelnd blickte er Hartmann nach, dann drehte er sich wieder zu Warstein und schob den Papierstapel mit einer demonstrativen Geste über den Tisch. »Auf Seite vier. Schauen Sie, was sich Ihr famoser Laser heute wieder ausgedacht hat.«

Es war so überflüssig, dachte Warstein. Hätte er Franke nur ein ganz kleines bißchen weniger verachtet, dann hätte er ihm jetzt vielleicht gesagt, daß er seinen Bosheiten meistens selbst die Spitze nahm, weil er so maßlos übertrieb. So nahm er die Papiere mit deutlichem Desinteresse entgegen und schlug die bezeichnete Seite auf.

Die nächsten fünf Sekunden verbrachte er in vollkommenem Schweigen. »Das ... das kann nicht sein«, murmelte er schließlich. »Sie müssen einen Fehler gemacht haben.«

»Kaum«, antwortete Franke. Jede Spur aufgesetzter Freundlichkeit verschwand aus seinem Blick und seiner Stimme. »Ich behaupte nicht, daß ich keine Fehler mache, aber in diesem Fall habe ich mich überzeugt. Dreimal.« Er fuchtelte mit beiden Händen in der Luft herum. »Dort steht, was Ihr Computer ausgespuckt hat. Nicht mehr und nicht weniger.«

»Dann muß es ein Fehler im Terminal sein«, sagte Warstein. »Das ist völlig unmöglich.«

»Ich habe die Daten auf drei verschiedenen Geräten gegengeprüft«, versicherte Franke. »Ihr Wundermaschinchen spinnt wieder einmal, Warstein. Vielleicht will es ja auch nur wieder gutmachen, was es vor einem halben Jahr behauptet hat.«

Warstein hörte die Worte kaum. Die Zahlen auf dem Papier vor ihm waren eindeutig, und sie bewiesen zweifelsfrei, daß Franke recht hatte. Vor einem halben Jahr hatte sein Laser die Länge des Tunnels mit mehr als einer Million Kilometer angegeben. Jetzt behauptete er, er wäre zweiundsiebzig Meter lang. Er wollte etwas sagen, aber er fand einfach keine Worte. Seine Hände zitterten, und er verspürte einen heftigen Zorn auf sich selbst, sich vor Franke so gehenzulassen. Zweifellos weidete Franke sich an seinem Entsetzen, und zweifellos deutete er es völlig falsch. Aber Warstein war ja nicht einmal in der Lage, das Gefühl selbst richtig einzuordnen. Er begann in Panik zu geraten - und das, obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gab. Das Gerät zeigte falsche Meßergebnisse an - na und? Wieso erschreckte ihn das so? Kein Computer war unfehlbar.

»Ich ... werde das sofort nachprüfen«, sagte er und machte Anstalten aufzustehen.

Franke hielt ihn mit einer befehlenden Handbewegung zurück. »Das ist nicht nötig«, sagte er. »Jedenfalls nicht sofort. Meinetwegen können Sie später mit einem Bandmaß in den Tunnel gehen und ihn höchstpersönlich ausmessen, aber im Moment möchte ich mit Ihnen reden.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf die aufgeschlagene Seite. »Darüber.«

»Was gibt es da...«

»Wissen Sie, wieviel Geld und Zeit das Unternehmen bis jetzt in Ihr revolutionäres Meßsystem gesteckt hat?« fuhr Franke fort.

»Sehr viel«, antwortete Warstein. Er wußte die Summe auf hundert Mark genau - schließlich verlangte Franke von jedem seiner Mitarbeiter, akribisch Buch zu führen -, aber er hatte das sichere Gefühl, daß es im Moment das Klügste war, sowenig wie möglich zu sagen.

»Wir sollten allmählich darüber nachdenken, ob es sich lohnt, weiter in dieses Projekt zu investieren.«

»Sie verlangen nicht im Ernst von mir -«

»Ich verlange gar nichts«, sagte Franke betont. »Aber wir sollten uns unterhalten. Von Wissenschaftler zu Wissenschaftler. Ich weiß, daß Sie mich nicht leiden können, aber ich denke, wir sollten alle persönlichen Dinge für einen Moment außer acht lassen. Finden Sie nicht, daß es an der Zeit ist, allmählich zuzugeben, daß Sie sich geirrt haben?«

»Inwiefern?«

»Ganz offensichtlich funktioniert der Apparat nicht richtig«, antwortete Franke. »Sie wissen es doch selbst. Ich gebe zu, anfangs war ich beeindruckt, aber mittlerweile...« Er ließ den Satz unvollendet und zuckte statt dessen die Achseln. »Die Idee ist gut, das finde ich nach wie vor. Aber nicht alle guten Ideen lassen sich in der Praxis auch verwirklichen.«

Irgendein himmlischer Regisseur mit einem übertriebenen Sinn für Dramatik schien ihr Gespräch zu belauschen, denn genau in diesem Moment rollte ein weiterer, noch lauterer Donnerschlag von draußen herein, um Frankes Worte zu untermalen. Warstein fuhr sichtbar zusammen, aber Franke zuckte mit keiner Wimper.

»Ich werde herausfinden, was nicht stimmt«, sagte Warstein. »Vielleicht ist es nur eine Kleinigkeit.«

»Sie verstehen mich nicht«, sagte Franke. »Ihr System soll den gesamten Tunnel überwachen. Den Zugverkehr leiten. Signale steuern ... alles eben. Es ist nicht irgendein Computer, der arbeiten kann oder auch nicht. Wenn es ausfällt oder sogar falsche Daten liefert, dann können dabei Menschen sterben, ist Ihnen das klar?«

Warstein versteifte sich. »Was wird das?« fragte er. »Der diplomatische Prolog zu meiner Kündigung?«

Er sprach so laut, daß er auch an den benachbarten Tischen deutlich zu hören sein mußte, aber das war ihm egal. Franke hätte ihm diese Liste genausogut zehn Minuten später in seinem Büro präsentieren können, aber er war eigens hierhergekommen, um Publikum für seinen Auftritt zu haben. Gut, wenn er seine Show haben wollte, sollte er sie bekommen. Warstein war plötzlich in Kamikaze-Stimmung. Was hatte er noch zu verlieren?

»Sagen Sie es laut, wenn Sie wollen, daß ich gehe«, sagte er herausfordernd.

»Blödsinn«, sagte Franke unwirsch. »Sie sind ein fähiger Mann. Ich brauche Sie. Ich überlege nur, ob Ihre Fähigkeiten nicht besser eingesetzt werden können, das ist alles.«

Warstein stand mit einem Ruck auf. »Dann denken Sie in Ruhe darüber nach«, antwortete er. »Wenn Sie zu einem Ergebnis gekommen sind, lassen Sie es mich wissen. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Meine Pause dauert noch fünf Minuten, und ich brauche dringend frische Luft.«

Er ging, ehe Franke noch etwas erwidern konnte. Einige der Männer, deren Aufmerksamkeit ihr am Schluß alles andere als leises Gespräch auf sich gezogen hatte, grinsten ihn an, aber Warstein war nicht nach Lachen zumute. Nicht im geringsten. Vielleicht hatte er diese Runde nach Punkten gewonnen, aber es war ein Sieg, den er noch bereuen würde. Eigentlich tat er es jetzt bereits.

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