Warsteins Hände zitterten, als er ins Freie trat und sich rasch ein paar Schritte von der Kantine entfernte. Ein Arbeiter mit einem gelben Schutzhelm, der ihm entgegenkam, hielt mitten in der Bewegung inne und sah ihm verstört nach. Falls er überhaupt noch einen Beweis dafür gebraucht hatte, daß sich sein innerer Aufruhr deutlich auf seinem Gesicht widerspiegelte, nun hatte er ihn. Warstein revidierte seine Meinung: es war kein Sieg nach Punkten gewesen. Er würde...
Etwas geschah.
Warstein fuhr erschrocken zusammen und sah zum Berg zurück. Der Gridone ragte schwarz und majestätisch wie immer über ihm auf, nichts hatte sich verändert, und doch war nichts, wie es noch vor einer Sekunde gewesen war. Irgend etwas ... war geschehen. Nichts Sichtbares. Nichts Fühlbares, sondern eine ... etwas wie eine Veränderung der Dinge an sich, als wäre die ganze Welt um ein winziges Stückchen zur Seite gerutscht und hätte jetzt einen anderen Platz auf der Skala der Schöpfung eingenommen. Es war wie ein nicht völlig gelungener Schnitt in einem Film. Der Wirklichkeit war der Bruchteil einer Sekunde abhanden gekommen; zu wenig, um es wirklich zu bemerken, aber auch zu viel, um es zu übersehen. Und die Veränderung hielt an.
Warstein sah sich nervös um. Er schien der einzige zu sein, der etwas bemerkt hatte. Die Männer rings um ihn herum gingen weiter ihren Tätigkeiten nach, die Maschinen arbeiteten wie zuvor, der Himmel war wolkenlos, und von Zeit zu Zeit grollte immer noch der Donner, der nur für ihn hörbar zu sein schien. Aber da war etwas mit dem Licht. Es war härter geworden; Streifen aus leuchtendem Glas, die in Schichten über dem Plateau lagen und zwischen denen die Luft zu gerinnen schien. Die Schatten waren dunkler, als sie sein sollten, und zwischen ihnen und dem Licht, in einem Bereich der Wirklichkeit, den es eigentlich gar nicht geben durfte, bewegte sich etwas. Die Luft hatte plötzlich einen eigenartigen Kupfergeschmack, und er glaubte sie zwischen den Fingern zu fühlen, wie etwas von spürbarer Konsistenz. Was hatte Saruter gesagt? Die Welt wird nicht mehr so sein, wie sie vorher war. Vielleicht wird niemand den Unterschied überhaupt bemerken, aber vielleicht wird sie auch so fremd sein, daß wir nicht mehr in ihr leben können...
»Ruhig«, sagte Warstein. »Beruhige dich.« Er sprach die Worte laut aus, und der Trick wirkte, wenn auch wahrscheinlich nicht für lange. Die Panik, die sich seiner für einen Moment zu bemächtigen gedroht hatte, kroch wieder in ihren Käfig am Grunde seiner Seele zurück. Aber es gelang ihm nicht, die Tür völlig zu schließen. Sie würde wiederkommen, und ein zweites Mal würde er ihrer vielleicht nicht Herr werden. Er mußte die anderen warnen, so lange er es noch konnte.
Warnen? Aber wovor?
Erneut und noch deutlicher als das erste Mal fiel ihm auf, wie normal das Leben rings um ihn verlief. Nur wenige Meter neben ihm stand eine Gruppe von Männern, die sich angeregt unterhielten; dann und wann sah einer von ihnen in seine Richtung, schaute aber immer rasch weg, wenn er Warsteins Blick begegnete. Irgendwo dudelte ein Radio. Stimmen. Lachen. Das Tuckern eines Dieselmotors, der zum Leben erwachte. Der Boden unter seinen Füßen zitterte. Nein, er atmete; ein regelmäßiges, pumpendes Heben und Senken, begleitet von einem unheimlichen, seufzenden Laut, der direkt in Warsteins Kopf zu entstehen schien.
Und dann zerriß ein Blitz das azurne Blau des Himmels, so grell und intensiv, daß es hinterher für eine Sekunde Nacht zu werden schien.
Warstein schrie auf und riß die Hände vor das Gesicht, und diesmal war er nicht allein. Die Männer neben ihm fuhren erschrocken zusammen, duckten sich, hoben schützend die Arme über den Kopf oder begannen zu fluchen, je nach Temperament und Charakter. Das dumpfe Grollen, das bisher nur Warstein allein gehört hatte, rollte als hundertfach gebrochener Donnerschlag zwischen den Berggipfeln ringsum heran, und nun zitterte der Boden wirklich. Der Dieselmotor ging aus. Irgendwo hinter ihm zerbrach Glas, und an der Flanke des Berges löste sich eine kleine Geröllawine, die einen Teil des Zaunes niederwalzte. Warstein sah aus den Augenwinkeln, wie sich einige Männer mit entsetzten Sprüngen in Sicherheit brachten, konnte aber nicht erkennen, ob es ihnen gelang, den heranrasenden Felsmassen noch rechtzeitig auszuweichen. Dann war das Gewitter da.
Es zog nicht etwa herauf, es war einfach da. Schwarzgraue Wolkengebirge quollen aus dem Nichts und verschlangen den Himmel über der Baustelle. Ein nicht enden wollendes Donnern und Dröhnen verschlang Warsteins erschrockene Schreie, und eine Sekunde später zuckten Blitze nieder, blaue, kerzengerade Lichtpfeile, die funkensprühend im Maschendrahtzaun und den Stromleitungen explodierten.
Im gleichen Moment begann es zu regnen, aber wie das Gewitter nicht einfach ein Gewitter war, war der Regen nicht einfach nur Regen. Es war, als stürze eine kompakte Wasserwand vom Himmel, eiskalt und mit solcher Wucht, daß Warstein und die anderen taumelten.
Warstein war binnen einer einzigen Sekunde bis auf die Haut durchnäßt. Für einen Moment bekam er kaum Luft. Er riß keuchend die Arme über den Kopf, um sein Gesicht zu schützen, und versuchte sich zu orientieren. Er mußte ins Haus. Der Regen prasselte mit solcher Gewalt vom Himmel, daß er Mühe hatte, sich auf den Füßen zu halten. Auf dem Boden stand bereits zentimeterhoch das Wasser, und hier und da begannen sich kleine Bäche zu bilden, die binnen weniger Augenblicke zu reißenden Wildwassern werden mußten.
Halb blind taumelte er zur Seite. Die Wolken bedeckten den Himmel von Horizont zu Horizont und schirmten das Sonnenlicht ab. Der wolkenbruchartige Regen machte es zusätzlich schwer, irgend etwas zu erkennen. Der Regen stach wie mit spitzen Nadeln in sein Gesicht; wenn er seine Augen traf, tat es weh, so daß er ununterbrochen blinzelte und zusätzlich Tränen seinen Blick verschleierten. Der Boden zitterte. Vom Hang des Berges lösten sich noch immer Steine und machten den Bereich an seinem Fuß zu einer tödlichen Falle. Die immer heftiger niederzuckenden Blitze verschlimmerten die Situation. In dem flackernden, stroboskopischen Licht wirkten alle Bewegungen verzerrt und falsch, alle Umrisse fremdartig und aggressiv. Die Welt hatte sich bewegt; in die Richtung, in der das Chaos und der Wahnsinn lagen.
Warstein taumelte geduckt vorwärts. Er hatte instinktiv wieder die Richtung zur Kantine eingeschlagen, dem nächstliegenden Gebäude, aber obwohl er nur ein paar Schritte entfernt gewesen war, als das Unwetter losbrach, hatte er bereits die Orientierung verloren. Vor ihm lag plötzlich der innere Zaun, der sich hinter der Kantinenbaracke erstreckte, und in dem strömenden Regen wäre er beinahe dagegengeprallt.
Wahrscheinlich hätte es ihm das Leben gekostet, denn in genau diesem Augenblick schlug ein blauweißer Blitz in den Maschendrahtzaun ein. Ein ungeheurer, peitschender Knall marterte seine Trommelfelle. Die Gitterkonstruktion vor ihm flammte auf wie der Glühdraht einer Birne. Geschmolzenes Metall explodierte in alle Richtungen, aber obwohl der Zaun schon gar nicht mehr existierte, zeichneten blaue Linien aus purer, knisternder Energie für einen Sekundenbruchteil seine Umrisse noch nach. Der Hieb einer unsichtbaren Faust traf Warstein und schleuderte ihn rücklings in den Morast. Er fiel, riß schützend die Hände vor das Gesicht und krümmte sich. Rings um ihn herum regnete zerschmolzenes Metall nieder. Überall zischte und blitzte es. Winzige Dampfgeysire stiegen auf, und zwei oder drei Tropfen des weißglühenden Drahtes trafen ihn.
Trotzdem hatte er Glück. Sein Gesicht und seine Hände blieben unversehrt, und seine Kleider hatten sich so mit Wasser vollgesogen, daß die glühenden Funken erloschen, ehe sie bis zu seiner Haut durchbrennen konnten.
Währenddessen nahm das Gewitter noch an Gewalt zu. Die Donnerschläge hatten sich zu einem einzigen, nicht mehr abbrechenden Grollen und Dröhnen vereint, das alle anderen Geräusche verschluckte. Der Regen war so heftig, daß er kaum einen Meter weit sehen konnte. Selbst die Blitze, die nicht in seiner unmittelbaren Nähe niederzuckten, waren nur noch als bläuliches Wetterleuchten zu erkennen, obwohl sie weiter mit unglaublicher Präzision auf den halbrunden Bereich vor dem Tunnel niederfuhren, auf dem sich das Lager erhob. Irgendwo schien es zu brennen. Er sah flackernden roten Feuerschein, ohne erkennen zu können, was da brannte oder in welcher Richtung genau. Armageddon, dachte er. Der Weltuntergang. Wenn es so etwas wie den Jüngsten Tag jemals geben sollte, dann würde er so beginnen.
Aber vielleicht hatte er das ja bereits.
Warstein stemmte sich mühsam hoch, erhob sich in eine geduckte, halb zusammengekrümmte Haltung und versuchte vergeblich, sich zu orientieren. Er befand sich am Zaun, aber er vermochte nicht zu sagen, ob er nach rechts oder links gehen mußte, um den Tunnel zu erreichen - wahrscheinlich den einzig wirklich sicheren Ort, um dieser Sintflut zu entgehen. Mindestens eine der Baracken schien zu brennen, und Warstein war sicher, daß das Unwetter allerhöchstem fünf Minuten brauchen würde, um die Gebäude, die den Blitzen entgingen, zu zerstören. Er mußte in den Tunnel.
Auf gut Glück stolperte er los. Nach ein paar Schritten prallte er gegen einen Mann, der zurückwankte und zu Boden fiel. Der Regen verschlang ihn, noch ehe Warstein sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte und ihm helfen konnte. Warstein taumelte weiter. Ein umgestürzter Wagen tauchte vor ihm auf, offensichtlich von einem Blitz getroffen. Hier und da schwelte das Metall, und anstelle von Rädern hatte er nur noch ausgeglühte, verbogene Felgen. Ein paar Männer taumelten an ihm vorüber, mit wild rudernden Armen und angstverzerrten Gesichtern. Ihre Münder bewegten sich, aber das Toben des Unwetters verschlang ihre Schreie. Warstein versuchte, sich den Lageplan des Baustellengeländes ins Gedächtnis zu rufen, aber es gelang ihm nicht. Er befand sich irgendwo zwischen dem Zaun und der Kantine, aber das war auch schon alles, was er wußte - ein paar Schritte zu weit in die falsche Richtung, und er lief Gefahr, in den Bereich des Steinschlages zu geraten oder wieder gegen den Zaun zu prallen. Wunderbar, dachte er sarkastisch. Er hatte die freie Auswahl, erschlagen oder gegrillt zu werden. Aber er konnte auch nicht hierbleiben. Es war noch nicht vorbei, das spürte er. Ganz im Gegenteil - das Schlimmste stand ihnen noch bevor. Wieder bebte die Erde, diesmal auf eine andere, direktere Art. Warstein spürte, wie sich tief unter seinen Füßen etwas bewegte; ein schweres, machtvolles Vibrieren und Zittern, als hätte sich etwas Großes, unvorstellbar Mächtiges geregt und eine neue Position eingenommen.
Irgendwie gelang es ihm, auf den Füßen zu bleiben, und vielleicht hatte er sogar so etwas wie einen Orientierungspunkt gefunden: etwas Riesiges, Gelbes tauchte für einen Moment aus dem Regen auf, nicht nahe genug, um es wirklich zu erkennen, sondern nur ein Schemen, dessen Umrisse von den vom Himmel stürzenden Wassermassen weggewaschen zu werden schienen. Trotzdem wußte er jetzt endlich, wo er war. Der gelbe Schemen war eine Transportmaschine, die unweit des Tunneleinganges stand. Er hatte sich dem Berg weiter genähert, als er geglaubt hatte. Dann sah er den Schatten dahinter, und aus seiner Vermutung wurde Gewißheit. Die Dunkelheit vor ihm war etwas intensiver als auf der anderen Seite; der Berg, der das Wetterleuchten der Blitze abschirmte. Die linke Hand schützend über das Gesicht gehoben und den anderen Arm tastend ausgestreckt wie ein Blinder in unbekanntem Terrain stolperte er weiter. Er sah immer wieder Männer aus dem Toben der Naturgewalten auftauchen; vertraute Dinge, deren Umrisse plötzlich fremd und gefährlich erschienen, und dazwischen bewegte sich noch etwas anderes, keine Schatten, aber auch keine Substanz, sondern etwas dazwischen, das nicht in diese Realität gehörte, sondern aus einer fremden, unvorstellbar anderen Wirklichkeit herüberdrängte.
Es war kein Unwetter. Nicht wirklich. Die Naturgewalten liefen Amok, aber es war nicht die Ursache, sondern Auswirkung dessen, was geschah. Das Tor war aufgestoßen worden, aus dem Haarriß in der Wirklichkeit wurde ein Spalt, in den das Ungeheuer seine Krallen geschlagen hatte und ihn weiter zu öffnen versuchte. Irgend etwas Fremdes drängte in diese Welt, und es war so unglaublich fremd und anders, daß sich die Kräfte der Natur mit aller Macht zur Wehr setzten. Warstein begriff plötzlich, daß sie sich mitten in einem Krieg befanden, die erste Schlacht der Kräfte des Hier und Jetzt gegen die des Irgendwann und Irgendwo, des Chaos gegen die Ordnung, ein Ringen unvorstellbarer Gewalten, in dem sie einfach zermalmt werden würden. Er mußte weg hier. In den Berg. Vielleicht war der Tunnel mit seinen Mauern aus Millionen Tonnen Felsgestein der einzig sichere Ort weit und breit. Vielleicht erwartete ihn dort auch der sichere Untergang, aber in diesem Moment war Warstein fest davon überzeugt, daß sie alle hier draußen den Tod finden mußten, wenn das Unwetter noch stärker wurde. Und das würde es.
Später sollte ihm klar werden, daß es nur Minuten gedauert hatte, ein kurzer, wenn auch unvorstellbar heftiger Ausbruch bizarrer Gewalten, doch während es andauerte, schien die Zeit stillzustehen. Nur noch ein Dutzend Schritte, und er war in Sicherheit, aber es war, als wäre er in einem jener Alpträume gefangen, in denen man rannte und rannte und doch nicht von der Stelle kam.
Etwas Hartes traf sein Gesicht. Warstein fiel mit einem überraschten Schrei auf die Knie, hob die Hand an die Wange und fühlte Blut; erst danach den pochenden tauben Schmerz. Aber es brauchte erst noch einen zweiten, ebenso heftigen Schlag gegen die Schulter, bis er wirklich begriff, was ihn getroffen hatte.
Hagel. Rings um ihn herum spritzte das Wasser wie in einer ununterbrochenen Folge von Miniatur-Explosionen auf, und er spürte, wie weitere harte Schläge seine Schultern und seinen Rücken trafen. Warstein schrie vor Schmerz auf, sprang in die Höhe und spurtete auf den rettenden Schatten vor sich los, wobei er versuchte, sein Gesicht so gut es ging vor den Hagelkörnern zu schützen. Sie waren unterschiedlich groß: er sah tödliche Geschosse von der Größe eines Tennisballes unweit von sich auf dem Boden zerschellen, andere wiederum waren wie Nadeln, die zwischen seinen schützend über das Gesicht gehaltenen Händen hindurchrasten und in seine Haut stachen. Er schrie jetzt ununterbrochen, aber das Toben der außer Rand und Band geratenen Naturgewalten verschlang selbst das Geräusch seiner eigenen Stimme in ihm. Er taumelte blind durch den tödlichen Vorhang aus Wasser und Eis und betete, daß er die Richtung beibehielt. Er blutete jetzt schon aus einem Dutzend kleiner und größerer Wunden, und sein Körper fühlte sich an, als wäre er mit Hämmern bearbeitet worden. Er würde keine zwei Minuten in dieser Hölle mehr überstehen.
Wieder stolperte er. Warstein versuchte mit wild rudernden Armen und einem grotesk weit ausladenden Schritt, sein Gleichgewicht zu halten, doch in diesem Moment traf ihn ein taubeneigroßes Hagelkorn wie ein Faustschlag zwischen die Schulterblätter. Er stürzte der Länge nach in den Morast, schluckte Wasser und hob hustend und qualvoll nach Atem ringend das Gesicht aus dem Wasser. Im ersten Moment war er fast blind. Wasser lief ihm in die Augen, und der Schmerz ließ bunte Kreise und Blitze vor seinem Blick explodieren.
Und dann ... sah er.
Vielleicht war es der Schmerz. Vielleicht seine Benommenheit, der Umstand, daß sein Bewußtsein die Grenze zur Ohnmacht schon halb überschritten hatte, aber gleich, aus welchem Grund - er wußte mit unerschütterlicher Sicherheit, daß es keine Halluzination war.
Vor ihm war ein Riß in der Wirklichkeit entstanden. Regen, Hagel und Dunkelheit falteten sich auseinander, einer Leinwand gleich, die von einer brutalen Gewalt auseinandergerissen wurde, so daß sein Blick zwischen den zerknitterten Rändern hindurch auf das fiel, was dahinter lag.
Es dauerte weniger als eine Sekunde, und Warstein konnte hinterher nicht mehr sagen, ob er einen Blick in die Hölle oder den Himmel geworfen hatte. Hinter der Mauer dessen, was er bis zu diesem Moment für die einzige und wahre Wirklichkeit gehalten hatte, lag...
Etwas. Eine fremde Welt voller bizarrer Dinge, unbeschreiblich schön und unvorstellbar erschreckend zugleich, und so anders, daß sein in der Welt des Hier und Jetzt geborenes Bewußtsein das allermeiste nicht einmal verarbeiten konnte; er sah die Dinge, wie sie menschlichen Augen erscheinen mochten, nicht wie sie waren. Da waren Dinge, vielleicht eine Landschaft, vielleicht etwas, das so völlig fremd war, daß es in seiner Sprache keinen Begriff dafür gab. Ein Himmel, der auf eine furchtbare Weise zu leben schien und unter dem sich unbeschreibliche, schwarze Kreaturen am Ufer eines grundlosen Sees immerzu bewegten...
Dann war es vorbei, so schnell, wie es gekommen war. Die Wunde in der Realität schloß sich wieder, und zugleich wurde sich Warstein wieder der Gefahr bewußt, in der er noch immer schwebte. Das Bombardement aus Hagelkörnern hatte nicht aufgehört. Daß er bisher noch nicht von einem großen Geschoß getroffen und ernsthaft verletzt oder gar getötet worden war, glich einem Wunder.
Warstein hatte nicht vor, sein Glück noch weiter auf die Probe zu stellen. Hastig rappelte er sich hoch, zog den Kopf zwischen die Schultern und rannte los. Alles, was weiter als einen Meter entfernt war, verschlang der Regen. Aber nach ein paar Schritten stolperte er über etwas Hartes, das metallisch und gerade in den schlammigen Fluten glitzerte, durch die er lief. Die Schienen. Warstein wandte sich nach links. Er konnte nur noch ein paar Meter vom Tunneleingang entfernt sein, aber sein Ziel kam einfach nicht näher. Für einen Moment hatte er eine furchtbare Vision: er sah sich selbst, nur wenige Meter von der Rettung entfernt, in die falsche Richtung rennend und damit in den sicheren Tod. Endlich sah er einen Lichtschein vor sich - der Tunnel! Warstein mobilisierte verzweifelt noch einmal alle Kräfte, um die letzten Meter zurückzulegen, aber es wurde trotzdem zu einem Spießrutenlauf. Als hätte der Sturm begriffen, daß ihm seine schon sicher geglaubte Beute im allerletzten Moment doch noch zu entkommen drohte, fiel er noch einmal mit Urgewalt und einem wahren Stakkato von Hagelkörnern und nadelspitzen Regentropfen über ihn her. Irgendwie schaffte er es, das letzte Stück auch noch zu überwinden, aber als er in die Sicherheit des Tunneleinganges taumelte, war er am Ende seiner Kräfte. Vollkommen erschöpft ließ er sich gegen die Wand sinken. Alles drehte sich um ihn. Wie über weite Entfernung hinweg registrierte er, daß der Bereich unmittelbar hinter dem Stolleneingang voller Menschen und aufgeregter Stimmen und hektischer Bewegung war, aber er war nicht in der Lage, irgendeinen dieser Eindrücke wirklich zu verarbeiten. Ihm wurde übel. Er schloß die Augen und schluckte ein paarmal, um den Brechreiz zu unterdrücken, der plötzlich in seiner Kehle emporkroch. Es wurde nicht besser dadurch.
Jemand rief seinen Namen. Warstein öffnete die Augen und sah eine Gestalt in einem weißen Kittel auf sich zukommen. Erst nach zwei oder drei weiteren Sekunden klärte sich sein Blick weit genug, um sie zu erkennen. Es war Franke. »Warstein, um Gottes willen. Ist Ihnen was passiert?« Franke kam mit weit ausgreifenden Schritten näher und blieb abrupt stehen, als er noch zwei Meter entfernt war. Die Sorge in seinem Gesicht war echt.
»Sie bluten ja!« rief er erschrocken. »Sind Sie verletzt? Was ist geschehen?« Warstein hob müde die Hand und betastete mit zusammengebissenen Zähnen seine Stirn. Er fühlte eine kleine, aber brennende und offenbar heftig blutende Wunde über seiner linken Augenbraue, und auch aus seinem Haaransatz sickerte ein warmer, klebriger Strom. Es schien keine Stelle an seinem Körper zu geben, die nicht auf die eine oder andere Weise weh tat. Aber er redete sich zumindest ein, nicht schwer verletzt zu sein.
»Es geht schon«, murmelte er - offenbar mit so wenig Überzeugung, daß Franke plötzlich noch besorgter aussah und einen Schritt näher kam. »Wirklich, ich ... es geht schon. Ich brauche nur einen Augenblick, um mich zu erholen. Das war verdammt knapp. Ich habe schon gedacht, ich schaffe es nicht mehr.«
»Sind Sie wirklich in Ordnung?« fragte Franke besorgt. Er hob die Hand, als wolle er Warsteins Gesicht berühren. »Sie sehen schlimm aus.«
»Es geht schon«, erwiderte Warstein. »Was ist mit den anderen?«
»Ich habe keine Ahnung«, gestand Franke. »Aber ich denke, die meisten werden es geschafft haben, irgendwie in Sicherheit zu kommen.« Er schüttelte ein paarmal den Kopf und sah zum Eingang. Die Normalität war auf den Kopf gestellt: Der Tunnel war hell erleuchtet, während die Welt draußen zu einem schwarzen Loch geworden war. »Ich habe ja schon viel erlebt, aber so etwas noch nicht. Man könnte meinen, die Welt geht unter.«
»Vielleicht tut sie das ja«, sagte Warstein leise.
Er sah, wie es in Frankes Augen zornig aufblitzte. Aber die scharfe Entgegnung, mit der er rechnete, blieb aus. Franke sah ihn nur eine Sekunde lang wütend an, dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging.
Warstein blieb eine ganze Weile, wo er war; nicht nur, um Kräfte zu sammeln, sondern auch, um wieder zu sich selbst zu finden. Sein Blick hing wie hypnotisiert an dem gewaltigen, steinernen Torbogen, hinter dem die Welt einfach aufzuhören schien, und für etliche Sekunden fragte er sich allen Ernstes, ob es vielleicht tatsächlich so war. Sie lebten und waren zumindest für den Augenblick in Sicherheit - aber was war mit Draußen?
Existierte es noch, oder war Saruters Prophezeiung wahr geworden, und das Tor hatte sich geöffnet und die Welt der Menschen verschlungen?
Der Gedanke kam ihm selbst absurd vor, aber er hatte nicht vergessen, was er dort draußen gesehen hatte, hinter dem Regen. Er fragte sich, warum er Franke nicht davon erzählt hatte, aber natürlich wußte er auch im gleichen Moment schon die Antwort auf diese Frage: weil Franke ihm nicht geglaubt hätte. Weil er ihm gar nicht glauben wollte.
Ein sanftes Zittern unter seinen Füßen riß ihn aus seinen Gedanken. Im ersten Moment war er nicht sicher, aber schon nach einer Sekunde wiederholte sich das Beben, und er war nicht der einzige, der es bemerkte. Überall hielten die Männer erschrocken in ihren Unterhaltungen inne; einige sahen nach oben, als rechneten sie damit, daß die Decke einstürzte. Aber der mit Stahlbeton verstärkte Bogen hielt. Noch.
Warstein blickte rasch wieder zum Eingang. Die Schwärze schien intensiver geworden zu sein, und er hatte plötzlich das Gefühl, daß dahinter etwas herankroch; vielleicht die schwarzen Kreaturen aus seiner Vision, vielleicht auch etwas anderes, das noch schlimmer sein mochte. Irgend etwas bewegte sich in der Dunkelheit.
Er schüttelte den Gedanken ab. Selbst wenn es so war, würde niemand auf ihn hören, selbst wenn - die Gewalten, die sie mit ihrem Tun heraufbeschworen hatten, waren keine, vor denen man warnen konnte. Sie konnten nur warten und hoffen, daß es irgendwie vorbeiging.
Warstein löste sich von seinem Platz und machte sich auf die Suche nach Franke. Er war nicht der einzige, der auf die eine oder andere Art verletzt war. Warstein schätzte, daß sich in dem Bereich hinter dem Stolleneingang an die hundert Männer aufhielten, nahezu alle bis auf die Haut durchnäßt und erschöpft, viele mit blutigen Schrammen und Kratzern auf Gesicht und Händen, und alle mit der gleichen, ungläubigen Furcht in den Augen. Obwohl der Tunnel Platz genug für die zehnfache Anzahl von Männern geboten hätte, hatten sie sich in einem kleinen Bereich vielleicht zwanzig Meter hinter dem Eingang versammelt; wie eine Herde verängstigter Tiere, die vor den Naturgewalten Schutz gesucht hatten und sich instinktiv aneinanderdrängten.
Er fand Franke ganz am Ende dieser Gruppe, in einen heftigen Streit mit Hartmann und einem weiteren Mann im weißen Kittel eines Technikers verstrickt. Warstein konnte nicht verstehen, worum es ging, denn Franke unterbrach sich mitten im Wort, als er ihn bemerkte. Der Techniker ergriff die Gelegenheit, sich hastig zurückzuziehen, während Hartmann nur abwechselnd ihn und Franke anstarrte.
»Warstein, gut, daß Sie kommen!« sagte Franke. Er deutete verärgert auf den Sicherheitsbeamten. »Vielleicht hört er ja auf Sie!«
»Worum geht es?« erkundigte sich Warstein. Fragend blickte er Hartmann an, aber das einzige, was er auf seinem Gesicht las, war eine Mischung aus Entschlossenheit und Trotz.
»Vielleicht können Sie diesem Verrückten ja Vernunft beibringen!« grollte Franke. »Er will tatsächlich wieder hinaus.«
»Das meinen Sie nicht ernst!« sagte Warstein erschrocken.
»Ein paar von meinen Männern sind noch draußen«, erwiderte Hartmann. »Jemand muß nach ihnen sehen.«
»Was Sie sehen werden, ist gar nichts«, antwortete Warstein überzeugt. »Franke hat recht - es ist Selbstmord, dort hinauszugehen, glauben Sie mir. Wer immer jetzt dort hinausgeht, spielt mit seinem Leben.«
»Es ist nur ein Unwetter«, behauptete Hartmann.
»Das ist es nicht«, antwortete Warstein. »Sie wissen das so gut wie ich. Seien Sie vernünftig. Wer nicht hier drinnen ist, hat mit Sicherheit in einem der Häuser Schutz gesucht. Und selbst wenn nicht - Sie können niemandem dort draußen helfen.«
»Ich bin für die Sicherheit in diesem Lager verantwortlich«, beharrte Hartmann. »Sie haben es selbst gesagt - wer jetzt noch dort draußen ist, ist in Lebensgefahr. Verlangen Sie ernsthaft von mir, daß ich hierbleibe und nichts tue?«
»Sie irren sich«, sagte Warstein. »Wer jetzt noch dort draußen ist, ist tot, Hartmann. Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin mit knapper Not entkommen.«
»Sie übertreiben, Warstein«, sagte Franke nervös, ehe er sich wieder an Hartmann wandte. »Ende der Diskussion. Sie bleiben hier, bis das Schlimmste vorbei ist. Irgendwann wird dieses Unwetter schließlich wieder aufhören.«
»Das ist kein Unwetter«, sagte Warstein noch einmal, und diesmal konnte Franke nicht mehr so tun, als hätte er die Worte nicht gehört.
»Reden Sie keinen Unsinn, Mann«, sagte er scharf. »Was zum Teufel soll es sonst sein?«
»Das, wovor Saruter uns gewarnt hatte«, entgegnete Warstein. »Was ist los mit Ihnen, Franke? Sind Sie blind? Haben Sie jemals ein solches Unwetter erlebt?«
»Nein«, antwortete Franke. Er hatte Mühe, nicht loszuschreien. »Aber ich habe eine Menge Dinge noch nicht selbst erlebt. Das heißt nicht, daß ich deshalb gleich an Gespenster oder kleine grüne Männchen vom Mars glaube.« Seltsam, dachte Warstein. Davon hatte er nichts gesagt, es nicht einmal angedeutet. Und noch seltsamer war vielleicht, daß Franke zumindest der letzte Teil seiner Antwort sichtlich unangenehm zu sein schien. Aber er war viel zu aufgewühlt, um länger als eine halbe Sekunde darüber nachzudenken.
»Ich -«
»Sie«, unterbrach ihn Franke scharf, und in einer Tonlage, die nur noch eine winzige Nuance davon entfernt war, wirklich zu schreien, »sind dabei, sich allmählich wirklichen Ärger einzuhandeln, Warstein.« Er gestikulierte aufgeregt zum Eingang zurück, ohne Warstein dabei aus den Augen zu lassen. »Dort draußen hat es Verletzte gegeben, vielleicht Tote! Ich habe wahrlich genug Ärger am Hals. Ich brauche nicht noch einen Spinner, der irgend etwas über den Fluch der Berge erzählt oder die Rache der Natur an den Menschen! Haben Sie das verstanden?« Er funkelte Warstein eine Sekunde lang an, und vielleicht, hätte er die Herausforderung in diesem Moment angenommen, wäre alles ganz anders gekommen, denn er spürte sehr wohl die Unsicherheit, die sich hinter Frankes aufgesetztem Zorn verbarg. Aber er tat es nicht, und nach einer Sekunde drehte sich Franke wieder herum und fuhr im gleichen, schneidenden Ton Hartmann an: »Und Sie werden verdammt noch mal tun, was ich Ihnen sage, und so lange hierbleiben, bis die Gefahr vorüber ist!«
»Das werde ich nicht«, sagte Hartmann ruhig. »Sie können mich, Franke, und das kreuzweise. Ich kündige.«
Franke wurde bleich. »Sie kündigen?« ächzte er. »Kaum! Ich schmeiße Sie raus, Hartmann, auf der Stelle!«
»Na, dann sind wir uns ja ausnahmsweise einmal einig«, sagte Hartmann. Franke schluckte, aber der harte Glanz in Hartmanns Augen machte wohl selbst ihm klar, daß es an der Zeit war, die Taktik zu ändern.
»Seien Sie doch vernünftig, Hartmann«, sagte er. »Sie können nicht -«
»Ich kann, und ich werde«, unterbrach ihn Hartmann. »Versuchen Sie mich aufzuhalten.« Damit wandte er sich um und begann auf den Stolleneingang zuzugehen, um seine Ankündigung in die Tat umzusetzen.
Aber er kam nicht dazu. Hartmann hatte noch keine drei Schritte getan, als aus der stygischen Schwärze jenseits des Tores eine Gestalt auftauchte; breitschultrig, geduckt und in einen gelben Regenmantel gehüllt, dessen hochgeschlagene Kapuze ihr Gesicht verbarg. Trotzdem wußte Warstein, um wen es sich handelte, schon Sekunden, bevor Saruter die Kapuze zurückschlug und sich mit beiden Händen durch das Gesicht fuhr. Kein normaler Mensch hätte es geschafft, durch diese Hölle zu ihnen zu gelangen. Er war nicht einmal sehr überrascht. Irgendwie hatte er gewußt, daß der Alte kommen würde.
»Das darf doch nicht wahr sein!« murmelte Franke. »Das... Warstein! Haben Sie damit zu tun?«
»Nein«, antwortete Warstein wahrheitsgemäß. »Aber ich bin nicht überrascht, daß er hier ist. Sie?« Er ging Saruter entgegen, aber zu seiner Überraschung sah ihn der alte Mann nur flüchtig und auf eine sonderbar traurige Weise an und trat an ihm vorbei auf Franke zu.
»Was suchen Sie hier?« fuhr Franke ihn an. »Ich habe Ihnen verboten, das Betriebsgelände zu betreten!«
Saruter nahm die Worte gar nicht zur Kenntnis. »Ihr habt also nicht auf mich gehört«, sagte er vorwurfsvoll. »Nun ist es vielleicht zu spät.«
»Ich habe Sie gefragt, was Sie hier zu suchen haben!« Franke brüllte nun wirklich - wenigstens versuchte er es. Aber Zorn und Unbeherrschtheit machten seine Stimme zu einem hysterischen Quietschen, das eher lächerlich klang. »Ich habe wirklich im Moment Besseres zu tun, als mich mit einer Bande von Verrückten herumzuschlagen!«
»Du hast schon viel zu viel getan«, sagte Saruter leise. »Ich habe dich gewarnt, aber du wolltest nicht hören. Jetzt tragt ihr alle die Konsequenzen.«
»Das reicht!« keuchte Franke. »Hartmann, nehmen Sie den Mann fest!« Hartmann rührte sich nicht.
»Worauf warten Sie?!« schrie Franke. Er fuhr auf dem Absatz herum, und für eine Sekunde konzentrierte sich sein ganzer Zorn auf Hartmann, der in einer Mischung aus Ratlosigkeit und Schadenfreude dastand und zusah, wie Frankes Gesicht abwechselnd weiß und rot wurde. »Sind Sie schwerhörig? Schaffen Sie mir diesen Irren aus den Augen!«
»Sie haben mich gerade gefeuert«, sagte Hartmann ruhig. »Schon vergessen?«
»Bitte!« Warstein trat mit einem raschen Schritt zwischen sie und versuchte, Frankes Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Hartmann war dabei, sich um Kopf und Kragen zu reden, und er begriff es wahrscheinlich noch nicht einmal. Er machte eine beruhigende Geste, dann wandte er sich an Saruter. »Warum sind Sie gekommen?« fragte er. »Bitte, wenn Sie uns etwas zu sagen haben, dann tun Sie es. Ich werde zuhören.«
»Ich weiß«, antwortete Saruter. »Aber es gibt nichts, was ich dir sagen könnte. Alles, was du wissen mußt, habe ich dir gesagt. Ich kann vielleicht noch etwas tun.«
»Was?« fragte Warstein. Er sah aus den Augenwinkeln, wie Franke sich straffte, um erneut über Saruter herzufallen, und unterbrach mit einem neuerlichen Schritt den direkten Blickkontakt zwischen ihnen. »Was geht hier vor?« fragte er. »Was ist hier passiert, Saruter?«
»Du weißt es«, erwiderte der alte Mann geheimnisvoll. Er deutete auf Franke. »Und er weiß es auch, vielleicht besser als du. Ich habe ihn gewarnt, aber ich wußte, daß er nicht auf mich hören würde.«
»Hören Sie endlich auf, Warstein!« keuchte Franke. »Der Mann redet dummes Zeug, und Sie...«
»Wahrscheinlich ist es nicht einmal seine Schuld«, fuhr Saruter fort, ohne Frankes beginnende Hysterie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. »Er kann nicht anders, weil er eben so ist, wie er ist.«
»Jetzt reicht es! Ich werde nicht zulassen, daß -«
Warstein fuhr mit einer so abrupten Bewegung herum, daß Franke erschrocken abbrach und instinktiv einen Schritt vor ihm zurückwich. »Halten Sie endlich den Mund!« sagte er. »Meinetwegen werfen Sie mich auch raus, aber jetzt werden Sie die Klappe halten und zuhören, ist das klar?«
Er war nicht sicher, ob Franke tatsächlich erschrocken oder einfach nur vollkommen fassungslos war, ihn in diesem Ton reden zu hören, aber das blieb sich auch gleich: er wich verstört noch einen weiteren Schritt vor Saruter und ihm zurück und war still.
»Also?« fragte Warstein. »Was geht hier vor? Was ist das da draußen? Das ist doch kein normales Unwetter.«
»Nein«, antwortete Saruter traurig. »Das Tor öffnet sich. Schneller, als ich selbst geglaubt habe. Und es ist schlimmer, als ich befürchtet habe.«
»Sie meinen, daß es ... nicht aufhören wird?« Warstein sah unsicher zum Tunnelende. Die Schwärze war noch immer da, aber er hatte jetzt wieder - und stärker! - das Gefühl, daß sich darin und dahinter irgend etwas bewegte. Etwas Großes, Falsches, das nicht in diese Welt gehörte. Und das näher kam.
»Es hat begonnen«, sagte Saruter. »Und es wird nicht enden, bevor das uralte Gleichgewicht nicht wieder hergestellt ist.«
Also hatte er recht gehabt, dachte Warstein. Was er für eine aus Hysterie geborene Wahnvorstellung gehalten hatte, war in Wahrheit eine gräßliche Vision dessen gewesen, was kam. Der Sturm würde nicht aufhören. Er würde diesen Berg verschlingen, dieses Tal, vielleicht dieses Land, ja, vielleicht diese ganze Welt.
»Können Sie ... irgend etwas tun?« fragte er stockend.
»Ich werde es versuchen«, antwortete Saruter. »Ich weiß nicht, ob meine Kräfte reichen. Ich bin alt und schwach, und ich bin nur einer, wo viele nötig wären. Aber ich werde tun, was ich vermag.« Er zögerte einen Moment, dann huschte ein flüchtiger Ausdruck von Trauer über sein Gesicht, dessen wahre Bedeutung Warstein erst viel später begreifen sollte. »Wenn ich versage, mußt du es tun«, sagte er. »Es gibt nicht mehr viele wie dich.«
»Ich?!« antwortete Warstein erschrocken. »Aber ich ... ich weiß ja nicht einmal, was ... was hier überhaupt geschieht, geschweige denn, was ich tun muß!«
»Du wirst es wissen«, sagte Saruter. »Ich kann und darf dir jetzt nicht mehr sagen. Nur soviel: sollte ich versagen und das Tor sich öffnen, so braucht es die Kraft von dreien, um es wieder zu schließen. Einer der weiß, einer der sieht, und einer der liebt. Und nun wünsch mir Glück.«
Er lächelte noch einmal, wieder auf diese seltsame Art, die Warstein einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Dann ging er an Franke und Hartmann vorbei tiefer in den Tunnel hinein. Franke hob die Hand, wie um ihn zurückzuhalten, aber ein einziger, eisiger Blick aus Saruters Augen ließ ihn mitten in der Bewegung erstarren.
Saruter ging langsam weiter, und während er es tat, veränderte sich etwas in der Tunnelstrecke vor ihm; zuerst so unmerklich, daß Warstein es nicht einmal bemerkte. Es war etwas mit dem Licht, aber es war keine wirklich sichtbare Veränderung, nur ein Wandel des Fühlbaren. Es war, als verschöbe sich die Wirklichkeit in eine Richtung, die es gar nicht gab.
Und erst jetzt, erst in diesem Moment, begriff er, was Saruter vorhatte. Was draußen geschah, hatte ihm nichts anhaben können, so wenig, wie er dort etwas daran ändern konnte. Er war auf dem Weg dorthin, wo alles begonnen hatte. Ins Herz des Berges. Dorthin, wo das Tor war. Und das Siegel, das sie gebrochen hatten.
Plötzlich wußte er, daß er ihn nicht wiedersehen würde, ganz gleich, ob er Erfolg hatte oder nicht.
»Nein!« flüsterte er. »Tun Sie es nicht. Kommen Sie zurück. Kommen Sie zurück!«
Er hatte nicht wirklich damit gerechnet, aber Saruter blieb tatsächlich noch einmal stehen und sah zu ihm zurück. Trotz der bereits großen Entfernung konnte er spüren, wie der Blick des Alten für einen Moment auf ihm ruhte, und er spürte auch die Botschaft, die er beinhaltete. Er durfte nicht weitergehen. Nicht jetzt. Was dort drinnen zu tun war, war ganz allein Saruters Sache. Er würde es bewältigen oder nicht, aber er konnte rein gar nichts dazu tun. Und er durfte es nicht, denn er wurde gebraucht. Später.
Ein sachtes Zittern lief durch den Boden, und plötzlich heulte der Wind draußen vor dem Berg mit zehnfacher Macht los, als spürten die mythischen Gewalten, die ihn entfesselt hatten, die Gefahr, die ihnen plötzlich drohte. Saruter war kein alter, schwacher Mann. Er war der letzte der Druiden, ein mächtiger Zauberer, der gekommen war, um den Riß zwischen den Welten zu schließen.
»Das ... das ist verrückt!« sagte Hartmann. »Seht doch! Da!«
Es war etwas in seiner Stimme, was Warstein aufhorchen ließ. Beinahe mühsam riß er seinen Blick von Saruters Gestalt los und folgte Hartmanns ausgestreckter Hand, die nach oben wies, zu der gewölbten Tunneldecke acht Meter über ihnen.
Der mit Stahl verstärkte Beton hatte Risse bekommen. Der Boden vibrierte noch immer, und obwohl das Beben längst nicht so heftig war wie das vor wenigen Minuten, mußten die destruktiven Kräfte, die es entwickelte, hundertmal stärker sein, denn jeder winzige Stoß ließ die Risse und Spalten breiter werden. Staub und winzige Steinsplitter regneten von der Tunneldecke, und wo vor einer halben Minute noch glatter, kunststoffverkleideter Beton gewesen war, erstreckte sich jetzt ein Spinnennetz aus fast geometrisch verlaufenden Rissen und Sprüngen, das immer dichter und dichter wurde. Zugleich geschah etwas mit dem Licht hinter Saruter. Es wurde heller und schien zu pulsieren. Es kam nicht mehr allein aus den Lampen, die in regelmäßigen Abständen unter der Stollendecke angebracht waren, sondern war einfach da, als leuchte die Luft selbst unter dem Widerschein der unvorstellbaren Energien, die sie plötzlich durchströmten.
»Der Tunnel stürzt ein!« keuchte Franke. »Zurück! Um Gottes willen - weg hier!« Sein Schrei hatte genau die Wirkung, die er hätte voraussehen können - er löste eine Panik unter den Männern aus. Plötzlich fuhr alles herum und rannte, aber es gab nichts, wohin sie flüchten konnten. Hinter ihnen begann sich die Tunneldecke durchzubiegen, als presse von oben die Faust eines Giganten dagegen, vor ihnen lag der Sturm, der mit solcher Urgewalt an den Fundamenten des Gridone riß und zerrte, daß der ganze Berg wie unter Schmerzen zu stöhnen schien. Dicht vor dem Eingang entstand ein unvorstellbares Gedränge, als die, die vor dem Sturm zurückprallten, von denen, die vor der niederbrechenden Decke flohen, weitergeschoben wurden. Auch Warstein wurde halb mitgerissen, halb wich auch er vor der zerbrechenden Stahlbetondecke zurück, die nur wie durch ein reines Wunder noch nicht zur Gänze herabgefallen war.
Aber er sah auch, daß sich der instabile Teil des Tunnels auf einen schmalen, fast schnurgerade abgegrenzten Bereich dicht vor und über Saruter beschränkte. Es war ein von Boden zu Boden reichender Halbkreis der Tunnelröhre, der zu zerbröckeln begann, nicht der ganze Stollen. Er war nicht einmal sonderlich breit.
Es gelang ihm irgendwie, sich aus dem Strom der Fliehenden zu lösen und stehenzubleiben. Saruter hatte sich wieder herumgedreht und ging weiter, und obwohl er sich langsam bewegte, mit gemessenen, fast feierlich wirkenden Schritten, schien er sich zugleich mit phantastischer Geschwindigkeit zu entfernen. Schon war er nur noch als Umriß zu erkennen, dann nur noch als winziger dunkler Fleck vor dem immer intensiver werdenden Licht, das aus dem Nirgendwo kam.
»Dieser Wahnsinnige!« rief Hartmann plötzlich. »Er ... er bringt sich um! Kommen Sie zurück!«
Wahrscheinlich hörte Saruter die Worte gar nicht mehr, aber Hartmann wartete auch nicht ab, ob er irgendwie darauf reagierte, sondern stürzte plötzlich los und begann mit weit ausgreifenden Schritten hinter ihm herzurennen.
»Nein!« schrie Warstein. »Hartmann - nein!«
Er versuchte, Hartmann zurückzureißen, aber seine Hände griffen ins Leere. Verzweifelt hetzte er hinter ihm her, doch der fast doppelt so alte Mann entwickelte eine schier unglaubliche Schnelligkeit. Unentwegt nach Saruter brüllend, sprang er mit gewaltigen Sätzen hinter ihm her und erreichte den instabilen Teil des Tunnels, ehe Warstein noch die halbe Strecke zurückgelegt hatte.
Als er sich direkt darunter befand, stürzte die Decke ein. Aber sie stürzte nicht einfach herunter. Der Stein zerbrach nicht, sondern senkte sich wie eine kompakte Wand mit unvorstellbarer Wucht und Schnelligkeit herab und stanzte in den Boden. Erst dann zerbarst das gewaltige Felssegment zu Millionen und Abermillionen einzelner Teile.
Der Aufschlag erschütterte den gesamten Berg. Zusammen mit allen anderen wurde Warstein von den Füßen gerissen und hilflos durch die Luft gewirbelt. Der Tunnel schlug einen grotesken, zweieinhalbfachen Salto vor seinen Augen, und er sah noch, wie der Boden auf ihn zuzuspringen schien.
Dann nichts mehr.
»Sie hatten recht«, sagte Lohmann, als Warstein seine Erzählung beendet hatte und mit zitternden Fingern nach dem Kaffee griff, den Angelika ihm eingeschenkt hatte. »Das ist die verrückteste Geschichte, die ich seit langer Zeit gehört habe.«
»Dabei habe ich Ihnen das Verrückteste noch gar nicht erzählt«, antwortete Warstein. Er hätte seinen rechten Arm für ein Bier gegeben, aber es war einfach nicht der Moment, danach zu fragen. »Zwei Tage später haben sie die Strecke nachgemessen, die zwischen dem Eingang und der Stelle lag, an der die Decke heruntergekommen ist. Es waren genau zweiundsiebzig Meter.«
Lohmann schien die Pointe gar nicht zu begreifen, aber Angelika sah ihn stirnrunzelnd an. »Die Strecke, die dein Laser nachgemessen hat.«
»Auf den Zentimeter genau, ja.« Er beantwortete die Frage zusätzlich mit einem Nicken und trank von seinem Kaffee, der so heiß war, daß er den Geschmack nicht feststellen konnte. Trotzdem nahm er gleich darauf einen zweiten Schluck. »Ich wußte, daß ihr mir nicht glaubt.«
»Wer sagt, daß ich das nicht tue?« erwiderte Lohmann. »Ich kann nicht beurteilen, was damals wirklich passiert ist. Schließlich war ich nicht dabei. Aber ich glaube Ihnen gerne, daß Sie es so erlebt haben.«
Eine freundliche Umschreibung dafür, daß er mich für völlig meschugge hält, dachte Warstein. Aber er beschwerte sich nicht. Wie die Dinge lagen, war das wohl schon mehr, als er eigentlich erwarten konnte.
»Wie viele Tote hat es gegeben?« fragte Angelika stockend. Das Gehörte hatte sie sichtlich betroffen gemacht, während Lohmann nicht einmal einen Hehl daraus machte, daß er die Geschichte für äußerst spannend hielt, sie ihn aber ansonsten ungefähr so berührte wie der Wetterbericht der vergangenen Woche.
Trotzdem war er es, der antwortete, nicht Warstein. »Fünf«, sagte er. »Hartmann mitgerechnet. Dazu eine ganze Anzahl Verletzter und Sachschäden in Millionenhöhe. Der Sturm hatte alles plattgemacht, was nicht unter Fels oder Stahlbeton geschützt lag.« Er grinste. »Ihr seht, ich habe meine Schulaufgaben gemacht.«
»Warum lassen Sie mich dann die ganze Geschichte noch einmal erzählen?« fragte Warstein verärgert. Es hatte ihn große Kraft gekostet, alles noch einmal zu durchleben. Dies war der Teil seiner Erinnerung, den er am tiefsten vergraben hatte, verbarrikadiert hinter einer Mauer des Leugnens und Nicht-mehr-wissen-wollens, an der er drei Jahre lang geduldig gearbeitet hatte. Tatsächlich fühlte er sich so erschöpft, als hätte er wirklich alles noch einmal durchgemacht. Und der wirkliche Schrecken, das spürte er, würde erst noch kommen.
»Ich kannte sie bisher nur aus dritter Hand«, antwortete Lohmann ungerührt. »Aus den Berichten meiner Kollegen, die manchmal vielleicht nicht ganz so objektiv sind... Es hat mich interessiert, was Sie zu erzählen haben.« Er beantwortete Warsteins bohrende Blicke mit einem geradezu unverschämten Grinsen. »Wie ging es weiter?«
Als ob das, was er von ihm verlangt hatte, noch nicht genug gewesen wäre, wollte er also auch noch den ganzen bitteren Rest der Geschichte hören. Offenbar gehörte er wirklich zu den Leuten, denen es besonderes Vergnügen bereitete, das Messer in der Wunde noch einmal herumzudrehen. Oder er war ungefähr so sensibel wie eine Straßenwalze. Warstein wußte nicht einmal, welcher Möglichkeit er den Vorzug geben sollte.
»Das ist schnell erzählt«, sagte er - obwohl es im Grunde der längere Teil der Geschichte war. »Ich habe es selbst zu Ende gebracht. Ich war dumm genug, mir tatsächlich einzubilden, daß Franke nach dem, was er erlebt hatte, endlich auf mich hören würde. Leider war das nicht der Fall. Die offizielle Version war ein plötzlicher Wetterumschwung, zusammen mit einem dadurch ausgelösten Erdbeben.«
»Seit wann lösen Gewitter Erdbeben aus?« fragte Angelika mit hochgezogenen Brauen.
»Vielleicht war es auch umgekehrt«, antwortete Warstein müde. »Ich weiß es nicht mehr. Auf jeden Fall hat er sich eine Erklärung zurechtgebastelt, die sowohl die Medien als auch seine Vorgesetzten zufriedengestellt hat. Ein Unfall eben.«
»Aber er hat doch alles mit eigenen Augen gesehen!« sagte Angelika. »Und alle anderen auch.«
»Er hat etwas gesehen. Aber ich bin mir mittlerweile nicht einmal mehr sicher, ob es wirklich dasselbe war wie bei mir.«
»Ich glaube eher, daß er es nicht sehen wollte.«
Warstein war ehrlich verblüfft. Ausgerechnet von Lohmann Schützenhilfe zu bekommen, war nun wirklich das letzte, womit er gerechnet hätte. Bevor Lohmann jedoch fortfahren konnte, klingelte das Telefon. Warstein fuhr ganz leicht zusammen und sah aus den Augenwinkeln, wie Angelika erbleichte.
»Das ist Franke«, sagte Lohmann. Er renkte sich fast die Schulter aus, um das Telefon am Armaturenbrett zu erreichen, und sah abwechselnd Angelika und Warstein an. »Wer von euch beiden möchte mit ihm sprechen?«
»Schalten Sie den Lautsprecher ein«, antwortete Warstein. »Wir sind doch eine verschworene Gemeinschaft, die keine Geheimnisse voreinander hat, oder?« Er lachte, aber Angelika, zu deren Aufmunterung allein dieser laue Scherz gedacht war, reagierte gar nicht. In ihrem Blick flackerte Panik. Warstein konnte sie gut verstehen - gestern abend war es ihr leichtgefallen, Frankes Angebot abzulehnen. Es erforderte nicht viel Mut, eine Entscheidung zu fällen, die nicht endgültig war. Jetzt stand ihr diese Hintertür nicht mehr offen.
Lohmann drückte eine Taste auf dem Telefon, und Warstein sagte laut: »Guten Morgen, Herr Doktor Franke.«
»Es ist kein guter Morgen, Warstein.« Frankes Stimme war durch die Übertragung verzerrt, aber Warstein konnte die Müdigkeit darin trotzdem hören. Und es war eine Erschöpfung, die nicht nur körperlicher Natur war. »Geben Sie mir Frau Berger - bitte.«
»Ich höre mit«, sagte Angelika, und Lohmann fügte hinzu:
»Wir alle hören mit.«
Falls das als Warnung an Frankes Adresse gemeint war, verfehlte sie ihre Wirkung. Im Gegenteil: »Gut«, sagte Franke. »Das erspart es mir unter Umständen, alles dreimal sagen zu müssen. Ich nehme an, Sie haben über meinen Vorschlag nachgedacht?«
»Ja«, antwortete Angelika. Sie sah aus, als litte sie körperliche Schmerzen, aber ihre Stimme klang erstaunlich fest. »Es bleibt dabei. Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«
»Sie enttäuschen mich«, seufzte Franke. Aber er klang nicht enttäuscht. Er klang nicht einmal überrascht. »Ihre Entscheidung ist dumm, und dafür habe ich Sie bisher nicht gehalten. Sie sollten wissen, daß Sie allein keine Chance haben.«
»Ich bin nicht allein«, sagte Angelika. »Und bisher haben wir uns ganz gut gehalten, finde ich.«
»Ich habe Sie bisher gewähren lassen«, korrigierte sie Franke. »Möglicherweise habe ich Ihre Entschlossenheit tatsächlich unterschätzt. Aber ich begehe denselben Fehler selten zweimal hintereinander. Warstein?«
»Ja?«
»Ich muß mit Ihnen reden.«
»Ich dachte, das tun Sie bereits.«
»Nicht am Telefon. Wo können wir uns treffen? Sagen wir, in anderthalb - nein, besser in zwei Stunden?«
»Treffen?« entfuhr es Warstein. »Sie müssen völlig verrückt sein! Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich Ihnen traue!«
»Sie haben mein Wort«, antwortete Franke. »Ich garantiere Ihnen und Ihren Begleitern freies Geleit. Und eine Stunde Vorsprung, wenn wir uns nicht einig werden.«
Lohmann gestikulierte irgendwo am Rande seines Gesichtsfeldes, aber Warstein ignorierte ihn. Frankes Stimme klang noch immer so müde und resignierend wie zuvor, aber es war auch noch etwas darin. Etwas, das er nicht einordnen konnte, das ihn aber beunruhigte.
»Das ist lächerlich«, sagte er. »Wir sind doch nicht in einem billigen Krimi.«
»Sie haben mit diesem Räuber-und-Gendarm-Spiel angefangen«, erwiderte Franke. »Also?«
Warsteins Gedanken rasten. Irgend etwas sagte ihm, daß Frankes Vorschlag ehrlich gemeint war. Er konnte die Panik, die sich hinter Frankes Müdigkeit und dem darübergestülpten Ausdruck von Ruhe verbarg, beinahe anfassen. Aber nach allem, was geschehen war, konnte er ihm einfach nicht mehr trauen.
Als er einige Sekunden verstreichen ließ, ohne zu reagieren, fuhr Franke von sich aus fort: »Ich werde langsam überdrüssig, Ihnen zu drohen, Warstein, aber wenigstens von Ihnen hätte ich mehr Vernunft erwartet. Sie wissen, daß Sie es nicht schaffen können. Wenn ich wirklich will, sitzen Sie und Ihre Freunde in längstens zwei Stunden in einer Gefängniszelle.«
»Warum tun Sie es dann nicht?« fragte Lohmann aggressiv.
Franke ignorierte ihn einfach. »Alles, was ich will, ist mit Ihnen sprechen. Vielleicht finden wir eine Lösung - für Sie und für Ihre Freundin. Ich sage die Wahrheit. Ich weiß, wo ihr Mann ist, und ich bin bereit, Sie zu ihm zu bringen.«
»Nur nicht mehr zurück, nehme ich an«, sagte Warstein.
»Vielleicht nicht sofort«, gestand Franke. »Aber ich garantiere Ihnen, daß Ihnen nichts geschieht. Weder jetzt noch später. Wenn Sie gehört haben, was ich Ihnen zu sagen habe, werden Sie mich vielleicht verstehen.«
»Das ist doch eine Falle!« flüsterte Lohmann. »Für wie blöd hält der Kerl uns eigentlich?«
»Was Sie angeht, ziehe ich es vor, die Frage im Moment nicht zu beantworten«, sagte Franke.
Lohmann und Warstein sahen sich verblüfft an. Der Journalist hatte wirklich leise gesprochen. Das Telefon schien über ein hochempfindliches Aufnahmeteil zu verfügen.
»Ich brauche ... noch eine Bedenkzeit«, sagte Warstein.
»Das verstehe ich«, erwiderte Franke. »Ich rufe Sie in genau zwei Stunden wieder an. Und bitte - denken Sie gut darüber nach. Wir haben einfach nicht mehr genug Zeit, um lange zu diskutieren.« Er unterbrach die Verbindung.
»Der Kerl lügt!« sagte Lohmann aufgebracht. »Und Sie fallen auch noch darauf rein, wie?«
»Wir haben zwei Stunden gewonnen«, entgegnete Warstein scharf. »Was wollen Sie mehr?«
Lohmann setzte zu einer zornigen Entgegnung an, aber Warstein stand einfach auf, quetschte sich an ihm vorbei, verließ den Wagen und entfernte sich ein paar Schritte, ehe er wieder stehenblieb. Er hatte jetzt wahrlich keine Lust, sich mit Lohmann zu streiten. Das Gespräch mit Franke hatte ihn mehr mitgenommen, als er zugeben wollte - und es war weniger das gewesen, was Franke gesagt hatte, als viel mehr das, was er nicht gesagt hatte. Franke war in Panik. Irgend etwas geschah dort am Gridone, und es war vielleicht schlimmer, als selbst er bisher angenommen hatte.
Die Wagentür wurde geöffnet, und Warstein drehte sich mit einem Ruck herum, davon überzeugt, Lohmann zu sehen, der ihm nachkam, um den unterbrochenen Streit fortzusetzen.
Es war Angelika. Sie lächelte, aber sie tat es auf eine Weise, die ihre Unsicherheit unterstrich, statt sie zu überspielen. Wortlos kam sie heran, blieb neben ihm stehen und zündete sich eine Zigarette an. Ihre Hände zitterten. »Darf ich?« fragte sie.
»Was? Hier draußen stehen? Der Wald gehört mir nicht.«
»Rauchen«, antwortete sie. »Ich weiß, daß du es nicht magst.«
»Drinnen im Wagen hat es dich nicht gestört«, sagte Warstein.
»Stimmt.« Angelika wirkte für eine Sekunde so ehrlich verblüfft, daß Warstein laut auflachte. »Verrückt. Ich weiß.«
»Das alles hier ist verrückt«, antwortete Warstein. »Aber um deine Frage zu beantworten: Nein, es stört mich nicht. Und es stört mich auch nicht, daß du hier bist.«
»Ich dachte, du wolltest allein sein.«
Wenn sie das wirklich geglaubt hatte, dann hätte er sie jetzt eigentlich fragen müssen, warum sie ihm trotzdem nachgekommen war, dachte Warstein. Aber er schüttelte nur den Kopf und fuhr fort, den Waldrand und das dahinterliegende Muster aus Licht und grünen Schatten anzusehen. Der Anblick wirkte beruhigend in seiner Normalität.
»Lohmann telefoniert«, sagte Angelika nach einer Weile. »Er versucht wohl, seine Freunde von der Presse zu mobilisieren, um Franke unter Druck zu setzen.« Sie seufzte. »Es war ein Fehler, ihn mitzunehmen, das ist mir jetzt klar.«
»Genaugenommen hat er uns mitgenommen, nicht wir ihn«, sagte Warstein. »Aber du hast recht - er sollte nicht hier sein. Warum nimmst du Frankes Angebot nicht an? Ich glaube, er meint es ehrlich.«
Angelika blinzelte. »Ehrlich?« Sie zog an ihrer Zigarette, warf sie zu Boden und trat die Glut sorgfältig mit dem Absatz aus. »Wenn das, was du über ihn erzählt hast, auch nur zur Hälfte stimmt, dann weiß er wahrscheinlich gar nicht, was das Wort bedeutet.«
»Das ist nicht wahr«, antwortete Warstein. Hatte er sich tatsächlich so mißverständlich ausgedrückt? Und wenn ja, hatten sie und Lohmann ihn dann vielleicht auch in anderen Punkten nicht verstanden? »Ich will ihn bestimmt nicht verteidigen. Das wäre so ungefähr das letzte, was mir einfiele. Aber er lügt nicht, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Oder er keinen direkten Nutzen davon hat.«
»Dich aus dem Weg zu räumen, wäre ein ziemlicher Nutzen«, sagte Angelika ernst.
»Jetzt überschätzt du mich.«
»Nein«, widersprach Angelika sehr heftig und in einer Art, die Warstein überraschte. »Das tue ich nicht, und das habe ich keine Sekunde. Du unterschätzt dich. Der Mann hat Angst vor dir.«
Warstein lachte. »Sei nicht albern. Wie es aussieht, könnte er uns wahrscheinlich die gesamte Schweizer Nationalgarde auf den Hals hetzen. Warum sollte er Angst haben? Ausgerechnet vor mir?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Angelika. »Aber er hat es. Und nicht erst seit heute.« Sie machte eine heftige Bewegung mit beiden Händen. »Du hast es selbst gesagt - er hat alles in seiner Macht Stehende getan, um dich mundtot zu machen, richtig?«
»Es ist ihm gelungen.«
»Und warum sollte er das tun, wenn er keine Angst vor dir hätte?« fuhr Angelika fort. »Mit jemandem, der einem gleichgültig ist, gibt man sich nicht solche Mühe. Wenn er dich einfach für einen Verrückten gehalten hätte, hätte er dich damals rausgeworfen und vergessen. Und er hätte uns jetzt ganz gewiß nicht diese Aushilfs-Mafios auf den Hals gehetzt. Du mußt irgend etwas wissen, was dich für ihn gefährlich macht.«
»Eine hübsche Vorstellung«, sagte Warstein - obwohl sie ihm im Grunde angst machte. »Aber trotzdem nicht wahr. Ich habe euch alles erzählt, was ich weiß. Der Rest ... wie gesagt: ich war so naiv, mich mit meiner Geschichte an die Presse zu wenden. Und das hat mir endgültig das Genick gebrochen.«
»Was ist mit Saruter?« fragte Angelika.
»Ich weiß es nicht«, sagte Warstein. »Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit damals.«
»Er war nicht unter den Toten?«
»Nein«, erwiderte Warstein. »Er ist einfach verschwunden. Die offizielle Version ist, daß er bei dem Stolleneinbruch ums Leben gekommen und seine Leiche niemals gefunden worden ist. Aber das ist nicht die Wahrheit. Sie haben jeden Stein herumgedreht. Selbst wenn er vollkommen zerschmettert worden wäre, hätte man seine Leiche gefunden - oder das, was davon übrig war.«
»Einige hundert Tonnen Fels können einen Menschen ganz schön zurichten«, sagte Angelika.
»Aber sie können ihn nicht in nichts auflösen«, erwiderte Warstein. »Er ist nicht tot. Er ist einfach verschwunden.«
»Der Tunnel hat zwei Ausgänge«, gab Angelika zu bedenken.
»Heute«, antwortete Warstein. »Damals noch nicht.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Wie gesagt - sie haben jeden Quadratzentimeter abgesucht. Er war einfach nicht mehr da. Und er ist auch seither nicht mehr aufgetaucht, soviel ich weiß. Aber er lebt noch. Ich ... ich weiß es einfach. Und er wartet auf mich.«
Angelika schwieg einige Augenblicke, in denen sie ihn sehr ernst und sehr nachdenklich ansah. »Auf dich - oder auf uns?« fragte sie.
»Auf uns?« Warstein lachte unsicher. »Wie kommst du darauf?«
»Du hast es selbst gesagt: sollte ich versagen und das Tor sich öffnen, so braucht es die Kraft von dreien, um es wieder zu schließen. Einer der weiß, einer der sieht, und einer der liebt.«
»Und du denkst...« Warstein brach verblüfft ab. Doch nicht Angelika dachte, daß sie diese drei sein könnten. Er selbst hatte es die ganze Zeit über gedacht. Er hatte es sich nur nicht erlaubt, diese Hoffnung so klar zu formulieren.
»Das ... das ist doch lächerlich!« sagte er. »Was denkst du, wer wir sind? Die drei Musketiere, die gekommen sind, um die Welt zu retten?«
Angelika wollte antworten, aber Warstein schnitt ihr mit einer fast wütenden Bewegung das Wort ab. »Jetzt hör mir genau zu! Das hier ist kein Spiel! Und Franke ist niemand, der mit sich spielen läßt! Du hast selbst erlebt, wozu er fähig ist, und glaube mir, das war noch lange nicht alles. Wenn er nachher anruft, dann werde ich zustimmen, mich mit ihm zu treffen, und du wirst mich begleiten. Ich lasse nicht zu, daß du in dein Unglück rennst, nur weil ein verrückter alter Mann irgend etwas gefaselt hat, das ich vielleicht noch nicht einmal richtig verstanden habe! Du wirst dir anhören, was er zu sagen hat, und danach wirst du ihn begleiten.«
»Und das bestimmst du?« Die Art, in der sie das sagte, paßte nicht zu den Worten. Sie klang plötzlich sehr sanft, was Warstein noch zorniger werden ließ. Er hatte es noch nie ertragen, bemuttert zu werden.
»Ja, verdammt noch mal!« Er schrie fast. »Und willst du wissen, warum? Weil du es so wolltest! Du bist zu mir gekommen und hast mich um Hilfe gebeten, deinen Mann zu finden. Gut, du kannst ihn finden. Franke wird dich zu ihm bringen. Es gibt absolut keinen Grund mehr für dich, bei uns zu bleiben!«
»Vielleicht doch«, antwortete Angelika. Sie kam näher. Etwas Neues trat in ihre Augen - nein, nichts Neues. Es war die ganze Zeit über dagewesen, er hatte es nur nicht gesehen.
Plötzlich wußte er, daß sie recht hatte. Er wußte nicht, welcher von den dreien er war - der, der sah, oder der, der wußte, aber er hatte die ganze Zeit über gewußt, wer sie war: der, der liebte. »Bitte nicht«, sagte er leise.
Angelika blieb tatsächlich stehen; aber sehr viel näher hätte sie ihm auch gar nicht mehr kommen können. Zum ersten Mal fiel ihm wirklich auf, wie hübsch sie war und wie verwundbar, hinter der Fassade von Entschlossenheit und Stärke, die sie rings um sich errichtet hatte. Er konnte ihr Parfüm riechen, den Duft ihres Haares, in den sich der Geruch nach kaltem Zigarettenrauch mischte. Seltsam - plötzlich störte ihn dieser überhaupt nicht mehr.
»Wenn es wegen Frank ist -«
Warstein legte ihr rasch den Zeigefinger auf die Lippen. Sie erschauerte leicht unter der Berührung, und er zog die Hand beinahe erschrocken wieder zurück. »Nein«, sagte er. »Nicht seinetwegen. Es ist ... nicht der richtige Moment, das ist alles.«
Vielleicht war er es doch. Tief in sich spürte er, daß sie recht hatte, und er unrecht. Es gab keinen falschen Moment, jemanden zu lieben. Und vielleicht war dies überhaupt der letzte Moment, den sie noch hatten. Heute abend, spätestens morgen, würden sie den Berg erreichen, auf die eine oder andere Weise, und was immer auch dann geschah - sie würden keine Zeit mehr haben, irgend etwas zu ändern. Wortlos zog er sie an sich und küßte sie.
»Oh, Verzeihung.«
Warstein zog sich fast erschrocken von Angelika zurück. Diesmal erlebte er keine angenehme Enttäuschung: Hinter ihm stand Lohmann, als er sich herumdrehte, und auf seinem Gesicht lag ein derart unverschämtes Grinsen, daß Warstein am liebsten die Faust hineingepflanzt hätte.
»Ich hoffe, ich habe euch nicht in einem unpassenden Moment gestört«, fuhr Lohmann feixend fort. »Wenn ihr den Wagen braucht, sagt es nur. Ich gehe gerne eine halbe Stunde spazieren.«
»Haben Sie Ihre Anrufe erledigt?« fragte Warstein kalt.
Lohmanns Grinsen verschwand. »Nein«, sagte er. »Das verdammte Telefon funktioniert nicht mehr.«
»Vor fünf Minuten hat es noch funktioniert«, sagte Angelika.
»Ach, tatsächlich?« schnappte Lohmann. »Stellen Sie sich vor, von selbst wäre ich darauf gar nicht gekommen! Franke muß es abgeschaltet haben.«
Angelika erschrak. »Dann ... dann weiß er, wo wir sind?«
»Ich nehme an, das weiß er sowieso«, sagte Warstein. Er machte eine beruhigende Geste. »Aber er muß es nicht wissen, um die Leitung zu blockieren. Ich nehme an, er wird sie wieder freigeben, sobald er uns erreichen will.«
»Trotzdem sollten wir von hier verschwinden.« Lohmann fuhr mit der Hand über die schwarze Farbe am Türholm, betrachtete seine Fingerspitzen und verzog ärgerlich das Gesicht. »Noch nicht ganz trocken, aber solange wir nicht in einen Platzregen kommen, wird es gehen. Los - laßt uns fahren.«