In Roglers Augen war es schon mehr als ein kleines Wunder, daß die Panik keine Menschenleben gefordert hatte. Es hatte nicht einmal lange gedauert. Auch wenn es ihm - während es geschah - so vorkam, als hätte sich die Uferpromenade für Stunden in einen Hexenkessel aus Schreien, Lärm, durcheinanderstürzenden Menschen und kämpfenden Körpern verwandelt, so vergingen doch in Wahrheit nur Minuten, bis die Menschen begriffen, daß die Lichter am Himmel keine Gefahr bedeuteten. Aber diese wenigen Minuten waren die Hölle.
Die letzten Augenblicke bekam er gar nicht mehr richtig mit. Er war von der Menge gegen die Mauer gedrängt und schließlich zu Boden geworfen worden, und als er wieder halbwegs frei atmen und klar denken konnte, war das Schlimmste vorüber. Die Straße war noch immer voller Menschen, und Rogler registrierte voller Schrecken, daß viele davon am Boden lagen und sich vor Schmerz krümmten, aber der Großteil der Menge hatte sich zerstreut. Die Zurückgebliebenen kümmerten sich um die Verletzten oder standen einfach da und starrten in den Himmel hinauf.
Über das Firmament jagten Farben und leuchtend bunte, konturlose Schemen, Wolken aus purem Licht und flimmernde Gebilde aus reiner, leuchtender Energie, die in rasendem Wechsel ebenso schnell vergingen, wie sie entstanden, und wieder neu erschienen. Der Anblick war auf unmöglich in Worte zu fassende Weise faszinierend und erschreckend zugleich. Er erfüllte Rogler gleichermaßen mit einem Gefühl tiefen, allumfassenden Friedens wie auch bodenlosen Entsetzens, als wäre in dem, was sich dort über ihnen abspielte, die ganze Bandbreite möglicher Empfindungen vorhanden, bereit, jedem das zu geben, was er darin sehen wollte.
Nur mit Mühe gelang es ihm, sich von dem Anblick zu lösen und seine Aufmerksamkeit wieder dem zuzuwenden, was rings um ihn herum vorging. Das Bild auf der Straße hatte sich nicht verändert - ebensowenig wie das auf der anderen Seite der Mauer. Die Männer dort standen und saßen noch immer reglos beieinander oder taten, wozu auch immer sie gekommen waren. Für sie schienen die Phänomene dort oben am Himmel gar nicht zu existieren. Er hielt nach Franke Ausschau und entdeckte ihn bei seinem Wagen. Franke stand halb ins Innere des Fahrzeugs gebeugt da und telefonierte, wobei er heftig mit der freien Hand herumfuchtelte. Rogler konnte sein Gesicht nicht erkennen, weil er mit dem Rücken zu ihm stand, aber er wirkte sehr angespannt. Nach einem letzten Moment des Zögerns ging Rogler auf ihn zu. Zu seiner Überraschung begrüßte ihn Franke mit einem flüchtigen Lächeln, telefonierte jedoch noch gute zwei oder drei Minuten weiter, ehe er endlich einhängte. »Was halten Sie davon?« fragte er.
Rogler sah kurz zum Himmel hoch. »Die Frage müßte wohl eher lauten: was halten Sie davon«, sagte er. Er versuchte zu lachen, aber es klang nervös; das Eingeständnis einer Schwäche, der er sich selbst noch nicht ganz bewußt war.
»Davon?« Franke hob die Schultern. »Ich weiß es nicht.«
»Für einen Wissenschaftler sagen Sie das in letzter Zeit ziemlich oft«, sagte Rogler. Es klang ein bißchen wie ein Vorwurf, und in gewissem Sinne war es das auch. Er fühlte sich von Franke verraten. Nach dem, was er heute erfahren hatte, mochte er ihn weniger denn je, aber das änderte nichts daran, daß er Wissenschaftler war; ein Angehöriger jener Zunft, die alles wußte und alles konnte.
Franke lachte erneut. »Und Sie werden es noch viel öfter zu hören bekommen, fürchte ich«, sagte er. »Wissen Sie eigentlich, wodurch wir Wissenschaftler uns wirklich von den meisten anderen Menschen unterscheiden? Ganz einfach dadurch, daß wir über sehr viel mehr Dinge nichts wissen als die anderen.« Er blickte aus zusammengekniffenen Augen zu den Gestalten auf der anderen Seite der Straße. »Ich möchte nur wissen, was zum Teufel sie dort tun.«
Rogler starrte ihn verwirrt an. Es war noch keine Stunde her, daß Franke ihm erklärt hatte, das Ende der Welt stünde bevor, und jetzt zerbrach er sich den Kopf über ein paar Verrückte?
Jemand berührte ihn an der Schulter. Es war der junge Polizist, der ihn bereits vorhin angesprochen hatte. Er sah noch verstörter aus, und er war verletzt, wenn auch nicht schwer.
»Ja?« fragte Rogler.
»Wir brauchen Ihre Hilfe, Herr Hauptmann«, antwortete der Beamte. »Es hat eine Menge Verletzte gegeben.«
»Dann rufen Sie einen Krankenwagen«, antwortete Rogler, in schärferem Ton, als er eigentlich beabsichtigt hatte. »Oder besser gleich ein paar.«
»Das habe ich versucht. Aber die Funkgeräte funktionieren nicht mehr.« Rogler schluckte die scharfe Antwort, die ihm auf der Zunge lag, herunter. Er konnte an der Situation rein gar nichts ändern, aber der junge Polizeibeamte brauchte wohl auch im Grunde niemanden, der ihm half, sondern nur jemanden, der zuhörte.
»Sie können mein Autotelefon benutzen«, sagte Franke, ehe Rogler antworten konnte. Er machte eine einladende Geste. »Es funktioniert noch. Nicht besonders gut, aber es geht.«
Während der Beamte tat, was Franke vorgeschlagen hatte, entfernten sie sich ein paar Schritte vom Wagen. Franke senkte unwillkürlich die Stimme, als er weitersprach, obwohl es weit und breit niemanden gab, der sie hätte belauschen können; geschweige denn jemanden, der mit dem Gehörten etwas anfangen konnte. »Wir müssen zurück nach Porera«, sagte er. »Dort oben ist der Teufel los. Sämtliche Computer und fast alle Kommunikationseinheiten sind ausgefallen.« Irgendwie hatte Rogler das Gefühl, daß das nur der kleinste Teil der schlechten Neuigkeiten war, die Franke auf Lager hatte. Aber er kannte ihn mittlerweile auch gut genug, um sich eine entsprechende Frage zu sparen. Statt dessen schüttelte er den Kopf.
»Ich kann unmöglich hier weg«, sagte er. »Außerdem wäre ich Ihnen bestimmt keine Hilfe. Ich würde Sie nur behindern.«
»Aber ich fürchte, ich muß darauf bestehen«, sagte Franke.
»Sie sehen doch, was hier los ist!« fuhr Rogler auf. »Und wahrscheinlich sieht es in der ganzen Stadt nicht anders aus! Es muß Hunderte von Verletzten gege...«
Franke schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab. »Ich dachte, Sie hätten es begriffen, Rogler.«
»Was begriffen?«
»Daß Sie nirgendwo mehr hingehen werden, wenn ich nicht dabei bin«, antwortete Franke. »Glauben Sie wirklich, ich lasse Sie frei herumlaufen, mit dem, was Sie jetzt wissen? So naiv können Sie nicht sein.«
Rogler war wie vor den Kopf geschlagen. »Moment mal«, sagte er. »Soll das heißen, daß ich Ihr Gefangener bin?«
»Seien Sie nicht albern«, seufzte Franke. »Auch wenn Sie in gewissem Sinne recht haben. Aber Sie sind seit heute Geheimnisträger, ob Ihnen das nun paßt oder nicht. Und als solcher sind Sie leider nicht mehr ganz Ihr eigener Herr.«
»Davon war nie die Rede!« protestierte Rogler.
»Jetzt wissen Sie es«, unterbrach ihn Franke. »Außerdem - wenn es Ihnen ein Trost ist: ich brauche Sie.«
»Mich?«
»Ich brauche verdammt noch mal jedes bißchen Hilfe, das ich bekommen kann«, bestätigte Franke. »Wir müssen Warstein finden, und das werden Sie übernehmen.«
»Was ist an diesem Mann eigentlich so wichtig?« fragte Rogler.
Er bekam nicht sofort eine Antwort. Franke blickte einen Moment lang an ihm vorbei ins Leere, und noch bevor er weitersprach, begriff Rogler plötzlich, daß der Wissenschaftler sich im Grunde so hilflos und verstört fühlte wie er selbst. »Ich weiß es nicht«, gestand er. »Verdammt, ich bin mit meinem Latein am Ende. Wahrscheinlich ist es nur ein Strohhalm, nach dem ich greife. Aber ich habe keinen anderen.«
»Dieser Warstein weiß etwas«, sagte Rogler. Er machte eine weit ausholende Geste, die den See, die Stadt und den Himmel einschloß. »Darüber.«
Franke lächelte ganz kurz. »Sehen Sie? Genau das habe ich gemeint, als ich sagte, daß ich Sie brauche. Seien Sie vernünftig.«
Rogler war nicht einmal sicher, ob er überhaupt vernünftig sein wollte. Er war zornig, doch dieser Zorn galt nicht nur Franke, sondern zum größeren Teil ihm selbst. Natürlich hatte Franke recht - er hätte sich denken können, daß er nach dem Besuch in Porera nicht einfach zur Tagesordnung übergehen konnte, als hätte er einen Flughafen oder eine Druckerei besichtigt.
»Geben Sie mir zehn Minuten«, bat er. »Nur um die wichtigsten Dinge zu regeln.«
»Es dauert ohnehin eine Weile, bis der Hubschrauber hier ist«, antwortete Franke. »Wie es aussieht, haben sie nicht nur mit den Funkgeräten Schwierigkeiten. Kann ich Ihnen vertrauen?«
»Das können Sie«, versprach Rogler.
»Wir müßten eigentlich tot sein«, sagte Lohmann. Seine Stimme zitterte und strafte das nervöse Lächeln, mit dem er seine Worte begleitete, Lügen. Direkt auf seiner Stirn prangte wie ein häßliches, rotes Zyklopenauge eine rote Brandwunde, und seine Haut war nicht mehr blaß, sondern grau. In seinen Augen stand ein irres Flackern, das verriet, welche Mühe es ihn kostete, zumindest äußerlich noch die Beherrschung zu bewahren.
Warstein antwortete nicht, sondern konzentrierte sich weiter auf die Straße, deren Verlauf er mittlerweile mehr erriet als erkannte, aber Angelika sagte: »Für meinen Geschmack war es schlimm genug.«
»Für meinen auch«, bestätigte Lohmann. »Trotzdem - seht euch den Wagen an. Das Zeug hat Löcher ins Blech gebrannt!«
»Ich verstehe das nicht«, murmelte Angelika. Sie hob die Hand an die Wange, betastete eine Sekunde lang die Brandblase darauf und sah dann stirnrunzelnd auf ihre Fingerspitzen herab. »Es war so ... so friedlich. Und dann das.«
Warstein schwieg noch immer, wenn auch jetzt aus anderen Gründen. Offensichtlich hatte Angelika nichts von der Kreatur bemerkt, die Lohmann verfolgt hatte, und er hielt es auch für besser, ihr weiter nichts davon zu erzählen. Auf eine Art und Weise, die er noch nicht vollständig begriffen hatte, schien das, was dort draußen geschah, mit dem zusammenzuhängen, was sie empfanden. Das Licht hatte den Frieden gebracht, solange sich Angelika allein darin aufgehalten hatte. Er war nur noch nicht sicher, ob nun er oder Lohmann es gewesen war, der das Tor in die andere Richtung aufgestoßen hatte. Vielleicht wollte er es auch gar nicht wirklich wissen. »Tut es weh?« fragte er.
Angelika hob erneut die Hand an die Wange, schüttelte aber den Kopf. »Nein. Nicht sehr. Ich hoffe, es bleibt keine Narbe zurück.«
Wahrscheinlich nicht, dachte Warstein. Die Brandblase war weitaus weniger schlimm, als es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Er nahm flüchtig den Blick von der Straße, um Angelika zuzulächeln, und als sie die Hand herunternahm, erkannte er nur noch eine münzgroße, gerötete Stelle auf ihrer Wange. Wahrscheinlich würde sie morgen früh bereits verschwunden sein. »Das ist nur ein Kratzer«, sagte er.
»Eure Sorgen möchte ich haben«, nörgelte Lohmann. »Wie lange zum Teufel müssen wir noch fahren?«
»Ich weiß nicht, wie weit es noch bis zum Teufel ist«, antwortete Warstein. »Aber bis zum Berg kann es nicht mehr weit sein.« Er hatte keine Ahnung, ob das wirklich stimmte. Warstein hatte gründlich die Orientierung verloren. Er wollte einzig verhindern, daß sie weiter über das sprachen, was sie erlebt hatten. Noch vor ein paar Stunden hätte er vielleicht über diese Behauptung gelacht, aber jetzt wußte er, daß es Dinge gab, die wahr werden konnten, ganz einfach, indem man über sie redete. »Vielleicht zehn Minuten.«
Lohmann sah ihn stirnrunzelnd an. Sie hatten kurz angehalten, um sich um seine und Angelikas Verletzungen zu kümmern, aber seit sie weitergefahren waren, war noch nicht sehr viel Zeit vergangen. Nicht einmal annähernd so viel, wie Warstein vorausgesagt hatte, als sie den Paß überschritten. Aber vielleicht erriet er Warsteins wahre Beweggründe, denn er widersprach nicht.
»Und dann?« fragte er. »Ich meine, wie sieht es unten am Berg aus?«
»Keine Ahnung«, gestand Warstein. »Als ich das letzte Mal hier war, war dort nichts. Der Tunnel eben, und die Eisenbahntrasse. Aber damals gab es auch noch keinen Zaun.«
»Wenn sie schon die Straße sperren, die zum Berg führt, dann werden sie den Tunnel bestimmt noch besser bewachen«, sagte Angelika. »Vielleicht warten sie sogar schon auf uns.«
Ganz bestimmt sogar, dachte Warstein. Spätestens der Anblick des Zaunes hatte ihm klargemacht, daß er Franke trotz allem noch immer unterschätzt hatte. Auch wenn er vielleicht nicht wirklich damit rechnete, daß sie sich dem Berg von dieser Seite aus nähern würden - er hatte sich einfach auf alles vorbereitet. Warstein war absolut sicher, daß sie keine Chance hatten, den Tunnel unbemerkt zu betreten. Aber das wollte er ja auch gar nicht.
»Warten wir einfach ab, was passiert«, schlug Lohmann vor, »und improvisieren im Notfall. Ich bin gut im Improvisieren. Habe ich das schon gesagt?«
»Mehrmals«, antwortete Warstein. Er schaltete herunter und gab behutsam Gas, um den Wagen um einen Geröllhaufen herumzulenken, der offensichtlich vom Regen losgewaschen worden war und die Hälfte der Fahrbahn blockierte. Trotzdem schlug etwas mit einem dumpfen Knall gegen die Karosserie. Der Ford ächzte, und für eine halbe Sekunde drohte Warstein die Gewalt über das Steuer zu verlieren. Fluchend kämpfte er mit der bockenden Lenkung und brachte den Wagen wieder unter seine Kontrolle.
Lohmann warf Warstein einen schrägen Blick zu, der verriet, was er von seinen Fahrkünsten hielt, aber er war diplomatisch genug, es wenigstens nicht laut auszusprechen. Mit zitternden Fingern zündete er sich eine Zigarette an und griff nach dem Radio, um an den Kontrollen herumzuspielen; wahrscheinlich nur, um seine Hände irgendwie zu beschäftigen. »Wenn wenigstens dieses Ding wieder funktionieren würde... He! Es geht ja!«
Tatsächlich drangen aus dem Lautsprecher, der bis jetzt geschwiegen hatte, plötzlich kratzende und pfeifende Störgeräusche. Lohmann drehte hektisch an den Knöpfen und fand schließlich einen Sender, den sie halbwegs klar empfangen konnten.
Allerdings nicht verstehen. Aus dem Lautsprecher drang eine helle Frauenstimme, die in einer Warstein vollkommen unbekannten Sprache redete. »Was ist denn das?« fragte Angelika verblüfft.
Warstein konnte nur mit den Schultern zucken, aber Lohmann riß so verblüfft den Mund auf, daß ihm die Zigarette aus den Lippen fiel. »Das gibt es doch nicht!«
»Was gibt es nicht?« erkundigte sich Angelika.
»Das ist ... koreanisch!« antwortete Lohmann. »Ich bin ganz sicher.«
»Sprechen Sie diese Sprache?« fragte Angelika.
»Nein. Aber ich war zweimal in Seoul. Ich habe genug davon aufgeschnappt, um sie zu erkennen.« Er bückte sich nach seiner Zigarette. »Kann mir einer erklären, wieso wir hier in der Schweiz plötzlich einen koreanischen Sender empfangen können?«
»Vielleicht ist es ein besonders gutes Radio«, antwortete Warstein nervös. Niemand lachte über den lahmen Scherz, und nach ein paar Sekunden fügte er hinzu: »Möglicherweise hat es etwas mit diesem Phänomen am Himmel zu tun.«
»Korea liegt auf der anderen Seite der Welt«, erinnerte Lohmann.
Warstein hob die Schultern. »Radiowellen verhalten sich manchmal sehr seltsam«, antwortete er. »Besonders bei ungewöhnlichen atmosphärischen Bedingungen.«
Das klang auch nicht wesentlich überzeugender als das, was er zuvor gesagt hatte, aber Lohmann ließ es dabei bewenden. Er griff wieder mit spitzen Fingern nach dem Knopf und ließ den grünen Leuchtpunkt über die Skala wandern. Die Stimme vom anderen Ende der Welt ging wieder im Krachen und Knistern atmosphärischer Störungen unter. »Mal sehen«, witzelte er. »Vielleicht kriege ich ja noch Radio Eriwan rein.«
Im Scheinwerferlicht vor ihnen tauchte ein weiteres Hindernis auf. Warstein nahm den Fuß vom Gas und schaltete in den ersten Gang zurück, aber dann erkannte er, daß es nur ein losgerissener Busch war. Die dürren Äste zerbrachen wie Glas unter den Rädern, als der Wagen darüber hinwegfuhr. Dahinter wurde die Straße spürbar besser. Unter den Reifen war plötzlich nicht mehr tückischer Morast, sondern grober Schotter, auf dem die Räder sicheren Halt fanden. Auch die Sicht war nicht mehr so schlecht wie bisher. Warstein atmete hörbar auf und fuhr ein wenig schneller.
Mittlerweile hatte Lohmann einen Sender gefunden, der offenbar nicht auf der anderen Seite der Erdkugel stand, denn obwohl der Empfang so schlecht war, daß sie nur Wortfetzen verstanden, redete der Sprecher eindeutig deutsch. »Versuchen Sie es besser einzustellen«, sagte Angelika.
»Was glauben Sie, was ich hier mache?« fragte Lohmann gereizt. »Verdammtes Ding! Sprich endlich deutlicher!«
»...im Moment von unserem Korrespondenten aus Mailand«, sagte das Radio. »Wir schalten nun zurück in unser Studio Zürich, um weitere Neuigkeiten über die sonderbaren Phänomene zu erfahren, die seit einer halben Stunde am Himmel über dem Tessin und Teilen Norditaliens zu beobachten sind.«
»Ah!« machte Lohmann überrascht. Er grinste. »Das funktioniert ja tatsächlich. Ich sagte doch, ich bin ein Genie im Improvisie...«
»Still!« unterbrach ihn Angelika. Sie griff an ihm vorbei und drehte am Lautstärkeregler. »Hört doch!«
»Zwischendurch noch ein dringender Reiseruf«, sagte der Sprecher. »Gesucht wird Herr Frank Warstein, zur Zeit mit einem weißen Wohnmobil unterwegs im Nordtessin.«
»Wie?« Lohmann richtete sich kerzengerade auf. »Aber das -«
»Ruhe!« sagte Warstein scharf. Er brachte den Wagen mit einem harten Ruck auf die Bremse zum Stehen und stellte das Radio noch lauter.
»Herr Warstein wird dringend gebeten, Kontakt mit Herrn Doktor Franke aufzunehmen. Die Nummer befindet sich unter Speicherplatz eins in seinem Autotelefon.«
»Toll«, maulte Warstein. »Jetzt müßten wir nur noch wissen, wie wir das Scheißding wieder einschalten können!«
»Für den Fall, daß das Gerät ausgefallen ist«, fuhr der Sprecher fort, »hier noch einmal die Codenummer. Sie lautet: sieben, drei, vier...«
Der Rest des Satzes ging in einem lautstarken Knistern unter. Warstein sah zornig auf, aber Lohmanns Hände befanden sich nicht einmal in der Nähe des Apparates.
»Ich bin unschuldig!« beteuerte er. »Ehrenwort. Ich war es nicht!«
»Ja, und das Bedauern steht Ihnen auch deutlich im Gesicht geschrieben!« sagte Warstein verärgert.
»Spielt das eine Rolle?« Lohmann gab sich alle Mühe, den Beleidigten herauszukehren. »Ich habe den Sender nicht verstellt. Aber bitte - ich versuche ihn wiederzufinden.«
Warstein preßte ärgerlich die Lippen aufeinander. Natürlich konnte Lohmann nichts dafür. Aber er war wütend, und Lohmann eignete sich nun einmal ausgezeichnet als Zielscheibe für seine schlechte Laune. Zornig griff er nach dem Telefon, drehte es ein paarmal in den Händen und hängte es wieder zurück.
»Ob das wieder ein neuer Trick ist?« fragte Angelika.
»Ganz bestimmt«, versicherte ihr Lohmann.
Warstein ignorierte ihn. »Von Franke?« Er schüttelte überzeugt den Kopf. »Kaum. Ich denke, er fängt allmählich an zu begreifen. Verdammt! Ohne die Nummer haben wir keine Chance, ihn zu erreichen.«
»Wenn er es wirklich ernst meint, werden sie die Durchsage wiederholen«, sagte Angelika. »Aber ich traue ihm immer noch nicht.«
»Na, dann sind wir ja schon zwei«, fügte Lohmann hinzu. Er hob abwehrend die Hände, als ihn ein böser Blick Warsteins traf, und beeilte sich, weiter am Senderknopf zu drehen. Er fand einen anderen Sender, der zwar im Moment Musik brachte, aber deutlich zu empfangen war. Lale Andersen sang in einer historischen Aufnahme Lili Marlen.
»Soll ich weitersuchen?«
Warstein verneinte. »Lassen Sie nur. Sie bringen sicher gleich wieder Nachrichten.«
»Wahrscheinlich werden sie auf allen Sendern über diese Lichter reden«, bestätigte Angelika. »Vielleicht erfahren wir ja etwas Neues.«
Warstein begann nervös mit den Fingerspitzen auf dem Armaturenbrett zu trommeln. Der angebliche Reiseruf hatte ihn mehr aufgewühlt, als er zugeben wollte. Wenn Franke sich so offen an ihn wandte, dann mußte dieser es nicht nur ernst meinen, dann mußte er regelrecht verzweifelt sein. Was immer auch dort auf der anderen Seite des Gridone vorging - es war mehr als ein paar Lichter am Himmel.
Die Nostalgieaufnahme endete, und ein Sprecher sagte: »Das war Lale Andersen mit ihrem beliebten Lied Lili Marlen, mit dem wir heute vor allem einen Gruß an unsere tapferen Kameraden auf Hoher See schicken. Und nun wieder Neuigkeiten aus aller Welt.«
Warstein blinzelte, und auch Angelika sah verwirrt hoch.
»Wie das Reichsministerium heute meldet, schreitet der Vormarsch unserer Truppen an der Ostfront weiter unaufhaltsam voran. Unsere Soldaten stehen bereits weniger als hundert Kilometer vor Moskau, so daß mit dem Fall der Stadt trotz des erbitterten Widerstandes kommunistischer Partisanen nunmehr in unmittelbarer Zukunft zu rechnen ist.«
»Wie bitte?« krächzte Lohmann. Sein Gesicht verlor auch noch das letzte bißchen Farbe. Er starrte das Radiogerät an.
»Auch von der Heimatfront ist heute nur Erfreuliches zu melden«, fuhr das Radio fort, fünfzig Jahre alte Nachrichten zu verkünden. »Im Laufe der vergangenen Nacht versuchte die britische Luftwaffe erneut, Bombenangriffe gegen die Zivilbevölkerung norddeutscher Küstenstädte zu fliegen. Dank der entschlossenen Gegenwehr unserer tapferen Jagdflieger mußten sich die Angreifer jedoch unverrichteter Dinge und unter großen Verlusten zurückziehen. Dieser heimtückische Überfall beweist abermals, daß...«
»Das ist doch ein Scherz, oder?« murmelte Angelika. »Ich meine, das ... das muß so eine Art Nostalgiesendung sein.«
»Nein«, sagte Warstein. »Das sind fünfzig Jahre alte Nachrichten. Und wir hören sie jetzt.«
Niemand antwortete. Minutenlang saßen sie reglos da und lauschten dem Sprecher, der unentwegt neue Erfolgsmeldungen aus einem Krieg verlas, der schon vor fünfzig Jahren verlorengegangen war. Schließlich spielte der Sender wieder Musik: Einen Walzer von Franz Lehar, in einer knisternden Schellack-Aufnahme des Berliner Rundfunk-Sinfonieorchesters.
Angelika schaltete das Radio ab. Niemand hatte etwas dagegen, obwohl ihnen klar war, daß sie den Sender vermutlich nicht wiederfinden würden. Was sie gehört hatten, hatte ihnen allen angst gemacht.
»Was geht hier vor?« fragte Lohmann. Er warf seine Zigarette aus dem Fenster und zündete sich sofort eine neue an. »Das ist doch nicht möglich. Wir haben doch nicht gerade wirklich eine fünfzig Jahre alte Nachrichtensendung gehört, oder?«
»Und wenn doch?« fragte Warstein.
»Aber das ist völlig ausgeschlossen!« protestierte Lohmann. Seine Stimme klang jetzt schrill, nur noch eine Winzigkeit von wirklicher Hysterie entfernt. Warstein widersprach nicht. Er hatte fast Mitleid mit ihm. Vielleicht begann Lohmann erst jetzt wirklich zu begreifen, worauf er sich eingelassen hatte. Wortlos legte er den Gang ein und fuhr weiter.
Aus den zehn Minuten, von denen Rogler gesprochen hatte, war schließlich fast eine Stunde geworden. Franke hatte während der gesamten Zeit ununterbrochen telefoniert und den Wagen nur einmal verlassen, um ihm mitzuteilen, daß die Männer in Porera noch immer mit technischen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten und sie sich noch etwas gedulden mußten, bis der Hubschrauber kam. Rogler nutzte die Zeit, um zu helfen, wo er nur konnte. Ganz wie er vorausgesehen hatte, gab es nicht viel zu organisieren - die Funkverbindungen waren nach wie vor tot, und ein Durchkommen auf den verstopften Straßen war so gut wie unmöglich, der Verkehr endgültig zusammengebrochen. Selbst wenn sie genügend Polizei- und Krankenwagen zur Verfügung gehabt hätten, um sich um alle Verwundeten zu kümmern, wären die Wagen in den engen Straßen Asconas einfach steckengeblieben.
Trotzdem hatte er alle Hände voll zu tun. Es gab Dutzende von - gottlob größtenteils leicht - Verletzten zu versorgen, und obwohl er keine Uniform trug, hatte sich doch rasch herumgesprochen, wer er war, so daß er sich bald von buchstäblich Hunderten hysterischen Einheimischen und Touristen belagert sah, die ihn um Hilfe baten oder irgend etwas gesehen haben wollten oder einfach nur neugierig waren. Schließlich gab er auf und flüchtete zu Franke in den Wagen.
Franke tat, was er die ganze Zeit über getan hatte - er telefonierte, aber er nahm sich die Zeit, Rogler flüchtig zuzulächeln und mit einer Geste auf das kleine Barfach des Wagens zu deuten. Rogler lehnte ab. Er fühlte sich zu Tode erschöpft und ausgelaugt, aber er brauchte seinen klaren Kopf. Jetzt dringender denn je.
»Wir haben Glück«, sagte Franke und hängte das Telefon ein. »Sie haben einen der Hubschrauber wieder flottbekommen. Er ist in fünf Minuten hier.« Er öffnete das Barfach, goß sich einen Cognac ein und sah Rogler abermals fragend an.
Wieder verneinte er. »Ich denke, es ist besser, wenn ich nüchtern bleibe.«
»Wer hat gesagt, daß Sie sich betrinken sollen?« fragte Franke lächelnd. »Obwohl es vielleicht nicht einmal die schlechteste Idee wäre. Wer weiß, wie lange wir noch Gelegenheit dazu haben.« Er prostete Rogler zu, leerte sein Glas in einem Zug und stellte es zurück.
»Ich verstehe Sie nicht, Franke«, sagte Rogler. »Vor ein paar Stunden haben Sie mir noch erklärt, daß das Ende der Welt bevorsteht, und jetzt sitzen Sie da, als wäre nichts geschehen.«
Er wußte, daß er ungerecht war. Sein Zorn hatte überhaupt keinen Grund. Aber es war nicht das erste Mal, daß er die Erfahrung machte, wie erleichternd es sein konnte, ungerecht zu sein.
Franke blieb vollkommen ruhig. »Und was soll ich tun, Ihrer Meinung nach?« fragte er. »Mir ein Stück Blech und einen Schweißbrenner besorgen und einen Deckel bauen, den wir über das Loch stülpen?«
»Zum Beispiel«, bestätigte Rogler. Eine innere Stimme flüsterte ihm zu, daß er dabei war, sich vollends zum Narren zu machen, aber das war ihm egal. »Ich meine, Sie müssen doch ... irgend etwas tun.«
»Und was?« fragte Franke.
»Woher zum Teufel soll ich das wissen? Bin ich hier der Wissenschaftler?«
»Was Sie brauchen, ist ein Zauberer, keinen Wissenschaftler, Rogler. Wir werden uns etwas einfallen lassen, aber wenn Sie Wunder erwarten, müssen Sie sich an die Herren dort drüben wenden. Vielleicht können sie ja noch mehr.« Er deutete auf die andere Seite der Straße. Das Bild sah noch immer so unheimlich aus wie vorhin, jetzt vielleicht noch bizarrer. Die knapp hundert vollkommen unterschiedlich gekleideten und aussehenden Gestalten schienen sich in der ganzen Zeit nicht geregt zu haben. Angesichts der überfüllten Straße auf der anderen Seite der Mauer wirkte der Anblick geradezu absurd. Vielleicht dauerte es deshalb auch einige Sekunden, bis die Bedeutung von Frankes Worten wirklich in Roglers Bewußtsein drang.
»Einen Augenblick«, sagte er. »Sie glauben doch nicht wirklich, daß die da irgend etwas damit zu tun haben, was hier passiert?«
»Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich glaube«, gestand Franke. Er klang müde. Und ein bißchen resigniert. »Im Moment bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich sie um Hilfe bitten oder erschießen lassen soll.«
Rogler ignorierte den letzten Teil des Satzes. »Um Hilfe bitten?«
»Wundert Sie das?« Franke lachte, streckte die Hand nach dem Barfach aus und zog sie wieder zurück, ohne es berührt zu haben. »Ich würde auch auf einem Bein um einen Kreuzweg herumhüpfen und um Mitternacht Krötenbeine schlucken, wenn ich wüßte, daß es hilft.«
Das Telefon summte. Franke hob ab und lauschte einige Sekunden, ohne sich gemeldet zu haben. »In Ordnung«, sagte er schließlich. »Greifen Sie nicht ein. Nur beobachten. Ich komme selbst hin.«
Er hängte ein. Auf seinem Gesicht machte sich ein Ausdruck vorsichtiger Erleichterung breit. »Warstein«, sagte er.
»Sie haben ihn?«
»Ja«, antwortete Franke. »Besser gesagt: nein. Aber wir wissen, wo er ist. Wir brauchen ihn nicht mehr zu suchen. Er kommt freiwillig her.« Er beugte sich zur Seite, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen und öffnete dann die Tür. »Kommen Sie, Rogler. Der Helikopter ist im Anflug.«
Ein Gefühl ungläubigen Schreckens machte sich in Rogler breit, als er hinter Franke aus dem Wagen stieg. »Sie lassen die Maschine doch nicht etwa hier landen?« keuchte er.
»Haben Sie eine bessere Idee?« Das Geräusch des näher kommenden Hubschraubers machte Roglers Verdacht zur Gewißheit. »Wir kommen mit dem Wagen nicht aus der Stadt heraus, und zu Fuß wahrscheinlich auch nicht. Außerdem zählt im Moment jede Minute.«
Die letzten Worte hatte er bereits schreien müssen, um das Dröhnen der näher kommenden Maschine zu übertönen. Rogler zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern, während er in den Himmel hinaufsah. Obwohl er gewußt hatte, was er sehen würde, erschrak er bis ins Mark.
Vor dem vielfarbigen Hintergrund des brennenden Firmaments wirkte der Helikopter wie ein Ungeheuer aus einer fremden Welt. Die Maschine war riesig; nicht der kleine Hubschrauber, mit dem sie am Morgen geflogen waren, sondern ein gewaltiges Gebilde aus Stahl und Kunststoff, das viel zu groß erschien, um auf der schmalen Uferpromenade aufzusetzen.
»Sie sind ja völlig wahnsinnig!« brüllte Rogler.
Franke verstand die Worte nicht. Jeder Laut ging im Heulen der Rotoren unter - und dem Chor gellender Schreckensschreie, mit dem die Menschenmenge plötzlich panisch auseinanderspritzte, um dem landenden Helikopter Platz zu machen.
Rogler und Franke wichen geduckt hinter den Wagen zurück, während die Maschine tiefer glitt. Der künstliche Tornado peitschte die Baumwipfel und das Gras auf der anderen Seite der Mauer und überschüttete sie mit Staub. Rogler fluchte innerlich auf Franke, daß er ausgestiegen war, statt in der Sicherheit des Wagens abzuwarten, bis die Maschine aufgesetzt hatte.
Der Helikopter hatte tatsächlich Mühe, auf der Straße zu landen. Der Pilot brauchte zwei Anläufe, ehe es ihm gelang, die Maschine aufzusetzen, und zumindest von Roglers Position her sah es aus, als verfehlten die Rotorblätter die Häuser auf der anderen Straßenseite nur um Zentimeter. Instinktiv zog er den Kopf noch tiefer zwischen die Schultern und drehte das Gesicht aus dem Wind. Dabei fiel sein Blick auf den Grasstreifen auf der anderen Seite der Mauer, und er sah etwas sehr Erstaunliches.
Der Sturm, den die Rotorblätter auslösten, erreichte die versammelten Magier und Schamanen nicht. Zwar wirbelten auf dieser Seite der Mauer Staub, abgerissene Blätter und Papierfetzen in einem irrsinnigen Tanz durcheinander, und die Wipfel der Bäume bogen sich unter der Wucht des Orkanes, aber der unmittelbare Bereich, in dem sich die Männer aufhielten, blieb windstill. Nicht einmal die Feuer, die zwischen ihnen brannten, flackerten stärker.
»Kommen Sie!« brüllte Franke. Er berührte Rogler an der Schulter, aber er mußte ihn fast gewaltsam mit sich zerren, bis er sich von dem unheimlichen Anblick losriß. Obwohl es nicht annähernd so dramatisch war wie das, was sich über ihren Köpfen abspielte, erschreckte ihn dieses Bild hundertmal mehr als die Lichter am Himmel.
Die Türen des Helikopters wurden aufgestoßen, während sie darauf zuhasteten. Ein gutes Dutzend bewaffneter Soldaten sprang heraus und begann in weitem Umkreis um die Maschine Aufstellung zu nehmen.
»Was bedeutet das?« schrie Rogler über den Motorenlärm hinweg.
Franke zerrte ihn einfach weiter, kletterte mit erstaunlichem Geschick in den Hubschrauber und wartete ungeduldig, bis Rogler ihm gefolgt war. Die Türen wurden geschlossen, und die Maschine hob schon wieder ab, noch ehe sie die Sitzbänke ganz erreicht hatten.
»Was geht hier vor?« Rogler wiederholte seine Frage, wenn auch keuchend und in nicht halb so forderndem Ton, wie er es gerne gehabt hätte. Der kurze Lauf hatte ihn vollkommen erschöpft. »Was sollen diese Soldaten und der Wahnsinn mit dem Helikopter? Es hätte Tote geben können, ist Ihnen das eigentlich klar?«
»Ich weiß«, antwortete Franke. Er rutschte auf seinem Sitz in eine bequemere Position, zog den Sicherheitsgurt über die Brust und sah Rogler lange und sehr ernst an. »Aber ich fürchte, das spielt keine Rolle mehr«, fuhr er fort, in einem Ton, der Rogler ein eisiges Schaudern über den Rücken laufen ließ. »Wenn kein Wunder geschieht, Herr Rogler, dann wird diese Stadt mit all ihren Einwohnern in vierundzwanzig Stunden aufhören zu existieren.«
Sie erreichten so abrupt das Ende der Straße, daß Warstein nicht schnell genug reagierte. Die einzige Reaktion, zu der er imstande war, war vollkommen falsch. Der Zaun tauchte urplötzlich hinter einer Biegung des Weges auf, und Warstein trat instinktiv so hart auf die Bremse, daß der Wagen ausbrach. Statt gegen das Gittertor zu prallen, das er mit großer Wahrscheinlichkeit einfach durchbrochen hätte, krachte er gegen einen der beiden Betonpfeiler, die die Straße flankierten und kam mit einem gewaltigen Ruck, dem Splittern von Glas und zerbrechendem Metall zum Stehen. Der Motor erstarb mit einem Geräusch, das ihm klarmachte, daß er nie wieder anspringen würde, und der Anprall schleuderte ihn gegen das Lenkrad.
Benommen richtete er sich auf. In seiner Brust war ein pochender Schmerz. Das Atemholen tat ein bißchen weh, aber er schien relativ unverletzt davongekommen zu sein - ebenso wie die beiden anderen, die sich in diesem Moment ebenfalls aufrappelten. Angelika war nur auf die Knie gefallen, während Lohmann durch die Wucht des Anpralles vom Sitz gerutscht und in den Fußraum unter dem Armaturenbrett gestürzt war. Fluchend und schimpfend stemmte er sich hoch, rutschte ab und landete ein zweites Mal auf dem Boden, so daß Warstein trotz des Ernstes ihrer Lage ein flüchtiges, schadenfrohes Lächeln nicht ganz unterdrücken konnte. »Alles in Ordnung?« fragte er.
Lohmann arbeitete sich mühsam wieder auf seinen Sitz hoch und versuchte dabei Warstein möglichst mit Blicken aufzuspießen. »Ja«, maulte er. »Aber das liegt bestimmt nicht an Ihren Fahrkünsten.«
Warstein enthielt sich vorsichtshalber jeden Kommentares. Sein Grinsen entsprang ohnehin mehr einem Gefühl der Hysterie als irgend etwas anderem, und was er in der unheimlichen, flackernden Beleuchtung draußen sah, trug auch nicht unbedingt dazu bei, seine Furcht zu mildern. Einer der Scheinwerfer war zerbrochen, der andere leuchtete schräg auf den Boden, aber das Licht reichte trotzdem aus, ihn erkennen zu lassen, daß sie den Betonpfeiler fast aus dem Fundament gerissen hatten. Er stand schräg und hatte ein Gutteil des Zaunes und einen der beiden Torflügel mitgerissen, so daß eine Lücke entstanden war, durch die sie bequem hindurchschlüpfen konnten. Dabei waren sie nicht einmal besonders schnell gefahren - wären sie es, hätten sie den Aufprall garantiert nicht so unverletzt überstanden, denn keiner von ihnen war angeschnallt gewesen. Der Zaun schien sich in einem ebenso schlechten Zustand zu befinden wie das erste Hindernis, auf das sie weiter oben an der Straße gestoßen waren. Und das, obwohl auch er auf keinen Fall älter als drei Jahre sein konnte.
»Von jetzt ab müssen wir wohl zu Fuß gehen«, sagte Angelika.
Warstein zögerte einen Moment, die Tür zu öffnen. Ohne daß er es bisher selbst gemerkt hatte, war der Wagen mehr und mehr zu einer Festung geworden; eine der letzten Bastionen der Wirklichkeit, deren Wände dem Irrsinn, dem die Welt draußen anheimgefallen war, noch trotzten. Ihn zu verlassen bedeutete, ihren letzten Schutz aufzugeben. Auch wenn er wußte, daß dieser Schutz nur in seiner Einbildung bestand - was immer dort draußen war, würde sich nicht durch millimeterdünnes Blech und Glas aufhalten lassen. Er fragte sich, ob das Ding, das er gesehen hatte, ihnen wohl gefolgt war.
Hintereinander kletterten sie aus dem Wagen. Es war empfindlich kalt geworden. Angelika schmiegte sich instinktiv an Warstein, und er hob ebenso instinktiv den Arm und legte ihn um ihre Schulter, während Lohmann um den Wagen herumging und den Schaden begutachtete. Es war vollkommen überflüssig - der Wagen würde nirgendwo mehr hinfahren. Warstein wußte, daß der Tunneleingang noch Kilometer entfernt lag. Obwohl sich die Straße seit seinem letzten Hiersein drastisch verändert hatte, erkannte er seine Umgebung doch wieder.
»Was tun Sie da eigentlich?« fragte er gereizt, als sich Lohmann in die Knie sinken ließ und mit beiden Händen an der verbogenen Stoßstange herumzerrte.
»Ich schaue mir an, was Sie angerichtet haben«, antwortete Lohmann. »Respekt. Wenn die Sache hier schiefgeht, können Sie sich immer noch um einen Job als Crash-Fahrer bemühen. Ich schreibe Ihnen gern eine Empfehlung.« Er richtete sich ächzend auf, wischte die Handflächen an seiner Jacke sauber und gesellte sich zu ihnen. Sein Blick glitt mißtrauisch über das halb aus den Angeln gerissene Gittertor, und als Warstein losgehen wollte, hob er abwehrend die Hand.
»Vorsicht«, sagte er. »Sehen Sie!«
Warsteins Blick folgte seiner Geste. Er erkannte einen dünnen, silbern schimmernden Draht, der oben auf dem Zaun entlanglief. In regelmäßigen Abständen waren halbrunde Isolatoren aus weißem Porzellan angebracht. »Der Zaun steht unter Strom«, sagte Lohmann. »Wahrscheinlich funktioniert er nicht mehr. Paßt trotzdem auf!«
Daß er diese Worte sagen konnte, war allein schon der Beweis für ihre Richtigkeit, dachte Warstein. Hätte der Zaun noch unter Spannung gestanden, als sie dagegen fuhren, wären sie vermutlich allesamt gegrillt worden. Trotzdem beunruhigte ihn der Anblick des Drahtes ungemein. Der Zaun weiter oben an der Straße mochte eine normale Sicherheitsmaßnahme sein, um Neugierige fernzuhalten. Das hier war tödlicher Ernst.
Um so erstaunlicher erschien es ihm, daß sie überhaupt so weit gekommen waren. Mit Ausnahme des Zaunes selbst und des verrosteten Autowracks weiter oben an der Straße hatten sie bisher keine Spur menschlichen Lebens entdeckt - und das war schon mehr als seltsam. Aber im Grunde war hier ja nichts so, wie es sein sollte.
Lohmann war der erste, der sich vorsichtig durch die Lücke im Zaun schob. Er achtete peinlich darauf, das Metall nicht zu berühren und entfernte sich rasch zwei Schritte von dem Hindernis, nachdem er auf der anderen Seite war.
Angelika und Warstein folgten ihm auf die gleiche Weise.
Auf der anderen Seite des Zaunes wurde die Straße wieder schlechter. Man sah ihr an, daß sie seit langer Zeit nicht mehr befahren und seit noch längerer Zeit nicht mehr instand gehalten worden war. Der Asphalt hatte sich in ein Muster aus unterschiedlich großen, wassergefüllten Löchern verwandelt, und die Straßendecke war überall gerissen, Unkraut und Wurzeln hatten den Belag gesprengt, und an einigen Stellen war der Wald schon wieder fast bis zur Straßenmitte herangewachsen. In den nächsten Jahren würde der Weg vollkommen verschwunden sein. Obwohl der Anblick Warstein hätte erschrecken sollen, bewirkte er eher das Gegenteil. Die Natur begann das verlorene Terrain mit erstaunlicher Geschwindigkeit zurückzuerobern, und dieser Gedanke erschien ihm auf eine sonderbare Weise tröstlich. Er hatte niemals wirklich darüber nachgedacht, wie die Welt ohne Menschen aussehen würde, und jetzt wußte er auch, warum. Es war nicht nötig. Während sie nebeneinander und sehr schnell die abschüssige Straße hinuntergingen, wurde ihm zum ersten Mal wirklich bewußt, wie klein und unwichtig sie waren. Es gab nichts, was sie dieser Welt wirklich antun konnten. Sie war dagewesen, lange bevor es Menschen gab, und sie würde noch dasein, lange nachdem sie fort waren.
Männer wie Franke - oder auch er selbst, noch vor wenigen Jahren - mochten der Ansicht sein, daß es in ihrer Macht stand, das Antlitz dieses Planeten nachhaltig zu verändern, aber das stimmte nicht. Die Menschen mit all ihrer Technik und Wissenschaft waren trotz allem kaum mehr als Mikroben, winzige Teile eines gigantischen Systems, das so groß, so komplex und so ewig war, daß sie sein wahres Aussehen nicht einmal erraten konnten. Warstein empfand diesen Gedanken als ungemein tröstlich. Zum ersten Mal überhaupt glaubte er zu fühlen, was Leben wirklich bedeutete. Es war das Sein selbst. Die bloße Tatsache, daß etwas existierte, bedeutete, daß es Teil dieses allumfassenden, das gesamte Universum umspannenden Systems von Leben war. Warstein fühlte sich der Natur und jenem abstrakten Begriff, den die meisten Menschen als Gott bezeichneten, so nahe wie niemals zuvor und nie wieder danach, und es war ein Empfinden unvorstellbarer Sicherheit und Wärme. Vor einigen Minuten noch hatte er um sein Leben gefürchtet, aber jetzt wußte er, wie naiv dieser Gedanke gewesen war. Es spielte keine Rolle, ob er als Person weiterlebte oder nicht - er war Teil eines gewaltigen, unzerstörbaren Systems, das bis zum Ende der Zeit fortbestehen würde, und vielleicht darüber hinaus. Er war nie ein religiöser Mensch gewesen, sondern hatte sich selbst gern und bei jeder sich bietenden Gelegenheit als Agnostiker bezeichnet, doch nun sah er ein, daß auch das falsch war. Vielleicht gab es keinen Gott als Person, sicher keinen lenkenden Intellekt, der hinter den Dingen stand und über sie wachte, aber da war eine übergeordnete Macht, ein großer Plan, der die Gesetze des Universums ordnete.
»Halt!«
Lohmann hob erschrocken die Hand und legte gleichzeitig den anderen Zeigefinger über die Lippen, obwohl er alles andere als leise geredet hatte. »Da kommt jemand!«
Warstein hörte nichts, aber er hastete trotzdem zusammen mit Angelika rasch in die Deckung eines Felsbrockens, der am Straßenrand lag. Lohmann gesellte sich zu ihnen, nachdem er noch einige Sekunden dagestanden und angespannt gelauscht hatte.
»Was ist?« flüsterte Warstein.
Lohmann gestikulierte ihm hastig zu, leise zu sein, ehe er - übrigens deutlich lauter als Warstein zuvor - antwortete: »Ich habe etwas gehört. Stimmen. Jemand kommt hierher.«
»Dann haben sie uns doch entdeckt«, sagte Angelika.
Lohmann zuckte nur mit den Schultern, wiederholte seine warnende Handbewegung und duckte sich tiefer hinter den Stein, der kaum ausreichte, um ihnen allen Deckung zu gewähren.
Sie waren bei der Wahl ihres Versteckes nicht sehr gut beraten gewesen. Der Felsbrocken blockierte fast ein Drittel der Straße, und er mußte vor noch nicht allzu langer Zeit vom Berg heruntergerollt sein, denn er hatte alles niedergewalzt, was sich ihm in den Weg stellte. Es gab hinter ihnen nichts, wo sie sich hätten verstecken können. Wenn Lohmann recht hatte und wirklich jemand die Straße herauf kam, dann mußten sie zwangsläufig entdeckt werden. Warstein spielte eine Sekunde lang mit dem Gedanken, die Straße zu überqueren und im dichten Gebüsch auf der anderen Seite Schutz zu suchen, aber es war zu spät. Jetzt hörte auch er die Stimmen, und nur eine Sekunde später sah er das Licht eines starken Scheinwerfers, das wie ein suchender Finger die Straße entlangtastete.
Vorsichtig richtete er sich auf und spähte über den Rand ihrer Deckung hinweg. Sein Herz machte einen Sprung. Es waren mindestens sieben oder acht Männer; zwei von ihnen waren mit starken Handscheinwerfern ausgerüstet, mit denen sie aufmerksam den Straßenrand zu beiden Seiten ableuchteten. Die Männer trugen dunkelgefleckte Uniformen, und alle waren bewaffnet.
»Verdammt!« flüsterte Lohmann. »Sie kommen direkt auf uns zu!«
Warstein sah sich gehetzt um. Die Männer waren vielleicht noch zwanzig oder dreißig Meter entfernt. Sie bewegten sich nicht sehr schnell, aber sobald sie den Felsen erreicht hatten, mußten sie sie einfach sehen. »Ich werde sie ablenken«, sagte er entschlossen. »Vielleicht suchen sie nicht weiter nach euch, wenn ich mich ihnen stelle.«
Er wollte aufstehen, aber Lohmann ergriff seinen Arm und riß ihn mit einem fast brutalen Ruck wieder zurück. »Sie bleiben hier!« sagte er. »Sie kriegen uns alle oder keinen.«
Warstein riß seine Hand los. Er setzte dazu an, Lohmann zu sagen, was er von seiner kindischen Pfadfinderehre hielt, aber in diesem Moment begann Angelika neben ihm so heftig zu zittern, daß er erschrocken herumfuhr und sie anstarrte. Es dauerte fast eine Sekunde, bis er begriff, daß die Mischung aus Entsetzen und Unglauben, die er in ihren Augen las, nicht ihm oder den Männern auf der anderen Seite des Felsens galt.
Hinter ihnen war etwas. Er konnte es nicht genau erkennen - es war groß und dunkel, und es bewegte sich auf eine sonderbar falsche, unnatürliche Weise. Warstein glaubte, glitzernde Schuppen zu erkennen, gebogene Klauen und messerscharfe Zähne und kleine, tückische Augen, die ihn aus der wogenden schwarzen Masse des kriechenden Körpers anstarrten. Das Geschöpf war kaum noch eine Armeslänge von ihnen entfernt. Eine Welle lähmenden Entsetzens machte sich in ihm breit. Seine Kopfhaut begann zu prickeln, und eine unsichtbare, eiserne Hand legte sich um seine Kehle und drückte sie zu, so daß er nicht einmal einen Schreckensschrei ausstoßen konnte. Es war das Ding von vorhin. Die Bestie von der anderen Seite des Tores, die ihnen gefolgt war.
Lohmann schien noch gar nicht bemerkt zu haben, was sich hinter ihnen abspielte. »Mir wird schon etwas einfallen«, sagte er. »Ich bin gut im Improvisieren. Wir müssen sie irgendwie ablenken.«
»Lohmann«, sagte Warstein.
»Ich brauche nur ein paar Sekunden«, fuhr Lohmann fort. »Irgend etwas, damit wir es in den Wald schaffen.«
»Lohmann!« sagte Warstein noch einmal. Er war noch immer wie gelähmt. Das Ungeheuer kam nicht näher, aber er war auch nicht in der Lage, sich zu rühren. Mit einer schier übermenschlichen Kraftanstrengung gelang es ihm schließlich, den Kopf zu drehen und zu Lohmann zurück zu blicken. Der Journalist hatte sich in eine halb hockende Stellung erhoben und spähte um den Rand ihrer Deckung herum. Einer der Scheinwerferstrahlen war jetzt ganz nah.
»Lohmann!« sagte Warstein noch einmal.
Lohmann drehte mit einem zornigen Ruck den Kopf - und stieß ein überraschtes Keuchen aus. »Was -?«
»O mein Gott, ist das schön!« flüsterte Angelika.
Warstein starrte sie ungläubig an, drehte dann wieder den Kopf und verharrte plötzlich.
Das Geschöpf war fort. Das hieß, es war noch da, aber es hatte sich verändert, so sehr und so drastisch, wie es überhaupt nur möglich schien. Aus dem krallen-bewehrten, kriechenden Chaos, das den Tod zu ihnen brachte, war eine Kreatur geworden, die so schön und friedvoll war, daß ihr Anblick Warstein schier den Atem verschlug. Er konnte auch jetzt nicht genau erkennen, was da überhaupt vor ihnen lag. Es war ein Wesen wie aus einer Vision des Garten Eden, ein zartes Gespinst aus Federn und Fell und schimmernder Seide, aus dünnen, zerbrechlichen Gliedern und filigranen Fühlern, das nichts glich, was er jemals zuvor gesehen hatte. Trotz seiner Größe wirkte es verletzlich und sehr verwundbar, und sein bloßer Anblick erweckte in Warstein ein Gefühl der Zärtlichkeit und des Beschützenwollens, wie er es niemals zuvor in dieser Intensität verspürt hatte. Aber das war doch unmöglich, dachte er. Er konnte sich nicht so getäuscht haben. Vor einer Sekunde noch hatte er sich einer Kreatur der Hölle gegenübergesehen. Jetzt erblickte er etwas, das ein Geschöpf des Himmels zu sein schien, ein Wesen, gegen dessen Schönheit und Sanftmut selbst ein Engel verblassen mußte.
»Was ... was ist das?« flüsterte Angelika. Ihre Augen leuchteten. Langsam streckte sie die Hände aus und berührte das goldfarbene Fell des reglos daliegenden Wesens. Ein leises Knistern war zu hören, als ihre Fingerspitzen das Geschöpf streichelten. Die Kreatur reagierte auf die Berührung. Warstein hörte einen hellen, sphärischen Laut, und der ganze Körper zitterte sacht. Es war ein Anblick wie von Wind, der durch ein Kornfeld strich.
»He!« sagte Lohmann hinter ihnen. »Sie sind weg!«
Warstein riß sich widerwillig vom Anblick der goldenen Kreatur los. Lohmann hatte sich ganz aufgerichtet und sah in die Richtung, aus der die Soldaten gekommen waren. Die Scheinwerferstrahlen waren fort, und die Männer, zu denen sie gehörten, auch.
»Wo ... sind die Soldaten?« fragte Lohmann.
Warstein konnte nur verwirrt mit den Schultern zucken. Er hätte erleichtert sein müssen, daß sie wie durch ein Wunder doch noch davongekommen waren, aber das genaue Gegenteil schien der Fall zu sein. Vielleicht, dachte Warstein, weil in diesem Satz ein Wort zuviel war. Sie waren nicht wie durch ein Wunder noch einmal davongekommen.
Lohmann riß seinen Blick mühsam von der leeren Straße los und drehte sich zu Angelika und ihm herum. »Irgend etwas scheint sie -« Er brach abrupt ab, als sein Blick die goldfarbene Kreatur traf, die vor Angelika auf dem Boden lag. Seine Augen wurden groß.
Warstein gönnte sich den kleinen Luxus, sich einen Augenblick lang an dem Ausdruck von Fassungslosigkeit zu weiden, der sich auf Lohmanns Gesicht ausbreitete, ehe auch er sich wieder umwandte. Und während er es tat, geschah etwas sehr Unheimliches. Für jene winzige Zeitspanne, die sein Blick brauchte, um das Geschöpf zu Angelikas Füßen zu fokussieren, war es wieder die mörderische Kreatur, die Lohmann verfolgt hatte. Es ging zu schnell, um den Anblick wirklich zu erfassen; ein einzelnes Bild, das nicht in sein Bewußtsein drang, aber ein Gefühl tiefer Beunruhigung in ihm hinterließ, das auch nicht wich, als er das Geschöpf wieder so sah, wie es wirklich war.
Aber war es das überhaupt?
»Was ist das?« flüsterte Lohmann. Er ließ sich in die Hocke sinken und streckte die Hände nach dem goldfarbenen Fell aus. Als er es berührte, schien ein unmerkliches Zucken durch den reglosen Körper zu laufen. Er bewegte sich nicht wirklich. Es war, als betrachteten sie eine Spiegelung auf klarem Wasser, dessen Oberfläche für einen kurzen Moment vom Wind gekräuselt wurde.
Warstein war nicht der einzige, der es bemerkte. Lohmann zog erschrocken die Hand zurück, und Warstein war nicht einmal erstaunt, daß das Zittern ebenso plötzlich wieder aufhörte, wie es begonnen hatte.
»Es stirbt«, sagte Angelika. Ihre Stimme bebte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie versuchte nicht, dagegen anzukämpfen. »Seht doch, es stirbt.« Ihre Finger strichen über das knisternde Fell, und dort, wo sie es berührten, leuchtete der goldene Glanz noch einmal intensiver auf, als verleihe ihm die bloße Berührung noch einmal Lebenskraft. Doch wenn es so war, dann reichte das, was Angelika dem sterbenden Geschöpf gab, nicht aus. Sein Glanz verblaßte mehr und mehr.
»So etwas habe ich noch nie gesehen!« sagte Lohmann. »Was ist das für ein Tier?«
»Es ist kein Tier«, antwortete Warstein. Er sprach ganz leise. Der Moment hatte etwas beinahe Heiliges, und lautes Reden konnte ihn zerstören. »Es kommt von drüben. Von der anderen Seite.«
»Es kann hier nicht leben«, sagte Angelika traurig. Tränen liefen über ihr Gesicht. »Unsere Welt bringt es um.«
Der goldene Glanz der Kreatur war jetzt kaum noch zu erkennen. Sie war noch immer schön, unbeschreiblich schön und majestätisch, aber sie war nur noch ein sterbender Engel. Nur dort, wo Angelikas Hand sie berührte, war noch ein Rest des goldenen Schimmerns zu erkennen.
Der Anblick brachte Warstein auf eine Idee. Obwohl ihm der Gedanke selbst fast absurd erschien, streckte auch er beide Hände aus und legte sie fest auf den Körper des sterbenden Wesens. Er fühlte ein sanftes Kribbeln und etwas wie einen vagen Schmerz, der nicht sein eigener zu sein schien. »Helft ihm«, sagte er. Nicht mehr, begriff er doch selbst nicht wirklich, was er tat. Trotzdem schien zumindest Angelika zu verstehen, denn auch sie berührte das Wesen nun mit beiden Händen, und nach einer Sekunde des Zögerns tat Lohmann das gleiche, auch wenn Warstein ihm ansah, daß er insgeheim wohl an seinem Verstand zweifelte.
»Es wird nicht sterben«, sagte er. »Wir können ihm helfen.«
Und das taten sie. Er wußte nicht, was geschah, geschweige denn, was sie taten. Aber er spürte, wie irgend etwas in der sterbenden Kreatur wieder erwachte, und nur einen Augenblick später sah er es auch. Unter ihren Händen erwachte der sanfte goldene Glanz des Wesens zu neuem Leben. Warstein fühlte, wie sich das Fell erwärmte, die Kälte des Todes, die schon fast vollkommen von dem Geschöpf Besitz ergriffen hatte, sich widerwillig zurückzog und neuem, pulsierendem Leben Platz machte. Er dachte nicht darüber nach. Er gestattete sich nicht einmal, Erleichterung oder auch nur Erstaunen zu empfinden. Alles, wofür in seinem Denken Platz war, war der intensive Wunsch, das Geschöpf zu retten. Ihm etwas von ihrer Lebenskraft zu geben.
Es gelang ihnen. Zuerst langsam, doch dann immer schneller und schneller löste sich die eisige Umarmung des Todes, und schließlich zogen zuerst Warstein und dann die beiden anderen ihre Hände zurück. Der Glanz blieb. Das Geschöpf bewegte sich, ein fließendes, seidiges Rascheln und Gleiten einer Form, die zu fremd und anders war, um sie wirklich zu erkennen. Für einen kurzen Moment wurde sein Glanz so intensiv, daß Warstein geblendet die Augen schloß und den Blick abwandte.
Als er die Lider wieder hob, war das Wesen verschwunden. Nur ein flüchtiger Schimmer blieb noch in der Luft zurück, dann erlosch auch er, und sie waren wieder allein. Ein Gefühl tiefer Zufriedenheit breitete sich in Warstein aus. Er konnte immer noch nicht sagen, was sie getan hatten, aber es war etwas Gutes gewesen, etwas Richtiges, und das allein zählte in diesem Moment.
Es war Lohmann, der den Augenblick beendete und sie wieder in die Wirklichkeit zurückholte. »Glauben Sie nicht, daß Sie mir allmählich die eine oder andere Erklärung schuldig sind?« fragte er.
»Wenn Sie wissen wollen, was das für ein Wesen war, dann muß ich Sie enttäuschen«, antwortete Warstein. Etwas von dem Frieden und der Sanftmut der Kreatur war noch in ihm zurückgeblieben, denn er war nicht einmal wirklich verärgert über Lohmanns Frage. »Ich weiß es nicht.«
»Dafür, daß Sie nichts wissen, wissen Sie eine Menge«, erwiderte Lohmann scharf. »Was um Gottes willen haben Sie getan?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Warstein noch einmal. »Ich wollte einfach nicht, daß es stirbt.«
»So?« machte Lohmann. »Einfach so, wie?«
»Einfach so«, bestätigte Warstein. Aber das war nicht die Wahrheit. Tief in sich wußte er, was geschehen war. Und nicht erst seit diesem Moment. Der Gedanke war so phantastisch, daß er es selbst jetzt noch nicht über sich brachte, ihn laut auszusprechen.
»Nur weil Sie es wollten?« Lohmann lachte nervös.
»Ja. So, wie das Radio wieder funktioniert hat, weil Sie es wollten«, bestätigte Warstein. »Und im gleichen Moment wieder ausgefallen ist, in dem Sie es sich gewünscht haben.«
Lohmann blinzelte ein paarmal. Er setzte dazu an, etwas zu sagen, schüttelte aber dann nur den Kopf und blickte auf die Stelle herab, an der das Wesen gelegen hatte.
»Erinnern Sie sich«, fuhr Warstein fort. Die Worte galten viel mehr ihm selbst als dem Journalisten oder Angelika. Der Gedanke kam ihm selbst noch immer so phantastisch und bizarr vor, daß sich sein Verstand mit aller Macht dagegen wehrte, ihn zu akzeptieren. Er mußte es laut aussprechen, nicht um Lohmann oder Angelika, sondern um sich selbst davon zu überzeugen, daß es so war. »Ich habe mir gewünscht, daß die Straße besser wird - und sie wurde es.« Er deutete auf Angelika. »Dein Gesicht. Du hattest Angst, daß eine Narbe zurückbleibt, nicht wahr?«
Angelika sah ihn verblüfft an. Sie wirkte kaum weniger schockiert als Lohmann, und obwohl Warstein spürte, daß sie es insgeheim bereits ebenso deutlich wußte wie er, schien auch sie sich noch gegen die Wahrheit zu sträuben. Widerwillig nickte sie.
»Die Brandblase ist verschwunden«, fuhr er fort. »Wenn wir einen Spiegel hätten, könntest du es selbst sehen. Da ist nichts mehr.«
Sie hob die Hand an die Wange und betastete ihre Haut. Sie sagte nichts.
»Und die Männer«, schloß Warstein mit einer Geste dorthin, wo vor einer Minute noch ein Dutzend Soldaten gewesen war. »Sie sind fort. Sie sind weg, weil Sie es gewollt haben, Lohmann.«
»Was für ein Quatsch«, sagte Lohmann. Es klang nicht einmal im Ansatz überzeugt. Nur hilflos.
»Aber Sie haben es selbst gesagt«, sagte Warstein. »Erinnern Sie sich? Irgend etwas wird Ihnen einfallen. Ihnen ist etwas eingefallen.«
»Aber das ist völlig unmöglich!« behauptete der Journalist. In seinen Augen war etwas, das an Irrsinn grenzte. Er sah aus wie ein Mann, der den Boden unter den Füßen verliert und es merkt, ohne etwas dagegen tun zu können. »Das würde bedeuten, daß...«
»...unsere Wünsche die Realität beeinflussen, ja«, führte Warstein den Satz zu Ende.
»Aber das ist unmöglich«, beharrte Lohmann. Er lachte nervös. Was er zustande brachte, hörte sich jedoch eher wie ein Wimmern an. »Wollen Sie behaupten, daß wir plötzlich zaubern können?« Er stand auf, griff in die Jackentasche und zog eine zerknautschte Zigarettenpackung hervor. Als er sie mit zitternden Fingern aufklappte, sah Warstein, daß sie nur noch zwei Zigaretten enthielt. »Sehen Sie!« sagte Lohmann in fast triumphierendem Ton. »Ich habe mir gerade gewünscht, daß sie wieder voll ist. Nichts ist geschehen.«
»So funktioniert es nicht«, erwiderte Warstein. »Ich rede nicht über Taschenspielertricks, Lohmann. Sie müssen es wirklich wollen. Tief in sich müssen Sie wissen, daß es so und nicht anders sein kann.«
Lohmann sah ihn verstört an, starrte dann wieder auf die Zigarettenpackung und steckte sie ein. Er sagte nichts mehr.
Ohne ein weiteres Wort setzten sie ihren Weg fort. Es war tatsächlich nicht etwa so, daß sie plötzlich über Zauberkräfte verfügten; obwohl Warstein es niemals zugegeben hätte, ertappte auch er sich ein paarmal dabei, es insgeheim zu versuchen. Er fixierte einen Punkt am Wegesrand und konzentrierte sich mit aller Macht darauf, dort einen blühenden Rosenbusch entstehen zu lassen, aber der Waldrand veränderte sich nicht, und auch sein Versuch, seine nassen Kleider trocken zu zaubern oder wenigstens etwas wärmer werden zu lassen, führte zu keinem Ergebnis. Aber sie waren noch keine fünf Minuten unterwegs, als der Weg plötzlich eine Biegung machte und die Eisenbahntrasse unter ihnen lag. Nicht weit dahinter erhob sich der gewaltige Torbogen des Tunneleingangs. Dabei hätten sie noch Kilometer davon entfernt sein müssen.
Der Anblick erfüllte ihn mit einer Mischung aus Unbehagen und Erleichterung. Erleichterung, weil er wie die beiden anderen einfach am Ende seiner Kräfte war; einen weiteren, kilometerlangen Marsch über die abschüssige Straße hätte er kaum noch durchgestanden, und wahrscheinlich war dies auch ganz genau der Grund, weswegen er ihnen erspart geblieben war. Aber auch Unbehagen, denn indem sie das Ende ihres Weges erreicht hatten, mußte er nun endgültig die Entscheidung treffen, die er bisher so erfolgreich vor sich her geschoben hatte; so wie er seit Jahren jede Entscheidung vermieden hatte.
Sie stiegen die Böschung hinauf und betraten die Geleise. Ihre Schritte wurden unwillkürlich langsamer, als sie sich dem Tunnel näherten. Zehn Meter davor blieb Lohmann schließlich stehen. Aufmerksam sah er nach rechts und links und versuchte dann, die Schwärze jenseits des fünf Meter hohen Torbogens mit Blicken zu durchdringen. »Seltsam«, sagte er.
»Was ist seltsam?« fragte Angelika.
»Es ist niemand zu sehen«, antwortete Lohmann. »Ich hätte damit gerechnet, daß sie wenigstens hier eine Wache aufstellen.«
»Vielleicht hatten sie es ja«, erwiderte Angelika.
»Ja, natürlich.« Lohmann gab sich vergebens Mühe, seiner Stimme einen möglichst sarkastischen Ausdruck zu verleihen. Er klang nur trotzig. »Das habe ich ganz vergessen. Wir haben sie weggewünscht, nicht wahr?« Er deutete in den Tunnel hinein. »Warum wünschen wir uns nicht gleich einen Zug, der dort auf uns wartet? Das würde uns einen langen Fußmarsch ersparen.«
Angelika würdigte ihn nicht einmal einer Antwort, sondern ging weiter.
Lohmann folgte ihr. Warstein schloß sich ihnen an, allerdings erst nach kurzem Zögern und in einem Abstand von sieben, acht Schritten. Plötzlich war er nicht mehr sicher, was er tun sollte. Während Angelika und Lohmann sich in der Mitte der doppelten Eisenbahntrasse bewegten, ging er weiter nach rechts und blieb zwei Schritte hinter dem Tunneleingang stehen. Es war so dunkel, daß er die schmale, eiserne Klappe, die unmittelbar hinter dem Eingang in die Wand eingelassen war, nur schemenhaft erkannte. Aber er wußte, daß sie da war. Und er wußte auch, was dahinter lag. Er brauchte nur die Hand auszustrecken und sie zu öffnen. Aber er brachte die Kraft dazu einfach nicht auf.
»Ist es das?« fragte Lohmann hinter ihm.
Warstein fuhr erschrocken zusammen. Er hatte nicht einmal bemerkt, daß der Journalist kehrtgemacht hatte und zu ihm zurückgekommen war. Auf Lohmanns Gesicht lag ein sonderbarer Ausdruck, den er im ersten Moment nicht zu deuten vermochte.
»Was?« fragte er ausweichend.
Lohmann runzelte die Stirn. »Das Telefon«, erwiderte er.
Warstein fuhr zum zweiten Mal sichtlich zusammen. »Woher...?«
Lohmann machte eine ärgerliche Geste. »Halten Sie mich für blöd?« fragte er. »Ich habe diesen Tunnel vielleicht nicht mitgebaut wie Sie, aber selbst ich weiß, daß es hier irgendwo ein Telefon geben muß. Sie hatten vor, Franke damit anzurufen, nicht wahr?«
»Das hatte ich«, gestand Warstein.
Lohmann blickte ihn durchdringend an. Er wirkte nicht einmal verärgert. »Und jetzt?«
»Jetzt nicht mehr«, sagte Warstein. Die Entscheidung, vor der er sich so gefürchtet hatte, war längst gefallen, das begriff er erst jetzt. Es war nicht mehr nötig, die beiden anderen zu verraten, ebensowenig wie es jetzt noch nötig gewesen wäre, gegen Franke zu kämpfen. Die Dinge hatten längst ihren Lauf genommen, und das Geschehen, das sie aufhalten wollten, hatte schon längst begonnen. Nicht mehr sie waren es, die den Ablauf der Ereignisse bestimmten, die Ereignisse bestimmten ihr Verhalten. Der Gedanke erfüllte Warstein mit einem Gefühl von Ohnmacht, dem aber jede Verbitterung fehlte. Vielleicht, weil er ebenso deutlich fühlte, daß alles so kam, wie es kommen mußte, weil es in dem großen, komplizierten Muster des Universums so vorgesehen war.
»Gehen wir weiter«, sagte er. »Wir haben noch einen langen Weg vor uns.« Lohmann wirkte ein wenig überrascht. Er lächelte, drehte sich herum und wartete, bis Warstein an ihm vorbeigegangen war. Nebeneinander gingen sie zu Angelika, die in einigen Schritten Entfernung stehengeblieben war und etwas ansah, das sie erst erkannten, als sie neben ihr angelangt waren.
»Sehen Sie, Lohmann«, sagte sie. »Ist das ungefähr das, was Sie sich vorgestellt haben?«
Lohmann sagte nichts, aber trotz der Dunkelheit, die sie umgab, konnte Warstein erkennen, wie jede Farbe aus seinem Gesicht wich, während er den kleinen, vierrädrigen Wagen ansah, der wenige Schritte vor ihnen auf den Schienen stand und auf den Angelika deutete.