12

»Wissen Sie, was man unter dem Begriff Schwarzes Loch versteht?« fragte Franke. In der nicht sehr hohen, aber weitläufigen Marmorhalle, die den Vorraum zum Allerheiligsten des Magistrats von Ascona bildete, hallten seine Worte lang und auf eine Weise wider, die irgendwie ihren Sinn zu entstellen schien, ohne daß Rogler sagen konnte, wieso eigentlich.

»Ja«, antwortete er. Er registrierte Frankes Überraschung und fügte mit einem bewußt verlegen wirkenden Lächeln hinzu: »Ungefähr wenigstens.«

Das entsprach nicht völlig der Wahrheit. Rogler war nicht dumm, und er besaß einen Fernseher. Außerdem war er des Lesens kundig. Aber eine der ersten Erkenntnisse, die er über Franke gesammelt hatte, war, daß er zu jener Art von Wissenschaftlern zu gehören schien, die Nichtakademiker prinzipiell für dämlich hielten und sich darin gefielen, mit ihrem Wissen zu protzen. Das ärgerte Rogler zwar, aber er wußte auch, daß es oft die effizientere Methode war, den anderen einfach reden zu lassen, als selbst Fragen zu stellen. »Vielleicht erklären Sie es mir trotzdem noch einmal«, fügte er hinzu. »Nur zur Sicherheit - damit ich verstehe, wovon Sie reden.« Gleichzeitig beschleunigte er seine Schritte. Er mußte hier raus. Die letzte halbe Stunde hatte er damit zugebracht, sich die weinerlichen Vorhaltungen der Stadtältesten anzuhören, die irgend etwas von Millionenverlusten und einem nicht wieder gutzumachenden Schaden für die Stadt und den Fremdenverkehr gefaselt hatten. Als ob es im Moment darauf ankäme! Außerdem war er ein wenig ärgerlich auf Franke. Er hatte insgeheim gehofft, daß der Deutsche seinen unbestritten vorhandenen Einfluß geltend machen würde, um ihm in dieser unangenehmen Situation beizustehen. Immerhin besaß er - auch wenn Rogler immer noch nicht hatte herausfinden können, warum eigentlich - genug Macht, um in diesem Land nach Belieben schalten und walten zu können; einem Land, das nicht einmal sein eigenes war. Aber er hatte sich auf eine Rolle als unbeteiligter Dritter zurückgezogen und taten- und wortlos zugesehen, wie Rogler mit dieser Versammlung greiser Narren fertig wurde. Er hatte es geschafft, aber er fühlte sich, als hätte er soeben einen Marathonlauf hinter sich gebracht; mit Bleigewichten an den Beinen. Ein stundenlanges Verhör mit einem hartgesottenen Rauschgiftdealer wäre ihm lieber gewesen.

Sie verließen das Bürgermeisteramt, ehe Franke das Schweigen wieder brach und Roglers Aufforderung nachkam.

»Sie wissen, daß auch eine Sonne altert, genau wie ein Mensch oder ein Tier - wie alles im Universum.« Er deutete zum Himmel hinauf, an dem im Moment allerdings die Sonne nicht sichtbar war, sondern bauchige Regenwolken, die so tief über die Stadt hinwegzogen, daß man glauben konnte, sie anfassen zu können. Dabei war es so warm, daß Rogler in Versuchung war, die Jacke auszuziehen. Aber es war keine angenehme Wärme.

»Es dauert lange - zehn, zwölf Milliarden Jahre, aber irgendwann ist auch das Leben einer Sonne zu Ende«, fuhr Franke fort. »Manche von ihnen erlöschen einfach und sterben wie ein alter Mensch, der sich hinlegt und die Augen schließt, andere werden zur Nova - sie wissen, was das ist?«

»Nicht genau«, murmelte Rogler. Er wußte es, und er hatte im Grunde überhaupt keine Lust, sich jetzt einen Vortrag in Astrophysik für Anfänger anzuhören. Aber er ahnte, daß Franke höchstens noch mehr reden würde, wenn er nicht wenigstens Interesse heuchelte.

»Sie explodieren, laienhaft ausgedrückt«, sagte Franke. »Sie verzehren all ihre Energie in einer einzigen, unvorstellbaren Explosion. Würde unsere Sonne zur Nova werden, würde die Hitze selbst hier noch ausreichen, die Erdkruste zu schmelzen. Die inneren Planeten würden wahrscheinlich völlig zerstört. Zumindest der Merkur würde einfach verdampfen. Aber diese Gefahr besteht nicht - zumindest nicht in den nächsten fünf oder sechs Milliarden Jahren«, fügte er mit einem beruhigenden Lächeln hinzu - als hätte er tatsächlich Angst, seine Worte könnten Rogler erschrecken.

Franke fuhr fort. »Sehr alte Sonnen werden manchmal zum sogenannten roten Riesen, sie blähen sich einfach auf und kühlen dabei immer mehr ab. Und zum Schluß schrumpfen sie wieder zusammen und werden zu einem weißen Zwerg, einer winzigen Sonne, manchmal kaum größer als unser Mond. Das letzte uns bisher bekannte Stadium schließlich ist ein Neutronenstern - sozusagen ein schwarzer Zwerg.«

»Schwarz?« fragte Rogler. Was zum Teufel hatte das alles mit dem zu tun, was hier vorging?

»Natürlich ist er nicht wirklich schwarz«, sagte Franke lächelnd. »Man nennt ihn so, weil er eben nicht sichtbar ist - nur ein schwarzer Fleck im Universum. Die Masse eines solchen Neutronensternes ist unvorstellbar. Stellen Sie sich die gesamte Materie einer Sonne vor, zusammengepreßt auf eine Kugel von zehn oder zwölf Kilometern Durchmesser. Ein tennisballgroßes Stück eines solchen Neutronensternes würde Tausende von Tonnen wiegen.«

Sie hatten den Wagen erreicht, mit dem sie hergekommen waren, und stiegen ein. Ein intensiver Geruch nach Leder und frisch gewachstem Holz schlug ihnen entgegen, als Rogler hinter Franke auf den Rücksitz der Limousine kletterte. Hier drinnen war die Luft angenehmer, kühl und weniger stickig als draußen, und die getönten Scheiben gaben Rogler den Eindruck, die Dämmerung wäre bereits wieder hereingebrochen. Franke mußte schon vorher entsprechende Anweisungen gegeben haben, denn der Fahrer startete den Motor und fuhr los, kaum daß sie die Türen hinter sich geschlossen hatten.

»Aber damit ist es noch nicht zu Ende.« Franke deutete mit dem ausgestreckten Finger zur lederbezogenen Decke des Wagens hinauf. »Nicht nur die Masse, auch die Gravitation eines solchen Neutronensternes ist unvorstellbar. Sie ist so groß, daß sie selbst das Licht krümmt. Schwarze Sterne sind nicht wirklich schwarz, wie ich bereits sagte. Sie erscheinen uns schwarz, weil ihre Anziehungskraft so unvorstellbar ist, daß sie selbst das Licht zurückhält.«

»Und was geschieht mit all diesem Licht?« fragte Rogler.

Franke lächelte. »Eine gute Frage. Niemand hat je einen Neutronenstern genau genug untersucht, um sie zu beantworten. Nur, damit das klar ist - ab jetzt bewegen wir uns im Gebiet reiner Spekulation. Kein Mensch hat jemals einen Neutronenstern gesehen oder gar ein Schwarzes Loch. Wir haben ein paar Objekte im All entdeckt, die ganz gute Kandidaten dafür wären, aber endgültig bewiesen hat ihre Existenz noch niemand.«

»Ein schwarzes Loch ist das, was aus einem Neutronenstern wird«, vermutete Rogler.

»Am Ende, ja«, bestätigte Franke. »Die Gravitation auf einem solchen Neutronenstern wird schließlich so groß, daß die Materie zusammenbricht. Protonen und Neutronen werden zusammengequetscht. Die Zwischenräume zwischen den Atomen bestehen nicht mehr. Er ist eine einzige, kompakte Masse mit einer Dichte und Anziehungskraft, die einfach unvorstellbar ist. Alles, was in die Nähe eines solchen Schwarzen Loches geriete, würde unweigerlich hineingesogen - kosmischer Staub, Meteoriten, aber auch Planeten, ganze Sonnensysteme ... vielleicht ganze Galaxien. Und es schrumpft immer weiter, bis es schließlich nur noch ein rechnerischer Punkt im Universum ist. Eine Singularität.«

Gegen seinen Willen verspürte Rogler nun doch so etwas wie Neugier. Er hatte all dies in der einen oder anderen Form schon einmal gehört, aber noch nie aus dem Mund eines Mannes, der scheinbar wußte, wovon er sprach - und der ganz offensichtlich darüber hinaus noch einiges mehr wußte. »Aber ist das denn nicht eigentlich unmöglich?« fragte er. »Ich meine, all diese Materie und Energie kann doch nicht einfach verschwinden.«

Franke zuckte mit den Schultern. »Beantworten Sie diese Frage, und der nächste Nobelpreis ist Ihnen sicher«, sagte er lächelnd. »Sie haben recht. Es ist ein Grundgesetz in diesem Universum, daß Energie nicht verloren geht. Sie kann sich nur ändern. Niemand weiß, was ein Schwarzes Loch wirklich ist. Vielleicht eine Form der Energie, die wir nicht kennen und nicht erkennen. Vielleicht eine Verbindung in eine andere Dimension. Vielleicht auch etwas, das sich unserem menschlichen Verständnis für alle Zeiten entziehen wird.«

Er legte eine Pause ein, und Rogler nutzte die Zeit, um aus dem Fenster zu sehen. Er bemerkte erst jetzt, daß sie sich nicht stadtauswärts bewegten, sondern in die entgegengesetzte Richtung hinunter zum See. Zumindest theoretisch. Der Verkehr war so dicht, daß sie öfter standen als fuhren. Zu Fuß wären sie wahrscheinlich schneller vorwärts gekommen.

»Ein Schwarzes Loch ist also nichts anderes als ein Punkt im Weltall«, sagte er schließlich. »Und was ist daran so interessant?«

Franke lächelte wieder, aber Rogler suchte vergeblich in diesem Lächeln nach einer Spur von Spott oder gar Herablassung. Seine Art, Fragen zu stellen, schien Franke zu amüsieren, das war alles.

»Das Interessante ist weniger, was es ist«, antwortete er, »sondern mehr, was es tut.«

»Wie kann eine erloschene Sonne etwas tun?« fragte Rogler.

»Sie krümmt den Raum«, antwortete Franke. »Jede große Materieansammlung tut das. Unter anderem.«

»Aha«, machte Rogler.

Diesmal lachte Franke laut, aber auch dieses Lachen wirkte gutmütig. Er rutschte ein Stück weiter von Rogler fort und legte die flache Hand auf das Leder zwischen ihnen. »Stellen Sie sich vor, dies wäre der normale Raum«, sagte er. »Sagen wir, ich bin die Erde, und Sie sind der Mond. Wenn Sie jetzt mit einem Raumschiff von der Erde zum Mond fliegen würden, vergeht eine meßbare Zeit, in der sie eine meßbare Entfernung zurücklegen.« Er fuhr die Strecke zwischen sich und Rogler auf kürzestem Wege mit dem Zeigefinger ab. »Die Luftlinie, sozusagen. Natürlich ist das alles im dreidimensionalen Raum etwas komplizierter, aber ich denke, Sie verstehen, was ich meine.«

Rogler nickte. Er verstand durchaus, und das Gehörte begann ihn sogar mehr und mehr zu interessieren. Er hätte sich nur gewünscht, Franke würde aufhören, ihn wie einen Idioten zu behandeln.

»Was eine solche Materieansammlung nun tut, ist, den Raum zu krümmen. Sie verbiegt ihn sozusagen.«

»Verbiegen?«

Franke ballte die Faust und drückte sie in das Sitzpolster, so daß eine sichtbare Vertiefung entstand. »Hätten Sie die Strecke vorher nachgemessen, würden Sie feststellen, daß die kürzeste Entfernung zwischen Ihnen und mir jetzt länger geworden ist«, sagte er. »Verstehen Sie?«

Rogler blickte nachdenklich auf die flache Kuhle herab, die Frankes Hand in den Sitz drückte. Genaugenommen hatte er das Leder nicht gekrümmt, sondern gedehnt. Aber er verstand, was Franke meinte, und nickte.

»Genau das ist es, was Materie mit dem Raum macht. Es braucht kein Black Hole dafür. Wäre es möglich, mit einem Raumschiff direkt durch die Sonne zu fliegen, würde man feststellen können, daß sie innen größer ist als außen.«

»Und ein Schwarzes Loch...«

»...tut dasselbe, nur ungleich stärker«, führte Franke den Satz zu Ende. »Es gibt Theorien, die besagen, daß in der unmittelbaren Nähe eines Black Hole selbst die Zeit stehenbleibt. Aber es sind Theorien, wie gesagt. Niemand weiß bisher mit letzter Gewißheit, ob es Schwarze Löcher wirklich gibt. Aber wenn es sie gibt, dann kann in ihrer unmittelbaren Nähe im wahrsten Sinne des Wortes alles geschehen.«

Zumindest mit Rogler geschah in diesem Moment etwas - er verstand plötzlich, warum Franke ihm diesen Vortrag gehalten hatte. Und der Schrecken, der dieses Verstehen begleitete, war einfach zu groß, als daß er sein wahres Ausmaß jetzt schon begriff.

»Moment mal«, sagte er stockend. »Sie glauben nicht im Ernst ... Sie wollen mir nicht wirklich erzählen, daß es in diesem Berg...«

»Es wäre möglich, daß sich im Inneren des Gridone ein Black Hole befindet, ja«, sagte Franke leise. »Bis vor wenigen Tagen war ich sogar fest davon überzeugt.«

»Aber das ist doch ganz unmöglich!« protestierte Rogler. »Ich meine: Sie haben selbst erzählt, daß ein Schwarzes Loch aus einer erloschenen Sonne besteht, und -«

»Vielleicht«, unterbrach ihn Franke. »Sie vergessen immer wieder, was ich eingangs sagte: Es ist eine Theorie. Niemand hat bisher ein Black Hole gesehen. Niemand hat es bisher untersuchen können. Es wäre möglich, daß sie gar nicht existieren. Aber es wäre ebenso möglich, daß sie überall im Universum sind, rings um uns herum; Giganten, die ganze Galaxien verschlungen haben, aber auch Zwerge, so groß wie ein einzelnes Atom und mit einer winzigen Masse. Es wäre möglich, daß ein solch winziges Black Hole vor Jahrmillionen bereits die Erde getroffen hat.«

»Moment«, sagte Rogler. Er maßte sich nicht an, Frankes Worte wirklich anzuzweifeln, aber der logische Fehler darin war ihm sofort aufgefallen. »Ein Gegenstand von solcher Dichte müßte die Erdoberfläche durchschlagen...«

»...und bis zum Erdmittelpunkt stürzen«, unterbrach ihn Franke. Er wirkte durchaus erfreut, daß Rogler von selbst darauf gekommen war. »Wenn seine Masse groß genug dazu ist. Aber wenn es klein genug ist, sagen wir, nur ein paar Gramm schwer und vielleicht den hundertsten Teil eines Atomdurchmessers groß, dann könnte es eine chemische Verbindung mit der Materie eingehen, auf die es trifft. Ich weiß, es hört sich phantastisch an, aber es ist durchaus möglich.«

»Selbst wenn es so wäre, müßte es doch die Erde längst verschlungen haben.«

»Wer sagt Ihnen, daß es das nicht bereits tut?« fragte Franke, machte aber gleich darauf eine beruhigende Geste. »Wir reden hier von Dingen, die sich in kosmischen Zeitabläufen zutragen. Nehmen wir an, es ist so - vor etlichen Millionen oder auch nur tausend Jahren hat ein wanderndes Black Hole die Bahn der Erde gekreuzt und ist in ihre Anziehungskraft geraten. Sie haben recht - es würde beginnen, die Materie in seiner Nähe aufzusaugen. Aber dieser Vorgang dauert lange, unendlich lange. Wahrscheinlich Millionen von Jahren.«

»Und Sie glauben, daß ... daß das der Grund für all diese ... diese Dinge ist?« fragte Rogler stockend. Er spürte, daß Franke ihn nicht belog, aber es war eine Sache, etwas über Schwarze Löcher und zusammenbrechende Galaxien in Bilder aus der Wissenschaft im Fernsehen zu hören, und eine ganze andere, mit etwas derartigem konfrontiert zu werden.

»Ich bin nicht sicher«, sagte Franke nach sekundenlangem Schweigen. »Bis vor kurzem war ich es. Ich war davon überzeugt. So sehr, daß ich die letzten drei Jahre meines Lebens mit nichts anderem verbracht habe als dem Studium genau dieser Dinge. Aber jetzt...« Er wiegte nachdenklich den Kopf. »Plötzlich paßt alles nicht mehr.«

»Sie haben es selbst gesagt«, erinnerte Rogler. »In der Nähe eines solchen Schwarzen Loches könnte buchstäblich alles passieren.«

Franke nickte, sagte aber nichts, und Rogler nutzte die Gelegenheit, die Frage zu stellen, die die ganze Zeit über in seinem Hinterkopf gewesen war. »Wenn Sie das wirklich glauben, Doktor Franke, warum dann das alles? Wollen Sie mir erzählen, daß Sie dieses ganze Chaos nur veranstaltet haben, um eine wissenschaftliche Theorie zu überprüfen?«

Franke starrte an ihm vorbei ins Leere. »Ich wollte, es wäre so«, sagte er. »Bei Gott, Rogler, ich wollte, ich hätte mich geirrt, und in diesem Berg wäre nichts anderes als Stein. Aber ich fürchte, es ist nicht so.« Er lachte. »Sie haben nicht verstanden, was ich Ihnen erzählt habe, wie?«

»Doch«, antwortete Rogler verwirrt. »Aber ich -«

»Das haben Sie nicht«, behauptete Franke. Er klang enttäuscht. »Sie haben nicht einmal wirklich zugehört. Und noch viel weniger haben Sie die Augen aufgemacht und sich umgesehen. Sie glauben, ich handelte verantwortungslos? Begreifen Sie eigentlich, worüber ich rede?«

»Über ein Schwarzes Loch«, antwortete Rogler automatisch. »Eine wissenschaftliche -«

»Zum Teufel noch mal, fangen Sie endlich an zu denken!« fiel ihm Franke ins Wort. »Ich rede nicht über eine wissenschaftliche Theorie. Ich rede über das Ende der Welt!«

Nicht genug, daß das Wetter seit ein paar Tagen verrückt spielte, erlebten die Einwohner des Centovalli seit einer guten Woche eine nie dagewesene Invasion von Fremden; größtenteils vollkommen verrückten Fremden, Turlingers Meinung nach. Wäre es nach ihm gegangen, hätte man diesen ganzen Teil der Alpen ohnehin schon vor fünfzig Jahren für den Tourismus im allgemeinen und Ausländer im besonderen sperren müssen. Nicht, daß er etwas gegen Ausländer hatte. Sie waren ihm völlig egal, solange sie nur dort blieben, wo sie hingehörten. Zu Hause. Bei sich zu Hause.

»Sind Sie sicher, daß wir auf dem richtigen Weg sind?«

»Das bin ich«, antwortete Turlinger, ohne sich herumzudrehen oder im Schritt innezuhalten. »Und wenn Sie noch ein bißchen lauter schreien, kommt gleich bestimmt jemand vorbei, den Sie fragen können.«

Der Mann im grünen Parka, der sich zwei Schritte hinter ihm den Steilhang hinaufquälte, antwortete nicht darauf, aber Turlinger konnte regelrecht hören, wie er erbleichte, und obwohl er sich nicht zu ihm herumdrehte, sondern seine Schritte im Gegenteil noch um ein winziges bißchen beschleunigte, war er sicher, daß er sich für einen Moment erschrocken umsah.

Turlinger verzog verächtlich das Gesicht. Wie die meisten Einheimischen in diesem Teil des Tessins lebte Josef Turlinger vom Fremdenverkehr; genauer gesagt, von den Fremden. Vielleicht nicht ganz so legal wie die meisten anderen, denn einen Gutteil seiner Einkünfte bestritt er damit, Touristen für viel Geld über große Umwege an Plätze zu führen, die sie bequemer - und preiswerter - hätten erreichen können, und ihnen die eine oder andere Occasion anzubieten (die er zu einem Bruchteil ihres Preises in einem kleinen Geschäft in Locarno erstand), aber all das hinderte ihn natürlich nicht daran, all diese Ausländischen zu verachten, und das um so mehr, je mehr sie ihm zahlten. Dieser eigenen, zugegeben etwas krausen Logik zufolge hätte er den Mann, der sich jetzt schnaubend hinter ihm den Steilhang hinauf quälte und vergeblich immer wieder einmal versuchte, zu ihm aufzuholen, eigentlich aus tiefstem Herzen hassen müssen - und ein bißchen tat er es sogar. Aber Turlinger war kein Dummkopf. Er wußte sehr wohl, daß seine Verärgerung und der aufgestaute Zorn mehr ihm selbst als diesem Franzosen galten - vielleicht war es auch ein Belgier oder Flame, so genau nahm es Turlinger damit nicht. Tatsache war, daß er ein Fremder war und daß ihm seine innere Stimme gestern abend, als er auftauchte, geraten hatte, ihm einen Tritt zu verpassen und ihn vom Hof zu jagen, noch bevor er den Mund aufmachte. Aber er hatte nicht auf sie gehört, und wie konnte er das, bei dem Bündel Banknoten, mit dem der Kerl unter seiner Nase herumgewedelt hatte?

Mittlerweile hatte sich Turlinger bereits ein dutzendmal selbst dafür verflucht, nachgegeben zu haben. Der Bursche hatte ihm wirklich viel Geld geboten, und Turlinger hatte es schließlich genommen und eingewilligt, ihn über die Berge nach Porera zu führen, aber er hatte ihn auch dazu gebracht, mit einem seiner (wenigen) eisernen Prinzipien zu brechen - nämlich dem, sich rauszuhalten. Wenn man ein Leben am Rande der Legalität führte wie Turlinger, war es wichtig, sich rauszuhalten. Aber es war eine einfache Tour: fünf - gut, mit diesem flügellahmen Trottel eher sieben Stunden hin, und etwas weniger zurück. Die Summe, die er dafür bekam, entsprach einem guten Wochenverdienst. Trotzdem war es ein Fehler gewesen. Er hatte es gleich geahnt, und im Verlauf der letzten drei oder vier Stunden war diese Ahnung zur Gewißheit geworden. Der Kerl war eine echte Nervensäge. Statt seinen ohnehin kurzen Atem dafür aufzusparen, den Berg zu erklimmen, redete er praktisch ununterbrochen; das meiste davon war dummes Zeug. Dazu kam noch etwas. Allein in der letzten Stunde war zweimal ein Hubschrauber über sie hinweggeflogen. Turlingers kundigem Auge waren auch die Spuren nicht entgangen, die sie gekreuzt hatten. Spuren von Männern in schweren Stiefeln, und an einer Stelle frischer Hundekot. Hätte er es nicht besser gewußt, hätte er geschworen, daß hier Wachen patrouillierten. Nur, daß es in diesem Teil der Berge absolut nichts gab, was des Bewachens wert gewesen wäre.

»Warten Sie einen Moment, Monsieur. Ich brauche ... eine kleine Rast.«

Turlinger verdrehte die Augen und schluckte den verächtlichen Kommentar, der ihm auf der Zunge lag, im letzten Moment herunter. Er hatte erst die Hälfte des vereinbarten Lohnes erhalten und würde den Teufel tun, den Kerl zu verärgern. Aber vielleicht würden sie ja auf dem Rückweg den einen oder anderen Umweg machen, dachte er. Über ein paar unwegsame Steilhänge zum Beispiel oder eine kleine Wand hinunter.

Er warf einen aufmerksamen Blick in den Himmel hinauf und zu beiden Seiten, ehe er sich umwandte und zu dem Monsieur zurückging. Kein Hubschrauber. Keine Patrouillen. Alles schien in Ordnung. Aber es war nicht in Ordnung. Irgend etwas stimmte nicht.

Vielleicht, überlegte er, während er sich in drei Schritten Abstand zu seinem schwatzhaften Kunden gegen einen Baum lehnte und so Aufstellung nahm, daß er zugleich ihn wie die nähere Umgebung im Auge behalten konnte, waren es einfach die Hunde, die ihn nervös machten. Turlinger konnte Hunde nicht ausstehen, denn sie waren so etwas wie seine natürlichen Feinde. Spuren konnte man verwischen. Menschlichen Verfolgern konnte man ausweichen oder zur Not einfach davonlaufen. Selbst die Hubschrauber, die er gesehen hatte, machten ihm keine Sorgen. Sie waren praktisch, um etwas zu sehen, aber einen solchen Luftquirl in diesem unwegsamen Gelände zu landen, würde sich selbst ein erfahrener Pilot dreimal überlegen. Hunde hingegen waren eine Pest. Sie mußten einen nicht sehen, um zu wissen, daß man da war. Sie witterten einen auch dann, wenn man vielleicht schon Kilometer entfernt und vermeintlich in Sicherheit war, und sie bewegten sich in fast jedem Gelände schneller und ausdauernder als ein Mensch. Wäre es nach Turlinger gegangen, hätten Hunde ebenfalls auf seiner Verbotsliste für diesen Teil des Landes gestanden; gleich hinter den Touristen.

Tief in sich spürte er, daß auch das nicht der eigentliche Grund für seine Beunruhigung war. Da war noch etwas, das dicht unter der Oberfläche seines bewußten Begreifens brodelte, ein Empfinden, das vielleicht nicht klar genug war, um es wirklich einzuordnen, aber viel zu intensiv, um es ignorieren zu können.

»Wir sollten weitergehen«, sagte er nach einer Weile. »Wir haben noch ein schönes Stück vor uns. Und den ganzen Weg zurück.«

»Noch eine Minute«, bat der Monsieur. Er lächelte, auf eine Art, von der er wahrscheinlich annahm, daß sie Turlingers Verständnis erweckte. Das einzige Gefühl, daß dieses Lächeln allerdings wirklich in Turlinger verstärkte, war seine Verachtung. »Ich bin so etwas nicht gewohnt, wissen Sie?«

Turlinger deutete den Hang hinauf. »Porera liegt hinter dieser Kuppe. Es ist nicht mehr weit.«

Der Blick des anderen folgte seiner ausgestreckten Hand, und sein Lächeln wurde noch eine Spur schmerzlicher. Was Turlinger als nicht mehr weit bezeichnet hatte, war noch ein guter Kilometer steil bergauf. Sein Lächeln wäre wahrscheinlich noch weit gequälter ausgefallen, hätte er gewußt, daß zumindest der letzte Teil dieser Strecke Turlinger echte Kopfschmerzen bereitete. Der Berggipfel vor ihnen war völlig deckungslos. Das Waldstück, an dessen Rand sie rasteten, hörte unmittelbar vor ihnen auf. Dort oben gab es nur ein paar Büsche und moosbedeckte, flache Felsen, hinter denen nicht einmal ein Hund Deckung gefunden hätte. Wenn einer dieser verdammten Hubschrauber kam, während sie dort oben waren, konnte der Pilot sie gar nicht übersehen.

Was Turlinger wieder zu der Frage brachte, warum zum Teufel mit einem Male Hubschrauber in diesem Teil der Berge patrouillierten. Sein Kunde hatte sich über den Grund dieser Tour beharrlich ausgeschwiegen, und Turlinger hatte ihn, getreu seiner Devise, sich rauszuhalten, auch nicht danach gefragt. Jetzt bedauerte er dies. Die Straße nach Porera hinauf war vor einer Woche gesperrt worden; niemand kam hinein, niemand heraus. Aber das war nichts Besonderes - im Winter kam das öfter vor, und selbst im Sommer verirrten sich die Einwohner des kleinen Bergdorfes selten ins Centovalli hinunter. Wenn sie ihren Ort verließen, so in Richtung Ascona oder Porto.

»Also gut, vermutlich haben Sie recht. Gehen wir weiter.« Ächzend wie ein alter Mann, der widerwillig seinen warmen Platz neben dem Ofen räumen muß, erhob er sich. Turlinger sah mit steinernem Gesicht zu, wie er seinen schweren Rucksack schulterte und die Riemen straffzog. Er fragte sich nicht zum ersten Mal, was darin verborgen sein mochte. Die kantigen Umrisse, die sich durch den Leinenstoff drückten, und sein sichtlich großes Gewicht verrieten ihm immerhin, daß es mehr war als ein paar zusätzliche Kleidungsstücke und Proviant.

Sie gingen weiter. Turlinger sorgte mit ein paar raschen Schritten dafür, daß wieder der gewohnte Abstand zwischen ihnen lag, und er nahm auch jetzt wenig Rücksicht darauf, daß sein Begleiter immer größere Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. Er wollte nur noch dort hinauf und dann wieder nach Hause. Trotzdem kamen sie nicht gut voran. Der Hang war steiler, als es vom Waldrand aus den Anschein gehabt hatte, und das Gehen bereitete Turlinger ungewohnte Mühe. Auch das war etwas, was seine Beunruhigung nährte. Etwas war heute anders als sonst. Es war, als ... wären diese Berge nicht mehr das, was sie sein sollten. Der Gedanke war so absurd, daß er still in sich hineinlächelte. Trotzdem erschreckte er ihn.

Langsam näherten sie sich der Bergkuppe. Auf der anderen Seite des kleinen Tales, das dahinter lag, erhob sich der gewaltige Schatten des Gridone, eingerahmt von einem Himmel, auf dem schon wieder finstere Gewitterwolken heraufzogen. Turlinger glaubte nicht, daß das Unwetter sie hier erreichen würde. Das Bergmassiv war ein verläßlicher Schutz, gegen alles, was von der anderen Seite kam. Aber der Anblick der grauen, durcheinanderwirbelnden Wolken ließ den Tag noch trister erscheinen. Turlinger hatte plötzlich das Gefühl, sich verirrt zu haben. Natürlich nicht wirklich - er kannte jeden Stein hier. Er wußte, was auf der anderen Seite der Bergkuppe lag, er hätte das Gelände hinter ihnen präzise und bis ins letzte Detail beschreiben können, ohne sich herumzudrehen - und trotzdem fühlte er sich fremd; als wäre er an einem Ort, den er schon hundertmal auf Bildern gesehen, aber noch nie selbst betreten hatte.

Immer wieder sah er zum Firmament hinauf. Der Himmel war auch hier grau und niedrig, doch die drohenden Wolken und das Wetterleuchten auf der anderen Seite des Gridone fehlten. Der Anblick hätte ihn beruhigen müssen. Sie würden vielleicht Regen bekommen, aber keinen Sturm und kein Unwetter. Nichts, worüber er sich Sorgen machen müßte.

Trotzdem tat er es. Und er wußte nicht einmal genau, weshalb.

Eine Minute später erreichten sie den Berggipfel. Als Turlingers Blick in das Tal auf der anderen Seite fiel, wußte er es.

»Was um alles in der Welt ist denn da los?« keuchte er.

»Genau das, was ich erwartet habe.« Sein Begleiter machte eine erschrockene Handbewegung und antwortete im Flüsterton, so als hätte er Angst, unten im Tal gehört zu werden. »Ich wußte, daß hier etwas faul ist! Terroristen, wie? Für wie dumm halten uns diese verdammten Raketengehirne eigentlich?«

Turlinger war nicht sicher, ob die Worte wirklich ihm galten; und wenn, hätte es nicht viel genutzt. Er verstand sie so wenig wie das, was er sah. Das war eine Menge.

Porera hatte eine Invasion erlebt. Nicht in dem Sinne, in dem die Menschen in diesem Teil des Tessins das Wort normalerweise benutzten, sondern in seinem ursprünglichen.

Der Ort wimmelte von Militär.

Quer über die einzige Straße, die ins Tal hinunter führte, spannte sich ein doppelter Maschendrahtzaun. Rechts und links der Durchfahrt erhoben sich zwei hastig errichtete Wachhäuschen, und jenseits davon, diskret hinter einem geparkten Lastwagen verborgen, stand ein leibhaftiger Panzer. Das Dorf selbst war frei von militärischen Fahrzeugen, sah man von zwei oder drei Geländewagen in verdächtigem Nato-Oliv ab, doch wohin Turlinger auch sah, erblickte er uniformierte Gestalten. Soldaten? Was zum Teufel -?!

»Vorsicht!«

Turlinger reagierte ganz instinktiv auf den Ausruf seines Begleiters und ließ sich der Länge nach auf den Bauch sinken. Erst dann sah er überhaupt, was den anderen so erschreckt hatte: zwischen den niedrigen Häusern am Ortsrand war ein Jeep aufgetaucht, der heftig schaukelnd querfeldein auf sie Kurs nahm. Er war mit drei Männern in grünen Uniformen und mit hellblauen Helmen besetzt. Für ein paar Sekunden war Turlinger felsenfest davon überzeugt, daß sie bereits entdeckt worden waren. Dann änderte sich das Motorengeräusch; fünfzig oder sechzig Meter vom Ortsrand entfernt hielt der Wagen an. Zwei der Soldaten stiegen aus und machten sich an etwas zu schaffen, das Turlinger über die Entfernung hinweg nicht erkennen konnte. »Was ist denn da los?« murmelte er. Er bekam keine Antwort, aber sein Begleiter berührte ihn an der Schulter. Als er den Kopf drehte und ihn ansah, hielt er ihm ein sonderbar aussehendes Instrument hin, das Turlinger nur mit einiger Anstrengung als Fernglas identifizierte. Zögernd griff er danach, setzte es aber erst auf einen zweiten, auffordernden Wink hin an.

Das Gerät war sehr schwer, und sein Sichtfeld war nicht wie das der Feldstecher, die Turlinger kannte. Er hatte fast das Gefühl, auf einen kleinen Fernseher zu blicken. Links und am unteren Rand des Bildes blinkten verwirrende rote Symbole und Zahlenkolonnen. Aber die Vergrößerung war phantastisch. Turlinger hatte im allerersten Moment Schwierigkeiten, den Jeep und die drei Soldaten wiederzufinden, doch nachdem es ihm gelungen war, schienen die Männer kaum noch zwei Meter von ihnen entfernt zu sein. Er konnte jetzt erkennen, was sie taten. Das, woran sie sich zu schaffen machten, war ein kaum kniehoher, dünner Draht, der sich nach rechts und links spannte, so weit er sehen konnte. In regelmäßigen Abständen unterbrachen senkrecht aus dem Boden ragende Metallstäbe den Miniaturzaun, an denen kleine, rechteckige Kästen befestigt waren. Turlinger hatte keine Ahnung von militärischen Dingen oder gar moderner Überwachungstechnik, aber das mußte man auch nicht, um zu erkennen, daß es sich bei dem Draht offenbar um einen Zaun handelte, der den ganzen Ort umgab. Seine geringe Höhe wirkte nicht beruhigend. Im Gegenteil. Turlinger hatte immerhin genug von Lichtschranken und ähnlichem gehört, um zumindest zu ahnen, was er da sah. Nach einer Weile gab er das sonderbare Fernglas an seinen Besitzer zurück und schloß für eine Sekunde die Augen, um sich wieder an das veränderte Sichtfeld zu gewöhnen. Als er die Lider hob, hatte sein Begleiter den Feldstecher angesetzt und blickte mit konzentriertem Gesichtsausdruck hindurch. Von Zeit zu Zeit berührte er eine kleine Taste auf seiner Oberseite, und immer, wenn er es tat, hörte Turlinger ein leises Klicken, gefolgt von einem surrenden Geräusch. Offensichtlich war in das Ding eine Kamera eingebaut.

Allmählich wurde ihm doch mulmig zumute. Wer immer der Kerl war - eines war er ganz bestimmt nicht: ein normaler Tourist, den die bloße Neugier hier herauf getrieben hatte. Er wußte plötzlich nicht mehr, was ihn mehr beunruhigte: die unheimliche Veränderung, die mit der Ortschaft unter ihnen vonstatten gegangen war, oder sein kaum weniger unheimlicher Begleiter.

»Hören Sie«, sagte er vorsichtig. »Ich glaube, wir sollten uns unterhalten.«

»Jetzt nicht.« Der andere machte eine unwillige Handbewegung und starrte weiter gebannt durch seinen Feldstecher.

»Ich denke, Sie sind mir ein paar Antworten schuldig«, fuhr Turlinger fort. Die Worte forderten weit mehr Kraft von ihm, als er erwartet hatte.

»Wieso? Sie haben doch gar nichts gefragt.« Der Bursche ließ den Feldstecher sinken, grinste ihn unverschämt an und begann in seinem Rucksack herumzuwühlen. Turlinger versuchte etwas von seinem Inhalt zu erkennen, sah aber nichts als schwarzes Plastik. Und etwas, das verdammt nach einer Waffe aussah.

»Wer sind Sie?« fragte er. »Sie ... Sie werden mir sofort sagen, wer Sie sind und was hier vorgeht. Oder ich...«

»Oder?«

Turlingers Hände begannen leicht zu zittern. Der andere lächelte noch immer. Seine Stimme klang so freundlich und amüsiert wie zuvor. Nichts in seinem Gesicht oder seiner Haltung hatte sich geändert - und trotzdem schien er plötzlich ein anderer Mensch zu sein. Aus dem freundlichen, ziemlich naiven Trottel war jemand geworden, der ... gefährlich war. Weder in seinem Blick noch in seiner Stimme war eine Drohung, aber ganz plötzlich hatte Turlinger Angst vor ihm. Hinter der Maske des Dummkopfes, auf die er hereingefallen war, verbarg sich eine Stärke und Gnadenlosigkeit, die Turlinger schaudern ließ. »Oder ich ... drehe auf der Stelle um und lasse Sie hier zurück«, sagte er. Seine Stimme klang nicht halb so entschlossen, wie nötig gewesen wäre, um die Worte glaubhaft zu machen.

»Das glaube ich nicht«, sagte der andere. Er verstaute sorgfältig sein Fernglas und zog eine sonderbare Kombination aus seinem Rucksack: der hintere Teil stammte offensichtlich von einem Gewehr, aber statt in einem Lauf endete das Gerät in einem gewaltigen Teleobjektiv.

»Was tun Sie da?« fragte Turlinger nervös.

Etwas klickte. Das vordere Drittel des Objektives bewegte sich surrend nach rechts und links und wieder zurück. »Ich fotografiere.«

»Das ist eine Kamera?«

Der Mann lachte leise. »Und was für eine! Mit dem Ding hier fotografiere ich jeden einzelnen Popel in der Nase des Burschen da unten am Tor. Lesen Sie Zeitung? Wenn ja, werden Sie die Bilder spätestens übermorgen auf jeder Titelseite bewundern können. Diese verdammten Mistkerle! Ich wußte, daß Sie uns eine Lügengeschichte auftischen!«

»Was ... was bedeutet das denn?« stammelte Turlinger.

»Ich habe keine Ahnung. Aber ich kriege es raus!« Der Mann ließ seine Kamera sinken und sah Turlinger aufmerksam an. »Da läuft eine Riesenschweinerei. Und Sie und ich, wir werden dafür sorgen, daß die Welt davon erfährt.«

»Ich will damit nichts zu tun haben!« sagte Turlinger impulsiv. »Ich verschwinde jetzt.«

Aber er rührte sich nicht. Der andere sagte kein Wort. Trotzdem schien seine bloße Anwesenheit Turlinger zu paralysieren. Erneut versuchte er, einen genaueren Blick in den Rucksack des Burschen zu werfen. Er war jetzt sicher, daß sich eine Waffe darin verbarg.

»Hören Sie«, sagte er nervös. »Ich verspreche Ihnen, daß ich nichts sage. Ich habe Sie nie gesehen, und ich war auch nie hier. Lassen Sie mich einfach gehen, ja? Ich gebe Ihnen auch Ihr Geld zurück.«

Eine Sekunde lang las er nichts als ehrliche Verblüffung auf den Zügen des anderen. Dann lachte er, schallend und sehr ausdauernd. »Oh verdammt, habe ich so einen Eindruck auf Sie gemacht?« fragte er kopfschüttelnd. »Wofür halten Sie mich? Ich bin kein Spion oder so etwas.«

»Nein?« fragte Turlinger vorsichtig.

»Nein - auch wenn manche mich vielleicht so bezeichnen würden. Und mich wahrscheinlich gerne an die Wand stellten.«

Also doch, dachte Turlinger. Er hätte sich raushalten sollen. Wahrscheinlich hatte er sein eigenes Todesurteil besiegelt, als er diesen verfluchten Auftrag annahm.

»Ich bin Journalist«, fuhr der andere fort.

»Journalist?«

»Fotoreporter, um genau zu sein«, sagte der andere. »Und das da werden die Aufnahmen meines Lebens. Und wenn Sie wollen, auch Ihres.« Er nickte ein paarmal, um seine Worte zu bekräftigen, und setzte die Kamera wieder an, ehe er fortfuhr: »Ich kann Sie ganz groß rausbringen, wenn Sie wollen. Die Story wird einschlagen wie eine Bombe. Immerhin sind Sie der Mann, der mich hierhergebracht hat.«

Turlinger glaubte nicht, daß er das wollte. Alles, was er wirklich wollte, war von hier zu verschwinden, und das so schnell wie möglich. Er war viel zu verwirrt und hatte viel zu viel Angst, um darüber nachzudenken, ob der andere wirklich das war, was er zu sein vorgab.

»Da unten läuft eine Riesensauerei!« fuhr der Fremde fort. Er fotografierte ununterbrochen, während er seine Kamera nach rechts und links und wieder zurück schwenkte. »Und kein Mensch weiß davon. Aber ich werde ihnen die Suppe versalzen.« Er sah Turlinger an. »Seit wann genau ist die Straße gesperrt?«

»Seit einer Woche - ungefähr«, antwortete Turlinger. Auf eine Frage, die das Wort genau enthielt, war das eine ziemlich unbefriedigende Antwort, aber sie schien seinem Gegenüber zu genügen.

»Seit dem angeblichen Sprengstoffanschlag also«, sagte er. Er hörte sich irgendwie grimmig an, als hätte er ganz genau diese Antwort erwartet. »Terroristen! Daß ich nicht lache!«

»Der Anschlag auf den Zug? Sie meinen, es ... es waren keine Terroristen?«

»Wissen Sie, wo wir hier sind?« fragte der andere. Ohne Turlingers Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Genau über dem Tunnel. Ich habe es auf der Karte nachgesehen, wissen Sie? Wenn Sie eine Schaufel nehmen und dort unten im Dorf zu graben anfangen, dann stoßen Sie genau auf den Gridone-Tunnel. Das ist doch kein Zufall.«

Turlinger war nun vollends verwirrt. Er verstand nicht, was das eine mit dem anderen zu tun haben sollte, und er sprach diese Frage auch laut aus.

»Das weiß ich auch noch nicht«, antwortete der andere. »Aber eines weiß ich genau. Daß hier etwas stinkt.«

»Vielleicht haben sie etwas entdeckt«, sagte Turlinger hilflos.

»Darauf können Sie sich verlassen«, antwortete der andere. »Und zwar etwas verdammt Großes.«

Aber vielleicht hatte die Anwesenheit der Soldaten dort unten auch einen ganz anderen Grund, dachte Turlinger. Seine Furcht bekam plötzlich eine neue Dimension. Er hatte sein Leben hier in diesen Bergen verbracht. Die größte Stadt, in der er jemals gewesen war, war Locarno, und von der Welt jenseits der steinernen Wände, die seine Heimat begrenzten, wußte er kaum mehr, als er aus dem Radio oder dem Fernseher erfuhr. Aber er war nicht dumm. Porera war hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt worden, und das mußte einen Grund haben. Vielleicht war ja eine Krankheit ausgebrochen. Oder sie hatten etwas ungemein Gefährliches gefunden. Turlinger hatte einmal von einem Flugzeug gehört, das eine Atombombe verloren hatte, einfach so. Damals hatte er über diese Meldung gelacht und sie als Unsinn abgetan. Aber jetzt war ihm nicht mehr zum Lachen zumute.

»Lassen Sie uns verschwinden«, sagte er. »Bitte.«

»Ich muß näher ran«, erwiderte der andere. »Ich muß wissen, was da vorgeht.«

»Näher ran?!« Turlinger richtete sich erschrocken auf und senkte gleich darauf wieder den Kopf. »Sind Sie verrückt?«

»Ich gehe allein«, antwortete der angebliche Reporter. »Sie können hierbleiben. Es dauert nicht lange.«

»Sie werden Sie erwischen!« sagte Turlinger. »Seien Sie vernünftig. Dort unten wimmelt es von Soldaten.«

»Ja, und vermutlich auch von Kameras und Infrarotgeräten«, fügte der andere hinzu. »Aber keine Sorge. Ich bin auf alles vorbereitet.« Er schraubte mit geschickten Bewegungen seine Kamera auseinander und tauschte sie gegen einen kleinen, rechteckigen Kasten mit einem flachen Monitor und einer ganzen Anzahl winziger Lämpchen, die auf einen Knopfdruck hin zu grünem und rotem Leben erwachten.

»Bleiben Sie einfach hier und warten Sie auf mich.« Er kramte den Feldstecher wieder hervor und reichte ihn Turlinger. »Hier. Sie sind sozusagen meine Rückendeckung. Passen Sie gut auf das Ding auf. Und sollte mir doch etwas zustoßen, dann schicken Sie das Gerät per Eilboten an die Redaktion der Times in London. Man wird Sie großzügig dafür belohnen, das kann ich Ihnen versprechen.«

Turlinger wollte das nicht. Er wollte mit all dem hier nichts zu tun haben, aber der andere ignorierte seine abwehrenden Gesten einfach, drückte ihm den Feldstecher in die Hand und schulterte seinen Rucksack. Noch ehe Turlinger irgend etwas tun konnte, um ihn zurückzuhalten, erhob er sich in eine gebückte Haltung und begann den Hang hinabzulaufen.

Er stellte sich nicht einmal ungeschickt dabei an. Der Berghang bot wenig Deckung, aber er nutzte das wenige hervorragend aus, und nach ein paar Sekunden setzte Turlinger den Feldstecher widerwillig an und folgte ihm mit Blicken.

Der Reporter lief geduckt den Hang hinunter, blieb immer wieder stehen, um sich umzusehen oder einen Blick auf seinen kleinen Apparat zu werfen, von dem Turlinger annahm, daß er ihn irgendwie vor unsichtbaren Fallen oder den Radargeräten, die die Soldaten aufgestellt hatten, warnen mochte, denn er bewegte sich nicht in gerader Linie auf das Dorf zu, sondern in einem scheinbar willkürlichen Zickzack. Manchmal lief er sogar ein Stück den Weg zurück, den er genommen hatte, um es ein paar Meter weiter rechts oder links erneut zu versuchen. Er brauchte auf diese Weise gute zwanzig Minuten, um sich dem Ortsrand zu nähern. Turlinger sah ihm die ganze Zeit über gebannt zu. Seine Gedanken arbeiteten wild, aber trotzdem irgendwie träge. Er hätte jetzt aufstehen und einfach machen können, daß er nach Hause kam. Im Grunde sprach nichts dagegen. Wenn der Bursche tatsächlich war, was er behauptete, konnte er ihm nicht viel tun, um sich zu rächen. Turlinger legte nicht den geringsten Wert darauf, daß er ihn groß herausbrachte - im Gegenteil. Und wenn er tatsächlich etwas anderes war, zum Beispiel ein Spion - diese Möglichkeit hatte Turlinger immer noch nicht ganz ausgeschlossen - nun, dann würde er ihn wahrscheinlich sowieso umbringen. Turlinger hatte genug Agentenfilme gesehen, um zu wissen, wie so etwas lief.

Und trotzdem blieb er, wo er war. So groß seine Furcht auch sein mochte, wenigstens im Moment noch war seine Neugier stärker. Sie und eine völlig andere Art von Beunruhigung, die dem rätselhaften Geschehen dort unten in Porera galt. Er verfolgte den geduckt weiter ins Tal huschenden Mann pedantisch mit dem Fernglas. Ab und zu drückte er die kleine Taste auf seiner Oberseite, und manchmal wurde dieses Drücken mit dem Turlinger bereits bekannten Klicken und Surren belohnt. Nicht immer. Anscheinend machte er noch etwas falsch.

Immerhin bediente er den fotografierenden Feldstecher gut genug, um die entscheidenden Momente zu fotografieren - nämlich die, in denen der Reporter von seinem elektronischen Wachhund schmählich im Stich gelassen wurde. Vermutlich sah er die Bewegung sogar eher als dieser. Ziemlich genau dort, wo vorhin der Jeep aufgetaucht war, erschien plötzlich wieder ein Wagen, diesmal mit vier Mann besetzt. Gleichzeitig tauchten auch rechts und links Fahrzeuge auf, die rasch Kurs auf den näher kommenden Mann nahmen.

Turlinger setzte den Feldstecher ab und blinzelte aus zusammengekniffenen Augen ins Tal hinab. Der Fremde hatte die Gefahr offensichtlich noch gar nicht bemerkt, denn er bewegte sich weiter langsam und geduckt auf das Dorf zu - und somit genau auf die Männer, die ihm entgegenkamen. Anscheinend verließ er sich so sehr auf seine technische Spielerei, daß er gar nicht auf die Idee kam, man könnte ihn schlicht und einfach gesehen haben. Turlinger konnte gerade noch den Impuls unterdrücken, ihm eine Warnung zuzurufen. Der Mann war viel zu weit entfernt. Und selbst wenn er ihn gehört hätte - es war zu spät. Der Wagen hatte ihn fast erreicht, als er die Gefahr bemerkte, und auch die beiden anderen Fahrzeuge, die ihn in einer weit ausholenden Bewegung in die Zange genommen hatten, waren allerhöchstens noch fünfzig, sechzig Meter entfernt. Plötzlich ging alles sehr schnell. Die Fahrzeuge beschleunigten, während der Journalist herumfuhr und mit weit ausgreifenden Sprüngen den Berg wieder hinaufzurennen begann.

Wahrscheinlich versuchte er, felsiges Gelände zu erreichen, in dem die Jeeps ihn nicht verfolgen konnten. Die Idee war gut, aber natürlich war er viel zu langsam. Drei, vier Männer sprangen vom Wagen und überwältigten ihn, ehe er auch nur die halbe Entfernung zurückgelegt hatte. Turlinger beobachtete das Geschehen fluchend von seinem Versteck auf der Bergkuppe aus; aber er vergaß nicht, immer wieder auf den Auslöser zu drücken und die ganze Szene akribisch zu fotografieren. Schließlich blieb das klickende Geräusch aus, und statt dessen ertönte ein lang anhaltendes Surren. Der Film mußte voll sein.

Aber er hatte auch genug gesehen. Zumindest genug, um zu begreifen, daß es jetzt keinen Grund mehr gab, länger hierzubleiben. Im Gegenteil - die Soldaten würden sich denken können, daß der Mann nicht allein gekommen war. Vermutlich würde es in spätestens zehn Minuten hier oben von Männern nur so wimmeln. Es wurde Zeit, daß er wegkam. Turlinger verstaute den Feldstecher in seinem eigenen Rucksack und erhob sich auf Hände und Knie. Vorsichtig begann er rücklings über die Bergkuppe zu kriechen.

Offenbar nicht vorsichtig genug. Der Großteil der Soldaten, die in den drei Jeeps gekommen waren, war noch immer damit beschäftigt, den sich heftig wehrenden Journalisten zu bändigen (wenigstens hatten sie ihn nicht gleich umgebracht, dachte Turlinger), aber einer der Männer hatte sich plötzlich aufgerichtet und sah gebannt in seine Richtung. Nur einen Augenblick später hob er einen Feldstecher an die Augen.

Turlinger konnte regelrecht fühlen, wie ihn sein Blick traf.

Fluchend sprang er auf die Füße. Einer der drei Geländewagen setzte sich in Bewegung und nahm direkten Kurs auf ihn. Turlinger ließ jetzt alle Vorsicht fallen und rannte, was das Zeug hielt. Aber sein Vorsprung würde binnen weniger Augenblicke auf die Hälfte zusammenschrumpfen. Das allein stellte wahrscheinlich noch die geringste Gefahr dar - die Männer im Jeep hatten mit Sicherheit Funk, und Turlinger hatte den Helikopter keine Sekunde lang vergessen.

Die Männer unten in Porera auch nicht. Turlinger hörte das charakteristische flappende Geräusch, noch ehe der Helikopter wie eine riesige stählerne Libelle über der Bergkuppe auftauchte und Kurs auf ihn nahm. Turlinger schlug einen Haken nach links, um einem Felsbrocken auszuweichen, sprang gleich darauf in die entgegengesetzte Richtung und lief immer schneller. Aber der Hubschrauber kam mit rasender Geschwindigkeit näher. Turlinger war allerhöchstens noch siebzig oder achtzig Schritte vom Waldrand entfernt, doch er wußte, daß er es nicht schaffen würde. Die Maschine holte ihn ein, ehe er die halbe Strecke zurückgelegt hatte.

Der Helikopter flog so tief, daß der Luftzug der Rotoren ihn von den Füßen riß. Turlinger stürzte, riß sich die Hände und das Gesicht auf und versuchte den Schwung seiner eigenen Bewegung zu nutzen, um wieder in die Höhe zu kommen, aber der künstliche Tornado schmetterte ihn sofort wieder zu Boden. Diesmal so hart, daß er einen Moment lang benommen liegenblieb.

Als er den Kopf hob, kreiste der Helikopter nur wenige Meter über ihm. Der Sturmwind preßte ihn wie eine unsichtbare Faust gegen den Boden, und der Lärm der Rotoren war höllisch. Turlinger konnte die Gesichter der beiden Männer in der Maschine erblicken, die zu ihm herabstarrten.

Plötzlich war er felsenfest davon überzeugt, daß sie ihn umbringen würden. Sein Kunde hatte recht gehabt - was immer hier vorging, war etwas Großes, etwas so immens Wichtiges, daß sie keine Zeugen dulden würden. Sie würden ihn auf der Stelle erschießen oder bestenfalls verschleppen und in ein Loch werfen, in dem er den Rest seines Lebens verbrachte.

Die Vorstellung - so wenig glaubhaft sie auch gewesen wäre, hätte er sich die Mühe gemacht, auch nur eine Sekunde lang darüber nachzudenken - gab ihm noch einmal neue Kraft. Mit zusammengebissenen Zähnen stemmte er sich gegen die tobende Wut des Orkanes in die Höhe und stolperte weiter dem Waldrand entgegen.

»Bleiben Sie stehen!« brüllte eine Lautsprecherstimme vom Himmel herab. »Sie befinden sich auf militärischem Sperrgebiet. Bleiben Sie stehen und warten Sie, bis man Sie abholt!«

Turlinger aber rannte nur noch schneller. Der Helikopter folgte ihm in kaum zwei Metern Höhe, aber der Pilot wagte es nicht, auf dem abschüssigen, mit Felsen und Geröll übersäten Gelände zu landen. Wenn er erst einmal im Wald war, hatte er eine gute Chance.

»Bleiben Sie stehen!« schrie die Lautsprecherstimme erneut. »Das ist die letzte Warnung. Bleiben Sie stehen, oder wir machen von der Schußwaffe Gebrauch!« Also doch! dachte Turlinger grimmig. Er blieb nicht stehen. Sollten sie doch sehen, wie sie ihn aus ihrer schaukelnden Kiste dort oben trafen! Er duckte sich, riß beide Arme schützend über das Gesicht und rannte.

Der Schuß, auf den er wartete, kam nicht. Der Helikopter hing noch eine Sekunde reglos über ihm in der Luft, dann machte er einen regelrechten Satz in die Höhe - und befand sich plötzlich genau zwischen ihm und dem Waldrand. Turlinger fluchte ungehemmt. Er begriff plötzlich, daß er die Männer unterschätzt hatte. Sie hatten es gar nicht nötig, ihn festzunehmen. Es reichte vollkommen, wenn sie ihn daran hinderten, den Wald zu erreichen. Den Rest würden die anderen erledigen, die hinter ihm den Berghang hinaufkamen. Turlinger wußte nicht genau, wie weit sie mit ihrem Jeep kommen würden, aber er glaubte nicht, daß er noch mehr als ein paar Minuten hatte.

»Seien Sie doch vernünftig, Mann!« brüllte der Lautsprecher. »Sie machen es nur schlimmer!«

Was konnte denn noch schlimmer werden? dachte Turlinger. Um ein Haar hätte er gelacht. Aber er sparte sich seinen Atem lieber auf, um im Zickzack zwischen den Felsen hindurch auf den Waldrand und den Helikopter zuzulaufen, der langsam vor ihm zur Seite glitt, um ihm den Weg abzuschneiden. Die Maschine hing jetzt nur noch einige Meter über dem Boden. Der Pilot hinter dem Steuer verstand sein Handwerk.

Turlinger warf einen Blick über die Schulter zurück - und fuhr erneut erschrocken zusammen. Er hatte auch die Männer hinter sich unterschätzt. Über der Kuppe tauchten bereits die Silhouetten von zwei, drei Gestalten auf, und als wäre das allein noch nicht genug, erscholl von der anderen Seite ein scharfes Bellen. Die Hunde! Verdammt, er hatte gewußt, daß die Hunde ihm Ärger machen würden!

Er versuchte, noch schneller zu laufen, aber seine Kraft reichte nicht mehr. Seine Lungen schmerzten, und er bekam heftige Seitenstiche. Auf ein Wettrennen mit diesen zweifellos durchtrainierten und ebenso zweifellos sehr viel jüngeren Männern konnte er sich auf keinen Fall einlassen. Trotzdem dachte er nicht daran, aufzugeben. Er rannte um sein Leben, und er würde aufgeben, wenn er tot war, keinen Moment eher.

Hinter ihm krachte ein Schuß. Die Kugel prallte funkensprühend zwei Meter vor ihm gegen die Felsen, eine Sekunde später gefolgt von einer zweiten, die in der gleichen Entfernung, aber auf der anderen Seite in den Boden schlug. Das war zu präzise, um Zufall zu sein, und Turlinger verstand die Warnung: Die Männer waren Meisterschützen. Die nächste Kugel würde treffen.

Turlinger änderte seinen Kurs und rannte jetzt nicht mehr im Zickzack, sondern geradeaus - direkt auf den Helikopter zu. Die Männer würden es nicht wagen, auf ihn zu schießen, aus Angst, die Maschine zu treffen.

Das Hundegebell kam näher. Turlinger widerstand der Versuchung, sich nach den Tieren umzublicken, aber er wußte, daß sie rasch aufholten. Trotzdem, im Wald hatte er eine gewisse Chance, sie abzuschütteln. Spürhunde hin oder her, Turlinger führte diese Art von Leben lange genug, um den einen oder anderen Trick auf Lager zu haben. Aber dazu mußte er den Wald erst einmal erreichen. »Geben Sie auf!« schrie die Lautsprecherstimme. »Sie haben keine Chance mehr!«

Wahrscheinlich hatte sie sogar recht. Sie hatten ihn nach allen Regeln der Kunst in die Enge getrieben. Die Männer schossen jetzt nicht mehr, aber das war auch gar nicht notwendig. Der Kreis zog sich unbarmherzig enger zusammen. Noch eine Minute, und er würde das gleiche Schicksal erleiden wie sein namenloser Begleiter.

Dann erspähte er die Lücke. Die bloße Vorstellung reichte, ihm den Schweiß auf die Stirn zu treiben - aber welche Wahl hatte er schon? Mit zwei, drei gewaltigen Sätzen erreichte er den Hubschrauber, warf sich im letzten Moment zur Seite und wurde wie erwartet vom Sturmwind der rasenden Rotorblätter zu Boden geworfen. Mit angehaltenem Atem rollte er weiter. Für eine einzelne, schreckliche Sekunde hing der Helikopter direkt über ihm, wie der Deckel eines stählernen Sarges, in den er sich selbst hineingelegt hatte. Die metallenen Kufen schaukelten direkt über seinem Gesicht. Eine winzige Ungeschicklichkeit des Piloten, eine falsche Bewegung seiner selbst, und er würde zerquetscht. Aber er schaffte es. Der Helikopter schoß mit einem gewaltigen Heulen in die Höhe, während Turlinger weiter durch Unkraut und trockenes Gebüsch rollte, bis der erste Baum seiner Schlitterpartie ein unsanftes Ende setzte.

Hastig rappelte er sich hoch und stürzte tiefer in den Wald hinein. Wieder fielen Schüsse. Die Kugeln klatschten rechts und links von ihm in Baumstämme oder fuhren wie zornige Hornissen in die Blätter ringsum. Turlinger duckte sich, sprang in Panik nach rechts und links und brach rücksichtslos durch das immer dichter werdende Buschwerk. Das Schießen hörte auf, doch dafür kam das Hundegekläff rasch näher; offensichtlich hatten sie die Hunde von den Leinen gelassen.

Turlinger wußte, daß er auch hier im Wald keine Aussicht hatte, den Tieren davonzulaufen. Aber das mußte er auch nicht. Wenn er es schaffte, ihnen noch zwei, drei Minuten zu entkommen, hatte er eine Chance.

Das Kläffen und die splitternden Geräusche, mit denen die Hunde sich ihren Weg durch das Unterholz bahnten, kamen immer näher, aber Turlinger widerstand der Versuchung, zu ihnen zurückzusehen. Tief hängende Zweige zerrissen seine Kleidung und peitschten in sein Gesicht. Seine Wangen und seine Stirn trugen weitere, blutige Kratzer davon, aber er ignorierte auch das und konzentrierte sich völlig darauf zu rennen.

Das wütende Kläffen war ganz dicht hinter ihm, als er die Steilwand erreichte. Im Grunde war es nur ein winziges Hindernis. Irgendwann vor ein paar hunderttausend oder auch Millionen Jahren war der Berg an dieser Stelle gerissen; ein Teil des Hanges war um zwei Meter abgesackt, aber der Wald hatte die Wunde rasch wieder bedeckt, so daß die zwei Meter hohe und noch dazu leicht schräg ansteigende Wand von außen nicht mehr sichtbar war. Für einen erfahrenen Kletterer wie Turlinger stellte sie kein ernstzunehmendes Hindernis dar. Er sprang in vollem Lauf und mit ausgestreckten Armen nach oben, krallte sich in dem rauhen Stein fest und nutzte seinen Schwung, zumindest mit dem rechten Fuß in einer Spalte Halt zu finden. Ein kräftiger Ruck, und Kopf und Schultern ragten bereits über die Barriere hinaus.

Für die Hunde jedoch stellte die Wand ein unüberwindliches Hindernis dar. Die Tiere erreichten ihren Fuß, noch ehe Turlinger ganz in Sicherheit war. Es waren drei. Zwei von ihnen beschränkten sich darauf, ihm wütend und enttäuscht nachzukläffen, während der dritte tatsächlich versuchte, ihm mit einem gewaltigen Satz zu folgen. Seine zuschnappenden Zähne verfehlten Turlingers Fuß nur um Haaresbreite.

Turlinger versetzte dem Hund einen Tritt gegen die Schnauze, der ihn mit einem schrillen Jaulen zurückschleuderte, und kletterte weiter. Binnen weniger Sekunden hatte er den höher gelegenen Teil des Waldbodens erreicht und richtete sich auf.

Sein Herz jagte. Schwäche kroch wie eine betäubende Welle in all seine Glieder. Er hätte seine rechte Hand für eine Rast gegeben. Aber dazu war keine Zeit. Die Wand war nicht allzu breit. Früher oder später würden die Hunde auf die Idee kommen, einen anderen Weg zu ihm herauf zu suchen, und wenn nicht sie, dann ihre Besitzer, die zweifellos auch auf dem Weg hierher waren. Er mußte weiter. In einer Entfernung von gut zwei Kilometern gab es ein wahres Labyrinth kleinerer Felsspalten und -schluchten, in denen er seine Verfolger endgültig abschütteln konnte.

Als er sich in Bewegung setzte, wurde über ihm ein dröhnendes Rauschen laut. Ein plötzlicher Sturmwind peitschte die Baumwipfel über ihm, und als Turlinger den Blick hob, sah er einen gewaltigen Schatten, der direkt über ihm hing. Der Helikopter.

Turlinger fluchte lauthals. Es war unmöglich, daß sie ihn sahen. Der Wald war hier so dicht, daß sie das einfach nicht konnten.

Aber sie taten es. Turlinger rannte ein Dutzend Schritte nach rechts, änderte dann seinen Kurs und lief in die entgegengesetzte Richtung. Doch der Helikopter folgte ihm beharrlich wie ein Schatten. Wahrscheinlich hatten sie irgendwelche elektronischen Geräte an Bord, mit denen sie ihn aufspürten. Turlinger spürte, wie sein Mut sank. Das war einfach nicht fair. Ganz egal, wer sie waren und warum sie ihn jagten, sie sollten ihm wenigstens eine Chance lassen. Trotzdem rannte er weiter. Wenn es ihm gelang, den felsigen Teil des Hanges zu erreichen, würde er vielleicht eine Höhle oder einen Überhang finden. Er konnte sich nicht vorstellen, daß sie ihn auch durch massiven Fels hindurch aufspüren konnten.

Ein plötzliches Schwindelgefühl ergriff ihn. Der Wald verschwamm vor seinen Augen, und für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das Gefühl, daß der Boden unter seinen Füßen zum Leben erwacht wäre. Aber es war nicht wie ein Erdbeben; kein Zittern und Stoßen, sondern eine fast lebendige Art von Bewegung, als rege sich der Berg wie ein gigantisches, atmendes Wesen. Ein sonderbar singender Ton lag plötzlich in der Luft und ein Geruch, wie Turlinger ihn noch nie zuvor gespürt hatte. Das Gefühl ging zu schnell vorbei, als daß er es genauer erkennen konnte, aber der Schwindel blieb. Turlinger sank auf die Knie, stützte sich mit der linken Hand am Boden ab und preßte die andere auf den Mund, um den Brechreiz zu unterdrücken, der plötzlich in seiner Kehle würgte.

Es gelang ihm, aber nachdem das Drehen hinter seiner Stirn aufgehört hatte und er die Augen wieder öffnete, war ... etwas anders geworden. Irgend etwas hatte sich verändert. Er konnte nicht sagen, was. Es war nichts, worauf er den Finger legen konnte, keine sichtbare Veränderung - aber der Wald war nicht mehr der, den er kannte. Er war zu etwas Fremdem geworden, einem Alptraumwald voller falscher Linien und furchteinflößender Schatten.

Dann spürte er noch eine Veränderung, und diese konnte er beschreiben: das Motorengeräusch des Hubschraubers klang plötzlich anders, auf eine ungute, bedrohliche Art. Turlinger hob den Kopf und sah, daß der Schatten über den Baumwipfeln zu torkeln begonnen hatte. Das Geräusch der Turbine klang immer schriller, kein Heulen mehr, sondern ein ungleichmäßiges Kreischen, und der Hubschrauber torkelte von rechts nach links. Offensichtlich hatte der Pilot immer größere Schwierigkeiten, die Maschine unter Kontrolle zu behalten. Schließlich kippte sie nach links weg und verschwand aus Turlingers Gesichtsfeld.

Er hielt instinktiv den Atem an, aber obwohl er geahnt hatte, was kam, fuhr er unter dem Geräusch des Aufschlages wie unter einem Hieb zusammen. Eine ungeheure, krachende Explosion ließ den Wald erbeben. Der Boden zitterte, und plötzlich war der Wald links von Turlinger von grellem Feuerschein erfüllt. Sekunden später begann ein immer lauter werdendes Prasseln und Knistern, als die glühenden Trümmerstücke der explodierten Maschine auf den Wald niederregneten.

Turlinger war wie gelähmt vor Schrecken. Vor Sekunden noch hatte er die Männer in der Maschine verflucht - aber er hatte ihnen trotzdem nicht den Tod gewünscht. Er hatte geglaubt, es zu tun, aber das stimmte nicht.

Er drehte sich herum und tat ein paar Schritte in die Richtung, in der der Feuerschein durch das Gebüsch drang, ehe ihm aufging, wie sinnlos das war. Die Männer waren tot. Und selbst wenn nicht - es gab absolut nichts, was er für sie tun konnte. Also wandte er sich schweren Herzens wieder um und setzte seinen Weg fort. Er machte die Männer nicht wieder lebendig, wenn er aufgab und sich einfangen ließ.

Es wurde schlimmer. Turlingers Weg durch den Wald schien zu einem nicht enden wollenden Alpdruck zu geraten. Hinter jedem Schatten lauerte etwas, das ihm angst machte, hinter jedem vertrauten Umriß winkten ihm Wahnsinn und Desorientierung zu - und das Schlimmste überhaupt war vielleicht, daß er all diese entsetzlichen Veränderungen einfach nicht greifen konnte. Es war, als spüre etwas in ihm, daß die Welt anders geworden war, die Wirklichkeit nicht mehr das war, als was er sie kannte, und als wäre er zugleich unfähig, diesen Wandel wirklich zu erkennen.

Der Wald begann sich zu lichten. Die Bäume traten allmählich auseinander, und in den Lücken dazwischen erschienen immer mehr verwitterte Felsen. Mehr als einmal geriet sein Fuß in eine Spalte, die unter Moos und Flechten verborgen war. Es grenzte an ein kleines Wunder, daß er nicht stürzte und sich schwer verletzte. Doch als er schließlich den Waldrand erreichte und der Felshang vor ihm lag, hörte sein Glück auf.

Turlinger hörte ein zorniges Bellen, wandte im Laufen den Kopf und sah einen schwarzbraun gescheckten Schatten aus dem Unterholz brechen.

Der Hund war riesig und rannte unvorstellbar schnell. Sein Kläffen hatte eine hysterische Tonart, die Turlinger klarmachte, daß das Tier es nicht dabei bewenden lassen würde, ihn zu stellen. Noch bevor es nahe genug gekommen war, daß er das Blut an seiner Schnauze sehen konnte, wußte er, daß es der Hund war, den er getreten hatte.

Die schiere Todesangst gab ihm noch einmal neue Kraft. Turlinger legte den Weg zu den ersten Felsen in einem verzweifelten Spurt zurück, sprang über einen Buckel und krabbelte auf allen vieren eine kleine Anhöhe hinauf. Der Hund kam näher. Mit jedem Satz überwand er mindestens die dreifache Entfernung wie er und schien keine Erschöpfung zu kennen, sondern im Gegenteil immer schneller zu werden. Es war kein normaler Hund mehr. Die Veränderung hatte auch ihn getroffen. Statt von einem trainierten, intelligenten Tier, das seine Aufgabe genau kannte und zu erfüllen verstand wie eine präzise funktionierende Maschine, sah sich Turlinger von einer geifernden Bestie verfolgt, einem Ungeheuer mit rotglühenden Augen und fingerlangen Zähnen, das aus keinem anderen Grund gekommen war als dem, ihn zu töten. Turlinger kletterte mit verzweifelter Kraft über die Felsen, aber der Hund holte unbarmherzig auf. Noch zwei, drei Sätze, und er hatte ihn erreicht.

Vor ihm lag ein brusthoher, glatter Felsen. Turlinger versuchte ihn mit einem Sprung zu überwinden und irgendwo auf seiner Oberseite Halt zu finden, um sich hinaufzuziehen, aber er griff daneben. Ein scharfer Schmerz zuckte durch seine rechte Hand, und seine Schulter kollidierte mit solcher Wucht mit dem Stein, daß er vor Schmerz aufstöhnte und zurücksank.

Sein Ungeschick rettete ihm das Leben. Der Hund mußte seine Bewegung vorausgesehen und einkalkuliert haben, denn er stieß sich genau in diesem Moment mit unvorstellbarer Kraft und Eleganz ab und überwand den Felsen, an dem Turlinger gescheitert war, mit einem gewaltigen Satz. Seine zuschnappenden Kiefer bissen ins Leere, dort, wo Turlingers Kehle gewesen wäre, hätte er seinen Sprung geschafft. Ein wütendes Knurren erscholl - und ging in schrilles, erschrockenes Jaulen über, während das Tier auf der anderen Seite des Felsens aus Turlingers Blickfeld verschwand.

Es hörte nicht auf. Statt des erwarteten Aufpralles hörte Turlinger nur das schrille Kreischen des Hundes, das immer erschrockener wurde und zugleich leiser. Drei, vier Sekunden lang hockte er gelähmt und entsetzt da. Das Heulen hielt noch immer an, auch wenn es sich jetzt anhörte, als käme es aus großer Entfernung. Schließlich stemmte er sich hoch, streckte zum zweiten Mal die Arme aus und zog sich mit einem entschlossenen Ruck auf die Oberseite des Felsens hinauf.

Der Hund war nicht auf der anderen Seite aufgeprallt.

Es gab nämlich keine andere Seite mehr.

Wo der steil abfallende Hang, die Felsen, die Schluchten, die vereinzelten Büsche und Bäume, die ihre Wurzeln in den karstigen Boden gekrallt hatten, wo die Welt sein sollte, gähnte ein kreisrundes, mehr als einen Kilometer durchmessendes, schwarzes Loch. Ein bodenloser Abgrund, dessen Wände schimmerten, als wären sie sorgsam poliert worden, und in dessen Tiefe etwas Brodelndes, Schwarzes war, bei dessen bloßem Anblick Turlinger schwindelig wurde.

Sein Verstand kapitulierte vor der Aufgabe, das Bild zu verarbeiten, das seine Augen sahen. Er saß einfach da und starrte in das schwarze Nichts, das die Welt vor ihm verschlungen hatte, bis die Soldaten kamen und ihn fortbrachten.

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