Die Stadt brannte. Aus einer Höhe von dreihundert Metern heraus betrachtet, bildeten die verschiedenen Brandherde ein fast symmetrisches Muster wie ein Netz aus rotem Licht, das die Umrisse Asconas nachzeichnete und in dem größere, flackernde Zentren die Endpunkte markierten: Kolonnen ineinandergeschobener, in Brand geratener Automobile, die die Ausfallstraßen abriegelten, das hell lodernde Zentrum, in dem Gebäude gleichzeitig Feuer gefangen haben mußten, dazwischen kleinere, aber allmählich ebenfalls zu einem Muster zusammenwachsende Lichtgebilde, und manchmal ein rasches, weißes Aufblitzen, das meistens zu schnell erlosch, als daß man es mit Blicken fixieren konnte. Schüsse, dachte Warstein entsetzt. Das müssen Schüsse sein.
»Großer Gott, was geht dort unten nur vor?« flüsterte Angelika. Sie hatte sich eng an Warsteins Schulter gepreßt, und ihre Fingernägel gruben sich selbst durch den Stoff der Jacke so tief in seinen Arm, daß es weh tat. Trotzdem streifte er ihre Hand nicht ab. Sie brauchte seine Nähe jetzt mehr denn je. Und er ihre.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Franke. Die Frage hatte gar nicht ihm gegolten. Eigentlich war es gar keine Frage gewesen, so wie seine Antwort nicht wirklich eine Antwort war. »Sie bringen sich gegenseitig um. Aber ich weiß nicht, warum. Irgend etwas Entsetzliches ist passiert.« Er beugte sich vor und gab dem Hubschrauberpiloten eine knappe Anweisung. Die Maschine verlor ein wenig an Höhe und schwenkte gleichzeitig nach Süden. Die sterbende Stadt begann unter ihnen davonzugleiten, während die schwarze Fläche des Sees näherkam.
Etwas daran war seltsam, dachte Warstein, aber es dauerte noch einige Sekunden, bis er begriff, was: Es waren keine Schiffe auf dem See. Kein einziges Licht, von einigen wenigen blassen Punkten weit im Süden abgesehen. Das Wasser lag so schwarz unter ihnen, als wäre es zu Teer erstarrt.
»Aber Sie müssen doch irgend etwas tun können!« sagte Angelika. »Wozu haben Sie all diese Soldaten? Lassen Sie sie...«
»...was tun?« unterbrach sie Franke. Er schüttelte grimmig den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, was überhaupt vorgeht, Frau Berger. Wir haben eine Abteilung dort unten, aber es gibt keine Verbindung mehr zu ihr. Ich bin nicht einmal sicher, ob die Männer überhaupt noch am Leben sind.«
Angelika schloß seufzend die Augen, während der Hubschrauber weiter an Höhe verlor und zugleich nach links schwenkte, um der aufsteigenden heißen Luft über dem brennenden Stadtzentrum auszuweichen.
»Sie kennen den Landeplatz?« wandte sich Franke erneut an den Piloten. »Falls es dort nicht geht, landen Sie direkt am Ufer. Seien Sie vorsichtig.«
Angelika wandte endgültig den Kopf vom Fenster ab und verbarg das Gesicht für einen Moment an Warsteins Schulter. Sie zitterte. Seit sie den Tunnel verlassen hatten und in den Helikopter gestiegen waren, hatte sie nur sehr wenig gesprochen. Warstein bewunderte insgeheim ihre Tapferkeit, aber er spürte auch, daß sie nun mit ihren Kräften am Ende war. Der Anblick der sinnlos rasenden Gewalt, die durch die Straßen der Stadt unter ihnen tobte, war mehr, als sie ertragen konnte.
Und es war auch mehr, als er ertragen konnte. Was immer in diesem Berg erwacht sein mochte - es ließ ihre geheimsten Wünsche und Sehnsüchte wahr werden. Aber warum war die Stadt unter ihnen dann ein Hexenkessel, in dem Menschen sich gegenseitig umbrachten, und nicht ein Paradies?
Er schüttelte die Frage - und vor allem die Antwort, die er ebensogut kannte - mit aller Macht ab und drehte sich ebenfalls vom Fenster weg. Der Hubschrauber hatte den See fast erreicht. Der Pilot schwenkte bereits in eine enge Kurve über der Uferpromenade ein, um nach einem geeigneten Landeplatz Ausschau zu halten. Er fand keinen. Die Straßen waren voller Trümmer, brennender Autos und Menschen. Und selbst wenn er es gewagt hätte, die Maschine in all diesem Chaos aufzusetzen, hätten sie diese nicht verlassen können. Warstein war sicher, daß die aufgebrachte Menge sie sofort angegriffen hätte.
»Okay«, sagte Franke. »Versuchen Sie es unten am Ufer. Ein kleines Stück weiter westlich ... glaube ich.«
Warstein sah überrascht hoch. »Glauben Sie? Ich dachte, Sie wissen, wo sie sind.«
»Das weiß ich auch«, erwiderte Franke gereizt. »Aber als ich das letzte Mal hier war, sah es etwas anders aus, wissen Sie? Keine Sorge - wir werden sie schon finden. Schließlich sind sie nicht zu übersehen. Und diese verdammte Uferpromenade ist ja auch nicht endlos.«
Der Pilot ließ die Maschine noch weiter nach unten sacken und nahm gleichzeitig die Geschwindigkeit zurück. Obwohl die Straße unter ihnen vom flackernden Widerschein zahlloser Brände in rötliches Licht getaucht wurde, ließ er den großen Suchscheinwerfer der Maschine aufflammen und richtete ihn auf den schmalen, gras- und baumbestandenen Streifen, der die Straße vom eigentlichen Seeufer trennte. Sie sahen auch dort kämpfende Menschen, Verheerung und zahllose kleinere Brände.
»Dort!« sagte Franke plötzlich. »Das Lager! Sehen Sie!« Warstein erkannte fast genau unter der Maschine das, was Franke als Lager bezeichnet hatte: einen großen, unregelmäßigen Kreis, in dem das Gras niedergetrampelt war und auf dem sich erloschene Feuerstellen befanden. Von den versammelten Druiden, von denen Franke ihnen erzählt hatte, fehlte jede noch so kleine Spur.
»Wo sind sie?« murmelte Warstein.
»Und wo sind die Soldaten?« fügte Franke besorgt hinzu. »Verdammt, ich habe eine ganze Kompanie zu ihrem Schutz -«
»Um Gottes willen, seht doch!«
Franke brach mitten im Wort ab, als er Roglers Ausruf hörte, und blickte nach rechts, wohin der ausgestreckte Arm des Polizeibeamten wies. Warstein, Angelika und Lohmann taten dasselbe.
Für einige Sekunden wurde es sehr still in der Maschine. Niemand sprach, niemand rührte sich, ja, es schien, als ob für einen Moment nicht einmal einer der sechs Menschen im Inneren des Helikopters zu atmen wagte. Der Anblick war zu bizarr, zu erschreckend. Schließlich schwenkte der Pilot die Maschine herum und ließ sie langsam zum See hinuntergleiten. Der Scheinwerferstrahl stach in die Tiefe, huschte über Baumwipfel und Büsche und dann über glitzernden, feuchten Schlamm, wo eigentlich das Wasser des Lago Maggiore sein sollte.
Der See war nicht mehr da. An seiner Stelle erstreckte sich unter ihnen eine schwarze Alptraumlandschaft, die jäh in die Tiefe stürzte. Unweit dessen, wo vor Stunden noch das Ufer gewesen war, lagen die zerborstenen Überreste eines kleinen Schiffes, das offensichtlich gekentert und dann auf dem abschüssigen feuchten Grund ins Rutschen gekommen war.
Der Pilot folgte dem steil abstürzenden Grund, so daß sie sich schon bald tief unter dem ehemaligen Niveau des Sees befanden. Vom Wasser des Lago Maggiore war noch immer nichts zu sehen. Hier und da glitzerte eine Pfütze im feuchten Schlamm, beeilte sich ein kleines Rinnsal, im Morast zu versickern, aber der eigentliche See blieb verschwunden. Schließlich gab Franke dem Piloten ein Zeichen, kehrtzumachen. Der Mann ließ die Maschine in einem weiten Bogen herumschwenken und gleichzeitig wieder aufsteigen.
»Warten Sie«, sagte Franke plötzlich. »Fliegen Sie noch einmal zurück. Nach Süden.«
Der Pilot gehorchte widerspruchslos; auch wenn man ihm ansah, wie wenig ihm dieser Befehl behagte. Sie stiegen noch ein wenig weiter auf, wenn auch nicht so weit, daß sie sich über dem eigentlichen Seeniveau befanden, und schwenkten dann in die angegebene Richtung. Die Maschine gewann an Tempo. »Da vorne ist etwas«, sagte Franke nach einer Weile. Niemand antwortete. Sie alle konnten deutlich sehen, was Franke entdeckt hatte - aber keiner von ihnen konnte sagen, was es war. Etwas Großes, Glitzerndes. In das Geräusch der Rotoren mischte sich ein fernes, aber sehr mächtiges Grollen, das an Lautstärke zunahm, je näher sie der schwarzen Wand im Süden kamen.
Zum zweiten Mal binnen kurzer Zeit wurde es sehr still im Inneren des Militärhubschraubers. Jetzt war es eine betäubende Stille, die sich wie eine körperliche Last auf die Seelen der sechs Menschen legte, als sie sahen, was vor ihnen im Licht des Scheinwerfers auftauchte. Der Helikopter wurde langsamer und hielt schließlich in der Luft an. Eine Minute verging, dann noch eine und noch eine.
Es war Lohmann, der schließlich das erstickende Schweigen brach. Es waren die ersten Worte, die er sprach, seit sie den Tunnel verlassen hatten. Doch seine Worte gingen im Grollen der tosenden Wassermassen beinahe unter.
»Nun, Herr Doktor Franke«, sagte er. »Glauben Sie immer noch, daß Sie eine wissenschaftliche Erklärung für all das finden?«
Franke schwieg. Er konnte nicht antworten. Er konnte sich nicht einmal rühren. Sein Blick hing wie paralysiert an der titanischen, schimmernden Wand, die sich vor ihnen nach beiden Seiten erstreckte; einer Wand aus nichts anderem als Wasser, Kilometer um Kilometer breit und dreihundert Meter hoch, so weit der Blick reichte. Wasser, das brüllend und schäumend in die Tiefe stürzte, um dort unten ebenso geheimnisvoll und schnell zu verschwinden wie der Teil des Sees, über dem sie schwebten. Es war kein Riff, keine Mauer; nichts als eine unsichtbare Barriere, die die Wassermassen zurückhielt und aus nichts anderem bestand als aus dem puren Wunsch, daß sie da war.
»Fliegen Sie zurück«, sagte Franke nach einer Weile.
Sie brachten den Weg zurück nach Ascona schweigend hinter sich. Warstein fiel auf, daß der Pilot die Maschine jetzt ein gutes Stück über der imaginären Oberfläche des Sees hielt, als hätte er Angst, das Wunder könnte sich als plötzliche Sinnestäuschung erweisen und das Wasser auf ebenso unmögliche Weise zurückkehren, wie es verschwunden war.
Als sie das Ufer erreichten, fanden sie die Toten. Es war Angelika, die sie entdeckte. Sie schlug mit einem unterdrückten Schrei die Hand vor den Mund und deutete mit der anderen nach links, auf eine Stelle einen Kilometer östlich ihrer Position. Ohne daß es eines besonderen Befehls Frankes bedurft hätte, änderte der Pilot den Kurs und hielt schließlich über dem Schlachtfeld in der Luft an; denn nichts anderes als genau das war es, was sie im grellen Lichtkegel des Scheinwerfers unter sich sahen.
»Jetzt wissen Sie, was mit Ihrer Kompanie Soldaten passiert ist«, murmelte Lohmann. Die Worte klangen bitter und waren voller Entsetzen und Schmerz. Warstein empfand dasselbe, gemischt mit einem hilflosen, rasenden Zorn, der nicht den Toten unter ihnen galt oder dem, was sie getan hatten, sondern nur dem Geschehen an sich.
Es waren nicht nur Frankes Soldaten, die dort unten am Ufer den Tod gefunden hatten. Die weitaus größere Anzahl von Toten waren Zivilisten, und Warstein erkannte voller Entsetzen, daß es nicht nur Männer waren. Der überwiegende Teil derer, die dem Maschinengewehrfeuer der Soldaten zum Opfer gefallen waren, bestand aus Frauen, Kindern und alten Menschen. Selbst für Warstein, der in strategischen Dingen keinerlei Erfahrung hatte, war es nicht schwer zu erkennen, was sich hier abgespielt haben mußte. Die Soldaten hatten sich unmittelbar am Wasser verschanzt, und die Angreifer waren in immer neuen Wellen von der Straße herunter auf sie losgestürmt, blind, ohne Furcht und augenscheinlich ohne nennenswerte Bewaffnung.
Warstein weigerte sich, die Anzahl der Toten zu schätzen, aber es mußten Hunderte sein. Die automatischen Waffen hatten entsetzlich unter ihnen gewütet, doch am Ende hatten sie den Männern in den grünen Tarnanzügen nichts mehr genutzt. Vielleicht, dachte Warstein matt, war ihnen am Schluß einfach die Munition ausgegangen.
»Gehen Sie tiefer!« befahl Franke. In seiner Stimme war ein Unterton, der auch Warstein aufhorchen ließ.
»Was ist los?«
Franke winkte unwillig ab und preßte die Stirn gegen die Seitenscheibe, um besser hinaussehen zu können. »Den Scheinwerfer mehr nach links!« befahl er. »Und versuchen Sie die Maschine ruhig zu halten!«
Gehorsam glitt der weiße Lichtkreis weiter nach links und verharrte auf einer Gruppe wirr übereinandergestürzter, zerfetzter, blutiger Leiber. Warstein blickte nur eine Sekunde hin und drehte hastig den Kopf zur Seite, aber es nutzte nichts. Er sah die furchtbaren Bilder noch immer.
»Jetzt langsam höher!« befahl Franke. »Richtung Park. Aber ganz langsam. Und schwenken Sie den Scheinwerfer!«
»Franke, bitte!« sagte Lohmann. »Haben Sie noch nicht genug gesehen?«
»Halten Sie den Mund«, antwortete Franke scharf. Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, in denen er offensichtlich gebannt weiter das furchtbare Bild unter ihnen betrachtete, dann sagte er: »Sie sind nicht dabei.«
Warstein sah auf. »Wer?«
»Sie«, wiederholte Franke. »Die Magier. Die Zauberer oder Druiden, oder wie immer Sie sie nennen wollen. Sie sind nicht unter den Toten.« Er begann heftig mit beiden Händen in Richtung des Piloten zu gestikulieren, drehte sich dabei aber nicht vom Fenster weg. »Landen Sie«, sagte er. »Aber vorsichtig. Und halten Sie den Park im Auge.«
Die Maschine glitt wieder ein Stück von den Bäumen weg und setzte dicht neben den toten Soldaten auf. Franke sprang von seinem Sitz hoch, noch ehe sie völlig zur Ruhe gekommen war. Mit einer knappen Geste befahl er Warstein und Lohmann, ihm zu folgen, schüttelte aber den Kopf, als auch Rogler sich von seinem Platz erheben wollte.
»Sie bleiben hier«, sagte er. »Passen Sie auf den Park auf - und auf sie.« Er deutete auf Angelika. »Wenn sich irgend etwas rührt, warnen Sie uns. Und zögern Sie nicht zu schießen. Sie sehen, was hier los ist.«
Er öffnete die Tür, sprang ins Freie und wartete ungeduldig, bis Warstein und nach einem gehörigen Zögern auch Lohmann ihm gefolgt waren.
»Was soll das?« schrie Lohmann. Er hatte alle Mühe, sich über das Rotorengeräusch hinweg verständlich zu machen. Trotzdem fuhr er fort: »Reicht Ihnen das noch nicht, was man von oben sieht?«
»Ich muß Gewißheit haben!« erwiderte Franke. »Wir müssen uns überzeugen, daß sie wirklich nicht dabei sind!«
»Wer?« fragte Lohmann.
»Sie erkennen sie sofort!« antwortete Franke. »Ich rede von Zauberern, verstehen Sie? Druiden, indianischen Medizinmännern, Hare-Krishnas... Achten Sie auf alte Männer in sonderbaren Kleidern.« Lohmanns Gesichtsausdruck nach zu schließen, zweifelte er mittlerweile ernsthaft an Frankes Verstand. Er warf Warstein einen hilfesuchenden Blick zu.
»Tun Sie, was er sagt!« schrie Warstein. »Fragen Sie nicht, tun Sie es einfach. Und beeilen Sie sich. Wir haben nicht mehr viel Zeit!«
Sie umgingen die Maschine in respektvollem Abstand zu den sich im Leerlauf drehenden Rotorblättern und machten sich an ihre grausige Aufgabe. So gewaltig das Gemetzel gewesen war, es hatte sich auf engstem Raum abgespielt. Der Abschnitt des Strandes, den Warstein zu untersuchen hatte, war kaum hundert Meter lang, und auch wenn die nachfolgenden Minuten vielleicht zu den schlimmsten seines bisherigen Lebens zählten - sie dauerten nicht lange. Schon nach kurzer Zeit machte er sich auf den Rückweg.
Er kam fast gleichzeitig mit einem sehr bleichen Lohmann wieder beim Helikopter an. Der Journalist zitterte am ganzen Leib, und in seinen Augen stand ein Grauen geschrieben, das er vielleicht nie wieder völlig loswerden würde. Es war eine Sache, über gewaltsamen Tod zu berichten, über ihn zu lesen, vielleicht Bilder in einer Zeitschrift oder auch im Fernsehen zu sehen, und eine ganz andere, ihn zu erleben.
»Nun?«
Warstein schüttelte den Kopf und drehte sich dann zu Franke herum, der seine Suche ebenfalls beendet hatte und zurückkam. »Nichts«, sagte er. »Sie sind nicht dabei. Wenn sie getötet worden sind, dann nicht hier.«
»Sie leben noch«, behauptete Franke. »Ich bin ganz sicher. Ich ... ich spüre es.«
»So?« Lohmann versuchte ganz offensichtlich, gewaltsam zu seiner alten Rolle zurückzufinden. »Woran?«
»Sie haben sie nicht gesehen«, erwiderte Franke. »Aber ich. Ich ... ich konnte mich ihnen nicht einmal nähern. Und die Soldaten auch nicht. Ich glaube nicht, daß irgend jemand ihnen etwas anhaben konnte.«
»Und wo sind sie dann?«
»Jedenfalls nicht hier«, antwortete Franke ausweichend. Leiser und mit einer sonderbaren Betonung fügte er hinzu: »Vielleicht überhaupt nicht mehr hier. Wer weiß.« Er zuckte noch einmal die Schultern, straffte dann seine Gestalt und gab sich einen sichtbaren Ruck.
»Steigen Sie ein«, sagte er. »Es hat wenig Sinn, noch länger hierzubleiben.«
Angelika erwartete sie zusammen mit Rogler in der offenstehenden Tür der Maschine. »Nun?« fragte sie.
»Sie sind nicht dabei«, erwiderte Franke. »Ich glaube, sie leben noch.«
»Und was nutzt Ihnen das, wenn ich fragen darf?« Lohmann kletterte schnaubend hinter Franke und Warstein in die Maschine und sah den Wissenschaftler mißmutig an. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann haben diese Männer bisher kein Wort mit Ihnen gesprochen oder nur unverständliches Zeug. Denken Sie, das hätte sich plötzlich geändert?«
»Vielleicht reden sie mit uns«, sagte Warstein rasch, ehe Franke antworten und vielleicht doch noch mit Lohmann in Streit geraten konnte. »Ich glaube, Franke hat recht. Sie sind bestimmt nicht durch Zufall hierhergekommen. Nicht ausgerechnet jetzt. Sie müssen irgend etwas ... getan haben.«
Er blickte durch die offene Tür auf den See hinaus, der kein See mehr war, sondern ein schwarzer Schlund mit schlammigem Boden. Sie alle wußten, was die Druiden getan hatten. Er fragte sich, warum er eigentlich nicht den Mut hatte, es laut auszusprechen.
»Vielleicht ist der alte Mann ja bei ihnen«, sagte Angelika.
»Der alte Mann?« Warstein runzelte die Stirn.
»Saruter - das war doch sein Name, oder?«
»Er ist tot«, erinnerte Warstein, und Franke sagte:
»Ich hätte ihn bemerkt. Garantiert.«
Es dauerte einen Moment, bis ihnen beiden zugleich auffiel, daß sie mit vertauschten Rollen gesprochen hatten. Plötzlich schien Warstein der Zweifler geworden zu sein und Franke der, der wußte.
Aber da war etwas an dem, was Angelika gesagt hatte. Etwas unglaublich Wichtiges. Für einen Moment, den winzigen Bruchteil einer Sekunde, hatte Warstein das Gefühl, die Antwort zu kennen, endlich zu wissen, wozu sie gerufen worden waren und wohin sie gehen mußten. Aber als er danach greifen wollte, war sie fort.
»Fliegen Sie los«, sagte Franke an den Piloten gewandt. »Nach Porera.«
Über dem Lago Maggiore rotierte ein Tornado aus Licht. Grüne, rote, blaue und gelbe Blitze, Flammenspeere in nie gesehenen Farben und rotierende Kugeln aus purer Energie zerrissen den Himmel. Die Ordnung der Dinge war gestört. Wo Gesetze geherrscht hatten, die älter als die Zeit waren, breitete sich das Chaos aus, und im Zentrum dieses sich immer schneller und schneller drehenden Wirbels begann etwas Neues und zugleich Uraltes zu entstehen, etwas, das erschaffen und behüten konnte, aber auch von unvorstellbarer Zerstörungskraft war. Es war der Hebel des Aristoteles, den die Zeit angesetzt hatte, um die Welt aus den Angeln zu heben.
Der Zug der Druiden hatte sein Ziel erreicht. Rings um sie herum erstreckte sich die bizarre Landschaft des wasserlosen Sees, eine graue Einöde aus Schlamm und Morast und sterbenden Wasserpflanzen, aus totem Getier und Unrat, der seit Generationen in die geduldigen Fluten des Sees versenkt worden war. Vor ihnen lagen die Inseln, die den nördlichen Teil des Lago Maggiore beherrschten; ein halbes Dutzend kleiner Eilande, die nun zu einem Menhirkreis aus dreihundert Meter hohen, lotrechten Felssäulen geworden waren, der sich dem lodernden Himmel entgegenreckte, wie Finger einer gigantischen, steinernen Kralle. Die Männer warteten. Über ihnen nahm der tobende Kampf zwischen Licht und Dunkel immer noch mehr an Gewalt zu, und rings um sie herum begann die Illusion, die die Menschen mit dem Namen Wirklichkeit belegt hatten, endgültig in Stücke zu brechen. Aber nicht einer von ihnen nahm Notiz davon. Sie standen einfach reglos da, schweigend und geduldig wie die, denen sie ihr Wissen verdankten, geduldig über Äonen und Zeitalter hinweg gewartet hatten, auf einen Moment, von dem keiner von ihnen gewußt hatte, ob er jemals kommen würde. Sie waren die weisesten der Weisen, vielleicht die ältesten Menschen, die es auf dieser Welt gab; Zauberer und Schamanen, Druiden und Medizinmänner, Derwische und Fakire - ihre Namen waren Legion, aber die Bestimmung bei allen die gleiche. Sie waren die Bewahrer, die Hüter eines uralten Wissens, das älter als die Menschen war, älter als die Welt, die sie hervorgebracht hatte, vielleicht älter als das Universum, zu dem sie gehörten. Es war tief in ihnen verborgen, auf einer jeder wissenschaftlichen Erklärung spottenden, jedem menschlichen Begreifen entzogenen Ebene, so sicher und unzerstörbar wie das Leben selbst und so absolut. Keiner der alten Männer hätte wirklich sagen können, warum er hier war und was ihn gerufen hatte, und doch würde, wenn der Augenblick der Entscheidung gekommen war, jeder wissen, was er tun mußte. Der Moment war nicht mehr fern. Bald.
Die Druiden warteten.
Der Flug nach Porera hinauf, der unter normalen Umständen zehn Minuten gedauert hätte, wurde nicht nur für seine Passagiere zu einer kleinen Ewigkeit, sondern auch zu einer extremen Belastungsprobe für den Piloten und seine Maschine. Der Wind wechselte ununterbrochen, schien mal gar nicht vorhanden zu sein und dann wieder von einer Sekunde auf die nächste zu einem tobenden Orkan zu werden, der den Hubschrauber wild durchschüttelte und den Piloten mehr als einmal zu halsbrecherischen Kunstflugmanövern zwang, wollte er die Maschine überhaupt noch in seiner Gewalt behalten.
Franke hatte vorgehabt, ihnen den Schacht aus der Luft zu zeigen, von dem sie bisher nur aus seinen Erzählungen gehört hatten, aber es erwies sich als unmöglich. Die Turbulenzen waren einfach zu stark; nach dem dritten vergeblichen Anflug brach der Pilot den Versuch ab und erklärte, daß es einfach zu gefährlich sei, sich dem Höllenschlund aus der Luft her zu nähern. Warstein und die anderen waren beinahe erleichtert, und nicht nur, weil die Maschine von den aufgepeitschten Luftmassen wie ein welkes Blatt im Sturm hin und her geworfen worden war, so daß sie mehr als einmal damit gerechnet hatten, der Pilot würde die Gewalt über den Helikopter verlieren.
Daß sie Porera überhaupt erreichten, kam Warstein im nachhinein wie ein kleines Wunder vor. Der Sturm wuchs zu apokalyptischer Kraft heran, je mehr sie sich dem Ort näherten. Sein Heulen wurde bald so gewaltig, daß er selbst den Motorenlärm übertönte und jede Verständigung in der Maschine unmöglich machte. Der Helikopter bebte und zitterte jetzt ununterbrochen.
Der Pilot war nicht mehr in der Lage, einen geraden Kurs zu halten - die Maschine taumelte haltlos hin und her, sackte nach unten durch oder sprang mit einem Ruck wieder in die Höhe. Ihr Rumpf erbebte unter den Einschlägen von Sand, Staub, Steinen, ja, selbst Ästen und losgerissenen Büschen, die der Sturm mit sich trug. Als sie Porera schließlich erreichten, war Warstein schweißgebadet. Ihm war körperlich übel von den Erschütterungen, denen der Hubschrauber ausgesetzt gewesen war, und der irrsinnige Flug durch den schwarzen, brüllenden Sturm machte ihm angst. Angelika klammerte sich mit aller Kraft an ihn, aber auch er hielt sich an ihr fest, und er war nicht sicher, wer bei wem mehr Schutz suchte.
Der Helikopter ging immer tiefer. Seine Kufen streiften die Baumwipfel, und einmal geriet die Maschine so heftig ins Trudeln, daß ein Absturz unvermeidlich schien. Trotzdem wagte es der Pilot nicht höher zu gehen, denn der Sturm war dort oben noch ungleich heftiger. Die außer Kontrolle geratenen Naturgewalten hätten die Maschine einfach in Stücke gerissen.
Endlich erreichten sie die Stadt - aber es wurde nicht besser. Der Sturm tobte mit ungebrochener Gewalt durch die verlassenen Straßen, zerrte an Dächern und Wänden und schien jedes Leben davongewirbelt zu haben. Auf Frankes Befehl hin kreiste der Helikopter insgesamt dreimal über Porera, ohne daß sie auch nur eine Menschenseele zu Gesicht bekommen hätten. Der Ort lag wie ausgestorben unter ihnen.
Nein, verbesserte sich Warstein in Gedanken. Nicht wie ausgestorben. Porera war verlassen. Das mannshohe Gittertor, das die einzige Zufahrt zur Stadt versperrte, stand offen, vom Sturm halb aus den Angeln gerissen. Das kleine Wachhäuschen daneben war zerstört, ebenso wie ein Teil der Häuser, die die Straße dahinter flankierten. Warstein sah abgedeckte Dächer und eingestürzte Mauern, aber nirgendwo ein Licht, nirgendwo eine Bewegung, die nicht vom Sturm verursacht wurde.
»Wo sind sie alle?« schrie Angelika.
Das Heulen des Sturmes verschluckte ihre Worte. Aber Franke schien sie erraten zu haben, denn er zuckte mit den Schultern, beugte sich plötzlich zum Piloten vor und schrie dem Mann etwas zu. Der Helikopter hörte auf über Porera zu kreisen und näherte sich dem kleinen Platz im Zentrum. Er war so verlassen wie der ganze Ort, aber an seinem südlichen Rand stand ein gewaltiger Sattelschlepper, der in grünen und braunen Tarnfarben lackiert war. Auch er schien verlassen zu sein, denn die Tür der Fahrerkabine stand offen und bewegte sich klappernd im Sturm. Aus dem Dach des riesigen kastenförmigen Aufbaus ragte der abgebrochene Stumpf einer Antenne.
Warstein durchlebte einige letzte Sekunden banger Furcht, als der Pilot den Helikopter unmittelbar neben dem Wagen aufsetzte. Selbst hier zwischen den Häusern war der Sturm noch so stark, daß die Maschine wild hin und her schaukelte. Sie setzte mit einem Ruck auf, der sie alle in ihren Sitzen hin und her schleuderte.
Der Lärm nahm ein wenig ab, als der Pilot den Motor ausschaltete und die Rotorblätter zum Stehen kamen. Trotzdem zitterte die Maschine weiter; manchmal erbebte sie wie unter Faustschlägen.
Franke löste seinen Sicherheitsgurt und stand auf.
»Was haben Sie vor?« schrie Warstein.
Franke deutete auf den Lastwagen. »Ich muß dorthin«, antwortete er. »Ich muß wissen, was hier los ist!«
»Sind Sie wahnsinnig?« rief Lohmann. »Hier ist keiner mehr, das sieht man doch! Bleiben Sie gefälligst hier! Wir müssen weg!«
»Weg?« Franke schüttelte den Kopf. »Aber wohin denn?«
»Aber -« Lohmann brach betroffen ab.
Franke wandte sich an den Piloten. »Passen Sie auf! Wenn irgend etwas Ungewöhnliches geschieht, starten Sie sofort. Warten Sie nicht auf mich.«
»Sie sollten sich beeilen«, antwortete der Mann. »Der Sturm scheint noch schlimmer zu werden. Wenn wir zu viel Zeit verlieren, kann ich nicht mehr starten.«
Wie um seine Worte zu bestätigen, heulte der Sturm in diesem Moment mit noch größerer Wut auf. Der Helikopter bebte.
Etwas traf sein Heck und prallte mit einem dumpfen Geräusch davon ab. Blitze, grüne, rote und blaue Lichter und gleißende Lanzen aus flammender Energie spalteten den Himmel. Warstein wagte kaum noch aus dem Fenster zu sehen. Die Welt dort draußen ging unter. Und nicht nur im übertragenen Sinne des Wortes.
»Er muß den Verstand verloren haben!« sagte Lohmann, während Franke den Hubschrauber verließ und geduckt auf den Wagen zurannte. Er stürzte ein paarmal, und es war nicht zu übersehen, daß es ihn jedes Mal mehr Kraft kostete, sich gegen die Gewalt des Sturmes wieder in die Höhe zu stemmen und weiterzulaufen. »Was um alles in der Welt sucht er hier? Hier ist doch keiner mehr!«
»Informationen«, antwortete Rogler. Er deutete auf den Wagen. »Das da war so etwas wie eine Kommandozentrale.«
In Lohmann schien die berufsmäßige Neugier des Journalisten zu erwachen. »Sie waren schon einmal hier?« fragte er. »Wie sieht es da drinnen aus?«
Rogler zuckte die Achseln. »Sehr viel Technik«, sagte er. »Eine Menge Computer und solches Zeug. Ich verstehe nichts davon. Aber es waren viele Soldaten hier.« Er ließ seinen Blick hilflos über die Häuserfront auf der gegenüberliegenden Straßenseite wandern. »Ich verstehe nicht, wo sie alle geblieben sind. Es müssen Hunderte gewesen sein. Was ist hier nur passiert?«
Warstein dachte an Ascona und die entsetzlichen Bilder, die sie dort gesehen hatten. Er hatte geglaubt, daß es nichts gäbe, was schlimmer war, aber das stimmte nicht. Der Anblick dieses verlassenen, vom Sturm verheerten Ortes war schlimmer. Irgend etwas unvorstellbar Entsetzliches mußte sich hier abgespielt haben. Vielleicht geschah es noch.
»Sie sind abgehauen«, sagte Lohmann. Warstein wußte, daß es nicht so war, aber er widersprach nicht. »Sie haben das einzig Vernünftige getan und sind verschwunden«, fuhr der Journalist fort. »Und wir sollten dasselbe tun, solange wir es noch können!«
Er sah die drei anderen herausfordernd an, aber weder Warstein noch Angelika reagierten. Rogler schüttelte heftig den Kopf. »Wir bleiben hier«, sagte er mit einer Geste auf den Wagen. »Er bleibt bestimmt nicht lange.«
Lohmann machte ein abfälliges Geräusch. »Ihr Boß hat Sie ganz schön an der Kandare, wie?«
»Nein«, antwortete Rogler ruhig. »Er ist nicht mein Boß. Aber ich glaube zufällig, daß er recht hat.«
»Womit?« fragte Lohmann.
Rogler zog eine Grimasse und wandte sich demonstrativ ab. Sein Blick begegnete dem Warsteins, und für einen winzigen Moment glaubte Warstein etwas wie ein Lächeln darin zu erkennen. Ganz instinktiv erwiderte er es. Es war seltsam - er kannte diesen Mann überhaupt nicht. Seit sie sich begegnet waren, hatten sie kaum miteinander gesprochen. Alles, was er über ihn wußte, wußte er von Franke, und das war nicht viel. Trotzdem war er ihm auf Anhieb sympathischer, als es Lohmann gewesen war. Rogler hatte ebensoviel Angst wie Angelika oder er, und er war mindestens genauso nervös, aber er strahlte eine Ruhe und Sicherheit aus, die anscheinend durch nichts zu erschüttern war.
»Verdammt, wie lange dauert das noch?« fragte Lohmann. »Was tut er da drüben?«
Warstein sah zum Wagen hinüber. Er erschrak. In den wenigen Sekunden, die er nicht nach draußen geblickt hatte, hatte sich das Bild abermals verändert. Der Sturm schien tatsächlich ein wenig nachgelassen zu haben, aber das Lodern der Flammen am Himmel war heftiger geworden. Es sah aus, als hätte das ganze Firmament Feuer gefangen. Die ununterbrochen wechselnden Lichter erfüllten den Platz zwischen den Häusern mit verwirrenden, unheimlichen Schatten und Bewegungen, wo keine waren.
»Dort drüben!« sagte Angelika plötzlich. »Was ist das?«
Warsteins Blick folgte ihrer Geste. Im allerersten Moment sah er nichts außer huschenden Schatten und tanzenden Lichtern, aber dann... Irgend etwas bewegte sich zwischen den Häusern auf der anderen Seite des Platzes. Er konnte nicht genau erkennen, was es war: massig, schwarz, zu groß für einen Menschen und zu beständig für einen Schatten. Ohne daß er die Herkunft dieses Wissens hätte angeben können, wußte er, daß es der Grund war, der die Menschen aus Porera hinausgetrieben hatte. Auch der Pilot hatte die Erscheinung bemerkt, und seine Reaktion bewies, daß Warsteins Empfindung bei ihrem Anblick nicht nur seiner eigenen Angst und Nervosität entsprang. Mit einem gemurmelten Fluch startete er den Motor des Helikopters. Seine Hände huschten über das Armaturenbrett, legten Schalter und Hebel um und drückten rasch hintereinander ein Dutzend Knöpfe. Während die Turbine mit an den Nerven zerrender Langsamkeit anlief, griff er nach dem Mikrofon des Funksprechgerätes und schaltete es ein. »Doktor Franke? Können Sie mich verstehen? Bitte melden!«
Keiner von ihnen hatte ernsthaft damit gerechnet, aber sie bekamen Antwort. »Ich höre Sie!« drang Frankes Stimme aus dem Lautsprecher, verzerrt und von den knisternden und prasselnden Lauten atmosphärischer Störungen überlagert, aber trotzdem klar verständlich. »Sie ... sie sind alle tot! Sie haben sich gegenseitig umgebracht!« Trotz der schlechten Übertragungsqualität konnten sie das Entsetzen hören, das seine Stimme durchdrang. »Es ist fürchterlich. So etwas habe ich noch nie gesehen!«
Der Pilot warf einen nervösen Blick nach draußen. Der Schatten dort drüben war nicht näher gekommen, aber er schien auf schwer zu bestimmende Weise substantieller geworden zu sein. Etwas Drohendes, Böses ging von ihm aus. »Hier draußen ist etwas«, sagte der Pilot. »Ich weiß nicht, was, aber -«
»Starten Sie!« unterbrach ihn Franke. »Sofort.«
»Tun Sie, was er sagt!« fügte Lohmann hastig hinzu.
Der Pilot warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, und auch Warstein spürte einen heftigen Zorn in sich emporkriechen. »Halten Sie den Mund, Lohmann«, sagte er. Lohmann fuhr herum und funkelte ihn an. Sein Gesicht verzerrte sich, und was Warstein für einen Sekundenbruchteil in seinen Augen las, das war nicht bloß einfacher Ärger, sondern mörderische, kochende Wut.
»Ich glaube nicht, daß Sie mir zu sagen haben, was ich tun darf und was nicht«, sagte er.
Warsteins Hände zuckten. Plötzlich hatte er zu nichts mehr Lust, als sich mit Lohmann zu prügeln.
»Sie -«
»Hört auf!« sagte Angelika. Auch ihre Stimme zitterte vor Anstrengung. Ihr Gesicht war kalkweiß. Trotzdem schimmerten Schweißperlen auf ihrer Stirn. »Hört auf!« sagte sie noch einmal. »Begreift ihr denn nicht? Das seid nicht ihr! Es ist dieses Ding.«
Sie deutete nach draußen. Es war noch deutlicher geworden. Warstein erkannte etwas Riesiges, Häßliches mit Schuppen und Klauen und rotglühenden lodernden Augen, ein Ding mit peitschenden Tentakeln und reißenden Fängen, die es in ihre Seelen schlagen würde, um sie mit seinem Gift zu tränken. Es war das Ungeheuer, das Lohmann gefolgt war, das Ding von der anderen Seite, Lohmanns anderer Seite. Es war wieder da. Es war nie fort gewesen. Plötzlich wußte er, daß Angelika recht hatte. Das Ding dort drüben war gestaltgewordener Haß, die Materialisation all ihrer Ängste und Alpträume, das keine andere Bestimmung hatte als zu zerstören, zu vernichten und zu töten. Das war es, was den Menschen hier in Porera geschehen war. Wieso hatte er sich eigentlich eingebildet, immun dagegen zu sein?
»Beeilen Sie sich, Doktor Franke«, fuhr der Pilot fort. »Ich weiß nicht, wie lange ich noch warten kann.«
»Verdammt noch mal, starten Sie endlich!« antwortete Franke scharf. »Ich kann hier nicht weg!«
Warstein beugte sich vor und riß dem Piloten das Mikrofon aus der Hand.
»Seien Sie vernünftig, Franke«, sagte er. »Es wird Sie umbringen! Ihnen wird dasselbe passieren wie allen anderen hier! Kommen Sie endlich zurück!«
»Das kann ich nicht«, antwortete Franke ruhig.
»Franke...«
»Seien Sie vernünftig, Warstein«, unterbrach ihn Franke. Plötzlich war seine Stimme von einer Entschlossenheit erfüllt, der Warstein nichts entgegenzusetzen hatte. »Ich kann nicht zurück. Selbst wenn ich wollte. Ich habe es mit Mühe und Not geschafft, hierher zu kommen, und da hatte ich den Wind im Rücken. Es würde gar nicht gehen. Außerdem gibt es hier noch etwas, was ich ... erledigen muß.«
»Was?« fragte Warstein.
»Ich weiß jetzt, was ich tun muß«, antwortete Franke. »Und ich glaube, Sie wissen es auch. Sehen Sie nach draußen. In den Himmel.«
Warstein gehorchte - und riß erschrocken die Augen auf. Die Lichter über ihnen hatten sich abermals verändert. Sie tobten und explodierten nach wie vor in immer schnellerem Wechsel am Himmel, aber die flackernden Muster waren jetzt nicht mehr willkürlich, sondern bildeten Linien und Wellen, rotierende Kreise wie auch flammende und erlöschende Sonnen, ein sich stets wiederholendes und doch immer neues Muster, das von einem Horizont zum anderen reichte und immer mehr und mehr an Leuchtkraft zunahm. »Erkennen Sie es?« fragte Franke.
Warstein nickte. Dann erst begriff er, daß Franke die Bewegung ja nicht sehen konnte. »Ja«, sagte er.
Er hatte dieses Muster schon einmal gesehen - zweimal, um genau zu sein. Das erste Mal im Tunnel, als er Berger und die anderen gefunden hatte, und das zweite Mal in einer einsamen Berghütte tausend Meter über ihnen.
»Sie hatten recht«, sagte Franke. »Sie und der alte Mann. Sie hatten die ganze Zeit über recht. Es gibt Dinge, die sich mit unserer Wissenschaft nicht erklären lassen, aber das bedeutet nicht, daß sie nicht da wären. Es tut mir leid.«
»Franke, Sie -«
»Dazu ist jetzt keine Zeit«, unterbrach ihn Franke. »Das da ist ein Zeichen. Vielleicht die allerletzte Chance, die uns allen noch bleibt. Nutzen Sie sie. Fliegen Sie zu Saruters Hütte. Sie werden dort finden, weswegen Sie gekommen sind.«
»Saruters Hütte?« fragte Warstein überrascht. »Woher wissen Sie davon?«
»Ich war dort«, antwortete Franke.
»Sie?«
»Ich sagte Ihnen bereits: es tut mir leid«, antwortete Franke. »Ich war da, kurz nachdem Sie ... uns verlassen hatten. Ja. Sie haben recht - ich habe es gewußt. Ich wollte es nur nicht wissen. Aber ich glaube, ich kann es wieder gutmachen. Und jetzt verschwinden Sie, Warstein. Verschenken Sie nicht die letzte Chance, die Sie vielleicht noch haben.« Er atmete hörbar ein. »Geben Sie mir den Piloten.«
Warstein reichte das Mikrofon an den Piloten zurück. Eine dumpfe Betäubung begann sich in ihm breitzumachen, während er sich wieder in seinen Sitz zurücksinken ließ. Aber er versuchte vergeblich, Haß auf Franke zu empfinden.
»Doktor Franke?«
»Wie sieht es draußen aus?« erkundigte sich Franke. »Was macht der Sturm?«
»Es wird schlimmer«, antwortete der Pilot. Er warf einen nervösen Blick auf den Schatten auf der anderen Seite des Platzes. Das Ding hatte begonnen, sich aus seinem Versteck zu lösen. Sie alle konnten spüren, wie es auf sie zukroch, langsam, mit der Geduld eines Wesens, das wußte, daß seine Opfer ihm nicht mehr entkommen konnten. »Und da ist noch -«
»Können Sie noch höher in die Berge hinauf?« unterbrach Franke.
»Höher?« Der Pilot klang eindeutig entsetzt. »Das ist unmöglich!«
»Etwa tausend Meter«, fuhr Franke fort. »Warstein zeigt Ihnen den genauen Weg. Sie müssen es versuchen. Es ist unvorstellbar wichtig.«
Der Pilot schwieg. In seinem Gesicht arbeitete es, während er abwechselnd das näher kriechende Ding und die flackernden Lichter am Himmel betrachtete. Seine Hand schloß sich so fest um das Mikrofon, daß das Plastik zu knistern begann.
»Das ist Wahnsinn«, murmelte er. »Ich weiß nicht, ob die Maschine es aushält.«
»Das wird sie«, versprach Franke. »Sie müssen es nur wollen.«
»Ihr seid ja alle komplett verrückt!« keuchte Lohmann. »Ich will weg hier! Auf der Stelle!«
»Ich kann Sie nicht zwingen, es zu tun«, fuhr Frankes Stimme aus dem Lautsprecher fort. »Ich kann Sie nur darum bitten. Versuchen Sie es.«
Der Pilot schwieg. Sein Gesicht war zu einer ausdruckslosen Maske erstarrt. Es vergingen noch einmal zehn Sekunden, in denen er wortlos auf den näher kriechenden Schatten starrte. Dann hängte er das Mikrofon mit einer fast bedächtigen Bewegung zurück und legte beide Hände auf den Steuerknüppel. Einen Augenblick später startete der Helikopter und sprang mit einem Satz direkt in das aufgerissene, brüllende Maul des Sturmes hinein.
Selbst hier drinnen war das Tosen des Sturmes so angeschwollen, daß es jeden anderen Laut übertönte. Franke schaltete das Funkgerät aus. Selbst wenn Warstein oder der Pilot noch etwas gesagt hätten, er hätte es sowieso nicht mehr gehört.
Sein Blick wanderte über die erloschenen und zum Teil zerstörten Kontrollen, über zerborstene Bildschirme und tote Computerdisplays. Er empfand nichts, weder beim Anblick der zerstörten Geräte noch bei dem der Toten, die in einem einzigen Knäuel aus Armen und Beinen und ineinanderverkrallten Leibern im vorderen Drittel des Wagens lagen. Seltsam - früher, als er noch geglaubt hatte, die Welt zu verstehen, sie in klare Kategorien von Dingen, die er wußte, und solchen, die er noch nicht wußte, eingeteilt hatte, da hatte er Angst vor dem Tod gehabt; sowohl vor seinem Anblick als auch vor dem Gedanken an sein eigenes Ende.
Jetzt ließ es ihn fast kalt. Er empfand ein leises Bedauern - kein Mitleid -, daß das Leben all dieser Menschen auf eine so vollkommen sinnlose Weise hatte enden müssen, aber mehr nicht. Er fragte sich nicht, warum. Diese Antwort kannte er jetzt.
Frankes Blick suchte die beiden einzigen noch arbeitenden Monitore. Es war kein Zufall, daß gerade diese beiden Kameras und die dazugehörigen Bildschirme in all dem Chaos noch funktionierten. Er glaubte nicht, daß es so etwas wie Zufall überhaupt gab. Auch das war etwas, worüber er vor einigen Stunden vielleicht noch gelacht hätte, aber nun wußte er, daß alles irgendwie gelenkt und geplant war. Es gab keinen Zufall, so, wie es keine Willkür und nichts Sinnloses im Universum gab. Hinter allem stand ein lenkender, bewußter Wille, auch wenn er vielleicht nach Kriterien entschied und auf eine Art und Weise handelte, die ein Mensch niemals begreifen würde. Aber er war da.
Es war ein ungemein beruhigender Gedanke.
Einer der beiden Bildschirme zeigte den nun leeren Platz. Der Helikopter war gestartet und in der Nacht verschwunden, und nur einen Moment später hatte sich auch das Gespenst wieder in sein Versteck jenseits der Wirklichkeit zurückgezogen, so lautlos und schnell, wie es gekommen war. Franke war allein. Das Ungeheuer konnte ihm nichts mehr antun, denn er hatte einen Punkt erreicht, der jenseits der Furcht lag.
Der zweite Monitor zeigte den Schacht. Es war das Bild einer Infrarotkamera, das die Dinge verzerrt und in beunruhigenden, falschen Farben darstellte: ein schwarzer, perfekt gerundeter Höllenschlund inmitten eines Chaos aus wirbelnden, sich ständig verändernden Farben und Umrissen, der sich aufgetan hatte, um die Welt zu verschlingen.
Und er hatte ihn erschaffen.
Er hatte es begriffen, als er unten im Tunnel stand und das Heulen der Sirenen hörte, das Flackern der Warnlampe sah, die von der bevorstehenden Katastrophe kündete, die Schreie der Techniker hörte - und das, was Warstein schließlich Lohmann zugeschrien hatte: Sie explodiert, weil Sie es wollen.
Aus keinem anderen Grund war dieser Schacht entstanden. Er war sein, Frankes, ganz persönlicher Alptraum. Etwas in ihm, ein schrecklicher siamesischer Zwilling aus dem klar denkenden Wissenschaftler und dem verängstigten Kind, das die Dunkelheit und das Unbekannte fürchtete, hatte gewußt, daß ein Schwarzes Loch nur dies zur Folge haben konnte: einen Riß in der Welt, durch den die Wirklichkeit eingesogen wurde, und so war genau dies entstanden. Einfach, weil er es wollte.
Franke stand auf und wandte sich zur Tür. Er hatte gelogen, als er Warstein gegenüber behauptet hatte, den Wagen nicht mehr verlassen zu können. Der Sturm war hier unten am Boden gar nicht so schlimm, wie es den Anschein hatte. Er würde all seine Kraft brauchen, und er würde sich beeilen müssen, um es noch rechtzeitig zu schaffen, aber zugleich wußte er auch, daß er es schaffen würde. Auch das war Teil des großen Planes.
Er verließ den Wagen, wandte sich nach Süden und ging los.