»Allmählich beginne ich mir albern vorzukommen.« Angelika nahm einen letzten Zug aus ihrer Zigarette und schnippte sie in eine Pfütze, in der bereits die aufgeweichten Filter dreier weiterer schwammen. Sie trug eine braune Steppjacke, deren hochgeschlagener Kragen ihr Gesicht fast vollkommen verbarg, und schwarze Lederhandschuhe. Trotzdem zitterte sie vor Kälte - ebenso wie Warstein, der nicht so vorausschauend wie sie gewesen war, warme Kleidung einzupacken, und den schneidenden Wind doppelt schmerzhaft spürte. Das Wetter stand nicht nur Kopf, es schien sich gegen sie verschworen zu haben, seit sie das Hotel verlassen und sich zu Fuß auf den Weg zur Autobahn gemacht hatten. Regen, Hagel und eisiger Wind wechselten einander ab, und mit der Dunkelheit war eine grimmige Kälte hereingebrochen, die dem Kalender um mindestens drei Monate voraus war.
»Autostopp! Großer Gott, ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte Mal per Anhalter gefahren bin! Es muß mindestens fünfzehn Jahre her sein.« Sie zündete sich eine neue Zigarette an und inhalierte den Rauch so gierig, als hätte sie seit Tagen nicht mehr geraucht.
»Wenn du weiter diese Dinger rauchst, wirst du die nächsten fünfzehn Jahre nicht mehr erleben«, sagte Warstein.
Angelika zerknüllte die Packung zwischen den Fingern und warf sie in die gleiche Pfütze, in der schon die Korkfilter schwammen. »Ist sowieso meine letzte«, sagte sie achselzuckend. »Hast du hier irgendwo einen Automaten gesehen?«
»Zwei sogar«, antwortete Warstein.
»Aber du verrätst mir nicht, wo«, vermutete Angelika, während sie ihr Bestes tat, ihr Gesicht hinter einem Vorhang aus grauem Qualm zu verbergen. Mehr nicht. Warstein war ihr dankbar, daß das alles war. Er war wahrhaftig niemand, der das Recht hatte, den Moralapostel zu spielen.
»Lohmann muß vollkommen verrückt geworden sein.« Angelika wechselte wieder das Thema. »Wenn du mich fragst, dann stehen wir morgen früh noch hier. Niemand nimmt drei Anhalter auf einmal mit, noch dazu nachts und bei diesem Wetter.«
»So schlecht finde ich die Idee gar nicht«, erwiderte Warstein. Daß seine Stimme dabei vor Kälte zitterte, machte die Worte nicht unbedingt glaubhafter. Seine Zehen fühlten sich an wie Eisklumpen, die an seine Füße geklebt worden waren. Er war so wenig begeistert wie sie von der Idee, per Anhalter in das Tessin zu fahren, und trotzdem waren Lohmann und er in diesem Punkt ausnahmsweise einmal der gleichen Meinung: sie hatten vermutlich nur diese eine Chance, nach Ascona zu gelangen. So dumm konnte Franke gar nicht sein, nicht alle in Frage kommenden Bahnhöfe überwachen zu lassen.
»Vielleicht war die einzige wirklich schlechte Idee die, überhaupt hierher zu kommen«, sagte Angelika.
Warstein blickte sie fragend und überrascht zugleich an. »Wie meinst du das? Wegen Lohmann?«
»Nein«, antwortete Angelika. Sie schüttelte den Kopf und machte gleich darauf eine Bewegung, die auch ein Ausdruck von Hilflosigkeit war. »Oder ja, auch.«
»Auch? Weshalb noch? Meinetwegen?«
»Nein!« Es hörte sich fast erschrocken an. »Ich ... ich weiß nicht. Zu Hause, nachdem Frank plötzlich verschwunden war, da ... da dachte ich, ich wäre es ihm schuldig.«
»Und jetzt denkst du das nicht mehr?«
»Ich weiß es einfach nicht«, gestand Angelika. Sie sprach so leise, daß er ihre Worte kaum noch verstand. »Ich glaube, es war einfach kindisch. Wir gehören zusammen. In guten und in schlechten Tagen.« Sie lachte, ein bitterer, harter Laut, der Warstein einen kalten Schauer über den Rücken jagte. »Was für ein Irrsinn. Ich benehme mich wie eine Figur aus einem Groschenroman. Mein Mann ist verschwunden, und ich ziehe ganz allein los, um ihn zu suchen. Wenn es sein muß, bis ans Ende der Welt. Und wenn es das letzte ist, was ich im Leben tue!«
Warstein war verwirrt. Er spürte, daß Angelikas Worte mehr bedeuteten als das, wonach sie im ersten Moment zu klingen schienen. Vielleicht, weil sie ihm mehr sagen wollte, als sie wagte.
»War es denn nicht so?« fragte er.
»Nein, zum Teufel, so war es nicht!« Der plötzliche Ausbruch erschreckte Warstein, aber sie hatte sich ebenso schnell wieder in der Gewalt, wie sie die Kontrolle über ihre Gefühle verloren hatte. »Ich weiß selbst nicht genau, warum ich hier bin«, gestand sie, äußerlich wieder ruhig, aber noch immer mit bebender Stimme, die ihre wahren Gefühle hundertmal deutlicher machte, als es die Worte taten. »Ich weiß nicht einmal, ob ich ihn wirklich zurückhaben will.« Sie sog nervös an ihrer Zigarette. Der rote Widerschein der Glut beleuchtete ihr Gesicht und ließ den Schmerz darin deutlicher hervortreten. »Weißt du, als ich ... gestern morgen bei dir war, da hast du mich gefragt, ob ich so weit gehen würde, mit dir zu schlafen, nur damit du mich begleitest.«
»He, he, schon gut«, sagte Warstein. »Ich weiß, ich benehme mich manchmal wie ein Idiot. Es tut mir leid.«
»Aber du hattest recht«, sagte sie. »Ich glaube, ich hätte es getan. Aber jetzt bin ich froh, daß es nicht so weit gekommen ist.«
»Oh«, machte Warstein.
Angelika lächelte traurig. »Nicht deinetwegen. Oder doch. Aber nicht aus dem Grund, wie du denkst. Es hätte zu viel kaputtgemacht.«
Warstein wollte auf sie zugehen, aber er unterdrückte den Impuls im letzten Moment. Vielleicht hätte er damit etwas zerstört, was gerade im Entstehen begriffen war. Seltsam - er mochte sie, sehr sogar. Aber er war nicht einmal sicher, ob er wollte, daß mehr daraus wurde.
»Hast du ihn eigentlich jemals wirklich geliebt?« fragte er.
»Frank?« Sie zuckte mit den Schultern und warf ihre Zigarette zu Boden. »Und du deine Frau?«
»Vor langer Zeit einmal«, antwortete Warstein. »Wenigstens habe ich es geglaubt.«
»Ja, so ähnlich war es bei uns auch. Wir waren beide noch sehr jung. Vielleicht zu jung. Aber als wir es gemerkt haben, war es zu spät. Versteh mich nicht falsch. Er ist ein guter Mann. Er hat mich nie betrogen oder so etwas, oder mich schlecht behandelt. Er ist das, was man einen guten Freund nennt. Eine Zeitlang dachte ich, das wäre genug. Aber das ist es wohl nicht. Und du?«
Warstein zog eine Grimasse. »Ich glaube, das einzige, was meine Frau je an mir geliebt hat, waren meine Gehaltsschecks«, antwortete er. »Nachdem sie ausblieben, konnte sie mich gar nicht schnell genug loswerden. Aber ich höre immer noch regelmäßig von ihr - wenn sie jemanden schickt, der den ausstehenden Unterhalt eintreiben soll.«
Lohmann kam zurück. Er näherte sich bis auf drei Schritte, blieb abrupt stehen und sah sie beide abwechselnd und mit gerunzelter Stirn an. »Störe ich?« fragte er.
»Ja«, antwortete Warstein. »Hat Ihnen eigentlich schon einmal jemand gesagt, daß Sie ein unglaubliches Talent haben, immer im falschen Augenblick aufzutauchen?«
»Oft«, antwortete Lohmann gelassen. »Davon lebe ich. Aber wenn ihr beiden Turteltauben damit fertig seid, euch gegenseitig leid zu tun, habe ich eine gute Nachricht.«
»Das wäre eine Abwechslung«, sagte Warstein. »Und welche?«
»Wir haben einen Wagen.« Lohmann machte eine Kopfbewegung zu der Tankstelle hinter sich. »Seht ihr den weißen Van? Der Fahrer nimmt uns mit. Und jetzt kommt das Beste überhaupt. Ratet mal, wohin er fährt.«
»Las Vegas?« schlug Warstein vor.
»Ascona«, antwortete Lohmann in fast triumphierendem Ton. »Nonstop. Ich habe dem Fahrer eine herzzerreißende Geschichte aufgetischt. Nur damit ihr euch nicht verquatscht: irgendwelche bösen Buben haben unseren Wagen gestohlen, mitsamt Papieren und all unserem Geld. Und jetzt müssen wir ganz dringend nach Ascona, weil wir dort Freunde haben, die uns helfen können.«
»Wie originell«, sagte Angelika.
Lohmann schürzte abfällig die Lippen. »Es kommt bei solchen Geschichten nicht darauf an, daß sie originell sind«, belehrte er sie. »Sie müssen überzeugend klingen. Je einfacher, desto besser. Wissen Sie, meine Liebe, die meisten Menschen verstehen das Sprichwort völlig falsch, wonach Lügen kurze Beine haben. Das müssen sie. Je kürzer, desto besser. Dann stolpern sie nicht so leicht.«
»An Ihnen ist ein richtiger Philosoph verlorengegangen.«
»Wer sagt, daß er verloren ist?« wollte Lohmann wissen.
Angelika erwiderte etwas darauf, aber Warstein hörte schon gar nicht mehr hin, sondern drehte sich herum und blickte aus zusammengekniffenen Augen zu der Tankstelle zurück. Er sah das, was Lohmann als »Van« bezeichnet hatte, sofort - einen weißen Lieferwagen, der etwas abseits der Tanksäulen geparkt war. Der Motor lief. Irgend etwas an dem Anblick gefiel ihm nicht, aber er konnte nicht sagen, was.
Wahrscheinlich war er einfach nur zu mißtrauisch, dachte er. Und wahrscheinlich auch einfach zu wütend, daß Lohmann recht behalten hatte, zur Tankstelle zurückzugehen und die Fahrer der Wagen dort anzusprechen, während Angelika und er sich an der Autobahnauffahrt postiert und den Daumen hochgehalten hatten.
Sie machten sich auf den Weg. Der Regen setzte wieder ein, so daß sie die letzten Meter bis unter das Dach der Tankstelle im Laufschritt zurücklegten; was im Grunde genommen sinnlos war - sie waren ohnehin alle drei bis auf die Haut durchnäßt.
Zum zweiten Mal an diesem Tag. Der Fahrer des Kleinbusses würde sich freuen, dachte Warstein, wenn sie ihm die Polster versauten.
Lohmann eilte um den Wagen herum und klopfte an die Beifahrertür, aber niemand öffnete. Als Warstein und Angelika ihm folgten, sahen sie, daß der Wagen leer war. Der Motor lief, und der Schlüssel steckte im Schloß, aber beide Türen waren verriegelt.
»Seltsam«, sagte Lohmann. »Gerade war er noch - ah, da kommt er ja!« Er deutete auf einen dunkelhaarigen, stämmig gewachsenen Burschen in einem Jeansanzug, der mit schnellen Schritten auf sie zukam. Als der Mann sie erblickte, zögerte er einen ganz kurzen Moment. Sein Blick glitt rasch und taxierend über Warsteins und Angelikas Gesicht, ehe er weiterging.
»Hallo«, sagte er, an Lohmann gewandt. »Sind das Ihre Freunde?«
Lohmann nickte und deutete auf den Wagen. »Ich dachte schon, Sie hätten es sich anders überlegt.«
Der Mann griff in die Tasche und zog einen einzelnen Schlüssel hervor, mit dem er die Tür öffnete. »Bestimmt nicht. Ich bin froh, ein bißchen Gesellschaft zu haben. Es ist eine verdammt weite Strecke bis Ascona. Und nach allem, was das Radio sagt, sind die Straßen völlig verstopft.« Er öffnete die Tür, stieg aber nicht ein, sondern machte eine einladende Geste mit der Linken. »Ich mußte nur noch mal schnell telefonieren, aber ich habe den Motor laufen lassen, damit es warm wird. Ihr drei seid ja völlig durchnäßt.«
Sie stiegen ein, und Warstein erlebte eine Überraschung. Was von außen wie ein ganz normaler Lieferwagen aussah, das entpuppte sich als komplett ausgebautes Wohnmobil; klein, aber mit jedem erdenklichen Luxus ausgestattet, bis hin zum Farbfernseher. Ein Schwall angenehm warmer Luft schlug ihnen entgegen, während sie in den hinteren Teil des Wagens kletterten. Er verstand jetzt, warum Lohmann den Wagen als Van bezeichnet hatte: Es war einer.
Mit einem erleichterten Aufatmen und einer Spur von schlechtem Gewissen, wenn er an seine nassen Kleider dachte, ließ er sich auf einen der gemütlichen Sitze sinken und schloß die Augen. Jetzt, wo er im Warmen war, fror er beinahe noch mehr als zuvor, und trotzdem tat die Wärme ungemein gut. Vielleicht war es auch mehr das Gefühl, endlich wieder von der Stelle zu kommen. Er hatte nichts davon gesagt, aber insgeheim hatte er die Hoffnung schon fast aufgegeben, Ascona jemals zu erreichen. Sie kämpften nicht gegen Windmühlenflügel, sondern gegen eine Armee gepanzerter Riesen.
»Macht es euch bequem«, sagte ihr Fahrer, während er nacheinander das Licht, die Scheibenwischer und abschließend das Radio einschaltete. »Am besten zieht ihr die nassen Klamotten aus, ehe ihr euch den Tod holt. Hinten im Schrank sind Handtücher - und ein Bademantel für die Dame.« Er fuhr los und konzentrierte sich für die nächsten dreißig oder vierzig Sekunden ganz darauf, den Wagen in den Autobahnverkehr einzufädeln. Es war beinahe elf, trotzdem herrschte auf der dreispurig ausgebauten Strecke noch reger Verkehr. Der Ausfall der westlichen Eisenbahnverbindung nach Italien stellte das Schweizer Verkehrsnetz auf eine harte Belastungsprobe.
Angelika begann sich aus ihrer Jacke zu schälen. Ihre Finger waren blaugefroren und so klamm, daß sie Mühe hatte, das Kleidungsstück herunterzubekommen, und Warstein sah, daß auch der Pullover, den sie darunter trug, vollkommen durchnäßt war. Trotz des warmen Luftstromes, den die Heizung in den Wagen blies, zitterte sie vor Kälte.
»Es ist sehr nett, daß Sie uns mitnehmen«, sagte sie. »Ich weiß gar nicht, wie ich mich bedanken soll. Wir sind -«
»Geschenkt«, unterbrach sie ihr Fahrer. »Ihr Freund hat mir erzählt, was Ihnen passiert ist. So was nennt man wirklich Pech. Es ist doch selbstverständlich, daß ich Ihnen helfe. Außerdem, wie gesagt: ich bin froh, ein bißchen Gesellschaft zu haben.«
»Wenn Sie wollen, löse ich Sie später am Steuer ab«, erbot sich Lohmann.
»Ja, vielleicht später. Jetzt ruht euch erst mal richtig aus. Ihr müßt ja hundemüde sein.«
»Woher wissen Sie das?« fragte Warstein.
»Weil ihr so ausseht«, antwortete der andere lachend. »Wann haben Sie das letzte Mal in den Spiegel gesehen?«
Warstein antwortete nicht darauf, aber er entschuldigte sich in Gedanken für sein Mißtrauen. Natürlich sah man ihnen die Strapazen des Tages an; ihm wahrscheinlich am allermeisten. Seine Hände zitterten längst nicht mehr nur, weil ihm so kalt war.
»Solange wir fahren, kann ich euch nichts Heißes zu trinken anbieten«, fuhr ihr Wohltäter fort, »aber im Kühlschrank ist Cola und Bier. Bedient euch.« Er öffnete das Handschuhfach, nahm eine Zigarettenschachtel heraus und bot Lohmann und Angelika Zigaretten an. Sie bedienten sich, während Warstein mit klammen Fingern den Kühlschrank öffnete. Die eiskalte Luft, die ihm entgegenschlug, ließ ihn schon wieder frösteln. Er nahm eine Dose Pepsi heraus, zögerte einen Moment, stellte sie zurück und griff sich statt dessen ein Bier. Seine Finger zitterten, als er den Verschluß aufriß. Lohmann hatte recht - dies war nicht der Moment, mit einer Entziehungskur zu beginnen.
Es schmeckte so, wie er erwartet hatte - scheußlich -, aber die beruhigende Wirkung setzte fast augenblicklich ein. Das wahnsinnigmachende Kribbeln, das sich in seinen Gliedern eingenistet hatte, verebbte, nachdem er die Dose zur Gänze geleert hatte.
»Tut gut, nicht?«
Warstein sah auf und begegnete dem spöttischen Blick ihres Chauffeurs im Spiegel. Widerwillig nickte er.
»Nehmen Sie sich ruhig noch eins. Es ist genug da.«
Tatsächlich war er in Versuchung, abermals zum Kühlschrank zu greifen. Aber dann schüttelte er den Kopf. »Danke. Vielleicht später.«
»Nur keine Hemmungen. Ich muß das Zeug nicht bezahlen. Die Kiste ist ein Dienstwagen. Alles, was damit zu tun hat, geht auf Spesen.«
»Sie fahren die Strecke beruflich?« erkundigte sich Lohmann.
»Zweimal die Woche«, antwortete der Mann. »Aber seit sie diesen Scheißtunnel in die Luft gesprengt haben, macht es keinen Spaß mehr.« Er seufzte tief. »Ich verstehe das nicht. Anscheinend hat sich plötzlich die ganze Welt dazu entschlossen, nach Ascona zu pilgern.«
Lohmann antwortete irgend etwas darauf, aber Warstein hörte es schon gar nicht mehr. Die Wärme, der Alkohol und das sanfte Schaukeln des Wagens taten ihre Wirkung. Er schlief ein.
Rogler trank den vierten Kaffee innerhalb der letzten Stunde. Das Zeug schmeckte so, wie Automatenkaffee überall auf der Welt schmeckte, nämlich furchtbar, aber es war wenigstens heiß, und es hielt ihn wach. Nicht etwa, daß das nötig gewesen wäre. Er war nicht sicher, ob er jemals wieder würde schlafen können; nicht nach dem, was er gerade in dem Zimmer auf der anderen Seite des Flures gesehen hatte.
Der Zeiger der Wanduhr rückte um eine weitere Minute vor. Rogler warf den leeren Plastikbecher in den Papierkorb und kramte in seiner Jackentasche. Er hatte kein Kleingeld mehr; auch gut. Sein Magen würde es ihm danken. Rogler stand auf und begann unruhig auf dem Flur auf und ab zu gehen. Es war sehr still, viel zu still für ein Krankenhaus, das in weitem Umkreis die einzige Klinik mit einer halbwegs modernen Einrichtung war und normalerweise ständig unter chronischer Überbelegung litt. Franke hatte kurzerhand diese gesamte Abteilung räumen lassen - mit dem Ergebnis, das nun mindestens ein Dutzend Patienten auf den Fluren lag oder sich zusätzlich in ohnehin überbelegten Zimmern drängte. Niemand hatte protestiert. Und das war von allem vielleicht die größte Überraschung für Rogler gewesen - er wußte, was es hieß, sich mit einem Arzt anzulegen, der die Interessen seiner Patienten vertrat.
Rogler hielt in seinem ruhelosen Auf und Ab inne und betrachtete nachdenklich die beiden Türen auf der anderen Gangseite. Franke war vor einer halben Stunde hinter einer davon verschwunden. Er hatte Rogler nicht eingeladen, ihm zu folgen, aber er hatte auch nicht gesagt, daß er es nicht tun sollte. Und wenn er noch lange hier auf dem Korridor herumstand und den Uhrzeiger hypnotisierte, würde er wahrscheinlich noch den Verstand verlieren.
Die Tür wurde von innen geöffnet, gerade als Rogler sich überwunden und die Hand nach der Klinke ausgestreckt hatte. Franke trat heraus. Sein Gesicht wirkte eingefallen und grau, und unter seinen Augen lagen tiefe, dunkle Ringe. Zum ersten Mal, seit Rogler ihn kennengelernt hatte, sah er wirklich müde aus. Aber vielleicht war das, was er für Müdigkeit hielt, in Wahrheit auch ein Ausdruck tief eingegrabenen Schreckens. Er lächelte matt, als er Rogler erkannte. »Nun?« fragte Rogler.
Franke schüttelte den Kopf und zog leise die Tür hinter sich zu. »Nichts«, sagte er. »Er sagt kein Wort. Immer nur den Namen seiner Frau.« Er schloß für eine Sekunde die Augen und atmete tief und erschöpft ein und aus. »Ist das Fax gekommen, auf das ich warte?«
Rogler griff wortlos in die Jackentasche und reichte Franke einen verschlossenen DIN-A4-Umschlag. Eine Krankenschwester hatte ihn vor zwanzig Minuten gebracht. Franke riß ihn auf, überflog den Inhalt kurz und las das, was auf den drei Blättern stand, anschließend noch einmal und genauer. Außerdem enthielt der Umschlag mehrere Schwarzweißfotografien, von denen Rogler allerdings nur die Rückseiten erkennen konnte.
»Sie ist es«, sagte Franke müde.
»Wer?«
Franke wedelte mit seinen Papieren. »Das ist die Antwort auf meine Anfrage nach Rom. Fingerabdrücke, Zähne, Netzhautvergleich, genetischer Fingerprint ... das volle Programm. Es gibt überhaupt keinen Zweifel.« Er machte eine Kopfbewegung auf die Tür hinter sich. »Die Tote ist seine Frau.«
»Aber das ist doch nicht möglich!« protestierte Rogler. Es klang beinahe empört. »Die Frau ist keinen Tag älter als -«
»Ich weiß, wie alt sie ist«, unterbrach ihn Franke scharf. Leiser und in irgendwie resignierendem Ton fügte er hinzu: »Oder jedenfalls, wie alt sie war, ehe sie auf den See hinausgefahren sind. Der Arzt sagt, er hätte nie zuvor einen so alten Menschen gesehen. Hundertdreißig Jahre, mindestens.«
»Er war eben nicht mit im Tunnel«, sagte Rogler.
Franke starrte ihn an. Für einen ganz kurzen Moment war Rogler fast sicher, daß er zornig werden würde, aber dann seufzte er nur und schüttelte ein paarmal den Kopf. »Sie geben nicht auf, wie?«
»Sollte ich das denn?« fragte er.
»Ich bin nicht ganz sicher«, antwortete Franke nach kurzem Überlegen. »Ich glaube fast, nein. Aber ich kann Ihnen nichts sagen. Noch nicht.«
»Können Sie oder wollen Sie nicht?« fragte Rogler geradeheraus.
Frankes Antwort war genauso ehrlich. »Ich will nicht«, sagte er. »Aber nicht, weil ich glaube, daß es Sie nichts angeht. Sondern weil ich nicht sicher bin, daß es die Wahrheit wäre.«
»Es hat etwas mit dem Tunnel zu tun«, sagte Rogler, während sie die Abteilung verließen und zum Aufzug gingen. »Der Zug. Was dieser Frau passiert ist, ist auch dem Zug zugestoßen.« Obwohl er sich dagegen wehrte, stieg für einen Moment das Gesicht der Frau vor seinem geistigen Auge auf. Hundertdreißig Jahre? Ihm war es vorgekommen wie das Gesicht einer Tausendjährigen. Und das Schlimmste war: sie hatte noch gelebt, als ihr Mann sie aus dem Wasser gezogen hatte, und war erst auf dem Weg zum Ufer an den Folgen des Schocks und der Unterkühlung gestorben. Seit er das gehört hatte, plagte Rogler eine entsetzliche Vision: er fragte sich, ob für sie wirklich hundert Jahre vergangen waren - und ob sie vielleicht diese ganze Zeit bei vollem Bewußtsein erlebt und darauf gewartet hatte, daß die Welt rings um sie herum sich wieder bewegte. Natürlich konnte das nicht sein. Allein der bloße Gedanke war so entsetzlich, daß er sich einfach weigerte, ihn in Betracht zu ziehen. Wenn es so etwas wie die Hölle gab, dann war es das.
Franke trat hinter ihm in den Lift und wartete, bis sich die Türen geschlossen hatten, ehe er antwortete: »Ich denke ja.«
»Sie denken? Sie und Ihre Leute nehmen diesen Berg seit einer Woche Stück für Stück auseinander, Franke. Verkaufen Sie mich nicht für blöd! Sie müssen etwas herausgefunden haben!«
»Das haben wir«, bestätigte Franke. »Und mit jeder Entdeckung, die wir machen, verstehe ich weniger, was geschieht. Wahrscheinlich verstehen Sie das nicht, aber es ist die Wahrheit.«
Rogler schwieg. Abgesehen davon, daß ihn Frankes anmaßende Bemerkung ärgerte, verstand er sehr wohl, was der Wissenschaftler meinte. Seine und Frankes Arbeit unterschieden sich gar nicht so sehr. Sie beide begannen mit einer Frage und trugen geduldig Teil für Teil der Antwort zusammen, bis das Puzzle ein Bild ergab. Manchmal war dieses Bild falsch, und manchmal weigerten sich die Teile einfach, sich in der richtigen Reihenfolge zu ordnen. »Ich verspreche Ihnen, daß Sie der erste sind, der es erfährt, wenn ich die Antwort gefunden habe«, sagte Franke. »Solange muß ich Sie bitten, sich zu gedulden - und Ihre Terroristen zu jagen.«
»Sie wissen so gut wie ich, daß es keine Terroristen gibt«, sagte Rogler verärgert. Franke legte den Finger auf eine offene Wunde. Rogler hatte ihm immer noch nicht verziehen, daß er ihn zu dieser Farce gezwungen hatte.
»Und diese drei Palästinenser, die Ihre Leute vorgestern festgenommen haben?«
»Also gut«, räumte Rogler widerwillig ein. »Es gibt sie. Mittlerweile gibt es sie. Weil wir sie angelockt haben.«
»Sehen Sie?« sagte Franke in beinahe fröhlichem Ton. »Und Sie behaupten, Ihre Arbeit wäre sinnlos. Sie erweisen der ganzen Welt einen Dienst, indem Sie diese Verbrecher aus dem Verkehr ziehen.«
Für einen ganz kurzen Moment wäre Franke ihm beinahe sympathisch geworden, aber jetzt verspürte Rogler den fast unwiderstehlichen Drang, ihm die Faust ins Gesicht zu schlagen.
»Das, wozu Sie mich zwingen, ist schlimm genug, Doktor Franke«, sagte er mühsam beherrscht. »Lassen Sie es dabei. Es ist nicht nötig, mich auch noch zu verhöhnen.«
»Das wollte ich nicht.« Franke wirkte ehrlich betroffen. »Ich habe das ernst gemeint. Sie erweisen Ihrem Land einen großen Dienst mit dem, was Sie tun. Und wenn in diesem Berg wirklich das ist, was ich vermute, vielleicht nicht nur Ihrem Land.«
»Nein?« antwortete Rogler bissig. »Ich nehme an, Ihrem ebenfalls.«
»Ja«, sagte Franke mit großem Ernst. »Und der gesamten übrigen Menschheit auch.«
Der Winter war ungewöhnlich hart gewesen, aber auch ungewöhnlich kurz, und zum Ausgleich kam der Sommer im darauffolgenden Jahr früh und mit hohen Temperaturen, so daß sie binnen weniger als zwei Monaten die gefütterten Winterjacken gegen T-Shirts und Sonnenbrille eintauschen konnten. Die Situation auf der Baustelle hatte sich wieder normalisiert - zumindest äußerlich. Die Arbeiten liefen besser denn je, und selbst der Zwist zwischen Warstein und Franke war eingeschlafen; was nicht hieß, daß er vergessen wäre. Franke trug ihm sein unwissenschaftliches Benehmen noch immer nach, wie gelegentliche spitze Bemerkungen verrieten, und Warstein auf der anderen Seite hatte den Vertrauensbruch noch längst nicht überwunden, den Franke seiner Meinung nach begangen hatte. Der Konflikt war nie offen zum Ausbruch gekommen, aber er brodelte unter der Oberfläche scheinbarer Normalität weiter, und früher oder später würden sie die Angelegenheit klären. Wie es im Moment aussah, allerdings eher später, und das war Warstein nur recht. Er war nicht so naiv, sich nicht ausrechnen zu können, wer als Sieger aus dieser Auseinandersetzung hervorgehen würde. Er war in Sicherheit, solange Franke ihn brauchte.
Das Telefon summte. Der Laut riß Warstein aus seinen mehr oder weniger düsteren Zukunftsbetrachtungen zurück in eine Wirklichkeit, die sehr viel angenehmer war als seine Phantasien. Er kam mit seiner Arbeit besser voran denn je. Zu Frankes heimlichem Ärger funktionierte sogar sein Laser wieder einwandfrei.
Er hob ab, als sich das Telefon zum dritten Mal bemerkbar machte, und meldete sich. »Warstein?«
»Hartmann hier. Bitte entschuldigen Sie die Störung, Herr Warstein. Hätten Sie einen Moment Zeit?« Hartmann klang ein bißchen nervös, fand Warstein, vielleicht aber auch nur gestreßt. Obwohl sich die Situation im letzten halben Jahr nahezu wieder normalisiert hatte, hatte Franke die Sicherheitsbestimmungen im Lager nicht gelockert. Mittlerweile ging unter den Arbeitern die Legende, daß er insgeheim nur auf einen Zwischenfall wie den im Berg gewartet hatte, um die Baustelle endlich in ein Gefangenenlager verwandeln zu können. Warstein selbst ging nicht so weit wie mancher der Arbeiter zu behaupten, daß an Franke ein KZ-Kommandant verlorengegangen wäre. Aber mit Sicherheit ein guter Wächter.
»Selbstverständlich«, sagte er. »Worum geht es denn?«
»Sie müßten herkommen, fürchte ich«, antwortete Hartmann. »Ich bin am Eisenbahntor.«
Das klang ziemlich geheimnisvoll, fand Warstein. Vor allem, wenn er den nervösen Ton in Hartmanns Stimme bedachte. Aber er ersparte es sich, nach Einzelheiten zu fragen. Wenn Hartmann am Telefon darüber hätte reden wollen, hätte er es getan. »Ich komme«, sagte er. »Drei Minuten.« Er hängte ein, ohne sich zu verabschieden, und verließ das Büro. Auf dem Weg nach draußen kam ihm Franke entgegen. Er blickte fragend, sagte aber nichts, und Warstein beließ es bei einem angedeuteten Gruß und ging so schnell an ihm vorbei, daß Franke gar keine Gelegenheit fand, ihn anzusprechen. Es war nicht einmal vier, und Franke war äußerst kleinlich, was die Einhaltung der Arbeitszeit anging - jedenfalls in einer Richtung.
Warstein verließ die Baracke und trat in den hellen Sonnenschein hinaus. Ein sanfter Wind strich vom Tal her über die Baustelle, aber die Kühle, die er mit sich brachte, reichte nicht aus, die stickige Luft wirklich zu verbessern. So sehr sie alle den Sommer herbeigesehnt hatten, als das Lager im Winter unter Schnee und Eis nahezu erstickt war, so sehr wünschten sie sich jetzt ein wenig Linderung. Die Tunneleinfahrt lag in einem schmalen, aber an allen Seiten von hohen Bergen umgebenen Tal, in dem sich Luft und Hitze stauten. Die LKW und Baumaschinen taten ein übriges, um die Luftqualität zu verschlechtern. An Tagen wie heute, dachte Warstein, hätten sie von Rechts wegen wahrscheinlich Smogalarm auslösen müssen. Von klarer Bergluft jedenfalls gab es hier keine Spur.
Er blinzelte in das helle Licht, setzte dann seine Sonnenbrille auf und machte sich auf den Weg zum Tor. Die drei Minuten, von denen er gesprochen hatte, waren keine realistische Zahl gewesen; er mußte das Lager nahezu ganz durchqueren, um die Stelle zu erreichen, an der die Schienen durch den doppelten Maschendrahtzaun führten.
Hartmann erwartete ihn bereits ungeduldig. Und als Warstein die weißhaarige Gestalt sah, die ein Stück abseits zwischen zwei von Hartmanns Sicherheitsleuten stand, begriff er schlagartig den Grund für dessen Nervosität. Es war Saruter. Er trug Jeans, Turnschuhe und eine modische Lederjacke, aber trotz dieser so wenig zu einem Einsiedler passenden Kleidung hätte Warstein ihn unter Tausenden wiedererkannt.
»Wir haben ihn erwischt, als er versucht hat, sich ins Lager zu schleichen.« Hartmann sah ziemlich unglücklich aus. »Er besteht darauf, mit Franke zu reden. Aber ich hielt es für besser, erst einmal mit Ihnen zu sprechen.«
»Das war richtig«, antwortete Warstein. »Gut gemacht. Vielen Dank, Hartmann.«
Er trat auf Saruter zu und gab den beiden Männern, die ihn flankierten, einen Wink. »Es ist in Ordnung«, sagte er. »Ihr könnt ihn loslassen.«
Die beiden gehorchten, allerdings erst, nachdem sie einen fragenden Blick mit Hartmann getauscht hatten und dieser mit einem Nicken sein Einverständnis signalisiert hatte. Warstein wartete, bis sie außer Hörweite waren. Er sah auch Hartmann wortlos an, bis dieser verstand und sich ebenfalls trollte. Es gefiel ihm nicht, Warstein mit dem Alten allein zu lassen, das sah man ihm an. Keiner von ihnen glaubte im Ernst, daß der alte Mann irgendeine Gefahr darstellte; aber er war Hartmann unheimlich. »Haben sie Ihnen weh getan?« fragte Warstein, nachdem sie endlich allein waren.
Saruter massierte seine Arme, wo die Männer ihn gepackt hatten. »Sie tun ihre Arbeit. Es sind gute Männer.«
»Aber nicht gut genug für Sie.« Warstein seufzte. »Sie hätten nicht hierherkommen sollen.« Er warf einen Blick über die Schulter zu Hartmann und seinen Leuten zurück. Die beiden Männer waren gegangen, aber Hartmann selbst war in einiger Entfernung stehengeblieben und sah zu Saruter und ihm hin. Hartmann hatte nie ein Wort über ihren Besuch bei dem Alten verloren, aber Warstein wußte auch so, daß Saruter ihm nicht geheuer war. Vielleicht hatte er auch Angst vor ihm. Warstein jedenfalls hatte sie, tief in sich drinnen. Oder nein, das stimmte nicht. Er fürchtete ihn, aber das war ein Unterschied. »Was wollen Sie?« fragte er.
»Ich muß den Mann sprechen, der hier den Befehl hat.«
»Franke?« Warstein schüttelte beinahe erschrocken den Kopf. »Das ist keine gute Idee.«
»Ich muß mit ihm reden«, beharrte Saruter.
»Ich glaube nicht, daß er mit Ihnen reden möchte«, sagte Warstein. »Glauben Sie mir, Sie tun sich keinen Gefallen, wenn Sie darauf bestehen. Er ist ... kein sehr angenehmer Mensch.«
»Bring mich zu ihm«, beharrte Saruter. »Er wird mir zuhören. Und wenn er kein kompletter Narr ist, wird er verstehen, was ich ihm zu sagen habe.«
Warstein suchte verzweifelt nach Argumenten, um Saruter von seinem Entschluß abzubringen, mit Franke zu sprechen. In einem Punkt hatte er die Unwahrheit gesagt, und das ganz bewußt: Franke wollte keineswegs nicht mit Saruter sprechen. Ganz im Gegenteil brannte er geradezu darauf. Aber auf eine gänzlich andere Art, als Saruter ahnen mochte.
»Ich werde Sie nicht zu ihm bringen«, sagte er entschlossen.
»Oh doch, das wirst du.« Saruter machte eine Handbewegung, die keinen weiteren Widerspruch zuließ. »Und er wird mir zuhören.«
Warstein resignierte. Er wußte, daß nichts und niemand auf der Welt Saruter davon würde abbringen können, mit Franke zu reden. Aber er wußte auch, wie dieses Gespräch enden mußte. Vielleicht war es sogar besser, wenn es jetzt geschah. Möglicherweise konnte er das Schlimmste verhüten, wenn er dabei war.
»Also gut«, sagte er, »dann kommen Sie mit.« Er drehte sich herum und deutete auf das halbe Dutzend weißgestrichener Baracken am anderen Ende des umzäunten Plateaus. »Aber bitte denken Sie daran: Franke ist nicht so wie Hartmann, oder ich. Er ist -«
»Ich weiß, wie er ist«, unterbrach ihn Saruter. Er setzte sich in Bewegung, und plötzlich war es Warstein, der sich sputen mußte, ihm zu folgen, nicht umgekehrt.
»Sie kennen ihn?«
»Das ist nicht nötig, um zu wissen, was für ein Mensch er ist«, antwortete Saruter. »Du hältst ihn für schlecht, aber das ist er nicht. Er ist blind. Er sieht die Dinge, aber er will nicht erkennen, was er sieht.«
»Ich glaube nicht, daß er sehr begeistert ist, wenn Sie ihm das sagen«, murmelte Warstein; aber er tat es so leise, daß der alte Mann die Worte gar nicht verstand. Mit zwei schnellen Schritten schloß er zu Saruter auf, und er versuchte jetzt nicht mehr, ihn zum Umkehren zu bewegen. Doch er wußte schon jetzt, daß es ein Fehler war. Aus seinem unguten Gefühl wurde nahezu Gewißheit, als sie sich der Verwaltungsbaracke näherten.
Franke hatte sie bereits gesehen. Er stand unter der offenen Tür und blickte Saruter und ihm entgegen. Warstein versuchte aus der Entfernung vergeblich, den Ausdruck auf seinem Gesicht zu deuten, aber was ihm seine Züge nicht verrieten, das tat seine Haltung. Er stand auf jene aufgesetzt lockere Art da, die große Anspannung und ein längst nicht so großes Maß an Selbstbeherrschung verriet: die Arme vor der Brust verschränkt und scheinbar lässig gegen den Türrahmen gelehnt. Es war gewiß kein Zufall, daß er sich genau in dem Moment herumdrehte und ins Haus zurückging, in dem Warstein nahe genug heran war, etwas zu sagen.
»Ist er das?« fragte Saruter.
»Doktor Franke, ja.« Warstein nickte. »Hören Sie - Sie sagen am besten gar nichts und überlassen mir das Reden.«
Saruter lächelte nur, und plötzlich kam sich Warstein ziemlich albern vor. Mit Grund. Er benahm sich wie ein Schüler, der einen Freund nach Hause brachte, von dem er wußte, daß er etwas ausgefressen hatte, so daß ihn ein gehöriges Donnerwetter erwartete. Außerdem wußte er nicht einmal, was er sagen sollte. Wie sich zeigte, war das auch gar nicht notwendig. Zumindest für den ersten Teil ihres Gespräches übernahm Franke das Reden.
Er erwartete sie in seinem Büro, und eigentlich hätte er außer Atem sein müssen, denn er mußte hierhergerannt sein, um die Szene so perfekt zu stellen: sein Schreibtisch war tadellos aufgeräumt. Das Telefon, das Computerterminal und die Bücher darauf perfekt arrangiert. Vor ihm lag eine aufgeschlagene Mappe, auf deren erster Seite ein großformatiges Farbfoto glänzte. Warstein fragte sich, wen er eigentlich damit beeindrucken wollte. Zumal er sich im Moment ihres Eintretens vollends zum Narren machte, indem er so tat, als hätte er konzentriert in seiner Mappe gelesen und mit gespielter Überraschung von seiner Lektüre aufsah.
»Oh, Warstein. Was gibt es denn?« Er klappte den Hefter zu und sah Saruter an. »Besuch?« Das letzte Wort klang schon weniger freundlich.
»Wir müssen mit Ihnen reden«, antwortete Warstein. Er deutete auf seinen Begleiter. »Das ist -«
»Ich denke, ich weiß, wer das ist«, unterbrach ihn Franke. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und betrachtete den Alten einige Sekunden lang, stumm und mit undeutbarem Ausdruck. »Also?« sagte er schließlich.
Warstein wollte antworten - obwohl er immer noch nicht wirklich wußte, was -, aber Saruter kam ihm zuvor. »Sie müssen aufhören«, sagte er.
Franke und Warstein blickten ihn gleichermaßen überrascht an. Der alte Mann hatte eine ziemlich direkte Art, zum Thema zu kommen.
»Aha«, sagte Franke nach einer Weile. »Und ... womit, wenn ich fragen darf?«
»Ihr müßt gehen«, antwortete Saruter. »Sofort. Ihr habt den Berg geweckt, und er zürnt. Er wird euch vernichten, wenn ihr bleibt. Ich bin gekommen, um euch zu warnen.«
Für eine Sekunde sah Franke ehrlich verblüfft aus, während Warstein den heftigen Wunsch verspürte, im Boden zu versinken. Er hatte geahnt, daß Saruter irgend etwas in dieser Art vorbringen würde, aber er hätte ihm eine Spur mehr diplomatischen Feingefühls zugetraut.
Franke seufzte. »Sie sind also der Mann, der uns alle verflucht hat, weil wir seinen Berg entweiht haben«, sagte er. »Ich gestehe, daß ich neugierig war, Sie kennenzulernen. Sie entsprechen genau meinen Erwartungen, wissen Sie das?« Er drehte sich zu Warstein herum. »Darf ich fragen, wie Ihr ... Freund hierherkommt?«
»Hartmanns Leute haben ihn am Zaun aufgegriffen«, antwortete Warstein. »Er wollte zu Ihnen, und -«
Franke unterbrach ihn mit einer unwilligen Geste, griff zum Telefon und tippte eine dreistellige Nummer ein. Er hatte den Lautsprecher nicht eingeschaltet, aber er polterte ganz offensichtlich los, ohne seinem Gesprächspartner auch nur die Gelegenheit zu geben, sich zu melden. »Hartmann? Franke hier. Bitte kommen Sie in mein Büro.«
»Es war nicht seine Schuld«, sagte Warstein. »Ich habe -«
Wieder schnitt ihm Franke mit einer herrischen Geste das Wort ab. »Und nun zu Ihnen«, sagte er, an Saruter gewandt. Seine Stimme war plötzlich kalt, schneidend. »Sie glauben also allen Ernstes, wir würden jetzt einfach so unsere Zelte abbrechen und gehen. Die Maschinen abschalten und verschwinden. Warum sollten wir das tun?«
Saruter setzte zu einer Antwort an, aber Franke hatte offensichtlich gar nicht vorgehabt, ihn zu Wort kommen zu lassen.
Mit einer ruckartigen Bewegung stand er auf und trat an die großformatige Landkarte, die die Wand hinter seinem Schreibtisch zierte.
»Glauben Sie nicht, daß ich Sie nicht verstehe«, fuhr er fort - allerdings noch immer in einem Ton, der kein bißchen zu seinen Worten paßte. »Diese Landschaft hier, diese Berge, dieses Stück der Welt ist ... einmalig. Auch ich liebe dieses Land - das ist der Grund, aus dem ich hier bin. Wir werden ihm nichts antun, das verspreche ich Ihnen. Im Moment sieht es hier schlimm aus, aber Sie haben mein Wort, daß wir dieses Tal und Ihren Berg so verlassen werden, wie wir ihn vorgefunden haben.«
»Darum geht es nicht«, sagte Saruter, aber Franke redete einfach weiter, ohne seinen Einwurf auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Warstein begann allmählich zu begreifen, daß er wohl so etwas wie eine gut vorbereitete Rede zum besten gab, die er sich eigens für diesen Zweck zurechtgelegt hatte.
»Sie glauben wahrscheinlich, daß wir diesem Land weh tun. Aber das stimmt nicht. Wir bauen einen Tunnel durch einen Berg, das ist alles. Die Eisenbahnverbindung wird ein Segen für dieses Land werden. Die Hälfte der Automobile, die sich jetzt über die Paßstraße quälen und mit ihren Abgasen die Luft verpesten, wird...«
»Hören Sie auf, Unsinn zu reden«, sagte Saruter. »Und behandeln Sie mich nicht wie einen Narren. Das bin ich nicht. So wenig wie Sie.«
Franke blinzelte. Was immer er von Saruter erwartet hatte - das nicht. »Wie?« sagte er verstört.
»Ich bin kein dummes Kind, und ich schätze es nicht, wenn man mich so behandelt«, fuhr Saruter verärgert fort. »Ich weiß den Nutzen dieser Eisenbahnlinie ebenso zu schätzen wie Sie, Herr Doktor Franke. Menschen haben zu allen Zeiten Straßen gebaut und Tunnel gegraben. Ich glaube nicht, daß es die Berge stört. Irgendwann werden eure Straßen und Brücken verschwunden sein, aber sie sind dann immer noch da.«
»Aber wenn es das nicht ist, was Sie stört, was...«
»Ich bin hier, um euch zu warnen«, sagte Saruter.
»Und wovor?« fragte Franke lauernd. Er setzte sich wieder.
»Vor dem Zorn des Berges«, antwortete Saruter mit großem Ernst. »Ihr habt an Dinge gerührt, die seit Urzeiten geschlafen haben. Nun sind sie erwacht.«
»Oh, ich verstehe«, sagte Franke spöttisch. »Sie meinen so etwas wie den Geist des Berges, richtig? Er ist zornig, weil wir sein Haus kaputtgemacht haben, und jetzt kommt er herunter und wird uns alle vernichten.«
»Sie sind ein Dummkopf«, sagte Saruter ruhig. Er deutete auf Warstein. »Er hat Sie gewarnt, oder? Er hat Ihnen gesagt, was geschehen ist, aber Sie wollten es nicht hören.«
Warstein fuhr sichtbar zusammen, und Franke starrte ihn eine Sekunde lang auf eine Art und Weise an, die deutlich machte, daß das Thema damit noch lange nicht beendet war.
»Wenn Sie damit all diesen Unsinn meinen...«
»Es ist kein Unsinn«, unterbrach ihn der Alte. »Und Sie wissen es.«
»Quatsch!« sagte Franke. Aber es klang nicht ganz überzeugt.
»Sie wissen, daß es die Wahrheit ist«, sagte Saruter noch einmal. »Jedes einzelne Wort. Sie haben es immer gewußt.«
»Jetzt reicht es!« sagte Franke zornig. »Ich habe versucht, ruhig mit Ihnen zu reden. Ich hätte Sie verhaften lassen können - schon vergangenes Jahr. Ich wollte es nicht, aus Rücksicht auf Sie und aus Rücksicht auf ihn...« Er deutete auf Warstein. »...aber allmählich beginne ich mich zu fragen, ob das nicht ein Fehler war. Was zum Teufel wollen Sie überhaupt? Mir drohen?«
Warstein folgte dem Streit mit immer größerer Verwirrung. Auch er stellte sich die gleiche Frage wie Franke - nämlich die, warum Saruter überhaupt gekommen war. Aber das war nicht alles - längst nicht. »Was hat er damit gemeint - Sie wissen, daß ich recht habe?« fragte er.
»Halten Sie die Klappe, Warstein«, fuhr ihn Franke an. »Wir unterhalten uns später. Und Ihnen...« er drehte sich wieder zu Saruter herum, »...gebe ich noch genau eine Minute, mir zu sagen, was Sie von mir wollen.«
»Nicht mehr, als daß Sie tun, was Sie im Grunde längst wissen«, antwortete Saruter. »Sie sind der Verantwortliche hier. All diese Männer, die für Sie arbeiten, haben Ihnen ihr Wohlergehen anvertraut. Wollen Sie wirklich ihr Leben riskieren?«
»Wovon zum Teufel sprechen Sie?« Franke schrie jetzt fast.
»Von dem, was in diesem Berg ist«, antwortete Saruter. »Ihr habt es geweckt, und es wird stärker, mit jedem Tag. Etwas wird geschehen. Ich weiß nicht was, aber ich spüre eine große Gefahr. Sie müssen gehen. Verlassen Sie diesen Ort, oder viele Menschen werden sterben.«
»Endlich kommen Sie zur Sache.« Franke schüttelte den Kopf. »Sie haben es wirklich spannend gemacht, guter Mann, aber Sie verschwenden Ihre Zeit - und übrigens auch meine. Ich reagiere nicht auf Drohungen.«
»Ich glaube nicht, daß das eine Drohung sein soll«, begann Warstein vorsichtig, brach aber sofort wieder ab, als ihn ein eisiger Blick Frankes traf.
»Warum verstellen Sie sich?« fuhr Saruter fort. »Sie spüren es doch auch, so deutlich wie alle hier.«
»Was?« fragte Franke.
»Ihr habt das Siegel gebrochen«, antwortete Saruter. »Das Tor öffnet sich. Noch ist es nur ein Spalt, aber es wird weiter aufgehen. Was ihr bisher gespürt habt, war nur ein Hauch, aber er wird zum Sturm werden, der euch alle verschlingen kann.«
»Tor? Siegel?« Franke lachte. »Fällt Ihnen eigentlich nicht sogar selbst auf, wie lächerlich das klingt?«
Saruter schnaubte. Bisher war er trotz allem ruhig geblieben, aber nun geriet er von einer Sekunde auf die andere in Zorn. »Fällt Ihnen nicht selbst auf, wie dumm Sie sich anhören?« fragte er. »Und überheblich, das ist vielleicht noch schlimmer. Sie wissen längst, daß Sie auf etwas gestoßen sind, was Sie nicht verstehen, aber Sie weigern sich, es zuzugeben. Kommen Sie!« Er trat ans Fenster und machte eine herrische Bewegung, und obwohl sich Frankes Gesicht vor Zorn verdüstert hatte, stand er auf und trat neben ihn.
»Ich werde Ihnen die Geschichte dieses Berges erzählen«, fuhr Saruter fort. Er deutete nach draußen, auf den steinernen Riesen, der das Lager überragte und schweigend auf sie herabblickte. »Solange es Menschen gibt, gab es stets viele, die ahnungslos waren, und wenige, die wußten. Und manchmal solche, die wußten, aber die Augen vor der Wahrheit verschlossen, wie Sie.«
»Genug«, sagte Franke. Seine Stimme zitterte. Er war kalkweiß im Gesicht geworden. Was ihn erschreckt hatte, waren kaum Saruters wenige Worte gewesen. Es war etwas, das mit ihnen in den Raum gekommen war, etwas Düsteres, Uraltes, das vom Berg ausging und den Worten des alten Mannes Wahrhaftigkeit verlieh. »Ich will nichts mehr von diesem Unsinn hören. Wir sind hier nicht im Kindergarten.«
»Macht es Ihnen angst?« fragte Saruter.
»Unsinn«, antwortete Franke. Feiner Schweiß perlte auf seiner Stirn. Er versuchte, seinen Blick vom Berg zu lösen, aber es gelang ihm ebensowenig wie Warstein.
»Aber das sollte es«, sagte Saruter. »Niemand weiß, was es ist, aber es ist da, seit es Menschen auf dieser Welt gibt, und es wird noch da sein, wenn es sie nicht mehr gibt. Ihr habt es geweckt. Es ist nicht eure Schuld. Ihr wußtet es nicht besser, und hätte ich euch gewarnt, hättet ihr mich nicht verstanden. Jetzt aber wißt ihr. Ihr müßt aufhören. Ihr habt das Tor aufgestoßen. Vielleicht wird es sich wieder schließen, aber nur, wenn ihr damit aufhört, es weiter zu öffnen.«
»Was für ein Tor?« fragte Warstein. »Was liegt dahinter? Wohin führt es?«
»Die Wirklichkeit«, antwortete Saruter. »Die letzte Wahrheit.«
Die Tür wurde geöffnet, und die unwirkliche Atmosphäre zerplatzte im gleichen Moment, in dem Hartmann eintrat. Der Berg war plötzlich wieder nur ein Berg, mehr nicht, und die Welt der Legenden und Mythen hörte auf, die Wirklichkeit zu verdrängen.
»Sie haben mich gerufen?« sagte er.
Franke starrte ihn an, als wüßte er im ersten Moment nichts mit ihm anzufangen. Gleichzeitig wirkte er aber auch erleichtert. »Ja, das ist richtig.« Er ging zurück zu seinem Sessel und ließ sich hineinfallen, wodurch er seinen Schreibtisch wie ein Bollwerk aus Normalität und klaren Linien zwischen sich und das brachte, was mit Saruter hereingekommen war. Seine rechte Hand strich mit kleinen, nervösen Bewegungen über das kühle Metall, während er mit der anderen auf Saruter deutete.
»Sie wissen, wer dieser Mann ist, Herr Hartmann?« Hartmann nickte. Seine Haltung versteifte sich. »Und ich nehme an, Sie erinnern sich auch an meine eindeutige Anweisung, was den Aufenthalt von Fremden auf dem Betriebsgelände angeht?«
»Wir haben ihn aufgegriffen, bevor er das Gelände betreten hat«, verteidigte sich Hartmann.
»Nun, jetzt steht er vor mir, oder?«
»Es ist nicht seine Schuld«, mischte sich Warstein ein. »Er sagt die Wahrheit. Seine Männer haben ihn aufgehalten, als er durch das Eisenbahntor kommen wollte. Ich habe gesagt, daß sie ihn durchlassen sollen.«
Franke maß ihn mit einem kurzen, kühlen Blick und wandte sich dann wieder an Hartmann. »War meine Anweisung nicht deutlich genug?«
»Doch«, sagte Hartmann.
»Sind Sie dann vielleicht der Meinung, daß Herr Warstein mehr zu sagen hat als ich? Ich kann Ihnen versichern, daß dem nicht so ist.«
»Hören Sie auf, Franke!« sagte Warstein. »Er kann nichts dafür. Es war meine Schuld.«
Franke ignorierte ihn einfach. »Sie können gehen, Hartmann«, sagte er. »Für diesmal werde ich die Sache vergessen. Aber sollten Sie Ihre Pflichten noch einmal so vernachlässigen wie heute, sehe ich mich gezwungen, Ihnen zu kündigen. Haben wir uns verstanden?«
»Klar und deutlich«, antwortete Hartmann mit steinernem Gesicht.
»Gut.« Franke deutete auf Saruter. »Und nun begleiten Sie unseren Gast zum Tor. Wir wollen doch nicht, daß er am Ende noch zu Schaden kommt.« Er wedelte ungeduldig mit der Hand. »Sie können gehen.«
Hartmann wandte sich zur Tür und streckte die Hand aus, um Saruter am Arm zu ergreifen. Saruter sah ihn nur schweigend an, und er senkte die Hand wieder. »Sie sind ein Narr«, sagte Saruter, ganz ruhig und an Franke gewandt. »Was immer jetzt geschehen mag, ist Ihre Schuld.«
»Ich denke, ich kann damit leben«, versicherte Franke lächelnd. »Gehen Sie. Und sollte ich Sie noch einmal auf dem Betriebsgelände antreffen, lasse ich Sie verhaften.«
Saruter sagte nichts mehr dazu, sondern verließ zusammen mit Hartmann den Raum. Warstein wollte ihnen folgen, aber Franke rief ihn zurück.
»Sie haben mich sehr enttäuscht, Warstein«, sagte er. »Ich dachte, Sie hätten die Geschichte vom letzten Jahr endlich überwunden und wieder Vernunft angenommen, aber das scheint nicht so zu sein. Ich werde mir überlegen müssen, ob ein Mitarbeiter wie Sie noch länger tragbar ist.«
Warstein beherrschte sich nur noch mit Mühe. Seine Gedanken kreisten immer noch um das, was Saruter gesagt hatte. »Schmeißen Sie mich raus, wenn es Ihnen Spaß macht«, sagte er. »Aber vorher erklären Sie mir, was er gemeint hat, als er sagte, Sie wüßten es.«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagte Franke. »Das dumme Gerede eines verrückten alten Mannes.«
»Sie lügen!« behauptete Warstein. »Sie haben sich meine Aufzeichnungen sehr genau angesehen, nicht wahr? Sie wissen, daß in diesem Berg etwas ist.«
»Ein Zaubertor, sicher«, antwortete Franke spöttisch.
»Nennen Sie es, wie Sie wollen!« sagte Warstein erregt. »Irgend etwas geht hier vor. Irgend etwas ist in diesem Berg, das wir nicht verstehen. Und Sie -«
»Das reicht jetzt endgültig!« unterbrach ihn Franke. »Ich will nichts mehr davon hören. Kein Wort, weder jetzt noch irgendwann. Gehen Sie wieder an Ihre Arbeit.«
»Aber...«
»Sofort!«
Warstein starrte ihn noch eine Sekunde lang zornig an, ehe er sich mit einem Ruck herumdrehte und aus dem Zimmer stürmte. Sein Puls raste. Er hatte es gewußt. Tief in sich hatte er die ganze Zeit über gewußt, daß Franke ihn belog. Er verstand nur nicht, warum.
Er ging nicht zurück an seine Arbeit, wie Franke ihm befohlen hatte, sondern verließ im Sturmschritt das Gebäude. Hartmann und Saruter hatten bereits den halben Weg zum Tor zurückgelegt, als er ins Freie trat. Warstein wollte nicht nach ihnen rufen, so daß er beinahe gezwungen war zu rennen, um sie einzuholen. Trotzdem hatten sie das Tor erreicht, ehe er bei ihnen ankam. Hartmann sah ihn mit einer Mischung aus Trauer und einem ganz leisen Vorwurf an. Er sagte nichts.
»Es ... es tut mir leid«, begann Warstein. »Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen, Hartmann. Franke ist ein Idiot.«
»Er hat recht«, sagte Hartmann achselzuckend. »Seine Anweisung war klar. Ich habe meine Pflichten vernachlässigt.«
»Er ist ein Idiot«, wiederholte Warstein. »Sie wissen genau, daß das im Grunde mir galt. Machen Sie sich keine Sorgen - ich bringe die Sache in Ordnung.« Er drehte sich zu Saruter um. »Ich begleite Sie noch ein Stück.«
Saruter nickte, aber Hartmann sah plötzlich noch unglücklicher aus als bisher. »Keine Sorge.« Warstein deutete auf die Straße auf der anderen Seite des Maschendrahtzaunes. »Dort drüben endet Dschingis-Frankes Macht. Ich überzeuge mich nur davon, daß er auch wirklich geht.«
Hartmann wirkte nicht sehr überzeugt, aber er drehte sich schließlich doch herum und ging.
»Es tut mir wirklich leid«, sagte Warstein leise. »Aber ich habe Sie gewarnt. Man kann mit Franke nicht reden. Sie haben ja gesehen, wie er ist.«
»Er ist, wie er ist«, antwortete Saruter. »Niemand kann aus seiner Haut.«
Warstein deutete auf das Tor. »Kommen Sie, gehen wir noch ein paar Schritte.« Sie verließen das Gelände und begannen die leicht abschüssige Straße hinunterzugehen. »Das Tor«, sagte Warstein nach einer Weile. Er hatte gehofft, daß der alte Mann das Gespräch von sich aus eröffnen würde, aber das geschah nicht. »Was wird geschehen, wenn es sich weiter öffnet?«
»Das weiß niemand«, antwortete Saruter. »Die Welt wird sich hindurchbewegen, doch keiner weiß, was jetzt auf der anderen Seite liegt.«
»Wird sie ... untergehen?« fragte Warstein zögernd.
Saruter lächelte. »Nein«, antwortete er. »Ich glaube nicht. Aber sie wird ... anders sein. Vielleicht nur eine Winzigkeit, vielleicht so fremd, daß wir nicht mehr in ihr leben können. Es ist schon geschehen. Mehr als einmal.«
Warstein blieb mitten in der Bewegung stehen und sah den Alten zweifelnd an. »Aber davon müßte doch jemand wissen.«
»Und wer sagt dir, daß es nicht so ist?« Saruters Stimme hörte sich zugleich ernst und leicht belustigt an. »Die Menschen erinnern sich an vieles, wovon sie nichts zu wissen glauben - oder wissen wollen.«
»Und es gibt keine Möglichkeit, es aufzuhalten?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Saruter erneut. »Seit es Menschen gibt, gibt es welche, die um das Tor wissen und darüber wachen. Auf der anderen Seite des Berges, an einem Ort, den die Menschen heute Monte Veritas nennen, liegt ein uraltes keltisches Heiligtum, wußtest du das?«
Warstein nickte. Er war schon dort gewesen, aber es hatte sich als Enttäuschung herausgestellt - ein Haufen moosbedeckter Steine, mehr nicht.
»Früher war es die Aufgabe der Druiden, darüber zu wachen und dafür zu sorgen, daß es nicht zur Unzeit geöffnet wird. Aber dieses Wissen ist uralt und zum allergrößten Teil verlorengegangen. Es gibt keine Druiden mehr.«
»Bis auf einen«, vermutete Warstein.
Saruter lächelte.