14

Lohmanns Schätzung hatte sich als genau das erwiesen, was Warstein gleich vermutet hatte - als viel zu optimistisch. Sie waren nicht annähernd so schnell vorangekommen, wie er behauptet hatte. Der Verkehr war selbst auf den Seitenstraßen noch so dicht, daß Warstein mehr als einmal das Gefühl gehabt hatte, überhaupt nicht mehr von der Stelle zu kommen; und einmal hatten sie tatsächlich kehrtgemacht und waren gute zehn Kilometer zurückgefahren, um einen anderen Weg zu suchen. Die Stimmung im Wagen war immer gedrückter geworden, je weiter sie sich ihrem Ziel näherten. Und immer ruhiger. Keinem von ihnen war nach Reden zumute gewesen; sie alle waren mit ihren eigenen, ganz persönlichen Gedanken beschäftigt, in denen vielleicht auch die jeweils anderen eine Rolle spielten, aber wahrscheinlich keine besonders große. Und wahrscheinlich waren es auch keine besonders angenehmen Gedanken.

Für Warstein jedenfalls wurde diese letzte Etappe der Reise zur Qual. Das - im Grunde ohnehin nur aus Schadenfreude bestehende - Gefühl der Euphorie, das seinem Entschluß gefolgt war, den Spieß herumzudrehen und nun Lohmann hereinzulegen, hatte nicht lange vorgehalten. Der Gedanke war sowieso nicht sehr realistisch gewesen. Lohmann war vielleicht ein Idiot, aber kein Dummkopf, und in dem Spiel war er Warstein hoffnungslos überlegen. Und Warstein war auch gar nicht mehr sicher, ob er das wirklich wollte. Auch wenn er noch nicht so weit war, es sich einzugestehen: die Dinge hatten längst ein Eigenleben entwickelt, und es lag wahrscheinlich gar nicht mehr in seiner Hand, irgend etwas zu ändern. Er bestimmte nicht mehr, was geschah, sondern das Geschehen bestimmte, was er tat.

Sie folgten der Eisenbahnlinie nach Osten gute drei Stunden weit - was bei dem Tempo, das die verstopften Straßen zuließen, deutlich weniger als hundert Kilometer bedeutete -, dann wichen sie endgültig von der Hauptstrecke ab und drangen in die Berge vor. Die Straßen wurden noch schlechter, und obwohl sie dem Verkehr entronnen waren, kamen sie noch langsamer voran. Die Straße zum Nufenenpaß hinauf war schon damals, vor drei Jahren, erbärmlich gewesen. Seither hatte niemand einen Finger gerührt, um sie zu verbessern, und das schlechte Wetter der letzten Tage hatte das seinige dazugetan, sie vollends zu einer Katastrophe zu machen. Dazu kamen der strömende Regen und die geschlossene Wolkendecke, die für nahezu vollkommene Dunkelheit sorgten, und als gewissermaßen krönender Abschluß der Umstand, daß ihr Wagen vielleicht bequem, aber für eine Expedition ins Gebirge denkbar ungeeignet war. Warstein war mehr als einmal sicher, daß sie auf der schlammigen, steil aufwärts führenden Strecke einfach steckenbleiben würden, und je mehr sie sich dem Paß näherten, desto froher war er über die Dunkelheit, in der sich das Licht ihrer Scheinwerfer schon nach wenigen Metern verlor. Er war diese Strecke vor einigen Jahren einmal gefahren - bei gutem Wetter, hellem Tageslicht und in einem Wagen, der für eine Umgebung wie diese gedacht war - und hatte schon damals Blut und Wasser geschwitzt, denn die Straße schlängelte sich über weite Strecken an einer steil aufragenden Felswand entlang: senkrecht emporstrebender, spiegelglatter Granit auf der einen und ein fünfzig oder auch hundert Meter tiefer Abgrund auf der anderen Seite. Das schwarze Nichts, in das das Licht der Halogenscheinwerfer manchmal fiel, wenn sie einer Kehre folgten, war tatsächlich ein Nichts, dem bei der geringsten Unachtsamkeit ein tödlicher Sturz folgen mußte.

»Was machen wir eigentlich, wenn sie diese Straße auch gesperrt haben?« fragte Angelika plötzlich. Obwohl ihre Worte eigentlich nur ein weiterer Grund zur Sorge waren, erfüllten sie Warstein fast mit Erleichterung, denn sie lenkten ihn wenigstens für einen Moment ab.

»Das haben sie nicht«, behauptete Lohmann. »Kaum jemand kennt diesen Paß. Er ist ja nicht einmal auf jeder Karte eingezeichnet.«

»Ich kenne ihn«, sagte Warstein. »Und ungefähr dreihundert andere auch, die mit am Tunnel gearbeitet haben. Einer davon heißt Franke.«

»Und? Was glaubt ihr, was er gemacht hat? Das ganze Tessin abgesperrt?«

»Vielleicht«, antwortete Warstein ernsthaft.

Lohmann zog verärgert die Augenbrauen zusammen. »Ach verdammt, ihr beiden solltet in den Club der Pessimisten eintreten«, sagte er. »Ich bin sicher, sie nehmen euch als Ehrenmitglieder auf.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage«, sagte Angelika nervös.

»Und ich denke auch nicht daran, sie zu beantworten«, gab Lohmann scharf zurück. »Ich glaube nicht, daß er gesperrt ist, basta. Nicht eher, als ich es sehe. Wenn man immer gleich das Schlimmste unterstellt, braucht man erst gar nichts anzufangen.«

»Aber unter Umständen bewahrt es einen vor einer bösen Überraschung«, sagte Warstein.

Lohmann warf ihm einen schrägen Blick zu, aber er setzte die Diskussion nicht fort - schon, weil er seine ganze Konzentration brauchte, um den Wagen auf der Straße zu halten. Die Sommerreifen drehten auf dem schlammigen Untergrund immer wieder durch, und sie hatten schon ein paarmal den Halt verloren und waren ein Stück weit zurück oder zur Seite gerutscht, ehe die Räder wieder irgendwo Halt gefunden hatten.

»Wie weit ist es eigentlich noch?« fragte Lohmann nach einer Weile.

»Keine Ahnung«, gestand Warstein.

»Ich denke, Sie kennen diese Strecke?« fragte Lohmann.

»Ich war ein paarmal hier, ja«, erwiderte Warstein. »Tagsüber. Und nicht mitten in der Sintflut. Aber ich glaube nicht, daß es noch sehr weit ist.«

»So, glauben Sie«, brummte Lohmann. »Fein.«

Warstein überlegte eine Sekunde, ob er ihm verraten sollte, daß das schwierigste Stück der Strecke noch vor ihnen lag, auf der anderen Seite des Passes. Aber er entschied sich dagegen. Auch wenn es ihm eine fast kindische Freude bereitete, Lohmann zu ärgern. Aber er war ihr Fahrer, und ihr aller Leben lag in seinen Händen, im eigentlichen Sinne des Wortes: seine Hände, die das Steuer umklammert hielten, hatten zu zittern begonnen. Er hielt das Lenkrad so fest, daß Warstein eher den Eindruck hatte, er klammere sich daran fest, und man konnte deutlich sehen, wieviel Kraft es ihn trotz der Servolenkung kostete, den Wagen in der Spur zu halten.

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, fragte Angelika in diesem Moment: »Wie geht es auf der anderen Seite weiter?«

Warstein zögerte einen Moment, dann antwortete er: »Schwieriger, fürchte ich. Aber nicht mehr so gefährlich.«

Lohmann sagte nichts, aber Angelika fuhr sichtbar zusammen, und ihr ohnehin bleiches Gesicht verlor noch mehr Farbe. Gefährlich? Sie sprach die Frage nicht aus, aber sie stand deutlich in ihren Augen geschrieben, und Warstein begriff erst in diesem Moment, daß sie bisher noch gar nicht auf den Gedanken gekommen war, die Fahrt hinauf zum Paß könnte in irgendeiner Weise gefährlich sein.

»Es gibt oben auf dem Paß einen kleinen Parkplatz«, fuhr er rasch fort, nur, um überhaupt etwas zu sagen und Angelika so keine Gelegenheit zu geben, eine entsprechende Frage zu stellen. Sie war nervös genug. »Vielleicht sollten wir dort eine kleine Pause einlegen.«

»Eine gute Idee«, pflichtete ihm Lohmann bei. Er drehte für eine Sekunde den Kopf, um zu Angelika zurückzublicken. »Sie könnten uns einen Kaffee kochen. Ich glaube, den brauche ich jetzt.«

»Gern«, antwortete Angelika. »Einer von uns könnte Sie ablösen. Wenigstens für ein Stück.«

Lohmann schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig. Ich bin voll da. Nur ein kleines bißchen müde. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin schon schlimmere Strecken gefahren.«

Zum Beispiel mit einem Hundeschlitten durch die Sahara, dachte Warstein spöttisch. Aber er behielt auch diese Bemerkung vorsichtshalber für sich. Wenn alles weiter so gut - oder so schlecht - lief wie jetzt, hatten sie noch mindestens anderthalb Stunden Fahrt vor sich, bis sie den Berg erreichten. Und ein angespannter Lohmann war schon schwer genug zu ertragen. Er mußte keinen verärgerten Lohmann daraus machen.

Sie fuhren noch zehn Minuten, bis sie die Paßhöhe erreichten und der Parkplatz vor ihnen auftauchte, von dem Warstein gesprochen hatte. Er war verlassen, aber in dem aufgeweichten Boden waren Reifenspuren zu sehen. Es konnte noch nicht lange her sein, daß ein Wagen hiergewesen war. Der Gedanke gefiel Warstein nicht. Niemand, der nicht unbedingt mußte, würde sich bei diesem Wetter hierher verirren.

Lohmanns Überlegungen schienen in die gleiche Richtung zu gehen, denn er musterte die tief eingegrabenen Reifenspuren besorgt, während er den Wagen auf eine halbwegs feste Stelle rangierte, an der sie nicht Gefahr liefen, einzusinken und nicht weiterfahren zu können. Trotzdem gab er sich alle Mühe, so zu tun, als hätte er die Spuren nicht bemerkt, und Warstein akzeptierte dies. Manchmal war es vielleicht tatsächlich das Beste, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen.

Lohmann schaltete den Motor aus und ließ sich mit einem erschöpften Seufzen im Sitz zurücksinken, das seine Behauptung, nur ein bißchen müde zu sein, Lügen strafte. Während sich Angelika wortlos erhob, um Kaffee zu kochen, zog Warstein die Karte aus dem Handschuhfach und faltete sie auseinander. Es war keine sehr gute Karte. Der Paß und die Straße hier herauf waren zwar eingezeichnet, aber alles, was dahinter lag, bot sich ihm im trüben Licht der Innenbeleuchtung nur als grüngraues Durcheinander dar. Viel mehr war es auch nicht. Der Tunnel, der dem Verkehr um Locarno und Ascona die lang ersehnte Erleichterung gebracht hatte, hatte dem diesseitigen Teil des Berges den endgültigen Todesstoß versetzt. Es gab ein paar kleine Ortschaften - ein Dutzend Häuser und eine Kirche zumeist -, die nicht einmal auf einer Karte zu finden waren, und einige einsam gelegene Gehöfte, aber der auch damals schon spärliche Verkehr, der sich durch diesen Teil der Berge gequält hatte, mußte seit der Eröffnung der Gridone-Verbindung vollends zum Erliegen gekommen sein.

»Sie wissen noch, wo wir sind?« fragte Lohmann spöttisch.

Warstein sah nicht von der Karte auf, aber er nickte. »Ich wollte nur... Ich habe überlegt, wie lange wir noch brauchen.«

»Und?«

»Zwei Stunden, vielleicht mehr«, antwortete Warstein vorsichtig.

Lohmann zog eine Grimasse. »Hoffentlich hört der Regen bald auf«, murmelte er. Eine winzige Pause, dann fügte er - leiser, wohl damit Angelika die Worte nicht hörte - hinzu: »Ein paarmal war es ziemlich haarig. Sie hätten mich warnen können, daß die Strecke so gefährlich ist.«

»Ich wußte es nicht«, gestand Warstein. »Nicht mehr. Irgendwie hatte ich sie anders in Erinnerung.«

Zu seiner Überraschung akzeptierte Lohmann diese Erklärung. »Unangenehme Dinge vergißt man gerne«, sagte er. »Zwei Stunden, sagen Sie?«

»Mindestens«, bestätigte Warstein. »Aber der gefährliche Teil liegt hinter uns. Die Strecke nach unten ist ziemlich kurvenreich, und an einigen Stellen sehr eng, glaube ich. Aber das Schlimmste, was uns passieren kann, ist eine Rutschpartie in den Straßengraben. Keine Abgründe mehr.«

»Das wäre schlimm genug.« Lohmann grinste schief. »Aber irgendwie auch komisch, nicht? Ich meine, nachdem wir so weit gekommen sind. Vielleicht fünf Kilometer vor dem Ziel zu scheitern...« Er sah Warstein bei diesen Worten scharf an, wie um ihm zu sagen, daß er ganz genau wußte, was Warstein vorhatte.

»Vielleicht sollte einer von uns Sie wirklich am Steuer ablösen«, sagte Warstein. »Sie sehen erschöpft aus.«

»Das bin ich auch«, gestand Lohmann. »Zwei Stunden bei dieser Witterung sind schlimmer als zwanzig bei normaler.«

»Und Sie wollen trotzdem noch den Weg durch den Tunnel machen?«

Lohmann schwieg einen Moment. »Wir werden sehen«, sagte er dann. Er lächelte müde. »Ich plane selten irgend etwas im voraus, wissen Sie? Meistens entscheide ich spontan - und meistens richtig. Meine größten Reinfälle habe ich mit Dingen erlebt, die ich präzise im voraus geplant habe.«

»So wie mit dieser Reise?«

»Wie kommen Sie auf die Idee? Für mich hat es sich gelohnt - so oder so. Ich habe meine Story.«

»Und wenn sie uns erwischen, ehe wir herausfinden, was wirklich passiert ist?«

»Habe ich eine andere«, sagte Lohmann gleichmütig. »Wir sind hier nicht im Wilden Westen und auch nicht in Rußland oder China. Franke mag ein einflußreicher Mann sein, aber er kann uns nicht einfach verschwinden lassen.«

»Ich hoffe, Sie haben recht«, sagte Warstein.

»Sie überschätzen diesen Mann«, antwortete Lohmann ernst. »Und das ist auch der Grund, weswegen er Sie bisher immer geschlagen hat.«

Warstein hätte ihm sagen können, daß es nicht darum ging, wer hier wen schlug oder nicht. Schon lange nicht mehr. Aber er hatte keine Lust, diese endlose Diskussion schon wieder von neuem zu führen. Während der letzten Stunden hatte er seine Meinung über Lohmann ein wenig revidiert; aber längst nicht weit genug, um ihm zu vertrauen. Oder gar so etwas wie Sympathie für ihn zu empfinden.

»Der Kaffee ist fertig«, sagte Angelika.

Lohmann sah überrascht auf. »Das ging schnell.«

»Es ist nur Instant.« Angelika kam mit zwei dampfenden Tassen heranbalanciert und reichte sie an Warstein und Lohmann weiter. »Es tut mir leid. Aber unsere Vorräte neigen sich dem Ende zu. Unser Gastgeber war offenbar nicht auf längeren Besuch eingestellt.«

Sie ging zurück, um ihre eigene Tasse zu holen, und Warstein nippte vorsichtig an seinem Kaffee. Er schmeckte so scheußlich, wie Instantkaffee überall auf der Welt und immer schmeckte, aber er war heiß, und das Koffein entfaltete sofort seine belebende Wirkung.

Lohmann leerte seine Tasse mit wenigen, großen Schlucken, stellte sie neben sich auf den Boden und zündete sich eine Zigarette an, während er mit der anderen Hand bereits wieder den Motor startete.

»So schnell?« wunderte sich Angelika.

»Gibt es irgendeinen Grund, länger hier herumzustehen?« antwortete Lohmann mit einer Frage. Er schaltete Licht und Scheibenwischer ein. »Ich sagte doch - ich bin nicht sehr müde. Außerdem fällt es schwerer weiterzufahren, je länger man Pause gemacht hat.«

»Woher haben Sie diesen Blödsinn?« fragte Warstein.

»Erfahrung«, behauptete Lohmann. Er legte den Gang ein, fuhr los und warf einen Blick auf die Uhr. »Macht das Radio lauter«, sagte er. »Gleich kommen Nachrichten.«

Warstein beugte sich vor und schaltete den Apparat wieder ein. Aus dem Lautsprecher drang leise, klassische Musik. Warstein hatte Klassik nie ausstehen können, aber er ersparte sich die Mühe, einen anderen Sender zu suchen. Seit der Katastrophenmeldung vom Mittag brachten alle lokalen Sender ernste Musik.

Pünktlich auf die Sekunde kamen die Nachrichten, auf die sie warteten. Es gab nichts Neues vom Lago Maggiore - außer der Meldung, daß die Zahl der Toten, die sie mittlerweile aus dem See geborgen hatten, auf über dreihundert angestiegen sei. Und es bestand kaum noch eine realistische Chance, Überlebende zu finden. Die Maschine war wie eine Bombe in den See gestürzt; wer nicht beim Aufprall ums Leben gekommen oder kurz darauf ertrunken war, der mußte längst erfroren sein. Das Wasser war zu dieser Jahreszeit bereits eisig. Warstein wollte wieder abschalten - er hatte sein Soll an Katastrophenmeldungen für diesen Tag mehr als erfüllt -, aber plötzlich hörten sie etwas, das ihn veranlaßte, den Apparat lauter zu stellen.

»...soeben bekanntgibt«, sagte der Sprecher, »wurde der gesamte Luftraum über dem Tessin für den zivilen Luftverkehr gesperrt, bis die genauen Umstände der Katastrophe geklärt sind. Nach dem Ausfall der drei wichtigsten Schweizer Eisenbahnverbindungen ist somit auch die direkte Flugverbindung von Zürich nach Mailand lahmgelegt.«

»Drei?« sagten Angelika und Lohmann wie aus einem Munde.

»Drei«, bestätigte Warstein. Er war nicht überrascht. Das wäre er allenfalls gewesen, wäre dies nicht geschehen. »Das heißt, sie haben auch den Simplontunnel und die Strecke über Locarno endgültig dichtgemacht.«

»Aber wir haben die ganze Zeit Radio gehört!« protestierte Lohmann. »Sie hätten doch irgend etwas davon sagen müssen!«

»Wißt ihr, was das bedeutet?« fuhr Warstein ungerührt fort. »Das Gebiet um den Berg herum ist praktisch von der Außenwelt abgeschnitten. Etwas Besseres als diesen Flugzeugabsturz hätte sich Franke gar nicht wünschen können.«

»Es gibt immer noch Straßen«, sagte Angelika.

»Es gibt genau eine Straße«, verbesserte sie Warstein. »Und die führt am Ufer des Lago Maggiore entlang. Um wieviel wollen wir wetten, daß sie für den normalen Reiseverkehr gesperrt ist, um Platz für die Rettungstrupps zu machen?«

»Das kann er nicht machen«, behauptete Lohmann überzeugt. »Das hieße, die halbe Schweiz lahmzulegen!«

»Er kann, und er hat bereits«, sagte Warstein. »Und er würde noch viel mehr tun, wenn es nötig wäre.«

Lohmann wollte abermals widersprechen, aber er kam nicht dazu. Denn in diesem Moment ging der Himmel über ihnen in Flammen auf.

»Ja«, seufzte Franke, »ich denke, ich verstehe jetzt, was Sie meinen.«

Rogler sah den grauhaarigen Deutschen zwei Sekunden lang verwirrt an - so lange dauerte es nämlich, bis er verstand, was Franke meinte. Seine Bemerkung bezog sich auf ihr Gespräch am Morgen und den Besuch beim Stadtrat. Rogler hatte beides vollkommen vergessen, was angesichts dessen, was er heute erlebt und erfahren hatte, nun wirklich nicht überraschend war. Anders Franke. Er schien zu jenen Menschen zu gehören, die niemals irgend etwas vergaßen. »Unglaublich!«

Franke schüttelte ein paarmal den Kopf und warf Rogler dann einen fragenden Blick zu. »Wollen Sie nicht Ihrer Pflicht nachkommen und tun, worum man Sie gebeten hat?«

Der ironische Unterton in seinen Worten entging Rogler keineswegs; wahrscheinlich erwartete Franke gar nicht, daß er nun wirklich ausstieg und das tat, worum ihn die Stadtältesten gebeten hatten - aber nach einer Sekunde streckte er tatsächlich die Hand nach dem Türgriff aus und stieg aus dem Wagen.

Sie hatten fast eine Stunde gebraucht, um nach Ascona zurückzukommen - nicht einmal fünf Minuten mit dem Helikopter von Porera bis zu der Stelle kurz hinter der Stadtgrenze, an der der Wagen auf sie wartete, und die restliche Zeit für die wenigen Kilometer hierher. Der Verkehr lief nicht mehr schleppend, er war vollständig zusammengebrochen. Wahrscheinlich wären sie schneller zurück im Hotel gewesen, wenn sie zu Fuß gegangen wären.

Allerdings hatte Rogler selbst in diesem Punkt gewisse Zweifel, als er die dichtgedrängte Menschenmenge sah, die die Uferpromenade vor ihnen blockierte. Es mußten Hunderte sein, wenn nicht Tausende, die sich vor der niedrigen Mauer auf der anderen Straßenseite drängten, um einen Blick auf den See erhaschen zu können. Rogler empfand bei diesem Anblick nichts als eine Mischung aus Zorn und Verachtung. Franke hatte ihn über den Flugzeugabsturz informiert, und er vermutete, daß sich die Menge hier versammelt hatte, um einen Blick auf den Schauplatz der Katastrophe zu erhaschen, obwohl dieser Kilometer entfernt nahe dem gegenüberliegenden Ufer des Lago Maggiore lag und man wahrscheinlich von hier aus ohnehin nichts weiter als ein paar Lichter über dem Wasser erkennen konnte; wenn überhaupt. Er hatte Gaffer noch nie ausstehen können, und sein Beruf, der es mit sich brachte, daß er öfter als andere am Schauplatz von gewaltsamem Tod oder Zerstörung war, hatte dazu geführt, daß er sie regelrecht haßte.

Aber er erlebte eine Überraschung. Die Menschenmenge hatte sich nicht versammelt, um den Bergungsarbeiten zuzusehen. Was das anging, hatte er recht: Weit entfernt huschten die Reflexionen einiger Scheinwerfer über das Wasser, und irgendwo schien etwas zu brennen; aber das war auch alles, was man erkennen konnte. Sehr viel deutlicher hingegen konnte er sehen, was sich auf der anderen Seite der Mauer abspielte. Der Anblick war so absurd, daß Rogler mitten in der Bewegung innehielt und verblüfft die Augen aufriß.

Es dauerte eine geraume Weile, bis sich in Roglers Geist die Erkenntnis durchgesetzt hatte, daß das hier tatsächlich genau der Grund war, aus dem man ihn am Morgen ins Bürgermeisteramt zitiert hatte. Jenseits der Uferpromenade trennte ein schmaler, von wenigen gepflegten Bäumen bestandener Grasstreifen den See vom Land, auf dem sich Dutzende der bizarrsten Gestalten tummelten, die Rogler jemals zu Gesicht bekommen hatte. Die meisten waren in fremdartig anmutende, zum Teil schreiend bunte Gewänder gekleidet - Saris, Ponchos, Umhänge, Mäntel, Lendenschurze, Decken. Rogler sah so ziemlich alles, was er sich an Kleidung vorstellen konnte, nur nicht die hier übliche. Er sah asiatische Gesichter, indische und schwarze, er sah Indianer, Nordmänner und Aborigines, kurz: die Versammlung bot den Anblick einer Karnevalsgesellschaft, die sich zum Ziel gesetzt hatte, Zauberer, Schamanen und Magier darzustellen.

Nur, daß an dem Bild rein gar nichts komisch war.

Rogler empfand plötzlich ein Gefühl der Furcht, das er sich selbst nicht erklären konnte - und auch nicht wollte. Sich ihm zu nähern, hieße, sich seinem Grund zu nähern, und davor hatte er eine geradezu panische Angst. Der Anblick all dieser buntgekleideten Gestalten erfüllte ihn mit der Gewißheit bevorstehenden Unglücks; etwas, das schlimmer sein mochte als alles, was er sich bisher hatte vorstellen können. Und nach dem, was er heute erlebt hatte, konnte er sich eine ganze Menge vorstellen.

»Herr Hauptmann! Gut, daß Sie da sind!«

Rogler drehte sich halb herum und blickte in das Gesicht eines allerhöchstens zwanzigjährigen uniformierten Polizeibeamten, der sich umständlich und sichtbar nervös seinen Weg durch die Menschenmenge zu ihm bahnte. Erst jetzt bemerkte Rogler, daß er nicht allein war - ein gutes halbes Dutzend Beamter versuchte ebenso tapfer wie vergeblich, den Menschenauflauf aufzulösen oder die Menge wenigstens weit genug zurückzudrängen, daß es auf der Straße noch ein Durchkommen gab. Niemand leistete wirklich Widerstand, aber ihre Bemühungen blieben trotzdem ohne sichtbares Ergebnis. Selbst die wenigen, die tatsächlich versuchten, den Aufforderungen der Beamten zu folgen und die Straße zu räumen, hatten keine Chance, gegen den Druck der nachdrängenden Menge anzukommen.

»Was ist hier los?« fragte Rogler. Er deutete auf die Menschenmenge, dann auf die sonderbare Versammlung auf der anderen Seite. »Was tun die hier?« Er ließ offen, auf wen sich diese Frage genau bezog, aber der Beamte antwortete trotzdem.

»Ich weiß es nicht, Herr Hauptmann. Wir haben sie gefragt, aber sie reden nur unverständliches Zeug.«

Das war nicht ganz die Wahrheit. Rogler las in den Augen des Jungen, daß es eher unheimliches als unverständliches Zeug gewesen sein mochte; ganz davon abgesehen, daß dies ganz bestimmt nicht die Art von Antwort war, die er auf eine klar formulierte Frage erwartete. Aber er erinnerte sich noch zu gut an seine eigene Begegnung mit dem alten Aboriginal, um den scharfen Verweis, der jetzt eigentlich fällig gewesen wäre, herunterzuschlucken.

Statt dessen drehte er sich wieder herum und sah erneut zu den versammelten Schamanen hin. Alles in allem mochten es an die hundert sein, vielleicht einige mehr oder weniger, die sich auf dem schmalen Parkstreifen versammelt hatten, um zu tun, was immer sie auch taten. Rogler konnte nicht erkennen, was es war, aber es war eindeutig, daß sie irgend etwas taten - und zwar gemeinsam. Einige Feuer brannten. Die Männer (Rogler registrierte beiläufig, daß es ausnahmslos Männer waren) standen oder saßen in kleinen Gruppen beisammen, aber niemand sprach, und fast niemand bewegte sich. Eine unbewußte Geste hier und da, ein flüchtiges Heben der Hand oder eine sachte Bewegung, um in eine bequemere Stellung zu wechseln, das war alles. Trotzdem gab es irgend etwas, was diese Männer verband. Etwas Gemeinsames war zwischen ihnen, das über alle noch so krassen Unterschiede hinwegreichte und sie fast zu einem einzigen, großen Etwas zu machen schien. Die Vorstellung verwirrte Rogler, aber zugleich spürte er auch, daß es mehr als ein bloßer Gedanke war. Nicht zum ersten Mal, seit er hierhergekommen war und Franke und der Lauf der Dinge damit begonnen hatten, seine gewohnte Weltanschauung Stück für Stück zu demontieren, fühlte er diese Art von plötzlichem Wissen, das zugleich vage und so intensiv war, daß es keinerlei Zweifel zuließ. Das Gefühl als solches erschreckte ihn, aber es war zugleich berauschend, als hätte sich seinen Sinnen eine vollkommen neue, faszinierende Dimension eröffnet, so daß er Dinge wahrzunehmen und Zusammenhänge zu erkennen imstande war, von deren Existenz er bisher nicht einmal eine Ahnung gehabt hatte.

»Wie lange geht das schon so?« fragte er.

»Den halben Tag«, antwortete der Polizist. »Sie ... haben gegen Mittag angefangen, sich zusammenzurotten. Seither sitzen sie hier.«

Das Wort gefiel Rogler nicht, aber in diesem Moment sagte eine andere Stimme hinter ihm: »Wann präzise? Wissen Sie es nicht genauer?«

Als er sich herumdrehte, sah er Franke, der ihm gefolgt war und ihr kurzes Gespräch mit angehört hatte. Der Beamte sah den Deutschen fragend an und antwortete erst, als Rogler ihm mit einem angedeuteten Nicken zu verstehen gegeben hatte, daß es in Ordnung war.

»Ungefähr ... gegen eins. Genauer weiß ich es nicht, es tut mir leid.«

»Gegen eins?« Franke war nicht anzusehen, was ihm diese Erkenntnis brachte. Aber Rogler wußte es. Es konnte kein Zufall sein. Die Uhrzeit, die der Polizist genannt hatte, war exakt der Moment, in dem der Sturm begonnen hatte. Er ging wieder einen Schritt weiter, dann blieb er stehen. Erst jetzt fiel ihm auf, daß kein Schaulustiger den Grasstreifen betreten hatte. Auf der anderen Seite der ohnehin nur symbolischen Mauer drängten sich buchstäblich Hunderte von Neugierigen, und Rogler hatte genug Erfahrung mit Menschen wie ihnen, um zu wissen, daß es normalerweise nur eine Frage der Zeit war, bis sich der erste vorwagte, um seine Sensationslust noch ein bißchen mehr zu befriedigen. Hier nicht. Unmittelbar vor der gemauerten Grenze schien es eine zweite, unsichtbare, aber viel unüberwindlichere Barriere zu geben.

»Haben Sie mit ihnen gesprochen?« fragte er. Er kannte die Antwort, noch ehe der Beamte sie aussprach; stockend und ohne ihn direkt dabei anzusehen.

»Wir haben sie ... angerufen«, sagte er ausweichend. »Ein paarmal.«

»Aber Sie waren nicht direkt dort«, stellte Rogler fest. Der Polizist schwieg. Er sah verlegen aus, aber auch ängstlich. Rogler wußte nicht, ob es Furcht vor einem Verweis oder Furcht vor dem war, was er sah. Vermutlich beides. »Es ist in Ordnung«, sagte er. »Ich erledige das.« Er setzte sich erneut in Bewegung, aber etwas hinderte ihn. Es war kein körperlicher Widerstand; die unsichtbare Mauer war zugleich auch eine unfühlbare. Obgleich immateriell, die Barriere war unüberwindlich.

»Warten Sie!«

Rogler wäre so oder so stehengeblieben, doch nun wandte er sich wieder zu Franke um und sah ihn an. Der Deutsche stand einen Schritt hinter ihm. Er sah zu den Männer auf der anderen Seite der Mauer, und der Ausdruck auf seinem Gesicht verriet, daß auch er das Unheimliche spürte, das von ihnen ausging. Wahrscheinlich spürten es alle hier. Erst jetzt, aber dafür um so heftiger, fiel Rogler auf, wie still es war.

»Vielleicht sollten Sie ... nicht stören«, sagte Franke nachdenklich.

Rogler zog überrascht die Augenbrauen hoch. Er hatte gar nicht vorgehabt, irgend etwas zu unternehmen. Ganz davon abgesehen, daß er es nicht konnte - was sollte er schon tun? All diese Männer wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses festnehmen oder ihnen einen Strafzettel verpassen, weil sie in einem Park ein offenes Feuer angezündet hatten?

Seine Überraschung hatte einen anderen Grund. Er hatte schon mit einem sachten Erstaunen zur Kenntnis genommen, daß Franke ihm überhaupt gefolgt war, dies aber dann auf eine durchaus verständliche Neugier angesichts des Menschenauflaufes geschoben. Selbst Franke, den Rogler insgeheim für den mit Abstand unsensibelsten Menschen hielt, dem er seit langer Zeit begegnet war, hätte eigentlich merken müssen, daß er den Wagen hauptsächlich verlassen hatte, um einen Moment allein zu sein oder wenigstens an etwas anderes denken zu können. Daß Franke das nicht daran hinderte, ihm trotzdem zu folgen, hatte Rogler nur im allerersten Moment überrascht. Was ihn wirklich überraschte, war, daß Franke sich tatsächlich für das zu interessieren schien, was sich auf der anderen Seite der Mauer abspielte. Rogler hätte seinen rechten Arm darauf verwettet, daß Franke alles, was nicht wissenschaftlich zu beweisen war, mit einer ironischen Bemerkung abtun würde; falls er sich überhaupt dazu herabließ, es zur Kenntnis zu nehmen.

Aber vielleicht war ja seine Welt nicht die einzige, die zusammenzubrechen begann.

»Ich kann sowieso nichts tun«, antwortete er. Er sagte nicht warum. Wenn Franke die unsichtbare Grenze ebensowenig überschreiten konnte wie er, würde dieser es selbst merken. Wenn nicht, würde er sich nur blamieren.

Franke kam näher und blieb fast auf den Zentimeter genau an der imaginären Linie stehen, an der auch Rogler innegehalten hatte. Ein Ausdruck leiser Verblüffung erschien auf seinem Gesicht, aber er sagte nichts, sondern ließ seinen Blick nur von rechts nach links und wieder zurück über die unheimliche Versammlung wandern.

»Was um alles in der Welt tun die da?« murmelte er.

Er hatte sehr leise gesprochen, trotzdem hob plötzlich eine der Gestalten, die zusammengekauert an einem Feuer in der Nähe saß, den Kopf und sah in ihre Richtung. Einen Moment später stand sie auf.

Rogler fuhr leicht zusammen, als er erkannte, daß es der alte Aboriginal war, mit dem er selbst vor zwei Tagen gesprochen hatte. Ein zweiter Schamane schloß sich ihm an, als er sich umständlich erhob und mit kleinen, gemessenen Schritten, die mühsam und majestätisch wirkten, näher kam. Der zweite Mann war ein waschechter Indianer, wenn Rogler je einen gesehen hatte.

Seine Beunruhigung steigerte sich fast zur Panik, als er erkannte, daß die beiden tatsächlich direkt auf sie zusteuerten und nicht nur zufällig in ihre Richtung gingen.

Er erwartete ganz automatisch, daß der Aboriginal ihn wieder ansprechen würde, doch zu seinem Erstaunen war es Franke, an den sich der alte Mann wandte. Und zu seinem noch größeren Erstaunen zeigte Franke nicht eine Spur von Überraschung; nur einen neuerlichen Schrecken, den er nun nicht mehr verbergen konnte.

»Ich wußte, daß du kommst«, sagte der alte Mann.

Franke fuhr zusammen. Für eine Sekunde verlor er seine bisher so unerschütterliche Selbstbeherrschung, und in seinem Blick war plötzlich etwas Wildes. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt - aber nicht mehr völlig. Es sollte ihm auch nicht wieder vollkommen gelingen.

»So?« sagte er nervös. »Dann wußten Sie mehr als ich.«

»Du kommst spät«, fuhr der Aboriginal fort. »Vielleicht zu spät.«

Franke trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Rogler sah ihm an, wie unangenehm ihm die Situation war, aber er war nicht sicher, ob Franke vielleicht nur der Umstand nicht behagte, daß es Zeugen für dieses Gespräch gab.

»Ich verstehe gar nicht, wovon Sie sprechen«, antwortete Franke. »Wer sind Sie? Und was tun Sie hier, verdammt noch mal? Wir sind doch hier nicht auf einem Kirmesplatz. Ist Ihnen klar, daß Sie und Ihre sonderbaren Freunde die gesamte Stadt lahmgelegt haben?«

»Viele sind bereits gestorben«, fuhr der alte Mann fort. Er ignorierte Frankes Antworten einfach, so als hätte er sie gar nicht gehört.

»Gestorben? Wovon...« Franke brach ab. Für einen Moment ließ sein Blick den Alten los und suchte die Lichter, die in der Ferne noch immer hektisch über den See huschten. »Sie reden von dem Flugzeugabsturz«, sagte er dann. »Was haben Sie damit zu tun?«

»Der Moment ist nahe«, sagte der alte Mann. »Der Ring schließt sich. Die Zeit kehrt an ihren Ursprung zurück. Die Götter haben die Sterne gezählt, und alle Gedanken der Menschen sind gedacht.«

»Aha«, sagte Franke.

»Unsere Frist ist fast verstrichen«, sagte der Indianer. »Der Augenblick der Drei ist nahe. Seid ihr bereit?«

Das Gespräch begann absurd zu werden, fand Rogler. Franke auf der einen und die beiden Zauberer auf der anderen Seite schienen über vollkommen verschiedene Dinge zu reden - aber wieso hatte er plötzlich das Gefühl, daß sie sich nur in einer anderen Sprache unterhielten, in der die Worte zwar vertraut klangen, aber eine ganz andere Bedeutung hatten?

»Wieviel Zeit bleibt uns noch?« fragte Franke.

»Soviel, wie nötig ist«, antwortete der Aboriginal. »Nicht weniger, aber auch nicht mehr.« Er sah Franke sekundenlang wortlos und durchdringend an, dann drehte er sich herum und wollte wieder zu seinem Platz am Feuer gehen, doch Franke hielt ihn mit einer Geste zurück.

»Warten Sie«, bat er.

Tatsächlich blieben der Aboriginal und sein Begleiter noch einmal stehen und sahen Franke an.

»Bitte warten Sie«, sagte Franke noch einmal. »Ich ... ich verstehe das alles nicht mehr. Was geht hier vor?«

»Du weißt es«, behauptete der Alte. »Du wußtest es von Anfang an. Erlaube dir selbst zu sehen, und du wirst begreifen. Aber du mußt dich beeilen. Das Tor hat sich geöffnet, durch das, was du getan hast.«

»Das Tor? Was soll das heißen?«

»Es beginnt«, sagte der Aboriginal. »Seht!«

Rogler sollte niemals endgültige Klarheit darüber gewinnen, ob es nun Zufall war oder sie in diesem Moment tatsächlich Zeugen des Wirkens von Kräften wurden, die sich ihrem Begreifen entzogen. Aber im gleichen Moment, in dem der alte Mann die Worte aussprach, glühte der Himmel über Ascona und dem See in einem unheimlichen, blaßgrünen Licht auf.

Ein vielstimmiger, erschrockener Schrei erhob sich aus der Menge, und wahrscheinlich brach hinter ihnen auch so etwas wie eine Panik aus, aber Rogler nahm von alledem kaum etwas wahr. Er stand wie gelähmt da und blickte mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen auf das, was sich über ihnen abspielte.

Grüne Irrlichter huschten über den Himmel, verfolgt von roten und orangefarbenen Flammen und wabernden Vorhängen aus leuchtendem Nebel, die bizarre Umrisse und Formen bildeten. Die Konturen der Berge waren in blaues Elmsfeuer gehüllt, und hier und da spannten sich dünne, aus nichts anderem als purem Licht bestehende Fäden zwischen Himmel und Erde wie das Netz einer riesigen Spinne, die damit begonnen hatte, den gesamten Erdball einzuweben. Der Regen hatte aufgehört. Die wenigen Wolken, die noch am Himmel waren, glühten unter einem inneren, vielfarbigen Licht.

»Phantastisch«, murmelte Angelika. »Das ... das ist das Schönste, was ich jemals gesehen habe.«

Irgendwo, weit vor ihnen, ergoß sich eine Woge aus violetter Helligkeit über die schneebedeckte Flanke eines Berges. Schatten folgten ihr, dann wieder Licht, diesmal von einem anderen, unmöglich zu beschreibenden Farbton. Angelikas Augen leuchteten, während sie dem Spiel von Licht und Schatten folgten. Ihre Begeisterung war nicht gespielt, sondern echt.

Warstein machte dieses unglaubliche Naturschauspiel angst, auch wenn er seine ästhetische Schönheit durchaus zu würdigen wußte. Vielleicht, weil er als einziger wirklich wußte, was es bedeutete. Es hatte begonnen. Was immer es sein mochte.

»Fahren Sie weiter«, sagte er. Die Worte galten Lohmann, der wie Angelika seit Minuten reglos dasaß und die Lichter beobachtete, die über den Himmel huschten. Im ersten Moment glaubte er, der Journalist hätte sie gar nicht gehört, aber dann riß er sich - wenn auch mit sichtlicher Anstrengung - doch von dem Anblick los und wandte sich kurz zu Warstein um. Seine Begeisterung war nicht so deutlich wie die Angelikas; die Gefühle, die das Phänomen in ihm auslöste, schienen irgendwo in der Mitte zwischen denen Angelikas und Warsteins zu liegen. Warstein las Faszination in seinen Augen, aber auch eine Spur von Furcht.

»Was ist das?« fragte er. »So eine Art ... Nordlicht?«

Kaum, dachte Warstein. Laut sagte er: »Ich weiß es nicht. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Es gefällt mir nicht.«

»Aber es ist wunderschön!« protestierte Angelika.

»Das ändert nichts daran, daß es gefährlich sein könnte«, antwortete Warstein.

»Gefährlich?« Angelika lachte. »Wie kann etwas so Schönes gefährlich sein?«

»Auch ein Feuer bietet einen ästhetischen Anblick«, sagte Warstein. »Sogar eine Atomexplosion hat so etwas wie eine eigene Schönheit. Trotzdem ist sie gefährlich.«

»Das ist der dämlichste Vergleich, den ich jemals gehört habe«, sagte Angelika. Aber sie lachte dabei, und sie setzte die Diskussion auch nicht fort, sondern beugte sich vor, um den Himmel weiter im Auge zu behalten, als Lohmann losfuhr und der Wagen dem Gefälle der abwärts führenden Straße zu folgen begann. Der Regen hatte aufgehört, aber sie kamen trotzdem nicht schneller vorwärts als bisher - die Straße war in weit schlechterem Zustand, als Warstein erwartet hatte, und ihr Tempo sank auf dem ersten Stück sogar noch weiter. Unter der trügerischen Schicht aus Morast und Schlamm lauerten tiefe Schlaglöcher und Risse, und mehr als einmal war die Straße überhaupt nicht mehr zu erkennen: der Fluß aus Morast, über den sie fuhren, ergoß sich einfach in einen See aus Schlamm, so daß sie keine andere Wahl hatten, als mit zusammengebissenen Zähnen und auf gut Glück weiterzufahren und darauf zu hoffen, daß sie die Fortsetzung der Straße auf der anderen Seite wiederfanden.

Auch das Licht half ihnen nicht, sondern erwies sich schon fast als weiteres Hindernis. Es war zwar deutlich heller geworden, doch die ständig wechselnden Farben und das verwirrende Spiel von Licht und Schatten machte es manchmal fast unmöglich, den Weg zu erkennen. In dem stroboskopischen Licht schienen Bäume und Felsen zu unheimlichem eigenem Leben zu erwachen, und manchmal glaubte Warstein, eine Bewegung hinter der Wirklichkeit zu erkennen, als versuche etwas aus der Welt der Schatten in die Welt der Dinge zu gelangen. Es war ein Gefühl, das nicht nur unheimlich war, sondern ihm auch auf unangenehme Weise bekannt erschien, obwohl er nicht wußte, woher. Für eine Weile fuhren sie schweigend weiter dahin; Angelika noch immer vollkommen fasziniert von dem phantastischen Anblick, Warstein noch immer besorgt und dicht an der Schwelle zu wirklicher Angst und Lohmann zu sehr damit beschäftigt, den Wagen unter Kontrolle zu halten, um überhaupt etwas zu empfinden.

»Wer hat eigentlich das Radio ausgeschaltet?« fragte Lohmann plötzlich.

»Vielleicht sagen sie ja irgend etwas über diese ... Lichter. Macht wieder lauter.« Niemand hatte das Radio aus- oder leiser gestellt, da war Warstein ganz sicher. Trotzdem beugte er sich vor und drehte am Lautstärkeregler. Nichts geschah. Das Gerät war eindeutig an. Die grüne Hintergrundbeleuchtung des Displays brannte, aber aus den Lautsprechern drang nicht der leiseste Ton. Nicht einmal statisches Rauschen.

»Kaputt?« fragte Lohmann.

Warstein zuckte die Achseln. »Vielleicht liegt es an diesem ... Phänomen«, sagte er ohne echte Überzeugung. Die Lichter am Himmel waren ganz bestimmt nicht der Grund für den Ausfall des Radios. Das Gerät war eindeutig tot.

»Da vorne ist etwas«, sagte Lohmann plötzlich. Er nahm die Hände nicht vom Lenkrad, sondern deutete mit einer Kopfbewegung nach vorne. Offensichtlich verfügte er über bessere Augen als Warstein, denn es dauerte noch einige Sekunden, bis auch er sah, was Lohmanns Aufmerksamkeit erregt hatte. Als er das letzte Mal hier gewesen war, hatte die Straße zwar in zahllosen Windungen und Kehren, aber ohne Unterbrechung ins Tal hinabgeführt. Jetzt war sie gesperrt. Zu beiden Seiten der Fahrbahn erhob sich ein gut zwei Meter hoher Maschendrahtzaun, in den ein massives Gittertor eingelassen war. Dünne, blaue und grüne Linien aus Licht zeichneten einen Teil des Gitters nach, so daß Warstein und die anderen im ersten Moment annahmen, der Zaun stünde unter Strom. Aber dann sahen sie, daß auch auf dem Boden und in den Ästen der näherstehenden Bäume blaue Elmsfeuer tanzten. Sie näherten sich dem Ende des Regenbogens. Das Feuerwerk aus Farben und Licht, das sie bisher nur aus der Ferne beobachtet hatten, war nun rings um sie herum.

Trotzdem hielt Lohmann den Wagen in respektvollem Abstand zu dem Gitterzaun an. Er stieg nicht sofort aus, sondern blickte lange und aufmerksam in die irr-lichternde Dunkelheit beiderseits der Straße und dann mit unübersehbarer Sorge auf den Zaun.

»Der ist neu, nicht?« sagte er.

Warstein nickte. Zögernd öffnete er die Tür, stieg aus und sank fast bis über die Knöchel in den Schlamm ein, in dem sie angehalten hatten. Es war kalt und die Luft so feucht, daß Warstein im allerersten Moment glaubte, der Regen hätte noch gar nicht aufgehört.

Lohmann stieg auf der anderen Seite aus und gestikulierte Angelika zu, im Wagen zu bleiben. »Warten Sie hier«, sagte er. »Warstein und ich sehen nach, was da vorgeht.«

Vorsichtig näherten sie sich dem Tor. Blaue Funken und winzige Lichtblitze huschten über das Gitterwerk, und in der Luft lag ein schwacher Ozongeruch. Lohmann hob warnend die Hand, zog einen Kugelschreiber aus der Tasche und warf ihn gegen die Stäbe. Nichts geschah. Lohmann tauschte einen fragenden Blick mit Warstein, zuckte die Achseln - und schloß die Hand mit festem Griff um einen der Gitterstäbe.

»So viel also zum Thema Vorsicht«, sagte Warstein.

»Irgendwie müssen wir ja schließlich herausfinden, ob der Zaun unter Strom steht oder nicht«, antwortete Lohmann. Er grinste, aber das Zittern in seiner Stimme verriet seine Erleichterung. Vielleicht war dies doch eine von den Ideen gewesen, die wirklich nur auf den allerersten Blick gut aussahen.

»Eine ziemlich eigenwillige Methode, das herauszufinden«, sagte Warstein dann auch.

»Aber auch eine sehr effektive«, behauptete Lohmann. »Sie führt immer zum Erfolg. Und wenn nicht, interessiert es einen hinterher nicht mehr.« Er hob auch die andere Hand ans Gitter, rüttelte mit aller Kraft daran und wäre um ein Haar gestürzt, als die beiden Torflügel quietschend aufschwangen. Sekundenlang kämpfte er hektisch um sein Gleichgewicht. Diesmal war es Warsteins Gesicht, auf dem sich ein schadenfrohes Grinsen ausbreitete.

»Sieht so aus, als wäre es offen. Ich möchte wissen, warum sich jemand die Mühe macht, ein solches Tor hierhin zu setzen, um es dann nicht abzuschließen«, sagte Warstein. Er trat ein Stück von der Straße herunter und folgte dem Zaun mit Blicken, bis er in der Dunkelheit verschwand.

»Es scheint, als hätten sie die ganze Gegend eingezäunt«, murmelte Lohmann. Er schüttelte verblüfft den Kopf. »Aber warum?«

Warstein machte eine hilflose Geste. »Es gibt im Umkreis von zweihundert Kilometern absolut nichts, was man einzäunen müßte.«

»Außer einem bestimmten Berg«, fügte Lohmann hinzu.

»Seien Sie nicht albern«, sagte Warstein ohne rechte Überzeugung. »Wer sollte einen Berg einzäunen?«

Angelika stieg aus dem Wagen und gesellte sich zu ihnen. Offenbar hatte sie einen Teil der Unterhaltung mitangehört, denn sie deutete nach links, auf einen senkrechten Schatten vier oder fünf Meter vor dem Zaun. Warstein hatte ihn für einen Baum gehalten, aber in Wirklichkeit war es ein rostiger Metallpfeiler, an dem ein rechteckiges Schild befestigt war, das in leuchtenden Farben und drei Sprachen verkündete:

QUARANTÄNEGEBIET! BETRETEN VERBOTEN! LEBENSGEFAHR!

»Quarantäne?« Lohmann runzelte verblüfft die Stirn. »Was ist denn das jetzt wieder für ein Unsinn?«

»Vielleicht ist eine ansteckende Krankheit ausgebrochen«, vermutete Angelika.

»Seit wann ist Paranoia ansteckend?« maulte Lohmann. Er schüttelte entschieden den Kopf. »Unmöglich. Von etwas, das schlimm genug ist, daß sie einen ganzen Landstrich abriegeln, hätte ich gehört. Die Geschichte stinkt zum Himmel!« Er versetzte dem Schild einen Tritt, der unerwartete Folgen hatte. Der ganze Pfahl zitterte, und nur einen Moment später fiel die Blechtafel in den Morast. Lohmann riß erstaunt die Augen auf, bückte sich danach und untersuchte sie eingehend.

»Vollkommen verrostet«, sagte er. »Eigentlich ist es schon fast ein Wunder, daß es nicht längst heruntergefallen ist.«

»Drei Jahre sind eine lange Zeit«, sagte Warstein.

»Das Ding hängt nicht seit drei Jahren hier«, behauptete Lohmann. Er deutete auf die untere rechte Ecke des Schildes, in der ein Datum zu lesen stand. »Keine drei Monate alt«, sagte er. »Aber es sieht aus, als ob es seit vierzig Jahren hier hängt.« Er schwenkte die Blechtafel hin und her - und sie zerfiel praktisch unter seinen Fingern zu rostigen Krümeln. Verblüfft ließ er die Überreste fallen. »Aber das ist...«

»...wirklich nichts, was im Moment wichtig wäre«, unterbrach ihn Angelika. Sie deutete auf den Zaun. »Macht das Tor auf. Ich fahre den Wagen hindurch.« Während sie zum Wagen zurückging, versuchten Warstein und Lohmann mit vereinten Kräften, die beiden Torflügel weiter aufzudrücken. Wenn man bedachte, daß Lohmann beinahe hindurchgefallen wäre, ging es jetzt erstaunlich schwer. Warstein mußte sich mit seinem gesamten Körpergewicht gegen den Torflügel stemmen, um ihn zu bewegen, und die ganze Konstruktion quietschte und knarrte so laut, daß man es eigentlich noch auf der anderen Seite des Berges hätte hören müssen.

Schwer atmend trat er zurück und betrachtete das Tor aufmerksam, während Angelika den Wagen durch die Lücke bugsierte. Die kleinfingerdicken Gitterstäbe waren vollkommen verrostet, und die Angeln boten einen Anblick, bei dem sich Warstein unwillkürlich fragte, wieso die gesamte Konstruktion nicht schon längst unter ihrem eigenen Gewicht zusammengebrochen war. Und noch etwas war seltsam - und beunruhigend: er war ziemlich sicher, daß sich ihnen der Zaun vorhin noch nicht in einem so schlechten Zustand dargeboten hatte.

Angelika brachte den Wagen einige Meter hinter dem Tor zum Stehen und stieß die Beifahrertür auf, ohne den Platz hinter dem Steuer zu räumen. Lohmann folgte der unausgesprochenen Einladung. Er ging um den Wagen herum, statt auf der Fahrerseite wieder einzusteigen. Vermutlich war er insgeheim froh, am Steuer abgelöst zu werden. Die letzten Stunden waren sehr anstrengend gewesen.

Nicht nur wegen der Kälte war Warstein erleichtert, wieder im Wagen zu sein. Er fühlte sich mit jedem Moment unbehaglicher. Die Lichter am Himmel waren nur der Anfang. Irgend etwas würde geschehen. Bald. Vielleicht geschah es schon jetzt.

»Wie weit ist es noch?« fragte Lohmann.

»Eine Stunde«, antwortete Warstein. »Ungefähr. Wenn kein weiteres Hindernis auftaucht.«

»Oder eine andere Überraschung«, fügte Lohmann hinzu. Sein Blick wanderte unstet hin und her und versuchte, die Dunkelheit jenseits des Weges zu durchdringen. Er wirkte sehr nervös.

»Bis jetzt hat noch niemand versucht, uns aufzuhalten«, sagte Angelika.

»Genau das macht mich nervös«, erwiderte Lohmann. »Irgend jemand hat sich verdammt viel Mühe gegeben, unerwünschte Besucher fernzuhalten. Und jetzt läßt man uns einfach so mir nichts dir nichts durch?« Er schüttelte den Kopf und versuchte, ein möglichst grimmiges Gesicht zu machen. »Da stimmt doch was nicht.«

Zumindest in diesem Punkt war Warstein mit ihm einer Meinung. Es fiel ihm noch immer schwer, tatsächlich zu glauben, daß jemand diesen ganzen Teil des Gebirges abgesperrt haben sollte, um irgend etwas vor dem Rest der Welt geheimzuhalten.

»Da vorne!« sagte Lohmann plötzlich. Er deutete auf einen Punkt rechts von der Fahrbahn, und diesmal sah auch Warstein sofort, was er entdeckt hatte. Vor ihnen stand ein verlassener Wagen. Er war mit dem rechten Vorderrad von der Fahrbahn abgekommen und offenbar hoffnungslos in den aufgeweichten Boden eingesunken, denn von einem Fahrer war weit und breit keine Spur zu entdecken. Es war auch nicht irgendein Wagen, sondern ein dunkelgrün lackierter Militärjeep mit einem schwarzen Stoffdach. Und noch etwas war seltsam: er hatte weder ein Nummernschild noch ein Nationalität skennzeichen. Lohmann und Warstein tauschten einen vielsagenden Blick und stiegen aus, während Angelika auch diesmal wieder zurückblieb. Ihrem angespannten Ausdruck nach zu schließen, schien ihr der Anblick des verlassenen Wagens ebensowenig zu behagen wie den beiden Männern.

Vorsichtig näherten sie sich dem Jeep. Lohmann blickte immer wieder nach rechts und links, während Warstein den Wagen in weitem Abstand umging. Er sah jetzt, warum er wirklich verlassen worden war. Das Rad war nicht einfach im Schlamm eingesunken, es war abgebrochen.

»Unheimlich«, murmelte Lohmann. Er kam langsam näher und betrachtete den Wagen genauer, wagte es aber aus irgendeinem Grund nicht, ihn zu berühren. Als er auch nach einer geraumen Weile noch keine Anstalten machte, von sich aus weiterzusprechen, tat ihm Warstein schließlich den Gefallen und reagierte auf sein Stichwort.

»Was ist unheimlich?«

Der Journalist deutete auf das abgebrochene Rad. »Das hätte nicht passieren dürfen«, behauptete er. »Diese Fahrzeuge sind für unwegsames Gelände gebaut. Sie gehen nicht einfach kaputt, wenn sie in ein Schlagloch geraten.«

Das klang einleuchtend - zumal Warstein jetzt auffiel, in welch desolatem Zustand sich das ganze Fahrzeug befand. Der Lack war überall abgeblättert, darunter kam rotbrauner, poröser Rost zum Vorschein. Die Frontscheibe war gesplittert, und das Stoffdach hing in Fetzen.

»Das war gerade noch nicht«, behauptete Lohmann. Er klang sehr erschrocken.

»Was?« fragte Warstein. Er wußte genau, was der Journalist meinte.

»Der Wagen«, antwortete Lohmann nervös. »Das Dach, die Scheibe und ... und alles. Er war gerade noch nicht in einem so schlechten Zustand.«

»Vielleicht haben wir ein bißchen zu lange hier gestanden?« fragte Warstein. Er brachte nicht einmal die Kraft auf zu lächeln, und Lohmann reagierte auch nicht auf seine Worte. Er streckte die Hand nach dem Wagen aus, zog sie aber auch diesmal wieder zurück, ohne ihn berührt zu haben.

»Verschwinden wir.«

Warstein wandte sich zum Wagen um - blieb aber abrupt stehen, noch ehe er den ersten Schritt getan hatte.

Nur wenige Meter vor ihnen war ein flackerndes, hellgrünes Licht erschienen. Es hatte keine bestimmte Form, aber auf eine schwer zu definierende Art Substanz - und es erfüllte Warstein mit einem vagen Gefühl von Gefahr, als spüre etwas in ihm, daß dieses Licht nicht so harmlos war, wie es den Anschein machen wollte.

»Was um alles in der Welt ist denn das?« murmelte Lohmann. Auch er war stehengeblieben, doch Warstein konnte ihn nur noch als verschwommenen Schemen in einem Meer von Helligkeit erkennen.

Vielleicht nichts aus dieser Welt, dachte Warstein. Laut sagte er: »Ich weiß es nicht. Aber wir sollten besser ... vorsichtig sein.«

Das Geräusch der Wagentür ließ ihn aufsehen. Angelika kam mit schnellen Schritten auf sie zu. Warstein wollte ihr eine Warnung zurufen, hielt jedoch inne, als er den Ausdruck auf ihrem Gesicht gewahrte.

Angelikas Augen leuchteten. Seit die Farben und Lichter begonnen hatten, den Himmel zu überfluten, hatte sie sich keine Mühe gegeben, ihre Begeisterung für die Erscheinung zu verhehlen. Jetzt aber wirkte sie regelrecht verzückt.

Zwei Schritte vor Warstein blieb sie stehen, wenn auch nur, weil er ihr mit ausgebreiteten Armen den Weg vertrat. »Was ist das?« flüsterte sie. »Das ... das ist wunderschön!«

Wunderschön? Warstein blickte zweifelnd in den Bereich flackernder Helligkeit hinein. Das Licht war eigenartig, und auf eine gewisse Weise auch faszinierend - aber es bot nicht einmal einen ästhetischen Anblick. Und es war ganz gewiß nicht wunderschön.

»Geh nicht zu dicht heran«, sagte er warnend. »Es könnte gefährlich sein.«

»Gefährlich?« Angelika lachte. »Unsinn! Es ist nicht gefährlich.« Sie schob Warsteins Hände beiseite und trat mit einem so entschlossenen Schritt an ihm vorbei, daß er es nicht wagte, sie noch einmal aufzuhalten. Ihre Gestalt bekam eine blaß leuchtende Aura, als sie in das Licht hineintrat. Warstein atmete vorsichtig auf.

»Das ist ... phantastisch!« sagte Angelika. Sie hob die Hand und winkte Warstein zu, ihr zu folgen, sah aber nicht einmal zu ihm zurück, sondern starrte unverwandt ins Zentrum des Leuchtens hinein. Warstein fragte sich, ob sie dort möglicherweise etwas anderes sah als er.

»Kommen Sie zurück!« sagte Lohmann scharf. »Wir haben keine Zeit für solche Spielereien!«

Angelika schien seine Worte gar nicht zu hören. Sie hatte die Arme ausgestreckt und die Handflächen in einer bewundernden Geste nach oben gedreht. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck höchster Verzückung, zugleich aber auch tiefsten Friedens. Sie begann leise, die Melodie zu summen, die Warstein schon ein paarmal gehört hatte.

»Was soll das?« fragte Lohmann.

Warstein brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. Etwas an dem Leuchten hatte sich verändert. Es war intensiver geworden, und zugleich auch sehr viel heller, so daß es ihm beinahe unmöglich wurde, Angelika weiter anzusehen. Aber das war nicht die einzige Veränderung.

Bisher hatte das Licht Warstein erschreckt, ja, ihm fast angst gemacht. Jetzt plötzlich erfüllte es ihn mit einem Empfinden tiefster Ruhe und eines sanften, warmen Friedens. Das Gefühl war schwer in Worte zu kleiden, aber zu intensiv, um zufälliger Natur zu sein, und zu fremdartig, um aus ihm selbst zu stammen. Er fühlte sich auf sonderbare Weise zugleich frei wie auch eins mit allen Dingen in seiner Umgebung. Der Boden, auf dem er stand, die Büsche und Bäume, ja, selbst die Luft und die Dunkelheit, die ihn umgaben, waren plötzlich zu winzigen Teilen eines allumfassenden Ganzen geworden, zu dem auch er und die beiden anderen gehörten, unwichtig und trotzdem unersetzliche Teile einer größeren Ordnung, die er bisher nicht einmal erkannt hatte, obwohl sie seit Anbeginn der Zeit existierte. Für einen kurzen Moment sah Warstein alles mit phantastischer Klarheit, als begriffe er zum ersten Mal im Leben die wirkliche Ordnung der Welt, das große, gewaltige Muster, dem sie gehorchte und dessen Teil sie war, und auch die Rolle, die er selbst und jeder einzelne Mensch darin spielte. Ein Gefühl tiefen Friedens ging mit diesem Begreifen einher.

»O mein Gott, ist das schön!« sagte Angelika. »Kommt her! Seht es euch an!« Warsteins Unbehagen war spurlos verschwunden. Er fühlte sich frei und von etwas erfüllt, von dem er bisher nicht einmal gewußt hatte, daß es existierte, obwohl es die ganze Zeit über in ihm gewesen war. Ohne zu zögern, folgte er Angelika in das Licht hinein.

Sie blickte noch immer auf jenen imaginären Punkt im Herzen des Leuchtens. Warstein trat ganz dicht hinter sie - und dann, ganz plötzlich, sah auch er etwas. Im allerersten Moment konnte er nicht einmal sagen, was. Schatten schwammen in der Helligkeit, unfertige Umrisse und ungeborene Dinge, die sich seinem menschlichen Begreifen gerade weit genug entzogen, um ihr wahres Aussehen erahnen zu können, ohne es wirklich zu sehen.

»Was ist das?« fragte Angelika. Sie hob die Hand, und eine winzige orangerote Sonne glitt aus dem Licht heraus und begann ihre Finger zu umtanzen. Angelika lachte. Sie versuchte nach dem Lichtpunkt zu greifen, aber er glitt immer wieder im letzten Moment zwischen ihren Fingern hindurch, fast als spiele er mit ihr. »Die andere Seite«, sagte Angelika. »Sie kommen von drüben, nicht wahr? Von der anderen Seite des Tores.«

Warstein wußte es nicht. Vielleicht war es so, vielleicht war die Erklärung auch vollkommen anders. Es spielte keine Rolle. Er wußte nur, daß - wenn es wirklich das war, was auf der anderen Seite des Tores lag - es keinen Grund mehr gab, dagegen anzukämpfen. Eine nie gekannte Leichtigkeit und Freude breitete sich in ihm aus. Plötzlich waren alle Probleme unwichtig. Wie Angelika hob er die Hand und streckte sie nach den Lichtpunkten aus, die wie Schwärme winziger leuchtender Fische in einem Ozean aus Licht vor ihnen schwammen. Er hatte nicht damit gerechnet, etwas zu fühlen, aber er spürte ein leises, angenehmes Kribbeln wie einen ganz schwachen elektrischen Fluß. Angelika hatte recht: diese Erscheinung war faszinierend und unbeschreiblich schön. Zu schön, um gefährlich sein zu können. Was sie umgab, das war purer, gestaltgewordener Friede.

»Was zum Teufel tut ihr da eigentlich?« Lohmanns Stimme drang unangenehm und fast bedrohlich in seine Gedanken, ein störender Faktor, den er ignorieren wollte, aber nicht vollends konnte. »Kommt sofort da raus!«

»Es ist nicht gefährlich«, antwortete Warstein. »Kommen Sie!«

»Er hat recht«, fügte Angelika hinzu. »Kommen Sie her. Es ist wunderschön!«

»Ihr seid ja verrückt!« sagte Lohmann. »Alle beide. Kommt sofort zurück. Verdammt noch mal, wir haben keine Zeit für diesen Kinderkram!« Trotzdem zögerte er nur noch einen kurzen Moment, ehe auch er in den Bereich des Leuchtens hineintrat. Winzige blaue Blitze umspielten seine Gestalt, und Warstein sah, wie sich sein Haar knisternd aufstellte. Ein überraschter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.

»Was ist denn das?« murmelte er.

»Nichts«, antwortete Warstein lachend. »Nichts, was Sie fürchten müßten.« Er streckte die Hand nach dem wirbelnden Schwarm aus und spürte wieder jenes sanfte Kribbeln, das diesmal seinen ganzen Arm hinauflief - und als plötzlicher, heißer Schmerz in seiner Schulter explodierte. Warstein prallte mit einem Schrei zurück und umklammerte seine Hand.

»Was hast du?« fragte Angelika.

Warstein war viel zu schockiert, um zu antworten. Der Schmerz war nicht einmal das Schlimmste. Er war heftig, aber zu kurz gewesen, um ihn richtig zu fühlen. Es hätte diesen Schmerz nicht geben dürfen; nicht in dem Universum aus Frieden, zu dem dieses Licht gehörte.

Behutsam streckte er die Hand abermals nach dem tanzenden Sternenschwarm aus. Diesmal kam der Schmerz sofort. Er traf ihn nicht so heftig wie beim ersten Mal, vielleicht weil er darauf vorbereitet war. Trotzdem erschrak er bis ins Innerste.

»Ja, vielleicht haben Sie recht«, sagte er, an Lohmann gewandt, aber ohne den Blick vom Herzen des pulsierenden Lichtes zu lösen. »Wir sollten weiterfahren.« Er berührte Angelika an der Schulter, um sie mit sich zu ziehen. Das Licht veränderte sich. Es wurde weder intensiver, noch änderte sich etwas an seiner Farbe oder dem Rhythmus seines Pulsierens, aber es wirkte plötzlich nicht mehr sanft und beschützend, sondern kalt, hart und auf eine beunruhigende Weise anders.

»Kommt weg von hier!« sagte Lohmann. »Schnell!« Er klang nervös. Es gelang Warstein nicht mehr, sich nicht von seiner Nervosität anstecken zu lassen. Er wich einen Schritt zurück und wollte Angelika mit sich ziehen, aber sie widersetzte sich ihm.

»Nein«, sagte sie. »Ich möchte noch bleiben.«

Das Licht flackerte. Seine Farbe wechselte von sanftem Grün zu einem kalten, stechenden Blau. Aus dem pulsierenden Herz in seinem Zentrum wurde ein klaffender Riß, aus dem statt winziger leuchtender Sterne nun formlose Schatten quollen, gestaltlose Schemen von beunruhigender Farbe und furchteinflößender Bewegung. Alles war anders. Aus Licht wurde Schatten, aus Frieden Furcht. Plötzlich erfüllte ihn das Leuchten nicht mehr mit Freude, sondern mit Angst. Mit einem erschrockenen Keuchen ließ er Angelikas Arm los und taumelte zurück.

Einer der winzigen Sterne folgte ihm. Sein Licht war plötzlich heiß, und als er seinen Arm berührte, schlugen Funken aus dem Stoff seiner Jacke. Einen Moment später stieg beißender Rauch auf, und dann spürte er einen brennenden Schmerz, so intensiv, als hätte er rotglühendes Eisen berührt.

Auch Angelika schrie auf und wandte sich zur Flucht. Rings um sie herum brodelte Schwärze, wo vor einer Sekunde noch Licht gewesen war. Das Tor zum Paradies hinter ihr war zu einer klaffenden Wunde geworden, aus der gestaltlose, schreckliche Dinge krochen, Monstrositäten, die Warstein nicht erkennen konnte, ja, nicht einmal erkennen wollte, wollte er nicht Gefahr laufen, den Verstand zu verlieren.

Immer mehr und mehr der glühenden Lichter senkten sich auf ihn herab. Warstein taumelte blind vor Angst und Schmerz auf den Wagen zu. Auch er war von wirbelnden Feuerbällen umgeben, die sich in den Lack brannten, die Scheiben schwärzten und übelriechenden Rauch aus den Reifen aufsteigen ließen.

Er zerrte verzweifelt an der Tür, riß sie auf und stürzte in den Wagen. Ein paar Funken wirbelten mit ihm herein, brannten fingernagelgroße Löcher in den Kunststoff des Armaturenbrettes und setzten an drei oder vier Stellen zugleich die Polster in Brand. Warstein schlug die Flammen mit bloßen Händen aus, startete den Motor und fuhr los.

Er konnte kaum etwas sehen. Das Licht war so grell geworden, daß ihm die Tränen in die Augen stiegen. Dazu kam, daß der Wagen sich auf dem schlammigen Untergrund kaum noch lenken ließ. Das Steuer bockte und ruckte so wild unter seinen Händen, daß Warstein seine ganze Kraft aufbieten mußte, um es überhaupt festzuhalten.

Ein Schatten tauchte inmitten des Chaos vor der Windschutzscheibe auf. Warstein trat hart auf die Bremse und brachte den Wagen mit einem Ruck zum Stehen, der ihn fast auf das Lenkrad hinaufschleuderte. Die Beifahrertür wurde aufgerissen, und Angelika kletterte herein.

Warstein erschrak, als er sie sah. Ihr Haar und ihre Kleider schwelten, und auf ihrer Wange prangte eine gewaltige Brandblase. Ihr Gesicht war eine Maske blanken Entsetzens. Ihr rechter Arm schien ernsthaft verletzt zu sein, denn sie benutzte ihn nicht, als sie hereinstieg, sondern preßte ihn eng an den Körper. Trotzdem schüttelte sie den Kopf, als Warstein herübergreifen und ihr helfen wollte.

»Lohmann«, sagte sie hastig. »Er ist dort draußen irgendwo. Rechts.«

Warstein gab viel zu hastig Gas. Die Reifen wühlten in dem weichen Schlamm, und der Wagen begann wild hin und her zu schlingern, ohne nennenswert von der Stelle zu kommen. Dann bewegte er sich prompt in die falsche Richtung: direkt auf das Zentrum des Leuchtens zu. Warstein kurbelte verzweifelt am Lenkrad, trat abwechselnd auf Kupplung, Bremspedal und Gas - und registrierte die Bewegung auf der anderen Seite der Windschutzscheibe einen Sekundenbruchteil zu spät.

Etwas prallte mit einem dumpfen Knall gegen den Wagen, und Warstein glaubte einen krächzenden Schrei zu hören. Ein Schatten wirbelte davon und stürzte zu Boden. Er war sicher, Lohmann überfahren zu haben.

Aber er täuschte sich. Noch während er entsetzt nach draußen starrte und die Stelle auszumachen versuchte, an der der Schatten zu Boden gestürzt war, wurde die Tür neben Angelika aufgerissen, und Lohmann zog sich in den Wagen herein.

»Fahr los!« kreischte er. »Fahr! Schnell!« Seine Stimme schnappte fast über, und er bot einen fast noch schlimmeren Anblick als Angelika zuvor. Er war völlig verdreckt und blutete aus einem halben Dutzend Wunden.

Warstein sah ihn kaum. Lohmann hatte die Tür offengelassen, und hinter ihm ... war etwas. Warstein konnte nicht sagen, was es war, weder jetzt noch zu irgendeinem anderen Zeitpunkt, wenn er sich an diese Sekunden zu erinnern versuchte. Es war ein Etwas, eine grauenhafte, blasphemische Kreatur, die aus der Dimension des Wahnsinns in eine zerbröckelnde Wirklichkeit herübergekrochen war und sich dem Wagen näherte, ein schwarzes, abstoßendes Ding ohne wirklichen Körper oder feste Umrisse, das sie aber töten würde, einfach dadurch, daß es da war.

Warstein trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch, und diesmal griffen die Reifen.

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