1. Lichtung
Wo weißer Schaum schartig gespülte Rinnen im schwarzen Gestein füllte und grün zwischen Steinen in die Tiefe stürzende Fälle einander beim Tosen und Rauschen übertrafen, zeigte sich Frau Späth jeden Abend unter einem großen Baum. Vor vielen Träumen hatte sie in einer vergessenen Quelle gelesen, daß der Buddha, um Buddha zu sein, einen Baum brauchte. Da sollte er sich druntersetzen und zielstrebig seiner Erleuchtung entgegenmeditieren. Sie setzte sich nicht oft; der Gedanke an Erleuchtung war ihr unheimlich, die letzte, die sie erlebt hatte, zitterte noch nach in ihr.
Meist ging sie, wenn sie ihren Baum besucht hatte, zum unbehauenen Monolithen am großen Becken unter den Fällen. Da redete sie dann mit unbekannten Größen, die von Erleuchtung auch etwas verstanden. Alle diese Größen waren Fronten für die junge Göttin, der dieser Wald gehörte.
Eines Abends war die Göttin gut gelaunt.
Katahomenleandraleal freute sich, daß ihr ein wertvoller Kopf, den sie mit hohem Aufwand hatte jagen wollen, ohne jede Mühe in die Hände gefallen war.»Sie hat sich ganz formlos ergeben. Vermutlich glaubt sie, daß sie damit Milde erwirkt, für ihre lebendigen Spielsachen. Ich habe ihre fliegenden Kätzchen allerdings zunächst beseitigt. Die Baupläne bleiben aber; es mag später einmal neue geben. Die Konstruktion der kleinen Schwingen allein… ich habe sie einigen meiner Mädchen angepaßt, allerdings präziser eingefaltet.«
«Werde ich sie treffen? Die Gefangene?«
«Nein, tut mir leid. Was sie war, ist auch… weg. Ich mußte das… wie würdest du sagen, in deinen vier Dimensionen? Aufschneiden. Um ans Wertvolle zu gelangen.«
Frau Späth sah einen Polstersessel vor sich, in den jemand einen Schlitz hieb, daß die Füllung herausquoll.
«Das war wirklich nötig, ja?«
«Wie sonst hätte ich erfahren sollen, was sie wußte?«Es klang fast beleidigt; die Göttin war ein Kind, ein grausames, sehr junges.
«Du hättest fragen können.«
«Ach, ihr Bewußtsein… das war alles von… Ästhetik und Moral und andern Schrullen verklebt, für so viel Säuberungsarbeit fehlt mir die Zeit.«
«Sie wollte dir doch ausliefern, wer sie… war, oder nicht?«
«Was sie wußte, ist anregend. Was sie war, ist überholt.«
Frau Späth wunderte sich, daß sie nach allen düsteren Wundern, die sie in ihrem langen Leben gesehen hatte, noch zur Bestürzung fähig war. So ging das also zu: Eine aus der ersten Generation der Gente, eine aus der Population der mächtigsten Geschöpfe, die je den Planeten bewohnt hatten, war von Katahomenleandraleal ganz nebenbei vertilgt worden. Bei der Befreiung, die der Löwe und die seinen errungen hatten, war es um nichts anderes gegangen als» Transzendenz in Permanenz«, so hatte damals die Losung gelautet, Frau Späth erinnerte sich noch gut: Sich selbst im Diesseits verewigen, das wollte man. Jetzt aber mußten diese Leute lernen, daß auch über sie hinweggeschritten werden konnte, daß auch sie selbst transzendierbar waren.
Frau Späth fiel eine Arie aus einem alten Libretto ein, das ihr ein guter Freund für ihre Oper» Brouwer «geschrieben hatte:»Nur weil Großmutter siebenmal ins Krankenhaus gefahren ist und siebenmal wieder heim, heißt das nicht, sie ist unsterblich.«
Im Gegenteil, fiel Frau Späth jetzt auf, die Wahrscheinlichkeit, daß die arme Alte es auch diesmal schafft, sinkt mit jedem Lazarettabstecher, der Rest ist Statistik (oder Stochastik? Sie hatte das schon damals immer durcheinandergebracht, genau wie Entropie und Chaostheorie und den übrigen Schnickschnack, von dem sich dann herausgestellt hatte, daß er viel wichtiger für den weiteren Geschichtsverlauf war als alles im engeren Sinn politische Vokabular). Der nächste Krieg mag wieder nicht der letzte sein. Für Ungezählte, die er umbringt, ist er's aber. Wie hatte Aylett damals geschrieben? Blut kann man nicht zählen.
«Blut kann man nicht zählen«, sagte Frau Späth der Göttin.
Die lachte königlich und verschwand.
Am nächsten Abend setzte sich Frau Späth ausnahmsweise in Lotusstellung unter ihren Baum.
Mein stiller Winkel: Ich fühle mich hier in Ruhe gelassen, gerade weil es so eintönig laut ist, von den Wasserfällen her. Bestimmte brausende Formen von Lärm sind, wenn man sich in ihnen nur furchtlos genug überläßt, von Ruhe und Frieden nicht zu unterscheiden.
Sie sagte:»Du bist mir schon so ein Buddhabaum, mein Lieber.«
Das Tolle war, daß der Baum antwortete:»Wenn's ernst wird, mußt du mich hier rausholen.«
«Wer…wa — du? Baum?«
«Du Tarzan, ich Baum. Ganz recht. «Die Stimme, Contralto, klang unaufgeregt, aber ernst:»Ich habe das genossen, wie du mir dein Herz hier immer wieder ausgeschüttet hast. Du bist, wie hieß das früher? In Ordnung.«
«Und du? Wie in Ordnung bist du?«Der Blick der Frau suchte, während sie Anschluß an diese merkwürdige Unterhaltung fand, wachsam die Umgebung ab.
Der Baum gab sich Mühe, sie zu beruhigen:»Hab keine Angst: Wir können uns ganz frei verständigen. Ein paar sehr zuverlässige… Pilze… halten Wache und sondern verwirrende, speziell auf Desinformation zurechtgeschneiderte Pherinfone ab, die Katahomenleandraleals Sinne trüben, ohne daß sie das merkt. Störtröpfchen. Irrlichter. Außerdem glaubt sie sich ohnehin sicher, in ihrem eigenen, wie würdest du sagen? Wohnzimmer — da vermutet sie niemanden, der ihr so wenig… zu Willen ist wie ich.«
«Scheint der ganze Witz an dem Riesenspiel zu sein«, sagte Frau Späth und fuhr sich mit der Rechten über den vorgestern wieder einmal von Mikrohelfern der Göttin kahlgefressenen Schädel, auf dem gerade erst neue weiße Haare zu sprießen begonnen hatten.
«Welcher Witz an welchem Spiel?«
«Daß sich alle überschätzen, bevor noch die entscheidende Schlacht begonnen hat. Der Löwe, seine Techniker, die große dicke Keramikmutter.«
«Du und ich«, sagte der Baum,»wir überschätzen uns nicht. Das macht uns zu Seelenverwandten.«
«Na ich danke«, sagte Frau Späth im Ton, in dem man niest.
Der Baum knarrte wie tausend alte Taue.»Ich hätte mich viel früher absetzen sollen. Aber ich hatte, ich geb's zu, mein Vergnügen dran, mir vorzustellen, was mein Geschiedener für ein Gesicht ziehen wird, wenn er erfährt, daß ich so lange unter der Nase seiner Nemesis gelebt habe. Außerdem war der ganze Sinn meines Exils, daß ich endlich einmal an einem selbstgewählten Ort ein paar Wurzeln schlagen kann, statt mich immer für alles so… bodenlos zu interessieren, daß ich mich in alle Wechselfälle werfe, nur den Idioten zum Nutzen.«
Sie redet gern von Gründen, dachte Frau Späth, also ist sie offenbar gewohnt, daß es noch etwas anderes als Idioten gibt. Sie fragte nach:»Dein Geschiedener?«
«Der nichtsnutzige Vater meiner wunderschönen Tochter.«
«Lasara«, sagte Frau Späth und blinzelte. Jetzt wußte sie, wen sie vor sich hatte.
Madame Baum räusperte sich; wurde dann wütend:»Er kann von Glück sagen, der Trottel, daß ich so wenig nachtragend bin. Ich habe ein paar seiner Agenten hier durch kleine Schubser, Glitches und Unregelmäßigkeiten, die meine Störtröpfchen verursachen, vor der Entdeckung bewahrt. Und ich habe Informationen, die er sammeln ließ, verbessert, interpoliert — was seine Spione ihm vorlegen, hätten sie allein nie sammeln können.«
«Und an mich wendest du dich jetzt weshalb?«
Ein Käfer krabbelte aufs linke Knie der Komponistin. Sie wischte nach ihm — und fand, daß er nicht verschwunden war, nachdem ihre Hand ihn eigentlich hätte weggefegt haben müssen. Sie drückte die flache Handfläche drauf, nahm sie weg — er wuselte weiter, war also eine Illusion.
Interessant.
Livienda antwortete:»Weil wir zwar den angenehmen Mangel an Selbstüberschätzung gemeinsam haben, weil uns aber doch etwas trennt: Du unterschätzt dich, und das würde ich gern ändern, im Tausch gegen gewisse… Freundlichkeiten, die du mir erweisen könntest.«
«Ich bin also wichtiger, als ich glaube, ja? Wie das?«
«Du hast ihr sehr geholfen, auf eine Art, wie das keine ihrer vielen… Unterjochten könnte. Katadingsda, meine ich. Du bist freiwillig bei ihr geblieben, als sie dich darum bat. Sie kennt dein Geheimnis, sie weiß, daß du die… Freieste von allen bist, die heute leben. Aus deinem Hirn hat sie, während du schliefst, in eurer ersten gemeinsamen Nacht hier, das Wissen gepflückt, das ihr ihren Kriegszug erlaubt. Ohne dich zu töten. Erstaunlich, daß sie das nicht tut. Nicht will…«
«Vielleicht kann sie's nicht.«
«Siehst du. Was hieße das? Wie mächtig bist du also?«
«Na gut, das Wissen, das…«
«Die Kenntnis der Wege, die seitwärts durch alles führen. Die porösen Stellen im Festgefügten. Die Fluchttunnel aus der der Abfolge von Früher, Heute und Nachher.«
«Du meinst… die Mehrdimensionalität der Keramikanerbaupläne.«
«Das ist ihre Nutzanwendung deiner Talente, ja. Das mißbrauchte Wetzelchen.«
«Wo… woher kennst du diesen Namen?«Frau Späth war jetzt hellwach.
«Ich kenne so einiges. Ich weiß sogar über einige deiner Talente genauer Bescheid als die… dumme Göttin. Talente, die ihr gezeigt haben, daß du frei bist von den Beschränkungen, die… daß sie nicht wirklich einen Zugriff auf dich hat, jedenfalls keinen so direkten wie auf alles andere, was dieser Planet… beherbergt.«
«Bei dir klingt das, als könnte ich machen, was ich will.«
«Kannst du auch.«
«Vom Preis ist, leider, nicht die Rede, hm?«
«Preis?«
«Den ich bezahlen müßte, wenn ich mich entfernen würde, und der mich hier festgehalten hat, lang über den Moment hinaus, an dem ich's satt hatte. Den ich nicht zahlen kann, weswegen ich nicht weniger festsitze als… alle hier.«
«Das redest du dir ein«, der Baum bog sich.»Wir sind einander vielleicht nicht halb so ähnlich, wie ich gedacht habe. Du machst dir noch viel vor, um dich zu ertragen, deine Verantwortung für das alles hier.«
«Pff«, machte Frau Späth, löste ihre Glieder aus dem meditativen Knoten, stand auf und wandte sich zum Gehen.
«Halt, nein, warte, laß uns nicht… es tut mir leid. Ich habe mich in etwas eingemischt, das mich nichts angeht.«
«Ganz recht. «Frau Späth zögerte.
«Meine Bitte: Schneid einen Zweig ab, wenn es soweit ist, eine Knospe. Behalt einen Anker, daß ich nicht aus der Welt gerissen werde. Nimm mich mit, wenn sie dich gehen läßt.«
«Gehen? Wohin?«
«Meine Tochter baut eine Arche. Sie weiß, daß die Gente keine Wahl haben als nur die eine: Katahomenleandraleal und den Keramikanern die Erde zu überlassen. Sie paßt hierher, die neue Göttin. Sie braucht nicht mehr als das Irdische, ihr Wachstum wird geregelt sein, in den natürlichen Kreis eingetragen. Aber diesen Kreis müssen… wir… Älteren… dafür räumen, wenn wir weiterleben wollen. Sogar Ryuneke sieht's ein. Wir haben uns unterhalten. Mit Mühen. Flüstern. Verzögerungen.«
«Und du glaubst, daß ich diese Arche betreten werde? Daß ich mitfahren will?«
«Du wärst längst freiwillig in Katahomenleandraleal aufgegangen, wenn du nicht sehr daran hängen würdest, du zu sein.«
«Vielleicht. Andererseits: Was, wenn ich nur was mit mir auszumachen hatte, bis jetzt noch? Vielleicht muß ich mit mir ins reine kommen, mit dem, was von mir stammt, meinen Töchtern und Söhnen, und dann…«
«Auch das geht mich nichts an. Aber da du selbst davon sprichst: Wir wollen doch mit denen einig sein, die wir zeugen. So ich mit meiner Tochter, so du mit… Geh, darum bitte ich dich, nicht allein zu Lasara, wenn du zu ihr gehst. Nimm mich mit, dann kann ich hier… ohne Furcht… absterben. In den Boden eintauchen, mich in Nichts zurückbilden.«
Frau Späth dachte eine Weile darüber nach.
Dann sagte sie, nicht unfreundlich:»Na gut. Wenn… nein: falls ich gehe. Dann nehme ich dich mit.«
«Ich danke dir.«
2. Abwehren statt Reizen
«Der Gürtel gleicht, abgesehen davon, daß er uns einschnürt, seit sie von Nordafrika aufs alteuropäische Festland übergesprungen sind, durchaus im großen den Gürteln, die wir, wenn auch viel kleiner, um die drei Städte gezogen haben, damit dort…«Die Fledermaus klang verschnupft.
Georgescu gähnte, als hätte sie eine Maulsperre.
Der Löwe, der als holographische Projektion dieser Notsitzung des Kabinetts sehr würdig präsidierte, übersah die kleinen Unehrerbietigkeiten: Daß der Affe Stanz sich von seiner Assistentin lausen ließ, daß der Atlantiker Ropicc in seinem Tank mit offenen Augen zu schlafen schien, daß die Insekten durcheinanderschwirrten, statt Formation zu halten.
«Landers«, nahm Georgescu scheinbar träge, aber mit genau berechneten Pausen Izquierdas Faden auf,»werden sie zuerst erreichen. Und wenn sie sich verhalten wie auf dem wilden Kontinent — ich mag die alten Namen nicht, anders als unsere Freundin hier, ihr wißt es, aber für sie will ich es klar sagen: falls sie sich aufführen wie in… Afrika, dann werden sie alle Gente, die versuchen, die Stadt gegen die Linien zu verlassen, mit Feuer und biotischer Kriegsführung zurückschlagen, gleich, ob es sich um einen Ausfall handelt oder um nackte Panik. Kleinere, nicht gesperrte Lücken, die ein Herausströmen der Gente ins Landesinnere ermöglichen, werden dagegen nach allem, was wir gesehen haben, stets geduldet.«
«Weil die Flüchtlingsströme unsere Ökotektur durcheinanderbringen«, stellte der Löwe nüchtern fest,»und uns damit zermürben. Landers platzt aus den Nähten. Auch Borbruck kann keine Gente mehr aufnehmen.«
«Aufnehmen«, sagte Izquierda und kreuzte lustig die Ohren überm Kopf, wobei sie die Stirn in Falten legte,»das ist das Stichwort — sie haben, wenn unsere Wärmetasteraufnahmen denn korrekt anzeigen, was vor sich geht, jetzt genug Biomasse absorbiert: Sie töten nur noch, nehmen nicht mehr auf, bauen nicht mehr um. Große stinkende Haufen bleiben übrig; die Vergewaltigungsphase ist vorbei — auch in Nordamerika übrigens.«
Der Löwe ging kalt darüber hinweg:»Die politische Lage bei uns — Georgescu?«
Die Dachsin zeigte ihr schiefstes Grienen, dann sagte sie:»Ich hätte ein Walhai werden sollen, ganz und gar, nicht nur partiell, nicht als Setzling, sondern, na — ich hätte davonfliegen sollen. Mit einem Wort: Um uns herrscht das Chaos. Die Polyarchen sind noch die Loyalsten, ich hätte nie gedacht, daß ich so etwas Perverses mal äußern würde. Die Isottatempelleute warten aufs Wetzelchen ex machina oder was immer, sind in Klausur. Alles, was sonst überhaupt ein Programm hat, eine Plattform, einen politischen Willen, schwächt im Augenblick unsere Wehrbereitschaft. Die größte Fraktion, Sie werden's nicht gern hören«, das Kopfnicken in Richtung König war ganz lustlos,»sind die neuen Lasaristen. Sie agitieren für den Exodus. An zweiter Stelle schon die Ivanov-Leute…«
«Der abtrünnige Dachs«, knurrte Cyrus Golden.
Georgescu ließ ein verächtliches Atementweichen hören:»Phh… ja, seine Bande. Er war immer ein Arschloch, was soll's? Jedenfalls macht er den Gente seinen Wahnsinn schmackhaft: Übergabe auf Gnade und Ungnade, oder, bei den Gemäßigten: Wir sollen wenigstens Boten schicken, Parlamentäre, um die Chancen für einen Verhandlungsfrieden zu ventilieren, oder…«
Es war nicht der Löwe, der die Abwehrchefin unterbrach, obwohl er solche Reden haßte.
Es war ein Aufschrei der Fledermaus; der letzte, den man von ihr zu hören bekam.
Wo sie saß, schlug etwas, das wie schlechtgewordenes Licht aussah, einen verwischten Bogen in die Luft, der selbst denjenigen einen stechenden Kopfschmerz verursachte, die ihn nur aus den Augenwinkeln sahen.
Dann war Izquierda weg; vom Kabinettstisch fortgestohlen, der mitten im bestbewachten Gebäude der sichersten Stadt im Tierreich stand.
Die Keramikaner hatten gezeigt, woher sie kamen: aus dem Nichts, und wie sie sich Geltung verschafften: unaufhaltsam, unbegreiflich, augenblicklich.
Der König war der erste im Raum, der sich wieder in der Gewalt hatte.
Die Frage, die er stellte, klang recht ruhig:»Wo steckt eigentlich Philomena?«
3. Nicht zu retten
«Steh auf! Steh auf! Steh auf, du Vollidiot! Steh auf!«
Anubis wußte gleich, daß das Menschen waren, die da schrien. So rauhhalsig, kaum artikuliert, am Rand des naturhaft hirnlosen Gurgelns, machten weder Gente noch sprachlose Tiere auf sich aufmerksam.
Der Marder duckte sich dicht auf den Boden; die Lärmenden hatten ihn bei Peinlichem gestört, beim Nestbau.
Er hatte sich von den Freunden entfernt, nachdem beschlossen worden war, daß man im Außenbezirk eines ausgedehnten Waldes ein paar Tage rasten wollte, etwas jagen, die Verbindungen zu den drei Städten ruhen lassen und das weitere Vorgehen besprechen. Querab von der Front, die das Vorandrängen der Keramikaner schuf, hatte die Helden ihre Bahn geführt, so daß sie täglich mehr Abstand zwischen sich und das Wüten der Unverständlichen brachten, ohne doch direkt orthogonal zur vordersten Reihe der Horde vor dieser davonzulaufen.»Wir wollen sie«, hatte Hecate erklärt,»so lange wie möglich im Auge behalten, in Hörweite ihrer größeren Feuerstöße und Freßorgien, damit wir Aufzeichnungen machen können. Vielleicht kann's Georgescu nützen.«
Nun war vor zwei Nächten, wenn die Berichte der ausgestreuten Krabbelsonden aus der Mähne des Pferdes akkurat waren, die Front etwas ins Stocken geraten, wenn auch nicht zum Stehen gekommen.
«Also«, hatte der weiße Tiger gefolgert,»können wir uns ja wohl eine Pause erlauben.«
Anubis war, ebenso wie die Tinkerstute, damit einverstanden gewesen. Hier, im Gebüsch, hatte er seine anhaltende Nervosität mit einem kleinen kontrollierten Rückfall in instinktgesteuertes Verhalten zu beruhigen gedacht: Mit Gras, Haaren und gefundenen Federn war er darangegangen, eine Baumwurzelhöhle sich auszupolstern, um dort, statt am Feuer mit den Gefährten, etwas Schlaf nachzuholen und zu träumen, wovon Frettchen träumen.
Den Bauch am Boden, in vorsichtig flachen Zügen atmend, schlich sich Anubis zwischen den Hügeln an den Abhang, in dessen tiefstem Punkt zwei Menschen einen dritten traten, daß der heulte und sich vor Schmerz zusammenrollte.
«Auf jetzt! Und ins Geschirr zurück! Steh auf!«
Sie waren Kinder, sah Anubis jetzt, und verkrüppelt: An ihren Armen gab es keine Hände, nur Stümpfe mit stachelartig knochigen Auswüchsen. Lumpen am Leib, von getrocknetem Sumpfwasser und Schlamm verdreckt, gingen zwei in Sandalen aus schwarzem Material, vielleicht Reifengummi — Anubis wußte Bescheid über die Sitte der Abgetanen, aus den letzten unverwüstlichen Überresten der Langeweile primitive Gebrauchsgüter zu fertigen. Das Mädchen, das am heftigsten nach dem Hilflosen im Dreck trat, trug aber Stiefel aus Leder, mit glänzenden, polierten Kappen, womöglich aus Stahl, dachte das Frettchen.
Andere liefen hinzu; es war schließlich ein halbes Dutzend Leute beisammen. Das Opfer der Tritte sah nicht einmal am elendesten aus — es gab zwei etwas weiter entfernt Stehende, die noch hinfälliger wirkten. Die Haltungen, die sie einnahmen, kurz vor dem Umfallen, verriet dem Frettchen, daß sie müde waren von schweren Strapazen, vielleicht einer Reise, die sie noch weiter geführt, noch zielloser umgetrieben hatte als die drei Helden die ihre. Um die Bäuche der Schinder waren Riemen gebunden; sie trugen, daran festgemacht, Gurte über den Schultern, die sich auf dem Rücken kreuzten, wo Haken aus Metall und Schlaufen waren. Sie hatten wenig Haare, ihre Augen waren groß, ihre Gesichtszüge für Menschen sogar schön, wenn auch von Wut und Entbehrung verzerrt.
Hinter der Biegung, unterhalb einer Reihe hoher Tannen, kamen weitere Erwachsene zum Vorschein, die an Seilen einen großen, aus knotigem Balken- und Bretterwerk gezimmerten Bollerwagen mit schweren beschlagenen Rädern zogen. Am rings um diesen Wagen aufgepflanzten Rahmen hing Kochgeschirr, auch waren da Lappen, soßig braun, dann ein paar Knochen, nicht von Menschen, soweit das Frettchen deren Anatomie kannte, vielleicht von Gente, möglicherweise aber auch von Tieren, die keine Sprache hatten, vielleicht unglücklichen Hunden, außerdem verschiedenes Gerät, von dem Anubis nicht erriet, wozu es gut war.
Auf der freien Ladefläche erkannte das Frettchen zusammengebundene Gegenstände um eine verdreckte, aus bemaltem Zinn oder ähnlichem gefertigte Wanne gruppiert, die man auf der Bodenplatte festgeschraubt hatte und in der teils stumpfe, teils glänzende Riegel lagen: Barren aus Gold, mehr als ein Dutzend.
Anubis fragte sich, was die Menschen mit dem Zeug vorhatten. Er wäre froh gewesen, wenn eine Verbindung zur großen Ökotektur der Pherinfone bestanden hätte, so daß er den Freunden oder anderen Gente hätte Nachricht geben können. Nie zuvor waren ihm Menschen begegnet, mit denen er etwas gemeinsam hatte: Sie waren auf der Flucht vor den Keramikanern und würden vielleicht sogar, wenn sie auf ihrem gegenwärtigen Kurs blieben, früher oder später um Einlaß in Landers bitten.
Sollte der Löwe zulassen, daß man sie aufnahm, und sei's als Bewohner der schmutzigsten Ghettos, im Schutt, in der Kloake, die zu ihnen paßten? Entstand, vom Krieg erzwungen, eine neue Sorte Schicksalsgemeinschaft?
Das Kind am Boden rollte sich seitlich ab, bis es ein Ginsterbüschel streifte. Auf einmal war es, ohne Zuhilfenahme seiner Arme, aufgerichtet, auf den Knien, und hob den Oberkörper den Tritten entgegen. Es schrie, es spuckte Blut und Speichel. Schwarze Flüssigkeit lief ihm aus dem linken Ohr und beiden Nasenlöchern, während es sich schüttelte, als wären Teufel in es gefahren. Die Quäler wichen erschrocken zurück, die Erwachsenen lachten.
Das Frettchen geriet in grimmige Stimmung: Wir haben ihnen die Hände zerstört, und einigen von uns, auch mir, in meiner Jugend, war beim Gedanken daran mulmig. Wenn man aber sieht, wie sie einander auch ohne Hände beharken… der Gedanke wurde nicht zu Ende gedacht, denn jetzt sah Anubis etwas noch viel Beunruhigenderes: Sie hatten gelernt, mit ihren zerstörten Greifwerkzeugen so geschickt zu agieren wie zuvor mit den fünffingrigen. Einer der Männer am Karren nämlich nahm, dabei die Fortsätze seines Armknochens wie robotische Präzisionsgreifer gebrauchend, eine Rute mit an einer Kette festgemachter tropfenförmiger Kleinkeule, wohl einem steinchen- oder glasgefüllten Lederbeutel, vom Rahmen, lief im Geschwindschritt zum Getretenen und schwang dabei den Stab, wie um zu drohen: Steh auf, sonst wirst du mit dem Ding geschlagen.
Ein Schluchzer, der dem Frettchen den Magen zusammenzog, drang aus der Kehle des Knienden, dann war der Große bei ihm, holte schwungvoll mit der Rute aus und hieb den Schleuderbeutel so heftig gegen den Kiefer des Kindes, daß etwas krachte, splitterte. Der ganze Oberkörper wurde nach rechts geworfen. Anstatt aber erneut auf den Boden zu schlagen, federte der kurze Leib zurück wie eine Gerte, fiel dann nach vorn, und um nicht in den Staub zu fallen, stützte sich das Kind mit seinen Armstümpfen ab.
Zwei der andern Kinder waren gleich zur Stelle, griffen ihm mit verwachsenen Nichthänden unter die Achseln, rissen es hoch. Es würgte, drückte mit der Zunge weiße Bröckchen aus dem Mund. Anubis begriff, daß das Zähne waren.
In einem Tonfall, der nicht unbeherrscht, ja beinah freundlich klang, ermahnte der Mann mit dem Stock sein Opfer:»Willst du jetzt zurück an den Wagen, oder sollen wir dich kochen wie die Köter?«
Das Kind hatte sich also irgendwie aus den Seilen, an denen jetzt die Erwachsenen zogen, befreien können, und dann hatten die Erwachsenen die andern Kinder, weil die schneller laufen konnten als sie, von den Fesseln losgemacht, damit sie den Ausreißer fingen. Das war geschehen — was für eine Spezies, gruselte sich das Frettchen, deren Meute man für Bütteldienste befreien, ja buchstäblich von der Leine lassen kann, ohne fürchten zu müssen, daß sie davonlaufen. Warum? Weil man sich darauf verlassen kann, daß das Mobvergnügen ihnen lieber ist als eine unsichere Freiheit.
Anubis hatte genug gesehen. Sein Nest wollte er in der Nähe dieser Monster lieber nicht einrichten. Er beschloß, zu den Freunden zurückzueilen, um Hecate zu fragen, was zu tun war: Sollte man sich mit den Menschen anlegen, einlassen, sie meiden oder sie den Keramikanern zutreiben, um zu erforschen, was geschah? Sollte man nicht das Wappen der Gente als Feldzeichen im Krieg gegen beide, Menschen und Keramikaner, wieder aufrichten?
Anubis fand Huan-Ti beim Schärfen seiner Krallen an einem schwarzen Stein.
Vielleicht, mutmaßte das Frettchen, markierte er damit sogar ein imaginäres Revier.
Hecate wieherte hinter ihm, er blickte sich um: Sie stand auf einem kargen Flecken Wiese, den sie in kurzer Zeit abgegrast hatte.
«Freunde, aus der Rast wird nichts«, pfiff das Frettchen,»ich bin einer bösen Sache begegnet.«
In knappen Worten schilderte Anubis, was er gesehen hatte.
Sein unsicherer Vorschlag, man könnte die üble Gesellschaft ja vielleicht zu Versuchen in Sachen Keramikaner einsetzen, ließ Huan-Ti auflachen. Die Tinkerstute war anderer Ansicht:»Ich finde, wir sollten ihnen aus dem Weg gehen.«
«Hast du Angst vor dem Stock und dem Knüttel?«höhnte der weiße Tiger.
Hecate schüttelte unwirsch den Kopf:»Wir überwältigen sie ohne Mühe, das ist klar. Waffen hin, Waffen her — sie sind wenig mehr als, nun ja, Wilde. Aber die Keramikaner… damit spielt man nicht. Wir rennen nicht kopflos davon, aber wir verringern den Abstand auch nicht ohne Not. Das war die Übereinkunft. Wir überlassen die Menschen ihrem Schicksal, wir haben mit unserem eigenen genug zu tun.«
«Die Menschen ihrem Schicksal überlassen, und einander«, Huan-Ti leckte sich über die Hauer,»davon hab ich gehört. Das ist die Geschichte von der Kannibaleninsel — die erste Zwangsmaßnahme gegen Menschen, die der Löwe verhängt hat, kurz nach der… Gründung von Borbruck.«
Anubis kannte die Geschichte nicht:»Was war das?«
Hecate schnaubte, dann scharrte sie im Erdreich, schließlich sagte sie mit finsterem Gesichtsausdruck:»Man hat sie zusammengetrieben und verschifft. Auf Tankern.«
«Verschifft wohin?«
«Eine künstliche Insel, aus aufgeschwemmtem Korallenbestand. Reich baumbewachsen. Mit Früchten. Etwa dreihunderttausend Leute, manche sagen auch, eine halbe Million — Izquierda, damals noch selbst eine Dachsin…«
«Ach?«Das war Huan-Ti neu.
Hecate nickte:»Ja, deshalb die enge Zusammenarbeit mit Georgescu. Der alte Militäradel des Löwen, die kennen sich, seit sie… weder Fell noch Flügel hatten. Jedenfalls wurden… alle Quartiere der Überwundenen um Borbruck evakuiert, und man erlaubte ihnen nur, ein paar krude Werkzeuge mitzunehmen — Äxte, Schaufeln, Sägen, keine Gewehre. Aber Stoffe, und Material für, na, für ihre Füße.«
«Schuhzeug.«
«Ja. Ein bißchen zuwenig, vielleicht kalkuliertermaßen — ein Experiment der späteren Fledermaus, mit dem man herausfinden wollte, wie lange es dauern würde, bis sie einander an die Gurgel gingen.«
Anubis schauderte.»Wie hast du«, wandte er sich an Huan-Ti,»die Geschichte genannt? Kannibaleninsel?«
«Sie haben einander schon auf der Überfahrt…«, die Tigerzunge hing heraus; Huan-Tis Augen leuchteten: Er fühlte sich im Recht, glaubte, er könne damit den andern belegen, daß Menschen der Abschaum der Schöpfung waren.
«Brrr, wie scheußlich«, fiel das Frettchen ihm ins Wort.
Hecate räusperte sich und fuhr fort:»Es gibt Berichte, die man in Kapseits und Landers studieren kann, in den Archiven. Nicht alle sind in den menschenfressenden Irrwitz verfallen. Es gab auf der Insel Opfer und Täter. So einfach, wie Huan-Ti die Sache haben will, war sie nicht. Wir haben diese Leute erst zu dem gemacht, wovor wir uns dann so ekeln konnten, daß uns unsere Untaten gegen sie rechtschaffen vorgekommen sind. Sie haben selbst die Dokumente geliefert: auf Birkenrinde geritzt, als Tagebücher, Hilfeschreie an ihre Götter…«Der Satz mußte nicht beendet werden.
Huan-Ti schwieg zur Selbstanklage des Pferdes.
Anubis fand, es wäre günstig, das Thema zu wechseln:»Was wollen sie eigentlich mit dem Gold auf ihrem… Treck?«
«Das lieben sie. Das glänzt so schön, ein liebster Fetisch«, sagte Huan-Ti und sah Hecate vorwurfsvoll an,»die Sache gehört zu ihren widerlichsten geschichtlichen Eigenarten, das Anhäufen von abstraktem Reichtum, in Form von Sachen, die man nur zum Tauschen gebrauchen kann… oder sind wir daran auch wieder schuld, Frau Moral?«
Hecate überraschte ihn mit ihrer Antwort:»In gewisser Weise schon. Natürlich nicht am Goldhorten an sich und an den Tatsachen, die du meinst. Aber…«
Anubis fuhr zusammen wie gebissen, als er Huan-Ti brüllen hörte — nun, nicht eigentlich brüllen, verbesserte er sich sofort, weil ihm Eskalationen zuwider waren. Es war mehr ein empörtes Husten gewesen, und den Rachen hatte er auch nicht sehr weit aufgesperrt dabei. Der Tiger schluckte schmatzend und sagte dann:»Schuld? Ich habe unter Ryuneke gearbeitet, meine Liebe, ich weiß Bescheid! Erzähl mir nichts! Schuld! Schuld an ihrem ganzen Wirrwarr, den Verflechtungen, dem Karussell des Geldumlaufs, bei dem am Ende niemand mehr wußte, wer das Ausfallrisiko trägt, schuld an ihren Pyramidenspielen, an ihren absurden Maßstäben — mal gab es einen Goldstandard, mal nicht, und als er weg war, konnte es passieren, daß Gold, in dessen Sicherheit als nicht leicht zu fälschendes, nicht leicht zu vervielfältigendes allgemeines Äquivalent sich die sogenannten Anleger, die Vorratshalter und Zinsfresser flüchteten, in wenigen Jahrzehnten den zwanzigfachen nominellen Wert zugeschrieben bekam. Schuld? Schuld an Inflation, Deflation, Überproduktion, Blasenbildung im Finanzwesen… ich hab Lasara gehört, an der Akademie von Kapseits, ihr Seminar über Wachstum und Wahnsinn, ich war dabei, als sie den großen Vorstoß riskiert hat, gegen Ryuneke, dessen viel zu zahmes neues ökonomisches System noch viel zu viele Anleihen beim alten, aus der Langeweile bekannten, elenden…«
«Eben«, Hecate hatte sich zurückgehalten, jetzt mußte sie ihm dreinfahren, und Anubis dachte nicht zum ersten Mal, daß er wirklich keine Lust verspürte, jemals bei einer ernsten Auseinandersetzung zwischen diese beiden zu geraten,»das ist er doch, der Name, um den es hier geht: Ryuneke. Was glaubst du, mit wem sie handeln, heute noch, diese Menschen, diese Flüchtlinge aus der Vergangenheit, die Anubis gesehen hat?«
Ein obszönes Geräusch war Huan-Tis Erwiderung, dann der Satz:»Mit uns vielleicht, den Gente?«
«Mit Ryuneke Nirgendwo. Er unterhält Handelsposten, überall in den Einöden, auf den unwegigen Pässen — ja, auch direkt vor Izquierdas Nase, im Präferenzgebirge, auch dort gibt's noch Menschen, wie an jedem Ort, den zu zivilisieren und ans Pherinfongewebe anzuschließen sich für die Gente nicht gelohnt hat.«
«Ach ja? Was haben die denn, was wir… was der Fuchs kaufen könnte?«
«Ihre Kadaver. Die ganze alte Biologie. Vor den Gente. Die Genetik. Kolonien von Mikroorganismen, die in biotischen Archiven aufzubewahren niemand für nötig gehalten hat, in der Zeit der Befreiung — und jetzt plötzlich, da ein Gegner existiert, der mit menschlicher Biologie arbeitet und anderen Resten der Ökotekturen vor der Befreiung, müssen wir wieder Experimente anstellen, in vivo, um…«
Anubis war entsetzt:»Izquierda kauft über Ryuneke Menschen?«
«Alte hauptsächlich. Tote vor allem. Ihre Jungen, wie du uns ja«, sie schenkte Anubis ein eher gereiztes als freundliches Kopfnicken,»berichtet hast, brauchen die Menschen für Knochenarbeit selber. Jedenfalls lassen sie sich, wenn sie gerade wieder einmal nicht wissen, was sie sonst von uns haben wollen, oder keine Verwendung finden für die Güter, die wir ihnen anbieten, in Gold bezahlen — weil sie glauben, darin könnten sie den Reichtum speichern, weil sie denken, er werde sich auf magische Art… verzinsen — fragt mich nicht, das ist so ein Aberglaube, ein Hirnfehler bei denen.«
«Brah. Bah. Bäh. «Die drei unbestimmten Laute gaben sehr genau die Denkschritte wieder, die Huan-Ti vollzog, während er verarbeitete, was Hecate erzählt hatte. Er bestand danach nicht mehr auf seinem Haß; aber ein anderer Punkt fiel ihm ein:»Wir haben trotzdem keine Wahl. Wir müssen hin. Sie stellen.«
«Stellen, das klingt wie ein Polizeieinsatz«, Hecate blähte die Nüstern.
«Ist es auch. Oder sollte dir entgangen sein, daß diese… Leute ein Verbrechen gegen Gente begangen haben? Ich muß dich nicht an unsre Rechtsvorschriften erinnern: Wir können umherschweifen, soviel wir wollen, sogar unzivilisierte Gegenden betreten, aber der Iemelianpakt sagt, daß Gente an Feinden der Gente vergelten müssen, was die den Gente getan haben. Und der ist überall in Kraft, wo wir atmen können.«
Anubis verstand, worum es dem Tiger ging:»Ich weiß aber nicht, ob es Gente waren, von denen der… der Mann mit dem Stock geredet hat.«
Jetzt begriff auch das Pferd, wovon die Rede war, und zitierte, was Anubis in seinem Bericht erwähnt hatte:»Ah ja: ›die Köter‹. Die sie… gekocht haben. Zumindest hat der Mensch das behauptet und damit dem Jungen gedroht.«
«Richtig«, sagte Huan-Ti,»und wenn wir Menschen, die uns essen, ungehindert…«
«…dann verletzen wir den Iemelianpakt, in der Tat. «Hecate war beinah schon umgestimmt.»Zumindest verlangt der begründete Verdacht… eine Untersuchung. Ich gebe dir recht. Wir wissen zwar nicht, ob es Gente waren — meine Kenntnis der Sprachen der Menschen sagt mir so wenig Sicheres wie dir, nämlich, daß sich das Wort auf vernunftlose Geschöpfe ebensogut beziehen kann wie auf gewisse Gente —, aber nachsehen müssen wir.«
Der weiße Tiger brummte zufrieden.
«Also, wie machen wir's?«wollte Anubis wissen, erleichtert über die erreichte Einigkeit.
Viel zu planen war nicht.
Man folgte der Spur des Frettchens zurück bis zur Talsenke am Waldrand; nach einer Weile merklich beschleunigt, denn alle drei nahmen, als sie etwa die Hälfte des Wegs zurückgelegt hatten, Gerüche wahr von Feuer und von Blut. Die Tinkerstute, eben noch Bedenkenträgerin, trieb alle zur Eile und achtete nicht einmal auf Huan-Tis Warnung:»Vielleicht sollten wir nicht wie die Trampel ins Lager einbrechen, sondern uns anpirschen, um…«
Als er erkannte, daß das Pferd auf Vorsicht nichts mehr gab, schlug er sich nach rechts ins Unterholz, mit einer Kopfbewegung, die den Freunden — Anubis hockte auf Hecates Rücken, in die Gurte für Taschen mit Proviant und Apparaten gekrallt — bedeutete, daß man sich am Kampfplatz wieder treffen würde.
Erst ein paar hundert Meter vor dem Ziel verlangsamte Hecate ihren Tritt.
«Geh voran, erkunde die Lage«, sagte sie zum Frettchen, das von ihrem Rücken glitt und flink zum Aussichtspunkt davonwuselte.
Der Geruch hatte nicht getäuscht.
Die Menschen waren am Feuer versammelt und gerade dabei, eine Wölfin totzuschlagen.
Zwei weitere Leichen — heiliges Wetzelchen, dachte Anubis — lagen, teils bereits gehäutet, auf dem Platz. Die Kinder machten sich mit Messern und kurzen Spießen darüber her, während auf dem Feuer Fleischbrocken in großen flachen Pfannen brutzelten.
«Sie haben sie nicht mal im Kampf besiegt«, flüsterte der weiße Tiger, der neben Anubis im Dickicht erschienen war, ohne daß das Frettchen sein Kommen gehört oder gerochen hätte.
«Woher willst du das wissen?«zischte Anubis zurück.
«Die Wunden. Die Markierungen an den Wölfen. Da, die Körper, siehst du das? Das haben wir schon früher gesehen. «Anubis schaute genauer hin, ließ seine Linsen den Bildausschnitt vergrößern: Sowohl bei der Armen, die sie traten und mit dem Lederbeutelstock verprügelten, wie bei den andern, die's schon hinter sich hatten, waren Brand- und Kerbverletzungen im Fell zu erkennen, wie sie inzwischen alle Gente, die sich überhaupt für die Vorgänge in der Welt interessierten, kannten und fürchten gelernt hatten — Anubis, Huan-Ti und Hecate waren vor ein paar Monaten die ersten gewesen, die solche Verletzungen erblickt hatten.
«Keramikanernesseln«, stellte Anubis fest.
«Die Monster müssen sie zurückgelassen und sich dann im Pulk seitwärts von ihnen wegbewegt haben, oder die Wölfe sind ihnen entkommen, halb tot, nur um auf Menschen zu treffen, die…«
«…statt ihnen Asyl zu bieten…«, setzte das Frettchen den Satz fort.
«Genug gequatscht«, zischte der weiße Tiger und sprang mit einem Riesensatz laut brüllend aus der Deckung.
Die Menschen hatten Gewehre; sie nützten ihnen nichts.
Zu langsam griffen sie danach, zu umständlich bedienten sie die Waffen. Hecates Hufe zerschlugen die Schädel der Jungen. Huan-Ti war nicht ganz so gnädig; er brachte den Schreienden, Durcheinanderlaufenden und sich mit allen untauglichen Mitteln ihrer Haut Wehrenden zunächst Verletzungen bei, die sie kampfunfähig machten, um dann der Reihe nach die so Gefällten mit Bissen zu töten. Anubis rettete dem Pferd das Leben, indem er dem Anführer — es war der Mann mit dem Knüttelstock — ins Gesicht sprang, als der eine lange Schußwaffe auf die Stute anlegte, um sie in die Stirn zu schießen.
Nach zwanzig Minuten war der ungleiche Kampf vorüber. Elf Menschen lagen tot oder im Sterben.
Die Wölfin, die Britt hieß, wie sie ihren Befreiern mit schwacher Stimme sagte, war nicht zu retten.
Zu stark angegriffen von keramikanischer Verwundung, Nahrungsmangel, Schlägen, den Parasiten der Menschen und den Giften der Kinder Katahomenleandraleals, lag sie auf dem Wagen, den Huan-Ti beschlagnahmt hatte und den Hecate zog, der nächsten Siedlung entgegen, die viel zu weit weg war: eine Woche Marsch, und kein schnelles technisches Verkehrsmittel in Sicht.
«Du schaffst das schon«, redete Anubis, davon in Wahrheit wenig überzeugt, auf der Tragplattform der Wölfin zu, die sich an ihn schmiegte, wie Welpen ihrer Gattung sich an ihre Eltern schmiegen.
«Nein… ich… schaff… das nicht…«, erwiderte Britt lächelnd, mit einem Blick, der bat: Laß gut sein.
Als man eine hochkonnektive Hecke erreichte und also die Pherinfonverbindung zur Gentewelt wieder stand, von Anubis eilends freigeschaltet, mit erstklassigen Protokollen auf schnellstmöglichen Durchlauf hin codiert, fragte Hecate bei medizinischen Datenbanken an, ob es nichts gab, was man für die Wölfin tun konnte.
Die Antwort war sehr ungünstig.
Am Ende bat die Wölfin, man möge ihr das Geruckel ersparen und ihr erlauben, sich unter einen Baum zu legen, damit sie die letzten Atemzüge in Ruhe und Würde tun konnte.
Da umstanden sie die drei Helden und hörten, wie sie sagte:»Kommt mir… nur nicht zu nah. Ich weiß nicht… und ihr wißt nicht… ob die Perrhobakter und… Femtowaffen… der Keramikaner, die meine Verbindung… zu den Pherinfonen zerstört haben… nicht auch auf euch über…springen können.«
Hecate riet richtig, daß Britt damit von ihrem unerfüllbaren Verlangen redete, mit bestimmten abwesenden Gente zu sprechen, und fragte mit leiser Stimme:»Möchtest du… daß wir jemandem etwas… ausrichten?«
Die Wölfin hustete, spuckte Blut und Schleim, ihre Augen waren currygelb. Dann sagte sie:»Steht… die Verbindung? Zeigt ihr es, filmt… ihr mich?«
«Wir senden nicht. Nicht jetzt«, sagte Hecate.»Aber was wir sehen und hören, wird aufgezeichnet, und später… wird Anubis, der… unsere Pherinfonpräsenz in den drei Städten ediert, das Material sichten, vorbearbeiten und weiterleiten.«
«Ich hatte… ich habe einen Bruder«, sagte Britt.
«Er hat… er fand den Weg nicht richtig, den wir wählten. Die Wölfe. «Die drei Helden wußten, wovon sie sprach: Die meisten Wölfe hatten nach dem Abschluß der Befreiung, ähnlich wie einige Affengruppen, beim Löwen darum gebeten, sich zwar an der Ökotektur, nicht aber an den großen Siedlungsprojekten der Gente zu Lande und im Meer zu beteiligen. Sie wollten, erklärten ihre Alphatiere, Formen des nachindustriellen Lebens ausprobieren, in lokal überschaubaren Rudeln, am Rande der dicht bevölkerten Stadtzonen.
Es gab Wölfe, die zu den Polyarchen zählten, andere etablierten ständische oder noch exotischere Ordnungen, darunter die sogenannte» Jagddemokratie«, die auf gewissen synergetischen Theorien beruhte, welche die Wolfsgemeinwesen mit südpazifischen Haigesellschaften teilten. Außerhalb der beiden Gruppen war diese Lebensweise nie von jemandem angenommen worden.
«Er… meinte«, fuhr die Sterbende fort und weinte lächelnd,»wir würden eine… Kinderwelt erschaffen, eine uninteressante… wie hat er gesagt? Ich erinnere… mich… nicht…«
«Schht!«machte Anubis ziemlich hilflos,»streng dich nur nicht an. Es wird dir noch…«
Huan-Ti schaute so streng zum Frettchen, daß es verstummte.
Die Wölfin keuchte, röchelte und setzte dann neu an:»Ge… schichtslos. Geschichtslos, hat er gesagt. Ein trübes Volk. Selbst… selbst wenn wir recht hätten, fand Stepans Sohn… wäre das ein… Recht ohne Wert, ein… ein Urkommunismus für… Anspruchslose. Er wollte… sagte er… es nicht besser machen als die Menschen… ohne… es auch… besser zu wissen… ich glaube…«, sie spuckte Blutspray, Anubis wandte sein Gesicht ab.»Ich glaube nicht, daß er… da richtig… lag… und man das… trennen darf…«
Der Tiger stimmte zu, in sanftem Baßton:»Es ist viel schlimmer, wenn man's besser weiß, ohne es besser zu machen.«
Die Wölfin nickte, japste.»Ja, aber das… das wollte… ich gar nicht sagen. Es ist… nur… daß ich… seit ich die Keramikaner… gesehen habe… weiß… weiß ich… was er meinte… als er… sagte: Ein blindes Rudel… eine… blinde Rotte… es reicht mir… nicht… ein Teil davon… zu sein…«
«Aber die Wölfe sind keins. Nicht blind. Sie bieten ihren Leuten einfach eine Alternative zum Weg des Löwen«, sagte Hecate,»loyale Opposition.«
«Die Wölfe…«, sagte Britt,»sind keins… wir… sind… keins… aber… die Keramikaner… sagt ihm… er hatte recht… den… rohen… Urkommunismus… zu fürchten… und die Anspruchslosen…«
Hecate wollte der Wölfin das Versprechen geben, diese Worte auszurichten, den Bruder zu suchen, und setzte schon zum Reden an, da rang sich Britt mit letzter Kraft die Worte ab:»Sagt… ihm auch… daß wir ihn… nicht vergessen haben… und… ihn lieben und… und daß wir immer der… Meinung waren, daß nicht nur wir… das Recht hatten, unsere Freiheit… gegen… den Löwen zu behaupten… sondern auch… auch er das… das Recht hatte, sein… seine… gegen uns… seine Freiheit… gegen… unsere Freiheit…«
Wenige Atemzüge später schwieg die Wölfin.
Sie hatte zweihundertneunzig Jahre lang frei gelebt.
4. Abwerbung
Im Ballsaal hingen Lüster, im Empfangssaal brannte ein Kamin mit Flammen aus Eis darin; auf dem Zwischendeck standen gefrorene Skulpturen von Gente in allen Körperhaltungen. Es gab Wölfe, Löwen, Vögel… Dmitri Stepanowitsch brauchte Wochen, bis er das meiste gesehen und fürs erste genug hatte.
Kapitän Patel hielt sich meist abseits der täglichen Fahrtgeschäfte in ihrem weitläufigen Quartier auf.
Dort machte Opernmusik die Eiszapfen klirren;»ich komponiere selbst und lasse dann Maschinen spielen, was ich gedichtet habe«, verriet sie ihm beim Essen.
Die Pinguine waren immer emsig, hatten eigentlich nicht einmal Zeit, auf Dmitris seltene Fragen (»Die Metallrohre im Eis, durch die das heiße Zeug fließt, tauen die auch wirklich nichts von der Hülle weg?… Und das Temperaturgleichgewicht muß nicht künstlich gehalten werden?«) zu antworten.
Manchmal belauschte er sie, vor der Kombüse oder auf dem Korridor, wie sie in alten Dialekten aus der Zeit der Langeweile esoterische Fragen der Gentepolitik erörterten (früher, meinte er sich an Erzählungen im Rudel zu erinnern, hatten Matrosen geflucht und gesungen, nicht biophilosophiert):»Katahomenleandraleal, like the Lion, relies upon comparison and extrapolation from artificial to natural. The Lion moves from artifical to neonatural selection, Katahomenleandraleal from human to ceramical machines.«»Yeah, but you see, both rely on the central argument that a common mechanism works much more powerfully in nature.«»But wasn't the whole point of the liberation to end all forms of naturalization of social relations?«»Points like that, my friend, tend to get lost in the shuffle of any revolution.«
Der Wolf fühlte sich an das Gedibber der Kätzchen im Reich der Comtesse erinnert: Anagramme, und um Inhalt ging es gar nicht; entsprechend nahm er an, das, was hier beredet würde, sei vermutlich nur zu verstehen, wenn man die formalen, die sprachlichen und logischen Muster kannte, denen diese Gespräche folgten.
Nach drei Wochen gleichförmiger Reise bat die Eisbärin den Diplomaten per Pherinfonsignal in den großen Heizraum im Bug des Schiffes.
«Mich fragt ja keiner«, sagte sie vergrummelt, als sie das Schott aufdrehte und er neugierig, aber abwartend beobachtete, wie kristalline kleine Frostspitzen an ihren Zotteln gegeneinanderstießen.
«Ich, weißt du, bin keineswegs der Meinung, daß du bereit bist.«
«Wofür?«fragte der Wolf und folgte der Eisbärin in die Gluthitze.
Sie schüttelte sich. Die Spitzen fielen aus dem Pelz wie kleine Pfeile, auf den Boden. Schmolzen. Bildeten, zusammenlaufend, eine kleine Pfütze.
«Wofür?«wiederholte der Wolf, und Rolfa Patel erwiderte:»Riech an der Pfütze. Schau rein. Spiegle dich.«
Der Wolf wollte die Frage mit mehr Emphase wiederholen, sah aber an der krausgezognen Stirn der Bärin, daß das keinen Sinn hatte. Also tat er, wie sie ihn geheißen hatte.
Das Gesicht im Wasser war nicht seins, sondern das eines Fuchses.
«Angenehm, lieber Löwenbote.«
Der Wolf wußte nicht, wie er reagieren sollte, also deutete er vorsichtig eine Verbeugung an. Ryuneke lächelte.
«Oh, ich bin keineswegs der Meinung meiner verehrten Freundin«, die schlauen Äuglein blickten Richtung Rolfa Patel,»daß du, nur weil du so lange Löwenbote, na, Löwendiener warst, für das hier nicht bereit bist. Ich bin vielmehr der Meinung, daß es höchste Zeit ist. Wenn wir dich jetzt nicht auf unsere Seite ziehen, bist du für die Sache verloren.«
Die Sache. Unsere Seite. Dmitri hatte das Gefühl, ein schwerer Vorhang werde vor seinen Augen beiseite gezogen. Er mußte ans Geschnatter der Crew denken: Es hängt zusammen, alle sind eingeweiht, nur ich bin's noch nicht. Er leckte sich über die Lippen und sagte:»Was für eine Seite… und was für eine… Sache?«
«Ich glaube, es ist müßig, das abstrakt zu referieren. Du mußt es dir mit eigenen Augen ansehen, denke ich, und auch dafür ist es höchste Zeit.«
Die Eisbärin seufzte, sagte aber nichts.
Dmitri blieb mißtrauisch:»Und was… müßte ich tun, um mir… den eigenen Augenschein zu verschaffen, von… eurer Seite, eurer Sache?«
«Du solltest zur Raketenbasis reisen. Wo wir den Exodus vorbereiten, oder wie ich's lieber nenne: die zweite Befreiung.«
«Reisen. Noch weiter. Nimm's mir nicht übel, Fuchs, aber ich war gerade auf dem Heimweg.«
«Ach was, das Zuhause, zu dem du zurückkehren willst, gibt es längst nicht mehr. Geh von Bord.«
«Jetzt? Mitten im Meer?«
«Wir haben Fische, die dich führen werden. Und deine Kiemen…«
Der Wolf schüttelte sich, wie vorhin Rolfa, und murrte:»Ah, ich hätte gedacht, ich wäre das los.«
«Der Weg ist nicht weit. Die Basis findest du auf der Insel, die früher England geheißen hat.«
Der Wolf dachte nach. Ryuneke ließ ihm Zeit dazu.
Dann sagte Dmitri Stepanowitsch:»Nein, ich bleibe an Bord. Ich verrate euch niemandem — dich nicht, Rolfa Patel nicht«,»Vielen Dank«, brummte die Bärin, und Dmitri fuhr fort,»schon weil ich gar nicht so genau weiß, was ihr da Antileonisches ausheckt. Aber ins Wasser spring ich auf gar keinen Fall. Wieso sollte ich, für Gente, die ich gar nicht kenne und die mir nie etwas Gutes getan haben?«
Der Fuchs blinzelte.»Wie kommst du darauf, daß wir Leute sind, die du nicht kennst? Das wird unsere Anführerin gar nicht gerne hören.«
«Eure An…«
«Lasara. Sie sagt, ich solle dir sagen: Lynxchen wartet nicht gern.«