III. ZUR MUSIK

1. Vom Hafen

«Bei Strafe des Untergangs«: Dmitri kostete den Satz wie eine überreife Erdbeere.

Er fand, das klang saftig genug für dieses Frühjahr, das einen Sommer versprach, der wieder so heiß werden mochte wie jener im Jahr des Angriffs auf die Menschenhände.

Dmitri mochte den Zander, wie der da so zierlich, detailkrämerisch, weit ausholend und gleichzeitig erkennbar kampfentschlossen von den vielen Verwandtschaften und den komplizierten Geschlechtern redete; von weiblichen Hyänen, in deren Organismus das männliche Hormon Androstendion die Aggressivität hervorrufe, für welche die Art berüchtigt sei,»und doch verhalten sie sich, was die Reproduktion betrifft, ganz schicklich, ja sind fürsorgliche Mütter, woraus wir ersehen können, daß die, wie soll man sagen, weiblichen Bereiche ihres Hirns auf irgendeine Weise wohl, nun ja: geschützt sind vor den Androgenen, die ihr aggressives und territoriales Verhalten maskulinisieren«.



Dann folgte einiges, ja vieles, von den Menschen, die fast verschwunden waren, und daß es bei denen einen genetischen Marker für Aggressivität und Gewalt gegeben habe, der,»wo er auftrat, die Wahrscheinlichkeit des Begehens einer Bluttat ums Neunfache gegenüber dem Fall seiner Abwesenheit zu steigern vermochte«, nämlich» die menschliche Männlichkeit als solche«.

Nach diesem lustigen Hinweis hielt der Experte sich eine Weile bei der fiktiven Überlegenheit auf, die sich homo sapiens erfolgreich eingeredet hatte — gegenüber allem Fleisch sonst, den Vögeln, dem Vieh und allem Gewürm, das auf Erden kriecht, und bei den schlimmen Gesellschaftskrankheiten, die von allen Wesen auf der Welt nur diese angeblich Überlegenen gekannt hatten, darunter der übelsten, zu deren Symptomen chronische Anämie, Mangelernährung und schwere Erschöpfung gehört hatten, in der Langeweile bekannt unterm Namen» Armut«, übertragen von der Mutter aufs Kind, mit auffällig höheren Übertragungsraten unter Weibchen.



«Sie wollten sich vor allem unterscheiden, von den Vögeln nach ihrer Art, von dem Vieh nach seiner Art und von allem Gewürm auf Erden nach seiner Art, und unterschieden haben sie sich von denen ja auch wirklich. Menschen waren aus anderen Menschen zusammengesetzt gewesen, wie man heute sagt.«

Der Wolf merkte auf und fletschte die Zähne: Das sagte nicht» man«, das hatten die Maschinen im Urwald verkündet. Zur Lehre Bene Gente gehörte dieser Satz jedenfalls nicht.

«Oft aber war die Konstruktion schadhaft, oft war die Integration der Teile mißlungen. Wir müssen«, sprach der Zander und spielte schnellgeschnittene Filme dazu ein,»wenn wir verstehen wollen, wie alles kam und was davon auch auf uns gekommen ist, zurückgehen bis in die Grundlagen des Geschlechtlichen und insgesamt Biotischen. «Weiß der Fuchs, dachte der Wolf, dieser Zander versteht sich drauf, einen Satz zur Waffe umzubauen.»Wir müssen aber auch das Gesellschaftliche verstehen lernen, die mehreren tausend Jahre, in denen die Menschen daran herumgebastelt haben; denn aus ihren Fehlern ist viel zu lernen. Männer und Frauen: Als sie den allgemeinen Reichtum erreicht hatten, blieb doch der allgemeine Wohlstand aus. Warum? Die Sterberate verbesserte sich — in den reichen Ländern. Die Kinder dort überlebten das Säuglingsalter immer öfter, Lebensstandard und Lebensqualität wuchsen, aber im Zuge dieser Fortschritte wurden die Neigung des Männchens zur Gewalt und die Fähigkeit des Weibchens, Junge zu gebären und aufzuziehen, zu Problemen, wo sie zuvor evolutionäre stabile Strategien gewesen waren — nicht länger Natur, sondern ein Haufen sozialer Sorgen, der die Wohlfahrt bedrohte. Die Menschen fanden keine Lösung. Warum nicht?«

Ein Filmchen über einen Schimmelpilz platzte ins Bild und verging — Einzeller wurden zu einem multizellularen Organismus, der, nachdem er pflanzenartig Sporen ausgesandt hatte, wieder zerfiel, so schnell, wie der Film sich auflöste, der das eigenartige Geschöpf vorstellte, bis auf ein paar Markierungen (dictyostelium discoideum) und Wortbeigaben (»Sie bilden eine andre Masse. Gewebegleich. Die Menschen nannten es Pseudoplasmodium.«) gänzlich unkommentiert, so daß dem Wolf augenblicklich klar war: Hier wurde nicht erwartet, daß man das Gezeigte bewußt wahrnahm — es setzte bloß Fußnoten fürs Vorbewußte, von den riesigen Rechenkapazitäten der Gentehirne später zu verarbeiten.

«Sie haben versucht, eine Weltgesellschaft zu schaffen«, sprach der Zander, und man sah einen Behemoth, der Gras fraß wie ein Rind: Welche Kraft war in seinen Lenden, und welche Stärke war in den Muskeln seines Bauchs, und sein Schwanz streckte sich wie eine Zeder, die Sehnen seiner Schenkel waren dicht geflochten; seine Knochen waren wie eherne Röhren, seine Gebeine wie eiserne Stäbe.

«Das erste der Werke des selbsterschaffenen Gottes Mensch. Der ihn gemacht hat, gab ihm seine Waffen. Die Berge trugen Futter für ihn, und alle wilden Tiere, die Väter und Mütter der Gente, spielten dort und ahnten nichts. Er lag unter Lotosbüschen, im Rohr und im Schlamm verborgen. Sie konnten ihn bald selber nicht mehr sehen. Jetzt ist er gefangen, vom Löwen, Auge in Auge, in der Falle der Wissenschaft. Seine Zunge hat unser Herrscher mit einer Fangschnur gefangen, mit der langen Kette der Pherinfone. Die Menschen? Sie wußten nicht, wie genau sie wovon eigentlich täglich lebten, sie wußten nicht, wie sie Männer und Frauen sein und bleiben würden, wenn sich doch um sie herum alles ständig veränderte. Eutherische Tiere, die sie waren, begriffen sie nicht, daß ihre Grundform die weibliche war — XX oder XY, die Chromosomenalternative, nun ja: Das Alternative daran war die Möglichkeit einer Abweichung der Kinder von den Müttern. Greift man kastrierend ein beim männlichen Hasenembryo, so entwickelt sich ein normales Weibchen. Vögel dagegen«, ein Schwarm Kraniche, im Hologramm, schwamm anmutig flügelschlagend durchs Wasser, in dem der Zander schwebte,»sind von Natur aus Männchen — ZZ oder ZW nennen wir hier die Chromosomenpaare. Ein Pfauenweibchen, mit männlichen Hormonen gefüttert, wird zwar unruhig, aber nichts sonst geschieht — es sei denn, man unterdrückt die weiblichen Hormone, dann wächst dem Geschöpf plötzlich ein flammender Prachtschweif. Und meine Atlantiker, meine Freunde, meine Fische… bei vielen Spezies dieses Lebenskreises ist die Sache sinniger als bei allen von mir genannten andern geregelt — nimmt man das dominante Männchen aus der sozialen Gruppe, wird das größte verbleibende Weibchen einfach selbst ein Männchen. Vergessen wir für den Augenblick die Beuteltiere, sie sind zu seltsam«, der Zander machte ein Gesicht, das Ironie andeuten sollte; der Wolf schnaubte leise,»und denken wir an die parthenogenetischen Arten, damit der Überblick vervollständigt ist. Die Peitschenschwanzechse — was wir aus der Zeit der Langeweile noch in Archiven finden, legt nahe, daß die Menschen glaubten, das Männchen-Weibchen-Paarungsverhalten dieser Art, in der es in Wahrheit nichts als Weibchen gibt, sei Folge der Gefangenschaft durch Menschen. Unfug — wir wissen's heute besser, wir wissen sogar, wie die Frage der Jungfräulichkeit insgesamt mit dem Schicksal des Menschengeschlechts verknüpft ist. Wir wissen, daß die vorgeschichtlichen Proto-Gorillas, ersten Schimpansen und frühen Menschen, durchaus Weibchen hatten, die so robust gebaut waren wie die Männchen. Das Datenmaterial ist da, die Diagramme sind gezeichnet. Also: Wo setzen wir an, fürs Gametenpartnerrecht? Beim genetischen Geschlecht, beim hormonellen, beim sozialen? Die Arbeitsgebiete, im groben: erstens Geschlechterfragen, zweitens Vergesellschaftungsweisen, drittens die Frage der bisher nur teilweise erfolgten Aufhebung der Arten, insoweit eine echte Artgrenze den Pool einzäunt, in dem man zeugungsfähige Nachkommen zeugen kann, viertens, was vermeiden wir, was rühren wir nicht an vom Erbe des gescheiterten Experiments Mensch? Uns bleibt wenig Zeit, wir müssen schnell Sätze von Gesetzeskraft finden, bei Strafe…«

«…des Untergangs«, beendete Dmitri lächelnd den Satz. Dann wandte er sich für einen Moment vom Spiegelschirm ab und seinem Getränk zu.



Der Wolf war dankbar für die Klimaanlage, die ihm nach Trockeneis schmeckende Luft zuführte.

Er hatte sich vorgenommen, die schummrige Hotelbar wenn möglich bis spät in die Nacht nicht mehr zu verlassen und dann allenfalls ein, zwei Stündchen durch die engeren der Borbrucker Gäßchen zu streifen, auf der Suche nach Hinweisen aufs Meinungsklima, die der Löwe gebrauchen konnte.

Das Hotel war ein glasbetonierter zylindrischer Riegelrundbau, über eine Brückenaufhängung in den Stadtkern integriert, orthogonal zum Benzolring. Die meisten Gäste dieses wie der übrigen zentralen Hotels hielten sich wegen der ersten Verlautbarung der Reformstiftung in Borbruck auf; ganz wie Dmitri Stepanowitsch selbst.

Er war inkognito gekommen, ohne riechbare Diplomatenkennung. Umsichtigerweise hatte er überhaupt noch niemandem, mit dem er nicht unmittelbar zusammenarbeitete, auf die Nase gebunden, daß er vor einem halben Jahr mit dem Weltenbummlertum abgeschlossen hatte und in die Dienste des Löwen zurückgekehrt war. Borbruck sollte nur die erste Station auf der neuen geheimdiplomatischen Reise sein. Sein eigentliches Ziel war Landers.



Der Barkeeper, ein Stromfrosch aus den Sümpfen hinterm Vorortgürtel von Kapseits, interessierte sich so gut wie gar nicht für die Liveübertragung der Rede des Zanders, sehr dagegen für die Geschichte der brenzligen Abenteuer des Wolfs, die dieser, teils wahrheitsgemäß, teils wild zusammengelogen, im Tausch für die inzwischen vierte Runde» aufs Haus «zum besten gab. Sie war das Aufregendste, was der Frosch zu hören bekommen hatte, seit ein Habichtsmädchen aus dem Isottatempel von Kapseits einmal sturzbetrunken bei ihm erschienen war, sich in die Bewußtlosigkeit weitergesoffen und auf dem Weg dahin einen stockend deliranten Monolog in seinen aufgestellten Kragen gelallt hatte, den er bis heute nicht vergessen, aber auch nicht verstanden hatte:»Das…Wetzelchen ist der Weg, aber der… Weg ist nicht das Wetzelchen… wir… wir… die Kirche hat wird… wird, wir… es wird… Wetzelchen wird im… weder im, wo nicht, wo der Fuchs nicht nirgendwo überall ist, wo… weil der, der ist nirgends und über, überall ist der… aber das… das Wetzelchen ist weder nirgendwo noch überall sondern… eben da wo im Gegenteil, im Gegenteil vom Fuchs…«



Hauptsache Nachschub:»Komm, mach noch einen.«

«Klar, sicher. Und dann?«fragte der Frosch und schenkte ätzenden Krautschnaps ein.

«Gut, also, der Hafen, weißt du«, holte Dmitri gedehnt aus,»der Hafen stand zu dem Zeitpunkt ja schon seit zwei Tagen und Nächten in Flammen. Hätt ich gewußt, worauf ich mich einlasse, ich wäre lieber noch ein bißchen im Gebirge geblieben.«

«Wo du den Fallensteller gerissen hast?«Der Frosch rekapitulierte, was der Wolf ihm erzählte, alle zehn Minuten, mit drolligem Eifer. Dmitri schleckte nach dem guten Gift im Glas, dann fuhr er fort:»Mmpf, also. Da an den Docks, die Horden… konnten mich nicht verängstigen. Wer waren die schon? Bettler, Bananenpacker und andere Tagelöhner, die den Kadaver dieser Riesenfrau glotzend und ungläubig umstanden. Ich gucke also hoch, und was seh ich hinterm Feuerschein?«

«Was siehst du?«

«Einen Streifen Blau. Ein Licht. Ein Zeichen, denk ich mir. So eine Art Bann, eine spukhafte Hausrechtsbehauptung. Gefährliche Geister. Aufgesagt von den Insekten, weißt du…«

«Solche, wie Madame Livienda war?«

«Richtig, diese Art.Das kannten die da nicht, aber bei uns weiß man… na, waren ja alles Bauern gewesen, bevor sie in die drei Städte gekommen sind. Verzweifelt geradezu, was ihre… ich meine, die wollten unbedingt zeigen, daß sie auf dem laufenden waren. Jeder kannte meine Feuermarke, niemand kannte mich. «Er ließ sich vom Frosch, passend dazu, einen krummen Zigarillo anzünden.

«Na und dann?«

«Ja, was? Die Insekten hatten ihre Rechte geltend gemacht. Der Pöbel glotzte. Unfreundlich, knurrend, um den Eindruck zu verstärken, den sie von mir gewonnen hatten, wandte ich mich ab. Erreichte auch ohne ihre Hilfe den Hafenabschnitt, den ich suchte.«

«Wo die Traumtanker anlegen.«

«Ja.«

«Hattest du die Mittel? Ich meine, für den Zugang, für die Passage?«

Der Wolf antwortete mit gepreßtem Schnauben, er fand die Frage lustig.»Ich hatte Karten. Tauchte meinen teuersten Trumpf ins kalte Wasser, zum Aufladen, du kennst die alten Akkukärtchen, Izquierdafabrikat. Auf Plastahl, aber magnetisiert. Fraß erst mal etwas rohen Fisch, versteckte mich, als der Zugang bezahlt war, ein paar Tage in einem der Tanker, um mich zu regenerieren.«

«War's ein sehr großer?«

«Einer von diesen Mehrhunderttonnern. Ehemalige britische Rohöltransporterflotte.«

«Stolze Schiffe.«

«Pff. Lag im dunklen Eck. Hab mich ganz schön geschüttelt, bis die Verbindung stand und die Alpträume abklangen. Aua, weißt du: Weh mir, ich armer Wolf. Diese Nummer.«

Der Frosch lachte.

«Aber was denn, auch egal. Ein eiserner Käfig, schön. Ich kümmerte mich lieber um den Innenraum meiner eigenen… na, im Kopf, verstehst du.«

Der Frosch nickte voll Respekt: Innenraum, Quantenprozessoren, zweite Generation, das Erlesenste vom Seltenen. Was für ein Wolf, sagte das aufgesperrte Maul des Frosches tonlos, was für ein Held.

«Ich hab mir später die Aufzeichnung geben lassen… verängstigt starrten mich die Wächter an, als ich die Iris… bei der Passage. Flüstern, nur ja nichts Falsches sagen. Dann der falsche Himmel, die üblichen zeremoniellen Sachen, wie im Isottatempel eigentlich… ich kannte das alles, bißchen pantheresk war der Avatar, gar nicht mal wölfisch, und ansonsten, wie sagt man? Humanoid.«

«Daß sie das nicht ändern…«

«Wozu? Ein bißchen Tradition wollen wir dulden, oder?«

«Ich weiß nicht. Das hat was Antileonisches!«murrte der Frosch.

«Antileonisch, hö, kannst du nicht haben, hm?«zog Dmitri ihn auf.

«Ich bin«, sagte der Frosch,»strikter Legitimist: Wenn ich nichts für den König tun kann, tu ich lieber gar nix.«

Du bist, dachte der Wolf, strikt Frosch: Wenn du mal tatsächlich irgend etwas für irgendwen tun mußt, platzt du bestimmt. Der Forsch schenkte nach; Dmitri Stepanowitsch fuhr fort:»Hab mich herrisch aufgeführt. Seien wir ehrlich, nichts Besseres verdient dieses Pack. Werkzeug fürs Schlachtopfer, die vierte und fünfte Pforte, das haben sie mir nebenher noch gezeigt, eigentlich krude. Dann bin ich weiter. Die von den Leuten mir aufgezwungene Kartencodierung, während der Leerung der Akkus angenommen, hatte ich auch später noch lange dabei, wieder an Land. Den Schakalstreifen haben sie mir ausgehändigt. Sollte eine Anspielung sein, nehme ich an. Kein guter Witz.«

«Eine Frechheit«, fand der Frosch.»Ich meine… einem Wolf gegenüber, der schon im Präferenzgebirge war.«

Ein lässiges Abknicken des rechten Wolfsohrs sagte: Ist mir gleich. Dann gähnte Dmitri und fand den Faden wieder:»Ich habe neue Formen ausprobiert, neue Gestalten, während der Reise drüben, durch den Hallraum. Mich da drinnen, im Kopf, sozusagen komplett runterrasiert auf eine… Grundform: ein konkaver Wolfskörper ohne Haare. Fing dann an, nur noch Milch zu trinken. War achthundert astronomische Äonen subjektiver Zeit dort drin, bis man mir den Schakalstreifen endlich in einen bessere Kartencode umgetauscht hat.«

«Einen neuen Trumpf wahrscheinlich, hm?«

«Pik-As. Ich suchte und wußte, daß ich zugleich von den, na ja, lebendigen Sicherungen des Systems selber gesucht wurde — die alte Nummer: Je suis fait pour enregistrer les signaux. Je suis un signal

«Un orphéeisme d'un ordre de magnitude que…«, gab sich der Frosch gebildet.

Dmitri Stepanowitsch Sebassus blinzelte anerkennend. Der Gastgeber verstummte, begierig nach mehr.

«Sie haben mich weitergeschickt, in eine Landschaft aus… eines von diesen besonders jenseitigen Reichen. Viel Gesang. Viel Feuerwind. Das sollte dann die Antwort sein. Ein Haus, ein Schuppen, an einer Grenze, unter schwarzen Wolken. Wink mit dem Zaunpfahl: Du willst Abgeschiedenheit, willst zu dir selbst finden. Mehr als diese Plattheiten hat das System nicht über mich gewußt.«

«Über einen Veteranen! Einen Freund der Rauhhautfledermäuse!«

«Was soll's? Da hab ich dann meinen virtuellen Projektor umgerüstet und mich aufgemantelt, all die Gürtel der… na ja, der sogenannten Persönlichkeit.«

«Man kennt's«, nickte der Frosch.»Genom, Sozialisation, Charakter…«

«Die gelben Gürtel und die braunen und die weißen, und dann«, sagte der Wolf mit einem Unterton subtiler Tücke,»zum Schluß die Lüge, die sie alle vereint. Die Lüge, die ich bin. Ein Ruf wurde laut, aus den Wolken übers Flachland, der um die Hütte strich: Dmitri, wo bist du?«

«Die Sicherungen hatten dich gefunden.«

«In der Tat. Ich ließ mich allerdings nicht ohne weiteres mitnehmen; war noch nicht wieder bereit für die Wirklichkeit. Ich hab sie zum… Pausieren gezwungen, ohne Backup.«

«Wie konntest…«

«Manuelle Eingabe. Die Pfoten waren ja wach geblieben, autonom, autotom, und ich hatte ein Keyboard. Als Kopfkissen sozusagen.«

«Wache Pfoten. Achthundert subjektive astronomische Äonen lang… von Milch ernährt und… wache Pfoten. «Der Frosch war fassungslos. Wenn es nicht gegen jede Art Anstand, in der er je unterrichtet worden war, verstoßen hätte, wäre er zu Boden gesunken, hätte sich auf den Rücken gedreht, mit den Gliedmaßen gezappelt und Dmitri als einen gentilgewordenen Gott angebetet.

Der schloß wegwerfend:»Keine große Sache. Ich war ja schon beim Reingehen in den Innenraum schnell und wurde drinnen immer schneller. Hab dann, wie die Menschen sagen, mein Pferdchen gesattelt, ohne die Sicherungen, und bin wieder raus.«

«Das Schiff…«

«Ja, der Tanker, ich weiß schon, der hätte in der Zwischenzeit zerstört werden können. Leckgeschlagen, abgesoffen, Feierabend. Das Risiko war ich eingegangen. Als ich wieder rauskam, aus dem Tankerbauch, war…«

«Der Hafen? Der brennende Hafen?«

«Schutt und Asche«, sagte der Wolf,»nichts als rauchende Ruinen«; und kippte sein Glas hinunter, als wäre nur Wasser drin.



Weil es dazu nicht viel zu sagen gab, versank der Stromfrosch auf ein Weilchen in andächtiges Schweigen.

Der Wolf wandte sich wieder dem Schwingspiegel zu. Auf die Zandererklärung folgten soeben Nachrichten und Kommentare. Der Frosch fand im Berichteten ein neues Thema:»Glaubst du das alles? Diese Geschichte vom Dschungel, von den Keramikungeheuern, von… Katahomen… leandraleal?«

Dmitri zog die rechte Braue hoch. Der Stromfrosch, doch kein Blödian, verstand genau, was das bedeuten sollte, und hätte also brav geschwiegen, wenn nicht in diesem Augenblick eine Zusammenfassung der Worte von Westfahl Sophokles Gaeta gebracht worden wäre, samt einer Ausdeutung per Laufband, wie wohl Polyarchen, Dachse und Libertäre darauf reagieren würden.

«Also… ich weiß ja nicht«, sagte der Barkeeper säuerlich,»man sollte manchmal fast glauben, die Befreiung wär vergessen. Libertäre? Polyarchen? Das sind Decknamen für eine antileonische Fronde, ich trau bloß Georgescu…«Ehe Dmitri etwas erwidern konnte, mischte sich eine neue Stimme ein:»Läuft der Zanderzirkus immer noch? Entkommt man dem Unsinn denn nirgends?«



Die Stimme war weiblich.

Dmitri Stepanowitsch drehte sich nicht nach ihr um, nicht obwohl, sondern gerade weil er sofort die schönste Neugier verspürte. Der Stromfrosch dagegen blies sich auf:»Was wollen Sie? Immerhin ist das dort die für alle Gente wichtigste…«

«Was ich will, ist ein gutes Obstwasser, das mir den Rachen säubert und mich vergessen läßt, was Gente sind, was Fische, was Frösche«, sagte die Fremde und rieb sich, als sie auf einem der weinroten Barhocker Platz nahm, riskant an der Flanke des Wolfs. Sie roch ganz weich, nach bester Bosheit, Dmitri mochte sie sofort gern lieben. Im gekippten echten Spiegel, aus altem Glas, überm Schatzkästlein mit den geistigen Getränken, sah der Wolf aus den Augenwinkeln die Reflexion eines seltenen Wesens: luchsisch, katzig, er tippte auf eine rezente Modifikation nahe am Lynchailurus. Die Augen aber waren die eines Reptils, und dazu paßte auch die lange Zunge, mit der die Geheimnisvolle im Glas, das der Frosch ihr brüsk vors Gesicht knallte, nach der teuersten Verruchtheit leckte, die es in den drei Städten gab.

«Wenn ihr den Blödsinn ausmacht, oder wenigstens auf Sport umschaltet, geb ich einen aus«, schnurrte die Luchsin. Als niemand drauf einging, wurde sie noch milder:»Ich heiße Clea Dora und bin in diese Stadt gekommen, um mich zu vergnügen. Man hat mich getäuscht. Die Stadt ist sterbensöde.«

«Wo glaubt man denn, sie wär's nicht? Von woher bist du angereist?«fragte der Wolf, ohne sie anzusehen.

«Aus dem Orient«, flüsterte die Fremde ihm ins Ohr,»sagt man nicht sowieso, da kommt der Luchs her?«

«Und der Luxus«, quakte ungefragt der Stromfrosch, noch unsicher, ob die Unterhaltung jetzt lustig werden sollte.»Laß mich doch eben noch dabei zuschaun, wie der Fisch da«, Dmitri Stepanowitsch bewegte den Kopf knapp in Richtung des Schirms, sein schlaustes Lächeln galt bereits der Fremden,»diese naßforschen Ungeheuerlichkeiten gegen den Löwen wieder ein bißchen zurücknimmt und seine Rede versöhnlich ausklingen läßt. Das hab ich vorhin schon so genossen.«

«Und dann?«fragte Clea Dora.

«Dann helf ich dir, dich zu vergnügen, und rette den Ruf der Stadt.«

2. Polytope, besser als Freundinnen

Der Urwald schien zu wissen, daß eine Welt weit weg die Gente mit bangen Gefühlen an ihn dachten.

Sie würden nicht verstehen, was seine schwarze Erde, seine großen Bäume und dampfenden Sümpfe bewohnte. Er wollte, daß im Laubigen und Biegsamen, zwischen Hamadryaden und Dickichten, in Schluchtnacht und Waldschaum, geklärt werde, worauf es hinauslief mit den Tiefen, dem Glanz und den Blumen.

Als er zu sich kam, wurde er zunächst laut wie ein Crescendo sämtlicher Musik, die je gespielt worden war, ein allumfassender Lärm, verursacht vom kataklysmischen Massensterben und der in Klangfarben, Tonhöhe, physioskulpturaler Struktur und biochemischer Natur neu und anders geordneten Wiedergeburt aller grünen Leguane, Vieraugenbeutelratten, Kaimane und Tukane, deren Biomasse die Freß- und Ausscheidungsorgane der eben erst in unirdischem Lachen erwachten Kindsintelligenz Katahomenleandraleal passierte.

Was waren das für Sterbende, Tote, dann Auferstandene? Keine Gente.



Aber auch keine bloß Bewußtlosen — sie dachten, wie Tiere vor der Befreiung gedacht hatten.

Ihre Seelen sandten eine Art Piepton ins Innenohr Katahomenleandraleals, der das Gottkind vorsichtig an die Notwendigkeit der Unterscheidung von Innen und Außen heranführte.

Die Klangumgebung, die es auswarf, empfand es bald selbst als störend.

Bin das ich, ist das mein Gebrüll, so demagogisch-rhetorisch? Es erkannte, daß aus den Tönen eine neue Gegend geworden war. Also griff es alloplastisch in sie ein, unterstützt von kleinen Bautruppen geretteter, gründlich gehirngewaschener Menschenweibchen. Waren die eigentlich zeitlich orientiert? Oder kam ihnen über der Arbeit für Katahomenleandraleal, übers Wegräumen, Abtragen, Umbauen alles abhanden, was Alter, Wachstum, Reifung geheißen hatte? Katahomenleandraleal wußte es nicht; grübelte sehr lange darüber nach.

Wären sie in den gemäßigten Zonen unterwegs, dachte das Gottkind, dort, wo Cyrus Iemelian Adrian Vinicius Golden seinen Abhängigen vorschreiben konnte, wie (und sogar warum) sie als Gente zu leben haben, dann könnten sie Kerben in die Bäume schlagen, Proben entnehmen und an den Jahresringen ablesen, wie lange diese Bäume schon dem Licht von Sol Invictus zustrebten. Aber das Wetter im Regenwald kannte keine Jahreszeiten, also konnten die Frauen nichts dergleichen tun.



«Platonische Zeit, regelmäßige Zeit, leere Dauer. Wie Körper, die nur aus abstrakten, gedachten Punkten, nicht aus materiellem Substrat bestehen«, sagte eines der Menschenweibchen zu Katahomenleandraleal, als es zu diesem Problem vernommen wurde.

«Platonische…«

«Ja. Philosophie als Mathematik und umgekehrt. «Die Frau war nackt und glänzte. Sie erfreute sich bester Gesundheit. Katahomenleandraleal sorgte für die Geretteten und schützte sie vor Hunger, Hitzschlag, Austrocknen. Die allgegenwärtige Feuchtigkeit war voller Pherinfone und Pharmakoi; die Luft selbst eine überreiche Nährlösung.

«Platonisch. Das ist«, sagte das Gottkind,»eine Wissenschaft, die mich interessiert. Leere. Das ist ein Begriff, der mich interessiert. Mengen: Davon muß ich auch hören.«

«Mengen, hömm«, räusperte sich die Frau.

«Ja. Ich wollte den Begriff davon der Leere eigentlich entgegensetzen, bis mir klar wurde, daß sich auch leere Mengen denken lassen. Die Körper, von denen du redest — die Ausdehnungen in der platonischen Zeit, die Spielarten der platonischen Menge —, ich frage mich, ob das die Formen der Leiblichkeit sein könnten, die ich mir anziehen und die ich ablegen kann, um endlich eine… eigene Biographie zu haben. Weißt du, so wie ihr.«

«Nein, tut mir leid. Ich weiß das nicht«, gestand die Menschenfrau, weil sie, was sie wunderte, Zutrauen zu Katahomenleandraleal gefaßt hatte und diese gute Grundlage einer fruchtbaren Beziehung nicht durch vorgetäuschte Besserwisserei untergraben wollte.



«Du weißt es nicht. Aber du hast davon geredet. Du hast eine Sprache, die es weiß. Menschen wissen es, alle.«

«Ähm, tschaa… nein, nö, so… so einfach ist das nicht, fürchte ich. Alle Menschen sind… nicht gleich. Wir haben… wir hatten da so eine… Arbeitsteilung. Ich bin zum Beispiel keine Wissenschaftlerin, keine Philosophin, keine Mathematikerin. Eine von denen wüßte es vielleicht, aber ich…«Katahomenleandraleal unterbrach sie; nicht mit Worten, sondern mit Bildern. Die Muster wurden direkt auf ihr Sehzentrum geschrieben; sie verstand, daß sie erklären sollte, was Arbeit war und wie man die teilen konnte.

Die Frau war einverstanden. Katahomenleandraleal umrankte sie mit Schlingpflanzen, stellte sie chemisch still und nahm sie mit nach innen, in Klausur. Vierzehn Tage lang tauschten sich die keramikanische Jugend und die lebendige Vergangenheit aus, unterbrochen nur von gelegentlichem dröhnendem Gelächter Katahomenleandraleals und neuen Freß-, Verdauungs-, Ausscheidungs- und Transformationsoffensiven der ersten postbiotischen Großmacht.

Am Ende hatte Katahomenleandraleal alles begriffen.

«Laß es mich zusammenfassen: Ihr habt immer dasselbe getan, über Jahrzehnte, jede und jeder für sich, aber eben damit auch für die andern.«

«Mehr oder weniger, ja.«

«Und du warst… Komponistin.«

«Kann man so sagen, ja.«

«Und du hast dir die Haare auf dem Kopf nicht weiß gefärbt, sondern die waren schon weiß, seit du zwölf Jahre alt warst, und die Haare an deinem Fortpflanzungsorgan hast du dir entfernt… rasiert? Rasiert, damit deine Freundin…«

«Entschuldige, aber du bringst was durcheinander. Das hat nichts mit meinem Beruf zu tun. Die Haare, die… das ist privat.«

«Stimmt, es gab diese zweite Teilung — lateral —, die durch jeden Menschen ging: öffentlich und privat.«

«Ja.«

«Und der Beruf war öffentlich.«

«Mhmh. Meiner, als künstlerischer, war sogar erheblich öffentlicher als die meisten andern.«

«Gut. Du hast Musik erfunden. Deshalb waren deine Denkmuster gleich so interessant, als Schlüsselspender, für mich, nachdem es hier so… laut wurde. «Katahomenleandraleal verweigerte neuerdings die Zurechnung des gewesenen Lärms auf seine eigenen Aktivitäten; das Wesen hatte gelernt, sich zu schämen.

«Und mit Philosophie und… Platonik hast du dich nur als, wie würdest du es sagen? Unterstützung…?«

«Hilfswissenschaften. Für meine Kompositionspraxis. Und es heißt Mathematik, nicht Platonik.«

«Also, damit hast du dich nur… am Rande beschäftigt. Deshalb weißt du nicht, ob die platonischen Körper…«

«Polytope«, sagte die Komponistin, denn Katahomenleandraleal hatte ihr Zugang zu mathematischen Lehrdatenbanken verschafft, die tief im gemeinsamen Urzellengehäuse seiner beiden Eltern, die er aufgefressen hatte, eingeschlossen gewesen waren. Katahomenleandraleal stimmte zu, nachdem er das Datenbankwissen mit seiner eigenen Begriffsarbeit abgeglichen hatte:»Polytope. Das ist der rechte Name. Also, wegen der Berufs…sperren kannst du mir nicht sagen, kannst du nicht das Problem lösen, ob diese… Polytope die Sorte Körper sind, die ich mir anziehen und die ich ablegen muß, um eine Biographie zu haben, wie du und deine Schwestern.«

«Ich kann bloß raten. Es könnte so sein. Ich meine, ich hab nicht viel mehr bei der Hand als die Definitionen und Lehrsätze in deinem Speicher. Alles, worauf ich kommen kann, kannst du selber rauskriegen.«

«Dann will ich mir eine Bedenkzeit nehmen, um es herauszufinden.«



Daß der Dschungel schwieg, war in der ganzen Naturgeschichte noch nie vorgekommen.

Die in ihm lebten, fürchteten sich sehr, nur die Frau nicht, mit der Katahomenleandraleal geredet hatte. Sie badete lieber und wusch sich gründlich.

Nach anderthalb Stunden kehrten die Geräusche zurück, verhaltener, regelmäßiger. Nun war eine unerhörte Art des Denkens, Nachmessens, Ordnens in Schall aus dem Krach hervorgegangen.

In kurzer Zeit erarbeitete sich der junge gewaltige Intellekt die Grundlagen einer neuen Wissenschaft: der nachnoumenalen Verkörperungspsychologie.

Zu diesem Zweck verschob es Rechenstöcke aus Steinen und Holzpflöcken, mit Lianen verbunden, wobei ihm Menschenfrauen, Nagetiere, Papageien und wendige Echsen halfen. Anknüpfend an das in seinen Gedächtnisgrüften bewahrte dreizehnte Buch der euklidischen Elemente wurden zunächst die regulären konvexen dreidimensionalen Polytope untersucht: der Tetraeder, der Würfel, der Oktaeder, der Dodekaeder und der Ikosaeder. Es zieht in Betracht, es verwirft, es macht weiter, dachte die Frau, die dazu Zeit hatte, weil sie in keine der Kolonnen eingezogen worden war. Es leistet Verallgemeinerung über seine Beobachtungen, es erkennt Dualitätsgesetzmäßigkeiten. Tetraeder: selbstdual, Würfel: dual zum Oktaeder, Dodekaeder: dual zum Ikosaeder.



In Stollen der Erinnerung stieß Katahomenleandraleal auf Ludwig Schläflis alte Klassifikation, in der sich die platonischen Körper leicht unterbringen oder wiederfinden ließen, aber auch die Untersuchung des schlimmen Sechshundertgesichts möglich wurde, in dem Katahomenleandraleal Spuren des Aussehens seiner Eltern erkannte: Es bestand aus 24 Oktaedern, 120 Dodekaedern oder 6000 Tetraedern und zwinkerte nicht.



Am Ende mündete die Lernzeit wieder in Musik, wie sie schon bei Katahomenleandraleals Erwachen zugegen gewesen war. Meerkatzen bildeten vier Orchester, die an wichtigen Wasserstellen, unter zentralen Baumkronen und an reichen Hängen voll dunkler Rindensäulen postiert waren.

Die transparente Architektur, die der längst verstorbene menschliche Verfasser dieser aus den Archiven geholten Musik (ein Mann namens Iannis Xenakis, der etwa ein halbes Dutzend Jahrhunderte vor der Löwenweltmacht gelebt hatte) bei der Uraufführung des» Polytope de Montréal «aus Stahlkabeln hatte aufziehen lassen, um darin Lichtpunkte zu situieren, deren Interaktion mit dem Klangbild als Veränderliche in einer mathematischen Progression Raumrelationen erfahrbar machen sollte, wurde in Katahomenleandraleals Urwald von dicken, feuchten, süßwassertropfenperlenübersäten Lianen nachgestellt.

Die Frau, die Katahomenleandraleal den Zugang zu solcher Kunst gelegt hatte, sah die Lichter blitzen, als die Nacht hereinbrach, und kauerte, nun doch etwas ängstlich, zwischen Schlingpflanzen, die andere Schlingpflanzen umschlangen.



Ein Tier sah zwischen dem smaragdenen Krautvorhang zu ihr herein.

Seine Augen leuchteten wie kleine Glutkohlen, seine Meißelzähne wie Eis im Dunkeln.

Es war ein dicklicher Nager.

«Was… passiert da?«fragte die Frau, als das Tier anfing, sie zu beschnuppern.»Was macht ihr?«

Die Tiere hier, wußte sie, konnten reden, auch wenn sie keine Gente waren.

«Verkehrswege«, sagte das Tier, das ebensosehr dazu da war, die Frau in ihrem Versteck zu beschützen, wie dazu, sie am Davonlaufen zu hindern,»werden optimiert. Es wird… 'ne neue Stimmung vorgenommen.«

«Stimmung.«

«Ja, na ja: Wie wenn man ein Klavier stimmt. Katahomenleandraleal wacht aus der Versenkung auf. Aus der Bedenkzeit. Will den Wettbewerb anheizen zwischen öhmm spontaner Energieemission und Försterschem Energietransfer, in allen biologischen Systemen. Katahomenleandraleal stimmt sich den Dschungel besser.«

«Energie…«

«Es geht schlicht darum«, zahnte das Mahlzahnfrettchen keck,»wie erregte Moleküle wieder abgestellt werden können, wenn sie ihre Aufgabe versehen haben.«

«Erregte Moleküle«, sagte die Frau und leckte sich salzigen Schweiß von der Oberlippe.

«Ja. Das kann entweder durch resonante Energieübertragung zu einem anderen Molekül geschehen, in Gestalt spontaner Emission eines Photons, oder indem die Deaktivierung nichtradiativ, also nicht strahlend, erreicht wird. Diese beiden Verfahren stehen miteinander im Wettbewerb, überall in der Biologie. Der fluoreszente Resonanzenergietransfer wird seit Jahrmillionen in Prozessen wie der Photosynthese eingesetzt. Die Vorfahren — hihi, deine vor allem, meine weniger — haben ihn auch benutzt, um biologische Sonden zur Analyse gewisser heikler Prozesse einzusetzen, die Interaktion zwischen Proteinen zu erhellen oder Abstände im Nanometerbereich zu messen…«



Die Komponistin schwieg, sie dachte: Das hast du also aus meinen Erläuterungen gezogen.

Arbeitsteilung.

Du machst Tiere zu Fachidioten. Na schön: Wenn's der Wahrheitsfindung dient.

Die Frau vermochte nicht (und verspürte auch keine Neigung dazu), sich als die Nachfahrin von Personen zu sehen, die irgend etwas analysierten, verstanden, beeinflußten. Sie sah sich eher als verspätete, verzettelte, verlorene Angehörige einer Art, die fast vollständig von der Planetenkruste vertilgt worden war, weil sie sich einfach nicht aufs Überleben konzentrieren konnte. Charmant, im Grunde. Liebenswert täppisch, ein bißchen läppisch. We're alright, in our own peculiar way.

Daß einige von dieser Sorte fortlebten in der neuesten Welt, war eine zweifelhafte Gnade, die sie ein paar von ihnen selbst ganz und gar nicht analysierten, verstandenen oder gar beeinflußten Zufällen verdankten. Das hatte sicher viel mit Mikroprozessen, molekularen Leitern und ähnlichem zu tun, wovon das Tier gesprochen hatte. Weiß der Satan.

Es musterte sie, als es fertig war, ein Weilchen, nicht abschätzig, nicht mitleidig, mit diesen Brikettäuglein.

Dann sagte es:»Schauen Sie sich mit Ihren Kindern nur Programme an, die auch für ihr Alter geeignet sind.«

Die Frau atmete schnaufend aus, erschöpft und ein wenig beleidigt. Dann sagte sie:»Weißt du was, ich schau mir nur Programme an, die für schwule Triebtäter im Seniorenalter geeignet sind. Nicht, daß du oder sonst ein lebendes Geschöpf verstehen könnte, was das heißen täte.«

«Miese Grammatik«, rügte der Nager. Dann verschwand seine scharf gezeichnete Maske im pechschwarzen Wildwuchs.



Die Frau dachte an Leute, die es nicht mehr gab, und eine ganz besondre Person.

Irgendwann schlief sie ein. Da träumte sie von Farnfächersekret aus Frauenleibern, von klaffenden Wunden, von orangeroten Booten mit lahmgelegten Motoren und von silbernen Menschen, die sich darin zusammendrängten, um gemeinsam, weil sie keine Wahl hatten, ein öliges, giftiges Meer zu befahren. Geh zur Ameise, mahnte der Himmel, der flimmerte, du Faulpelz, lern von ihrer Emsigkeit, sei gefälligst weise. Die Ameise ist ein Kentaur in ihrer Drachenwelt. Dies hier ist nur eine Gutenachtgeschichte, die dir durch deine lange Ohnmacht hindurchhelfen soll, denn wenn du morgen aufwachst, wirst du kämpfen müssen.

Ein Flaum, wie er auf den längsten Sätzen der Dichter liegt, bildete sich auf ihren geschlossenen Augenlidern. So sah sie nicht die Wechsel der Beleuchtung, die sie zu früh hätten erwachen lassen. Ihre Hirnphysiologie war primitiv: Erwachen durch Dämmer kam ihr natürlicher vor als Erwachen durch Laute; ähnlich wie ihr Verstand leidigerweise eher dazu geeignet war, an Götter zu glauben, als dazu, die zutreffenden Behauptungen der Wissenschaften zu verstehen.



Im Gras und in den Blüten um sie, in Rinden und Blättern kam ein Vibrieren auf, das die Schlafende endlich weckte. Es war Katahomenleandraleal, die sich allen und allem erklärte:»Ich weiß jetzt, wie mein Leben geht. Ich bin eine Frau, ich bin weiblich, meine Verkörperung hat die erste Formentscheidung getroffen.«

«Platonisch, hm?«Das Menschenweibchen rieb sich vergnatzt den Schlaf aus den Augen.

«Alles andere als das«, sagte die Göttin.

Insekten zeigten auf eine freie Moosfläche; da stand ein hirschrückenbraunes Ledersofa. Die Frau stakste, noch leicht benommen, dorthin und streckte ihre starren Glieder darauf aus. Sie sah durch die wenigen Lücken im Baumbewuchs in den Himmel hoch; alles war jetzt wieder möglich.

«Du bist zufrieden, ja?«schmeichelte die Gottheit der Menschenfrau.

«Du auch?«Keine schlechte Gegenfrage.

«Ja. Ich weiß jetzt mehr über mich als zuvor, das gefällt mir. Ich habe ein Geschlecht und hatte zuerst schon einen Namen und habe immer noch keine Spezies, zu der ich gehöre und die sich von Blutes wegen zu mir bekennt. Es gibt weiterhin Arbeit. «Die angenehme Altstimme wummerte bis tief in die Knochen der Frau auf dem Sofa.»Und ich will mich bei dir bedanken. Ich weiß, daß du das nicht erkennen kannst, aber in manchem bist du mir überlegen. Bedenke das Wunder, daß du zuerst eine Spezies hattest, zu der du gehörst und die sich von Blutes wegen zu dir bekennt, und dann ein Geschlecht, und dann erst einen Namen.«

Schweigen.

«Einen Namen«, wiederholte Katahomenleandraleal,»und ich kenne ihn nicht. Wie soll ich dich nennen?«

Bei den Gente, unterm Löwen Cyrus Iemelian Adrian Vinicius Golden, dachte die Frau, würde mich das niemand fragen. Wann, fragte sie sich, haben wir das verspielt, wir Menschen, daß man uns beim Namen nennt? Wer hat uns eigentlich den alten Auftrag aus der Hand geschlagen, uns die Erde untertan zu machen und alles zu benennen, was da kreucht und fleucht, ein jedes nach seiner Art?



Sie erinnerte sich noch an den Zensus, die Umstände, die man sich gemacht hatte: Insekten, nachts angelockt und abgesammelt mit Lichtfallen, mit Insektizid eingesprühte Baumkronen, um die Käfer zu erwischen — tot prasselten die Kerbtiere in die aufgespannten Netze —; an Löwen und Geparden, in der Savannenhitze fotografiert von offenen Geländewagen aus, einem System paralleler Linien folgend; an die Vogelkopfsteuer, Schnecken im Eimer… und jetzt, fand sie, bin ich am Ende einer Mauer angekommen, von der ich nie gedacht hätte, daß sie ein Ende hat. Soll ich um die Ecke linsen?

Jetzt hab ich eine Göttin, zu der gehöre ich. Eine neue Verkörperung, Geburt und Wiedergeburt, wie sagten wir doch, als ich noch katholisch war: Ave verum corpus.

Natürlich, ich erinnere mich, Musik von Mary Beth, Musik von Elgar. Chor der Worcester Kathedrale. Chor der Keramik. Ecce opus. Belebende, frei flottierende Organpanik, somatischer Kontrapunkt… sie gab Antwort, im Polytopdschungel, auf dem Sofa, und schlang die Arme um sich selbst:»Du kannst mich Späth nennen. Nenn mich: Frau Späth«, und sie dachte: Geometria una et aeterna est in mente Dei refulgens.

«Ich danke dir, Frau Späth«, sagte Katahomenleandraleal.

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