XVII. VOR DER BEFREIUNG

1. Teufelspakt statt Frühstück

«Schluß! Aus! Dann trink ich ab heut zum Wachwerden eben Dosenbier, aus dem Supermarkt drüben!«

Herr von Schnaub-Villalila hielt sich für alles andere als leicht erregbar. Im großen und ganzen hatte er damit recht. Was er statt dessen war, half ihm jetzt allerdings nicht weiter: mit Nadelstichen oder Schwerthieben kaum zu reizen, aber durch Dauerschikanen nach einer Weile so gründlich zu zermürben, daß er schreien und sich schütteln mußte. Die junge Frau an der Backwarentheke konnte nicht das geringste dafür. Es lag eher am Kapitalismus im besonderen und an der Dummheit im allgemeinen. Sie starrte wie mit der Waffe bedroht auf den jungen, hübschen, asiatisch aussehenden Deutschen im teuren Mailänder Anzug, der seine Tüte mit Dreikornbrötchen hin und her schwenkte, als wolle er ihr damit den Schädel einschlagen. Er rief den ganze Bahnhof zum Zeugen an:»Bier! Oder nichts! Nichts ist klasse, das schmeckt NOCH besser!«

Das Problem war im Grunde, daß er keine Lust, nein: keine Kraft mehr hatte, allen alles zu erklären. Nicht auch noch beim Frühstück, nicht beim Brötchenkaufen. Der elende Beruf des Vermittelns, Auslegens und Überzeugens fing früh genug wieder an, sobald der Fraß verdrückt war. Dazu ein Wasser, war das zuviel verlangt? Mineralwässerchen. Normal, non?

Aber wie lief das seit Wochen, nämlich vom Tag der Schließung der netten Bäckerei in der Nähe des Altbaus, in dem Herr von Schnaub-Villalila ein geräumiges Penthouseapartment bewohnte? Wie lief das, seit er hierher laufen mußte, bevor er zum kaum weniger geräumigen Büro am andern Ende der Stadt fuhr?



So:

«Ein Dreikornbrötchen und ein Wasser, bitte.«

«Wasser mit Kohlensäure oder ohne?«

«Mit.«

«Viel oder wenig? Classic? Medium?«Als ob's eine Weinprobe wäre.



Nächster Morgen:

«Ein Dreikornbrötchen und ein Wasser mit Kohlensäure. «Gegenfrage einer andern Backtante:»Wasssärr mitte Gas?«»Ja. Ja, mit Kohlensäure.«»Mitte Gas?«

Herrgott, sure, dann halt mit Gas und Mineralfett aus der Plasmaschleuder:»Ja, ja, mit Gas.«»Viele odärr wenig?«Bitte wiederholen Sie den Scheiß, bis es weh tut.

«Egal.«

«Aber warum egal, bittä?«



Dritter Versuch, vierundzwanzig Stunden später:

«Ein Dreikornbrötchen und ein Wasser mit ganz total viel Gas. «Der Mensch, diesmal ein Kerl, wurde gleich pampig:»Was heißt mit Gas? Kohlensäure? Classic oder Medium?«



Montagdienstagmittwochdonnerstagfreitag, und keine Sprachregelung war zu finden, es gehörte vermutlich zur Einweisung in den Job, daß man bei Wasserbestellungen, egal wie detailliert, grundsätzlich mindestens einmal nachzufragen gehalten war, damit der Patient in existentielle Zweifel gestürzt wurde.

Die heutige blöde Frage hatte er, tobend und gestikulierend, bereits vergessen. Nur daß er es nicht mehr aushielt, um keinen Preis, für kein Wasser, auch nicht das lebendige, das Jesus der Frau am Brunnen versprochen hatte, das wußte er sicher.

Täglich derselbe Stumpfsinn, das machte Herrn von Schnaub-Villalila nicht nur beim Brötchenkaufen, sondern insgesamt und überhaupt wahnsinnig.

Die Sache mit seinem Namen zum Beispiel: Immer wieder begegnete er im Laufe seiner eigentlich sehr interessanten Tätigkeit irgendwelchen Idioten, die es nicht lassen konnten, ungefähr so an ihn heranzutreten:»Ryu von Schnaub-Villalila, das ist ja ein sehr exotischer Name, woher haben Sie den denn?«

Von Manufactum.

Bei eBay gewonnen.

Vom Imperator zugeteilt.

Woher kriegt man denn Namen, ihr Butterköpfe?

Mit frühchristlicher Engelsgeduld aber sagte Ryu jedesmal sein Sprüchlein auf, von wegen japanische Mutter, adliger deutscher Vater, diplomatischer Dienst, diverse italienische Vorfahren…

Sechsunddreißig Jahre alt, Angestellter eines internationalen Finanzdienstleisters, dort zuständig für Kulturförderung, Ausstellungsmanagement, Preisjuryarbeit, Stiftungsrecht, sonst noch was?

Sie wollten in Wirklichkeit natürlich überhaupt nichts wissen. Denen war bloß langweilig, mit sich, legitimerweise. Weshalb bade ich das aus? Weil ich dafür bezahlt werde. Und zwar unverschämt hoch.



Ryu gehörte nicht zu den Menschen, die unter solchen Umständen anfingen, sich Gedanken darüber zu machen, daß es doch mehr geben müßte, wer weiß… Er drehte lieber vor der Bahnhofsbackwarentheke durch.

Immerhin, das Mädchen hier — kräftig gebaut, pfirsichrote Backen, ziemlich hübsch eigentlich — war noch nicht völlig abgestorben und deshalb in der Lage, sich gegen den Auftritt zu wehren:»Hören Sie mal, was wollen Sie denn? Ich hab Sie nur gefragt, was es sonst noch sein darf. Also sagen Sie mir's, oder bezahlen Sie das Brötchen. «Vereinzelte Zustimmung aus der Schlange hinter Ryu überspülte sein Rückgrat als eine Art Schamwelle, er wußte einen verstörten Moment lang gar nicht mehr, wie er sich verhalten sollte. Da legte an ihm vorbei eine Hand mit wertvollen Ringen (das sah er gleich, dafür hatte er ein Auge) einen Fünf-Euro-Schein aufs Geldschälchen. Eine Stimme, voll und männlich, sagte, viel zu dicht an Ryus linkem Ohr:»Kommen Sie, was zu trinken kriegen Sie bei mir«, und dann, lauter und befehlsgewohnt, zum Mädchen:»Stimmt so.«



Ryu kannte den etwa fünfzig Jahre alten Mann im dunklen Winteranzug und leichten Mantel zwar nicht, aber das väterliche Lächeln, die leicht versoffenen, dennoch klaren Augen, das sanfte» Hmm, wollen wir«, mit dem er ihn plötzlich durch die große Halle, ja, was — schob? zog? — , dies alles legte Ryu nahe, daß er ihn eigentlich hätte kennen müssen. Der hier war wichtig.

«Ich hab ähm Termine«, sagte Ryu schwächlich, wie einer, der Anstalten macht, sich einer Verführung zu verweigern, die er in Wahrheit wünscht. Die Halle war plötzlich ein einziger Grusel: Dem Kind da hing Rotz aus der Nase, die Luft roch nach toten Maden, zwei Männer, die Besteck verkauften, waren ganz sicher Mörder, die Teenager lachten verdorben, das Zugpersonal wählte Hitler.



Ryu war mitunter für diese Art Schrecken mitten im Gewöhnlichsten überaus empfänglich.

Einmal, beim Lesen der» Ermittlung «von Peter Weiss, war ihm an der Stelle plötzlich schlecht geworden, wo eine ehemalige Nazigröße dem Gericht mitteilt, sie» sammle Porzellan Gemälde Stiche / sowie Gegenstände bäuerlichen Brauchtums«. Reichlich unerbeten hatte sich daran in Ryus Kopf die Frage entzündet, ob das nicht genau Ryus Kundschaft war, ob nicht die Kunstsinnigen von heute die Massenmörder und ihre Finanziers von morgen waren, so wie die Schöngeister von gestern die Massenmörder und ihre Finanziers von vorgestern gewesen waren.

Genauer hinsehen: Einer der beiden Besteckverkäufer hatte keinen natürlichen Unterkiefer, sondern irgend etwas Künstliches überm Hals hängen (Porzellan Gemälde Stiche), und die Mädchen, die so kreischten, waren teils blaß, als würden sie gerade ausgeblendet, und der Rotz auf der Oberlippe des Kindes schien blutig.»Sehen Sie das auch? Wir sollten schnell hier weg«, sagte der Mann, von dem Ryu plötzlich dachte: Mein Chef. Mein… König? Klang richtig. Wie das?



Freilich, wir sollten schnell hier weg, aber was ist eigentlich» hier «und wer sind» wir«, bin ich Faust, ist er Mephisto, Einflüsterer aus dem großen Ganzwoanders, der mir Geheimnisse zeigen wird, die ich vielleicht lieber gar nicht wissen will?» Ein Geschäft«, sagte der Fremde.»Ich brauche Sie, damit Sie mir ein Geschäft vermitteln. Ich will jemanden in mein Projekt holen, eine Person, die Sachen in… Geräuschen verstecken kann. Sie redet nicht mit Wissenschaftlern, die aus ihren Forschungen viel Geld gemacht haben, aus eigenen Patenten, via Startup-Unternehmen. Sie redet nicht mit mir, verstehen Sie? Sie redet nur mit dem Geld direkt, oder mit erkennbar autorisierten Beauftragten des Geldes. Das verkürzt den Handel, und fürs Verkürzen hat sie viel übrig. «Eine lange, merkwürdig vertrauliche, ganz offene Erklärung, bei der verzwickte Sachverhalte bündig dargelegt worden waren, fand Ryu, noch immer wie im Traum, und wunderte sich über die Leute, durch die sie hindurchgingen oder die durch sie hindurchgingen, sowie darüber, daß das zum Teil gar keine Leute waren, sondern Frauen in großen Muschelanzügen, in Gehäusen mit zu vielen Armen und Beinen, wie aus dem computergenerierten Science-fiction-Film, und daß das Dach der Halle manchmal verschwand, um einem freien Himmel Platz zu machen, an dem es einerseits heller blauer Tag, andererseits tiefe Nacht war.

Worüber wundere ich mich gerade?

Ich wundere mich über die Umstände, über meinen Entführer und dessen erstaunliche Reden, aber am allermeisten darüber, daß man diese Reden gar nicht hören kann, denn wenn ich es mir recht überlege, nehme ich sie ganz anders wahr, als ich sollte, nämlich durch die Nase: Was der da spricht, das sagt sein Rasierwasser, das ist ein Duft.

Ryu nahm sein Brötchen im Gehen aus der Knistertüte und biß herzhaft hinein, hauptsächlich, um herauszufinden, ob Dreikornbrötchen auch noch schmeckten, wenn man gerade wahnsinnig wurde.

2. Verlaufskurve

Es hatte diese Zwischenfälle zu allen Zeiten gegeben, nicht nur während der Langeweile, auch davor und danach. Die Menschen waren die einzigen Wesen, die sich beharrlich weigerten, solche Ereignisse für voll zu nehmen, wenn sie ihnen begegneten; es sei denn, das betreffende Ereignis spielte sich in ihren eigenen Hirnen ab, etwa in dem des Mathematikers und Physikers Theodor Kaluza, als der die sogenannte fünfte Dimension ins Nachdenken übers sogenannte Raum-Zeit-Kontinuum einführte.

Froschregen, Fische in der Wüste, sprechende Esel, Drachen am Rand mittelalterlicher Sümpfe, Werwölfe, Vampire, Incubi und Succubi, spontane Selbstentzündung von Personen, Reflexe höher- wie niederdimensionaler Wirklichkeiten überall, Götter mit Habichtshäuptern, Einhörner im Einkaufszentrum, Zwerge, Riesen, Witzfiguren, die nicht witzig waren, und ein bißchen ernste Wahrheit nistete sogar im Spiritismus.

Auf dem Höhepunkt einer Tirade gegen die Jakobiner erblickte ein loyalistischer Redner an der Stelle, wo eigentlich das Wappen des legitimen Herrscherhauses hätte sein müssen, das Zeichen des Löwen Cyrus Golden und fing, anstatt zu verstehen, was ihm die Welt damit sagen wollte, ganz furchtbar an zu lachen, was auf den ebenfalls anwesenden Maximilien Robespierre einen bleibenden, mehrere spätere Entscheidungen und Gedanken prägenden Eindruck hinterließ.



Die Apollo 13-Mondmission kehrte in Wirklichkeit nicht wegen der bekannten technischen Schwierigkeiten ohne Landung wieder auf die Erde zurück, sondern weil die Astronauten auf dem Mond aus der Ferne einen Bautrupp der Gente beobachtet hatten, der gerade damit beschäftigt war, die erste Basis zu errichten — ein gegen den Zeitpfeil ausgesandtes Echo, das bei unmittelbar darauf folgender Überprüfung durch Sonden der NASA keinerlei Spuren hinterlassen hatte und also wohl (so das offizielle Abschlußdokument der geheimen Untersuchungskommission)»not really there «gewesen sei.



Ein Gutteil der Hexenprozesse des späten Hochmittelalters hing mit Keramikanersichtungen zusammen; man hielt die Wesen allerdings, dem Erkenntnishorizont der Zeit gemäß, überwiegend für Dämonen.



In einer aus naheliegenden Gründen nie veröffentlichten ersten Fassung der Memoiren der britischen Premierministerin Margaret Thatcher, die später, um das Heikle gekürzt, unter dem Titel» Margaret Thatcher: The Downing Street Years «erscheinen sollten, berichtete sie im Kapitel über den Falklandkrieg von» our very own aquatic UFO-Scare «und gab an, hochrangige Einsatzleiter hätten ihr seinerzeit erzählt, daß bei den Kämpfen um die von Argentinien beanspruchten Inseln im Atlantik schwimmende Wesen beobachtet worden seien, die sich» too fast for biological entities «bewegt hätten und» in some ways powered by some sort of unknown energy «gewesen seien, wuselnde U-Boote, von denen man zuerst gefürchtet habe, es möchten» secret weapons of the kind that Hitler's madmen claimed to possess during the final years of World War II «gewesen sein. Immerhin hätten diese Objekte nicht auf argentinischer Seite in die Kampfhandlungen eingegriffen — Thatchers launiger Kommentar:»So they decided that the phenomenon did not exist — because in war, just as in politics, you only acknowledge things that help you or hurt you and let everything else fall by the wayside.«



In der Finalphase der Langeweile machte sich ein australischer Ethiker und Tierrechtler unter Aufbietung seiner gesamten Verstandeskraft und moralischen Muskulatur jahrelang die ernsthaftesten Gedanken darüber, ob das Ziel des größten Glücks der größten Anzahl von Geschöpfen sich von den alten Benthamschen und Sidgwickschen Vorgaben aus auch auf Tiere ausdehnen ließ. Eine Weile hörte man ihm zu und erörterte zumindest in akademischen Kreisen, ob seinen Ideen irgendein praktischer Wert zukommen mochte. Dann aber machte er sich zunehmend durch konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Beziehungen zwischen Menschen und Tieren unmöglich, bis er, nachdem ihn seine Kampagne, Hunde und Katzen» gegen die Gefahren des Straßenverkehrs mit Keramikrüstungen zu schützen«, vollständig isoliert hatte, plötzlich damit herausplatzte, diese Idee habe ihm» ein Bote aus der Zukunft «diktiert. Der Mann wurde aus seinem Beruf und seinem erweiterten intellektuellen Wirkungsfeld erst per Beurlaubung, dann per sozialem Ostrazismus entfernt und endete in Suff und Wahn.

3. Madame Livienda, drei Gleichnisse

«Und darum muß die wahre Ewigkeit des ewigen Volks dem Staat und der Weltgeschichte allzeit fremd und ärgerlich bleiben. Gegen die Stunden der Ewigkeit, die der Staat in den Epochen der Weltgeschichte mit scharfem Schwert einkerbt in die Rinde des wachsenden Baums der Zeit, setzt das ewige Volk unbekümmert und unberührt Jahr um Jahr Ring auf Ring um den Stamm seines ewigen Lebens. An diesem stillen, ganz seitenblicklosen Leben bricht sich die Macht der Weltgeschichte. Mag sie doch immer aufs neue ihre neuste Ewigkeit für die wahre behaupten, wir setzen gegen alle solche Behauptungen immer wieder das ruhige, stumme Bild unseres Daseins, das dem, der sehen will, wie dem, der nicht will, immer wieder die Erkenntnis aufzwingt, daß die Ewigkeit nichts Neuestes ist. Der Arm der Gewalt mag das Neueste mit dem Letzten zusammenzwingen zu einer allerneusten Ewigkeit. Aber das ist nicht die Versöhnung des spätesten Enkels mit dem ältesten Ahn.«

Franz Rosenzweig



«We will live forever tonight.«

Chastain



«Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.«

Jesus von Nazareth

4. Die Komponistin

«Ist ja goldig. Ich bepiß mich gleich.«

Er hätte es ihr zugetraut: Beleidigender, herablassender und obszöner war noch kein Lachen gewesen, das er je gehört hatte. Sie japste noch ein bißchen nach, schnaubte, machte gutturale Geräusche, war gut aufgelegt. Die Frau konnte noch nicht alt sein, wirkte aber recht verlebt, fand Ryu. In ihrem Wohnstudio war es verrauchter als in einer Rockerkneipe (gut, eine Mutmaßung: Ryu von Schnaub-Villalila frequentierte keine Rockerkneipen). Selbst ihr weißes Haar hatte vom Rauch, bildete der Bankier sich ein, einen Gelbstich — war das eigentlich gefärbt? Mußte es ja wohl sein, sah aber ganz natürlich aus. Die schlaksige, muskulöse Frau in schwarzer Lederhose, schweren Stiefeln, Männerhemd und breiten Hosenträgern, die zwischen vollen Aschenbechern, besudeltem Notenpapier, Büchern, Minidisc- und CD-Stapeln an einem breiten Mischpult Knöpfchen drehte, sah ab und zu in sein Gesicht, fand dort etwas, das sie kolossal amüsierte, und wieherte wieder los:»Bruhähähhä. Eine Weihestätte der Liebe. Geil. Ein Festspiel. Für einen was, Bioabsahner? Und der schickt dich, damit du gleich Zahlen nennst? Und die sind so beeindruckend, daß ich sofort springe? Obwohl du, wie dein kleiner pitch verrät, nicht die leiseste Ahnung hast von dem, was ich mache, wer ich bin?«

«Frau Späth…«

«Frau Späth mich nicht, du Hose. «Kaum war die nächste lächerlich dicke Zigarre angezündet, blies sie ihm den Rauch auch schon mehr oder weniger direkt ins Gesicht. Was für ein Schmierentheater.



Höchste Zeit, das Arbeitsbesteck auszupacken — Stufe Eins: Hartnäckigkeit.

«Frau Späth, ich bin vielleicht kein Kenner Neuer Musik, aber ich weiß, wie man solche Partnerschaften zur maximalen beidseitigen Zufriedenheit…«

«Beiderseitigen. Kein Ahnung, wer ich bin«, grummelte sie und kramte in einem kippgefährdeten Zeitungs- und Papierfetzenstapel,»keinen Schimmer, die krude Sau.«

«Sie mögen mich nicht…«, setzte Ryu erneut an, da nahm die Komponistin eine Stimmgabel von einem Stapel alter SPIEGEL-Ausgaben, schlug sie gegen die Lehne ihres Stuhles, hielt sie in die Höhe und sagte:»Stimmt«, dann warf sie das Gerät achtlos in den hinteren Teil des Raums, zu irgendwelchem anderen Müll.

Schön, bitte, also Stufe Zwei: Zeit für Ryus hervorragendes Gedächtnis, das ihm erlaubte, auch kürzestfristige Crash-Kurse über potentielle Förderkinder sofort bei sich zu behalten und den Lehrinhalt selbst in härtesten Verhandlungssituationen adäquat parlando wiederzugeben.

«Er hat mir gesagt, daß Sie von allen, die heute arbeiten, vielleicht die einzige Person sind, bei der die zentrale Lektion von Iannis Xenakis Früchte getragen hat…«

Cordula Späth setzte sich auf ihren gepolsterten Bürostuhl, kippelte nach hinten, verschränkte, an der Zigarre zutzelnd, die starken Arme hinterm Kopf und sagte:»Mmmmhhhboah die zentrale Lektion von Iannis Xenakis, hört hört, und was is das nu für eine?«

«Musik ist keine Sprache.«

Ryu hatte das nachlesen müssen und wußte nicht unbedingt, was es bedeuten sollte, aber es schien sich gelohnt zu haben, den Satz zu zitieren, denn jetzt erkannte er das erste Mal einen Funken von Interesse in ihrem Gesicht.

Sie senkte die Lider, ein wenig nur, als wäre sie auf eine stark durchgeistigte Parodie des sogenannten Schlafzimmerblicks aus:»Das genaue Zitat lautet: ›Musik ist keine Sprache. Mit seinen komplexen Formen, Furchen und eingravierten Mustern auf der Oberfläche und im Innern gleicht jedes Musikstück einem Felsblock, den Menschen auf unzählige Arten entziffern können, ohne je die richtige oder beste Antwort zu finden. Kraft dieser vielfältigen Auslegungen evoziert Musik vergleichbar einem katalysierenden Kristall alle möglichen Phantasmagorien.‹ Hübsch, ne?«

Ryu kniff die Augen zusammen: Jetzt wollte sie ihn testen. Reinlegen. Da half nur Stufe Drei, hemmungslose, businessgestählte Aufrichtigkeit:»Ich weiß nicht, ob's hübsch ist. Ich versteh's nicht, und es beschäftigt mich auch… kaum.«

«Good for you«, billigte die Komponistin die Feststellung und saugte Qualm in sich hinein. Ryu räusperte sich und setzte neu an:»Aber was ich Ihnen sagen kann, ist, was mein Auftraggeber Ihnen ausrichten läßt, unter Berufung auf, wie er mir sagt, Ihren Lieblingsphilosophen: Wenn Musik keine Sprache ist, was ist sie dann? Denn… ähm…«, er mußte sich kurz besinnen, dann hatte er's:»…denn sprachähnliche Attribute hat sie ja. Man meint ja doch, daß bestimmte Elemente von Musik für irgendwelche anderen Dinge stehen können, zum Beispiel Gemütsregungen.«

«Go on, es wird allmählich witziger«, sagte Cordula Späth. Jetzt hatte er sie. Auf diesem neuen Spielfeld, dem des, nun ja, beiderseitigen Interessiertseins nämlich, wußte er sich zu bewegen.»Gut, also mein Auftraggeber sagt: Vielleicht ist die Nichtsprachlichkeit von Musik eine Parasprachlichkeit, wie etwa bei der Mathematik — die ist ja nicht nur eine Sprache, sondern auch der Gegenstandsbereich einer Sprache — die Zahl ›1‹ ist ein mathematischer Ausdruck, dem außerhalb der Mathematik gar kein ähm… ontischer Status zukommt, es gibt höchstens einen Apfel oder einen Krieg oder einen Menschen, aber keine Eins.«

«Mathematik…«, sie schien die Idee zu kosten wie ein Zungenspitzchen LSD.

«Ja, oder vielleicht noch treffender — meint mein Auftraggeber, unter Berufung auf denselben Philosophen…«

«Heißt Bobby Brandom und sieht aus wie der Nikolaus. Sein style ist neu und macht mir Spaß, er nennt das Inferentialismus.«

«Okay, also, noch treffender: Vielleicht ist sie — die Musik — so etwas Ähnliches wie das Vokabular der Logik. Logik ist ja weniger eine Objektsprache, also eine Sprache, die Dinge und Sachverhalte ausdrückt, als vielmehr ein Instrument zum Explitzitmachen der… der fundamentalen semantischen und pragmatischen Strukturen einer diskursiven Praxis. Und analog dazu könnte dann die Musik die Funktion haben, die fundamentalen Strukturen des raumzeitlichen Erlebens explizit zu machen. Da sie sich ja in der Zeit abspielt, darauf angewiesen ist wie kaum eine andere Kunst, und andererseits sehr leicht die Illusion von Räumen erzeugen kann. Musik wäre dann die eigentliche Dimensionskunst, und wenn man das, was sie kann, dazu benutzen würde, eine neue…«



«Er will, daß ich Musik schreibe, mit der man durch die Zeit reisen oder durch den Raum springen kann, damit…«

«Ehrlich gesagt, er will, wenn ich ihn zitieren darf, mit Ihrer Hilfe ein defensives Waffensystem bauen. In Form eines Liebesweihefestspiels. Ein Kunstwerk für Flucht und Ausweichen, um damit ein offensives Waffensystem zu ergänzen, das er schon besitzt und das… biochemischer Natur ist.«

«Ein offensives…«, sie lächelte, nickte, als wolle sie gleich damit beginnen, sich Notizen zu machen, als habe sie den Auftrag bereits angenommen, als gebe es keinen Weg zurück zu Anstand und Unschuld mehr.

«Viel mehr kann ich Ihnen nicht sagen, außer, daß er Sie für eine ausreichend allseitig… kundige… Person hält, um davon auszugehen, ich könnte Sie damit beeindrucken, wenn ich Ihnen mitteilte, daß das offensive Waffensystem als eine seiner wichtigsten äh… Komponenten ein… intelligentes Mutagen aufweist, welches das phylogenetische Gedächtnis anzapfen kann, um Phänotypen von… Lebewesen…«

«Wie heißt der Onkel, Doktor Moreau?«

Sie stand auf, ging zu einem Regal, nahm ein Filofaxmäppchen raus, warf es Ryu in den Schoß:»Da schreibst du jetzt die Summe rein. Und eine Telefonnummer — gib mir keine Visitenkarte, ich schmeiß den Mist eh gleich weg. Dann denk ich drüber nach. Don't call us, we'll call you

«Gut…«, und Stufe Vier, das Zuckerstückchen,»… aber eins muß ich noch ergänzen. Er bietet Ihnen einen Bonus, der sich nicht in Geldmitteln ausdrücken läßt. «Ryu war froh, daß er den Laden bald würde verlassen dürfen, er hatte seinen Kugelschreiber gezückt und begann, während er noch redete, schon aufzuschreiben, was sie wissen mußte.

«Toll, ideelle Werte. Ich schlaf gleich ein, falls…«

Stufe Fünf: Dem Gegenüber das Wort abschneiden, wenn anders Autorität nicht herzustellen ist:»Unsterblichkeit. Er bietet Ihnen die physische Unsterblichkeit an, Frau Späth.«

5. Der Löwe, drei Gleichnisse

«Nein, eine einzelne Person darf nicht entscheiden. Entscheidungen einer einzelnen Person sind immer oder fast immer einseitige Entscheidungen. In jedem Kollegium, in jedem Kollektiv gibt es Menschen, mit deren Meinung man rechnen muß. In jedem Kollegium, in jedem Kollektiv gibt es Menschen, die auch falsche Meinungen zum Ausdruck bringen können. Aufgrund der Erfahrungen von drei Revolutionen wissen wir, daß unter hundert Entscheidungen, die von einzelnen Personen getroffen und nicht kollektiv überprüft und berichtigt wurden, annähernd neunzig Entscheidungen einseitig sind.«

Josef Stalin



«If a group achieves enough togetherness to exercise agency as a group, over a period of time, perhaps we should, on just those grounds, conceive it as a living individual whose life extends over that period of time. I claimed that the continued existence of a person requires the continuation of an individual life. I never restricted the required individual life to the life of an individual human being. There was always a need to leave room for the possibility that, say, Martians or dolphins might be persons in the Lockean sense. So one line I could take, in defending my so-called ›animalism‹ against Rovane's appeal to group persons, would be to stress that the idea that does the work, in the position that is only awkwardly so called, is not the idea of an individual constituted as such by mere biology but the idea of a kind of continuity recognizable as the continuation of an individual life.«

John McDowell



«There are bright senses and dark senses. The bright senses, sight and hearing, make a world patent and ordered, a world of reason, fragile but lucid. The dark senses, smell and taste and touch, create a world of felt wisdom, without a plot, unarticulated but certain.«

John Crowley

6. Sündenfall

Sie war reif für die Verlockung der Unsterblichkeit und für noch manch andere, gefährlichere.

In nicht allzu vielen Jahren hatte sie viel zu viel gesehen, das sie nachgeben hieß.

Erst ein halbes Jahr vor Ryus Erscheinen in ihrem Tonstudio war ihr endgültig klargeworden, daß die eilige Katja (die sie bei sich, der Eingebung einer gemeinsamen Freundin folgend, das Wetzelchen nannte) und sie selbst miteinander nicht hatten, was man eine Zukunft nennt.

Denn erstens war Katja leider» einfach nicht lesbisch genug«(Cordula, im Tagebuch) — der damalige Beau der Eiligen hieß Stefan und war ein anständiger, kluger Kerl, aber, fand Cordula, andererseits eindeutig keine Frau und deshalb ein ganz schlechtes Zeichen. Zweitens aber ließ Katja das allgemeine Elend in regelmäßigen Abständen so nah an sich heran, wie das keine Künstlerin je geduldet und ertragen hätte, und da wurde Cordula, weil sie Katja so sehr liebte, dann immer mit hineingezogen, was schließlich selbst bei dieser so prinzipienfesten und starken Person dazu führte, daß ihr Charakterrückgrat ein bißchen ausleierte.

Die Intimität, die sich aus solchem Mitleidenmüssen zwangsläufig ergab, wurde nämlich nicht durch eine entsprechende Lustnähe belohnt — es gab ab und zu ein Küßchen, ab und zu ein unbeholfen süßes Zusammensein in irgendwelchen Betten, aber kein ordentliches Einanderauffressen.

Nie.



Die Sache mit Stefans Eltern zum Beispiel.

Das waren zwei brave Leute von geringem Stand und magerem Verdienst. Ihn hatte nach Jahrzehnten grauer Rackerei im Versicherungswesen die Arbeitslosigkeit ereilt, sie war schließlich in Rente gegangen, davor bei der katholischen Sozialfürsorge beschäftigt gewesen.

Stefan lebte längst nicht mehr bei ihnen, seine ältere Schwester, psychisch» durch den Wind«(Katja), versuchte es seit ein paar Jahren mit betreutem Wohnen, ihr Kind, also Stefans Neffe und der Enkel seiner Eltern, lebte bei diesen. Die beiden Alten waren keine übermäßig fanatischen Anhänger des herrschenden Systems, aber sie opponierten auch nicht —»normale Mitmacher«, fand Cordula, also Personen, die sich nie etwas hatten zuschulden kommen lassen, und natürlich (erkannte die Tragödin in der Komponistin rasch) war damit klar, daß sie zu denen gehören, die es unverhofft am härtesten trifft.

Kaum trat die Mutter ihre Pensionszeit an, wurde nicht nur das Geld knapp — der Vater, besiegt von seiner Entlassung, schaffte frei nichts mehr heran —, sondern auch noch ein fieser Blutkrebs bei ihr diagnostiziert. Gegen den mutete man ihr, unter voller Anteilnahme des Ehemanns, Enkels, Sohnes und dessen Freundin, eine nahezu tödliche Therapie zu, die zweimal abgebrochen wurde, bis sie zu einer wackligen Art von Erfolg führte. Kaum hatte sie sich hinreichend gefangen, entdeckte man beim Gatten nunmehr Lungen- und Speiseröhrenkrebs, und zwar einen schnellen.

Innerhalb weniger Wochen und nach einem erfolglosen Angriff der stationären Medizin auf die Wucherungen war der Mann ein Pflegefall, kehrte im Rollstuhl, mit Atemgerät und zur selbständigen Nahrungsaufnahme unfähig nach Hause zurück und war dort eine Last für sie, die dem Tod eben hatte entkommen können — immerhin, sagte Katja zu Cordula am Telefon, als die ihr angekündigt hatte, sie werde ihre laufende Konzerttournee jener Tage unterbrechen, um in der Kleinstadt für Katja da zu sein,»wird es wohl… alles in allem… nicht lange dauern«.

«Was heißt nicht lange?«fragte Cordula und bereute die Frage im selben Moment.

«Na ja«, sagte Katja, hörbar müde bis an die Grenze zum Wachkoma,»wenn du ihn noch mal sehen willst, nimmst du besser den nächsten Zug.«

Was antwortete man da?

Cordula kam nicht dazu:»Außerdem, wo wir grad bei super Nachrichten sind«, die Komponistin konnte das sexy sarkastische Grinsen der Geliebten direkt vor sich sehen, ja, sie meinte, man hörte es sogar, bei dieser Stimmlage,»von Stefan und mir gibt es auch Neuigkeiten.«

«Was denn«, witzelte Cordula, um den Horror ein bißchen aufzuhellen,»bist du schwanger?«

Katja lachte humorlos:»Wie hast du das nur wieder erraten, Bienchen?«



In der bis zum Wahnsinn einsamen, eifersüchtigen und schmerzlichen Nacht, die auf dieses Telefonat folgte, kam sich Cordula Späth hauptsächlich wie die letzte Sau vor: Wie kann ich rasen, über diese Nachricht, wenn doch der arme Großvater des vorgesehenen Kindes gerade viel größere Probleme hat als ich mit meinem verrückten Besitzanspruch auf die Süße? Was bin denn bitte ich für ein Monster?

Sie fuhr dann tatsächlich mit dem berühmten nächsten Zug, war der Süßen eine Stütze und zu Stefan mitfühlend nett, aber eine Woche danach schrieb sie Katja eine E-Mail, in der die ganze Verbocktheit der Lage, die ganze Sehnsucht und Aussichtslosigkeit zu unkontrolliertem Textgebrüll geballt waren.

Katjas Antwort, immerhin, kam sehr schnell: Cordula müsse verstehen, es gehe eben nicht, beziehungsweise sei quälend und verwirrend, denn sie, Katja, liebe Stefan, aber:»Ich mag dich sehr sehr. Bei mehr, nur dem Gedanken, zerreißt mein Herz vor Glück und Angst.«

Der Satz mit den beiden» sehr«, das begriff Cordula, die ja nicht dumm war, sofort, als sie ihn das erste Mal las, war natürlich das Schönste, und aufgrund des Zusammenhangs zugleich das Traurigste, was ihr je überhaupt ein Mensch mitgeteilt hatte: Liebe, die vor sich selber Angst hat, sie könnte zu groß sein.



Daß aber das Schönste und das Traurigste so eng beieinanderlagen, ja daß diese zwei ineinander verbissen waren wie kämpfende Krokodile, verriet der Künstlerin furchtbar Eindeutiges über die Lage des Menschengeschlechts und ließ sie nur noch entschlossener dem tatsächlichen Zustand einen künstlichen entgegenstemmen, mit dem ganzen bißchen Menschenkraft, das sie hatte.



Von den anderen Menschen, denen es ja im Grunde allen auch so ging, nämlich völlig anders, aber schlecht, war erkennbar keine Hilfe zu erwarten. Ihr Vorstellungsvermögen hatte einen gefährlichen Knick; sie hielten generell von der Wirklichkeit viel mehr als von der Wahrheit.

Cordula wußte, daß sie von solchen nichts erhoffen durfte.

Deshalb nahm sie das Angebot des Löwen an.

7. Metamorphologie

«Welches Tier, Frau Späth?«fragte der Löwe bei einem der wenigen persönlichen Treffen auf seinem Landgut in Boleskine, Schottland, im Gewächshaus, wo er den Rosengarten pflegte, seine duftende Spazier- und Gedankengalerie.»Was wären Sie gern?«

«Verrat ich nicht. Sie selber, na, das weiß ich ja.«

«Ach?«Er lächelte, roch an einer gelben Blüte, wandte sich ihr zu.»Was wissen Sie denn sonst noch so, von mir?«Sie steckte den Daumen in ihren breiten Nietengürtel, maß den Mann, der bald kein Mann mehr sein würde, mit viel Sympathie, und sagte:»Sie gehen nicht immer so stocksteif und tragen sich nicht immer so aristokratisch wie hier und vor mir, das weiß ich zum Beispiel. Obwohl ich's nie gesehen habe. Nach langen Arbeitsstunden im Labor schleppen Sie sich wie ein leidendes altes Weib hoch ins Bett.«

«Hoch?«

«Oder runter. Auf ein anderes Stockwerk jedenfalls.«

Er nickte,»Was noch?«

«Sie erscheinen auf Meetings mit Ihren Leuten niemals in Begleitung von Adjutanten oder Helfern wie Schnaub-Villalila, sondern immer allein, um den Moment zu genießen, nein: um denen, zu denen Sie kommen, zu erlauben, den Moment Ihres Auftritts zu genießen, als was Erhebendes. Eine Art Motivationstechnik. Und dann scheißen Sie die Leute manchmal so brutal zusammen, daß die wie zerbrochenes Spielzeug liegen bleiben, ein Trümmerfeld. Danach drehen Sie sich einfach um und gehen. Sie fahren zwischen die Schlafenden wie ein blutiger Wirbelsturm, und dann wieder führen Sie sich auf wie ein heiliger Mann, der Vergebung und Erlösung den Leuten aufs Auge drückt, mit aller Gewalt, aller Überredung und aller List. Sie sind mindestens so schwul, wie ich lesbisch bin, wenn nicht schwuler, und haben wesentlich mehr Erfolg bei Ihrem Liebeswerben. Aber wenn's geklappt hat, wissen Sie schnell nicht mehr, was Sie mit diesem Erfolg anstellen sollen. Sie haben ein vergleichsweise kaltes Herz, aber dafür ein glühend heißes Hirn, so daß Ihnen manchmal der Dampf aus den Ohren rauskommt. Sie arbeiten hart, damit Sie ein Löwe werden können und nicht eine Schlange bleiben müssen. «Er nahm sie bei der Hand; sie ließ es geschehen. Er sagte:»Woher, wenn ich so eine dumme Frage stellen darf, wissen Sie so viel über das, was ich bin, nein: was ich tue?«

«Weil wir uns sehr ähneln, natürlich, und weil ich also ganz dasselbe tun würde, wenn ich nicht glücklicherweise lieber Kunst machen würde als… ihgitt… Politik.«

8. Das gute Leben

Soweit es Ryu von Schnaub-Villalila betraf, machte er das Beste draus und kaufte sich schließlich sogar eine lila Villa, das heißt, sie war erst weiß, dann ließ er sie anmalen, um ganz Hamburg-Blankenese damit zu ärgern, was ihm mühelos gelang.

Alles geschah nach Plan: Er war aus seiner alten Firma ausgeschieden. Nach einer Weile mochte ein Wirtschaftsprüfer, der sich die Verflechtungen besah, die Ryu für den Löwen flocht und wieder auflöste, je nach Fortschritt des großen Werks, gar annehmen, daß inzwischen der Löwe und sein Biopharmaunternehmen für Ryu schufteten statt umgekehrt — dafür nämlich, daß Ryu den ganzen Tag Schöngeistiges und Grundlagenforscherisches begutachten, koordinieren, finanzieren durfte.

Der Herr als Knecht des Knechts — darüber sollten sich andere die Köpfe zerbrechen, Wirtschaftsprüfer und Marxisten, Ryu aber sagte sich:»Wirklich, ich mach das Beste draus«, manchmal sogar beim Rasieren, morgens, und der andere Ryu im Spiegel war seiner Meinung.

Die Geldvernunft, in deren Parametern der Finanzier agierte, schien ihm die vernünftigste Vernunft, die im Diesseits zu haben war. Das Schönste fand er, daß er allmählich ein sehr freies, sehr fungibles Verhältnis zur eigenen Identität bekam und sich nicht mal mehr besonders dran störte, daß selbst seine rund um den Erdball verteilten Leidenschaften (mit Teresa in Santiago, mit Ellen May in Kapstadt, mit Miss Emma Frost (delectable!) im Hellfire Club von Westchester oder dem engelhaften Umberto in Mailand, der ihm danach, während der Mond seinen höchsten Punkt erreichte, auf dem Balkon stundenlang aus D'Annunzio vorlas, und Ryu verstand kein Wort) der Differenzierung von Person und Besitz gehorchen mußten, weil er eben» vermögend «war und immer vermögender wurde, als Katalysator einer großen Weltveränderung, die er bei sich» die Beseitigung der Langeweile und die Überwindung des Menschen «zu nennen begonnen hatte.



Ihm gehörte, was geschah, er besaß es, indem er es vollbrachte, aber er war es gar nicht, es gab ihn immer weniger, und er las im Privatjet Georg Simmel:»Der Besitz, der nicht irgend ein Tun ist, ist eine bloße Abstraktion: Der Besitz als der Indifferenzpunkt zwischen der Bewegung, die zu ihm hin, und der Bewegung, die über ihn fortführt, schrumpft auf Null zusammen; jener ruhende Eigentumsbegriff ist nichts als das in latenten Zustand übergeführte aktive Genießen oder Behandeln des Objektes und die Garantie dafür, daß man es jederzeit genießen oder etwas mit ihm tun kann. «Ryu umspielte, umspülte die Dinge, statt sie zu greifen, er verflüssigte sich, und das gefiel ihm und machte ihm angst. Er war nicht zu fassen, er war sich und allen andern entwischt.



Sein Funktelefon dudelte. Er ging ran.

Es war die Komponistin:»Hallo, Ryu. Ich wollte dir was sagen, was mir grad eingefallen ist. «Um mich zu ärgern, dachte er. Um mich zu foltern. Denn inzwischen kannte er sie gut.

Sie lebte jetzt auf einer pazifischen Insel, wo sie, wie sie sagte,»besser arbeiten «konnte — der Löwe hatte ihr das Eiland gekauft. Der Bau, den sie dort bewohnte, entsprach in lächerlich genauer Detailtreue dem Vorbild eines ähnlichen, den sich ein Schriftsteller einst anderswo hatte bauen lassen, den sie bewunderte, Curzio Malaparte. Er sah sie vor sich, jetzt, wie sie dort auf dem Balkon lag, sich räkelte, aalte, umgeben wohl von jungen Mädchen, die sie an der amerikanischen Ostküste aufzulesen pflegte, in exklusiven Clubs, und nach zwei Wochen reich beschenkt und tief gedemütigt nach Hause schickte, please never darken my step again, baby.

«Was willst du?«

«Ich dachte bloß, wegen der Tiere, die wir werden.«

Jetzt würde sie bestimmt gleich irgendeine ganz unfaßbare Unverschämtheit abfeuern: wie er im Grunde doch ein Versuchsäffchen mit Elektrodenklammern im Hirn sei, dessen Lustzentrum auf eigenes Betreiben so lange gereizt wurde, bis das Tier elend Hungers starb und es nicht einmal bemerkte. Vielleicht hat sie sogar, dachte Ryu, wie üblich bei Gesprächen mit der Künstlerin in eine unerklärlich dickflüssige Stimmung abgleitend, ein gewisses Recht, so mit mir zu reden, denn im Gegensatz zu Frau Späth, die ihr augenblickliches Luxusleben nur zu führen imstande ist, weil sie ihre, na, wie sagt man, Seele dem Löwen verkauft hat, hätte ich die freie Wahl gehabt, oder doch die verhältnismäßig freiere, denn ich wurde ja, wie man so sagt, mit einem Silberlöffel im Mund geboren, alter Geldadel, immer steinreich gewesen, werd es bleiben, egal, was passiert.

Aber die Komponistin überraschte ihn:»Ich hab mir gedacht, du könntest doch ein Fuchs sein, nach dieser Revolution oder was er da vorhat.«

Die siebzehn Bildschirme an der gewölbten Wand zeigten eine Welt, die sich würde beherrschen müssen, nicht auseinanderzufallen, um» dieser Revolution oder was er da vorhat«überhaupt noch Gefäß und Schauplatz sein zu können. Ryu wußte vom Bevorstehenden mehr als die meisten, und was er um sich sammelte, kontrastierte gar nicht schön mit dem, was insgesamt an Mangel da war, stündlich erzeugt wurde — soweit es mich betrifft, dachte er, weiß ich viel zu gut, was uns bevorsteht: der Golf von Persien, das kaspische Becken, das Südchinesische Meer, das Nilbecken, die Wasserkriege um den Jordan, den Tigris, Euphrat und Indus, die zunehmenden bewaffneten Auseinandersetzungen um Mineralien und Holz… Wir werden einander ums Nötigste und Einfachste abschlachten; wir werden einander rauben, was wir gemeinsam fördern, technisch aufbereiten, bewahren, durch gleichberechtigte Bevölkerungspolitik vernünftig nutzen könnten.



«Ein Fuchs«, sagte er.

«Ja, du solltest ein Fuchs werden. Das Buschige, das wird dir stehen, glaub's mir.«

Was sie bei diesem Getändel verschwieg und was Ryu sowenig ahnte wie der Löwe, war, daß solche Unterhaltungen, die von seiten der Komponistin scheinbar immer ganz voraussetzungslos und ein bißchen zerstreut initiiert wurden, in Wirklichkeit dem vorsichtigen Abgleich dienten, der strategischen Überprüfung, ob der Tauschhandel noch in Kraft war, denn Cordula Späth wußte genau, daß sie über den Tisch gezogen wurde, mit ihrer vollen Einwilligung allerdings: Unsterblichkeit und alle anderen gimcracks und gadgets, die man ihr zum Luxus überließ, wogen in tausend Jahren nicht auf, was sie ins Projekt investierte.

«Ein Fuchs, hübsch. Und du?«Er hatte nicht vor, jemals einen der Bälle zu fangen, die sie ihm herüberwarf; alles mußte sofort zurückgespielt werden.

«Ich?«

«Ja. Was wirst du? Eine Eule, eine Ratte, ein Haifisch?«Er fand sich geistreich, das war seine Achillesferse und würde es noch durch die nächsten anderthalb Jahrtausende bleiben.

«Nee, ich hab mir was Ehrgeizigeres vorgenommen: Ich glaub, ich werde zur Abwechslung mal was, das die Welt noch nicht gesehen hat. Ein freier Mensch.«

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