1. Aus dem Kerker
Was ich über einen roten Riesenaffen weiß?
Nichts mehr konnte Feuer hier noch überraschen.
Zwar mußte er sich eingestehen, daß er eben im Begriff gewesen war, die Hoffnung zuzulassen, Pyretta und er könnten vielleicht auf dem Weg zu so etwas wie einer Verständigung sein. Aber da es jetzt um einen roten Riesenaffen ging, war das wohl verkehrt gewesen; so grundverkehrt wie alles an diesem Ort.
«Nichts. Über einen roten Riesenaffen weiß ich nichts«— vielleicht ist es ein Übersetzungsfehler. Was habt ihr mir ins Essen getan, daß mir Brüste wachsen, daß mein Penis schrumpft, daß mein Kinn jetzt glatt ist? Vielleicht weiß es der rote Riesenaffe. Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr.
Pyretta schlug die Augen nieder. Feuer erkannte an ihr, was er einmal auf einer lichtbelebten Oberfläche gesehen hatte, vor Ewigkeiten: die ganze Narrheit, Nacktheit, Gewalt, das Leiden der Menschen, und er fand, ich mag sie zwar, aber das nützt und hilft uns leider beiden nichts. Dann wischte sie sich mit einer Handbewegung, die er inzwischen gut kannte, eine Strähne rotblonden Haars aus dem Gesicht und sah ihn an, als wüßte sie, daß Feuer nun sehen konnte, was sie dachte, als hätte sie sich ihm geöffnet, wie schon einmal — der Prinz erschrak: Er sah die Militärs, die Zündschlüssel, die Rampen und die Marschflugkörper, sah, wie die Kopfhörer und Mundstücke im hellen Elektronenfeuer standen, weil hektischer kommuniziert wurde als je, zwischen den Machthabern in den Städten Marder, Stute, Weißer Tiger. Die beiden jüngeren Metropolen, in Atalanta gelegen, hatten inzwischen ein Bild davon, was da soeben die Mauer zur ältesten der Neuen Drei Städte überwunden hatte, in der Feuer gefangen saß. Die Entscheidungsbäumchen, an die Pyretta dachte, wurden zu wirklichen Optionen für Feuers weiteres Schicksal: Wenn man in Marder oder Stute zum Entschluß gelangte, es seien nun offenbar die lang befürchteten interplanetarischen Feindseligkeiten mit den Keramikanern oder Marsbewohnern ausgebrochen, wenn man annahm, dieser Affe stamme aus der fünften oder einer andern höheren Dimension, dann würde man die Abschußcodes eingeben und keinen Gewissenbiß verspüren bei der sofortigen Vernichtung der Schwesterstadt. Relais für die Panikorder würden die Siebenvierer werden, wie sie immer schon Router für die Kommunikation zwischen den neuen Städten gewesen waren, noch vor den Minderlingen, von der Grundsteinlegung an, schweigend, auf Nichteinmischung verpflichtet. Wenn Feuer aber irgend etwas wußte, das dem Wüten des Riesenaffen einen Kontext geben konnte und vielleicht geeignet war, ihn abzuwehren, dann, um ihrer beider, nein aller Menschen (Minderlinge, dachte Feuer, sie nennt sie nur Menschen) willen, die verbrannt, verstrahlt, versaftet werden würden, sollte er es sagen, jetzt, und nicht mehr vornehm tun.
Sie wartete auf Feuers Antwort.
Es war alles schief, die Voraussetzungen der Frage stimmten nicht, er hatte sogar Schwierigkeiten, von sich als» Feuer «zu denken, als» der Prinz«, als» er«, es war ihm, als fiele das soeben von ihm ab, von ihr, von ihnen beiden, langsam, unaufhaltsam, ja, von wem denn, wann denn?
Außerdem war mehr zu sehen, als Pyretta ihn sehen lassen wollte: Sie fragte nicht nur aus berechtigter Sorge, sondern weil das ihr Weg nach oben war, nach draußen, ins Freie, das heißt, zunächst die wichtigste Sprosse auf der Leiter in der Hierarchie der Abwehr, die wiederum der wichtigste exekutive Zweig der großen Organisation war, welche man hier» die Akademie «nannte und die früher, auf der alten Welt, einfach» Regierung «geheißen hätte. Sie war, sah Feuer, wirklich Preisnitels Tochter, und vor wenigen Wochen hatte er sie noch an der Leine geführt. Auch ein Kind wollte er ihr tatsächlich machen. Feuer, Flamme, Fiamettina (was sind das für Namen, Erinnerungen, wer denkt mich da?) bedauerte das erniedrigte Leben, das Pyretta hatte führen müssen, von der Rhinoplastik mit dem Zweck einer» besseren Balance der Gesichtszüge«(so Preisnitel, von dem sie die schiefen Züge doch geerbt hatte), über die regelmäßigen Fettabsaugungen, wenn er sie wieder zu doll gemästet hatte mit seinen Schokoladen und Fleischleckerbissen, die Ohrmuscheloperation, bis zu den zwei Brustvergrößerungen, das ganze Elend zum einzigen Zweck, den Minderlingwiderling zu unterhalten, ihn dazu zu bewegen, ihr seine schützende Hand nicht zu entziehen, denn Leute wie sie galten noch viel zu lange als nicht Fertiggeborene in dieser Gesellschaft, selbst wenn sie wie Pyretta (was Preisnitel» niedlich «fand) sogar Arbeit gefunden hatten — gut bezahlte, angesehene Arbeit, bei der Abwehr.
Pyrettas einzige Chance, diesem erstickenden Zwang je zu entkommen und der Not, dem fürchterlichen Vater gefallen zu müssen, war der Versuch, sich an eine Macht zu wenden, die mehr Geltung hatte als seine, eine Gewalt, der er sich würde fügen müssen — der Leitung der Abwehr also, der Akademie selbst.
Fiamettina erkannte, daß das der wahre, von Mitgefühl für die hypothetischen Opfer etwaiger Kriegshandlungen ganz unabhängige Grund war für die Dringlichkeit, mit welcher der Geist dieser Armen sich nach ihr, ihm, der Gefangenen gestreckt hatte. Nur dieses Sichstrecken war es gewesen, was dem geschwächten, beinahe ertaubten telepathischen Sinn in Fiamettinas Kopf erlaubt hatte, Kontakt mit ihr aufzunehmen.
Feuer, Fiamettina, blickte in diesem kurzen Augenblick des Abwartens direkt in Pyrettas jüngste Vergangenheit, auf den bis hierher meistverheißenden Versuch, sich bei den leitenden Figuren bemerkbar zu machen. Wochenlang hatte Pyretta daran gearbeitet, mit akademischen Hilfskräften und unter stetem Rückgriff auf immer wieder aufgefrischte eigene Recherchen, eines der zentralen Rätsel der aus dem Isottatempel geborgenen Maschinen und anderen Artefakte zu lösen: Was es wohl mit der sogenannten» Musik «auf sich hatte, den» Rhythmen«,»Harmonien«,»Reihen«, um die es in so vielen der Zier- und vielleicht Instruktionstexte auf den Stelen, in zahlreichen Glyphenfolgen und auf Schemata zu gehen schien.
Etwas fast Greifbares war da aufgeschienen, dem dann aber doch nie irgendeine Vorstellung von Bekanntem entsprach: Was waren Melodien, was Kontrapunkt und Fuge, Tempo, Symphonie, Sonate, Beat, auf welche Technik, welche Kunst bezog sich diese Sprache?
Fiamettina, Feuer, las mit Pyrettas Augen einen Text, an dem die Agentin verbissen herumdechiffriert hatte, bis ihr die Augen zufallen wollten, lange bevor der Prinz (die Prinzessin?), der Mann (die Frau?) im Weißen Tiger aufgetaucht war, der (die?) den Schlüssel besitzen mochte; einen Text, der etwas über die Gente, die Menschen und beider Beziehung zu (durch? mittels?) Musik auszusagen versuchte, was Pyretta nicht verstand, weil ebendies Allesundnichts, das Musik hieß, für sie wie die darin erwähnten Namen ›Kafka‹ und ›Mahler‹ ein Zeichen war, das keinen Referenten hatte:»Musik benimmt sich wie Tiere; als wollte ihre Einfühlung an deren geschlossener Welt etwas von dem Fluch der Geschlossenheit gutmachen… Wie in Kafkas Fabeln ist ihm Tierheit die Menschheit so, wie sie von einem Standpunkt der Erlösung aus erschiene, den einzunehmen Naturgeschichte selber verhindert. Mahlers Märchenton erwacht an der Ähnlichkeit von Tier und Mensch. Trostlos und tröstend in eins, entschlägt die ihrer selbst eingedenke Natur sich des Aberglaubens an die absolute Differenz von beiden.«
Das war doch eine Handreiche für irgend etwas, das beschrieb doch einen Transfer, einen Kalkül, eine Inferenz, aber was für eine, wo, wie, welches Substrat gab es, auf dem so etwas lief?
Fiamettina ahnte, daß ihr zumindest wolkig und aus weiter Ferne eine Art Antwort greifbar schien, nein, vielleicht keine Lösung, eher ein weiteres Rätsel, das mit diesem verschränkt war, eine Ungereimtheit, die Feuer (oder wer immer das jetzt war, wurde, sein wollte) das erste Mal auf dem Isottatempelruinenplatz aufgegangen war, eine Leerstelle… aber es schien für Pyretta gar nicht mehr von Interesse; die lange Arbeit an dem sibyllinischen Fragment und den andern toten Spuren hatte sich für sie in dem Augenblick erledigt, da der Affe aufgetaucht war und der Bestand der Stadt akut gefährdet schien.
Darauf mußte jetzt eine Antwort her, was weißt du, hilf mir, sag es, gib mir eine Waffe.
Die Türen an der Längsseite des Verhörraums glitten auseinander.
Zügig trat Preisnitel ein, begleitet von zwei seiner übelsten Knochenbrecher, legte die rechte Pranke auf Pyrettas Schulter, fixierte Fiamettina streng und sagte:»Ich denke, den Schmus haben wir uns lange genug angehört und angeguckt. Es passieren ernstere Dinge da draußen. Menschen sterben. Der Weiße Tiger ist in Aufruhr. Das Protokoll, ich weiß, sieht vor, daß wir zur Zeit und… zur Abwechslung… versuchen, diesem Ding da«, er nickte Richtung Fiametta,»seine Geheimnisse, wenn's denn welche hütet, auf die sanfte Tour aus dem Busen zu kitzeln. Aber wie es ausschaut, und in Anbetracht der Notwendigkeit, nicht gleich, sondern sofort Ergebnisse vorweisen zu müssen, denke ich doch, daß uns niemand allzu genau auf die Finger sehen und die Einhaltung des Protokolls verlangen wird, nicht wahr, Töchterchen?«
Das letzte Wort, wußte die gefangene Flamme sofort, hätte der Unhold nicht aussprechen dürfen. Es war mehr als genug; es war endlich zuviel.
So schraken zwar drei Männer, nicht aber die beiden Frauen im Raum zusammen, als Pyretta ihrem Erzeuger den linken Ellenbogen in den Schritt rammte, ihm seine Waffe von der Hüfte riß, ihn damit erschoß, die beiden Begleiter durch genau abgezirkelte Tritte und schließlich weitere Schüsse, einmal in den Bauch, einmal in den Hals, tödlich verletzte. Sie lagen da und krümmten sich und machten sich mühsam ans Sterben. Pyretta griff die Flamme am Arm und schrie sie an:»Was sitzt du da wie… wir müssen weg! Es ist aus! Die ganze Stadt…«, sie riß sich ihr Kommunikationsgerät vom Kopf, warf es auf den Boden, trat mit dem Absatz drauf, daß es knirschend kaputtging.
«Ja«, sagte Fiamettina, als sie aufstand,»ich bin frei, das stimmt. Und du bist es auch.«
2. Mythentremor
Beim Versuch, den großen Affen aufzuhalten, der, je mehr er wuchs, gleich Moloch, Behemoth und Leviathan, immer weniger wußte, wer ihn gemacht hatte und wozu er gut war, wurden Fehler begangen.
Hätten die Minderlinge die Mythen der Menschen, die sie zu leben versuchten, etwas besser gekannt, so hätten sie es sicher unterlassen, den Schrecken, der ihre Brücken mit den Knien wegdrückte und ihre gelben Kräne zertrat, der ihre Magnetschwebebahnen von den Schienen riß und ihre Autos mit den Bruchstücken ihrer Türme zertrümmerte, mit untauglichen Mitteln anzugreifen: Boden-Luft-Raketen, Wurfminen und Gewehrschüsse.
Hätten sie etwas von King Kong gewußt, wäre ihnen klar gewesen, daß der Sturz eines solchen Geschöpfs kaum weniger grauenhafte Folgen haben mußte als sein ungezügeltes Toben.
Hätten sie etwas von Antäus gewußt, dem sagenhaften Helden, dessen Kraft darin bestanden hatte, daß er jedesmal, wenn er im Kampf mit einem Gegner in Bedrängnis kam, die Erde, seine Mutter, berührte, die ihn geboren und genährt hatte, und so neue Kraft schöpfte, dann hätten sie nicht Seile mit Haken nach ihm ausgeworfen und ihn zu Boden zu zwingen versucht, mit starkmotorigen Kraftfahrzeugen, an denen Gewinde befestigt waren, welche die Seile und Stricke zu ziehen versuchten. Der Riese riß die Seile ab, verschlang die Kraftfahrzeuge und raffte, wenn sie ihn einmal wirklich ein paar Meter hin zur Horizontale zwingen konnten, von dort Leute und Geräte auf, stopfte sich auch die in den Mund, auf daß er nur noch größer, wüster, zorniger und schwerer zu besiegen sein würde. Er schrie viel und laut dabei. Hätten sie etwas von der Hydra gewußt, so wäre ihnen nicht eingefallen, ihm mit Rotorblättern, Sägen, Klingen und Laserwaffen Finger zu durchtrennen oder mit schweren Hieben Brocken aus seiner dicken Haut zu sprengen, denn wo die zu Boden fielen, wabbelten und zuckten sie, wuselten und veränderten sich — schon wurden neue Affen daraus, denn was mit dem Kältespeichermedium, dem ganz besondren Eis der Herkunft des Monsters, verkehrt gewesen war, das stimmte nun auch mit dem gewaltigen Organismus nicht, der sich aus diesem Medium befreit hatte, um den Weißen Tiger zu verheeren: Replikatorenkatastrophe, Vervielfältigungslawine, Wachstum außer Kontrolle.
Man rannte davon, man rief um Hilfe nach den andern Städten.
Dort nährte jeder Funkspruch die Entschlossenheit, sich das Problem vom Hals zu schaffen.
Die neuen Orang-Utane, Sdhütz Arroyos Myrmidonen, schwärmten aus und zogen durch die Viertel und Sektoren der Stadt, in die sie eingefallen waren, bis sie einen Gürtel bildeten, der sich allmählich zusammenzog. Eilends näherte sich die bizarre Armee, zäh bekämpft von planlosen Verteidigern, vom Forum Tauri her wie von den Hitzespeichern der Agrarfabriken, von der Mokioszisterne und dem Pegetor, vom falschen Hafen wie von der Mittelstraße her dem Platz, auf dem einst der Isottatempel gestanden hatte.
Die Angreifer nämlich hörten die Echos des Alten deutlicher als die Minderlinge je.
3. Pull down thy vanity
Die Stadt fiel fürchterlich zusammen; falscher Kuchen im Umluftherd des Untergangs.
Huan-Ti, der sehr unfreiwillige Namensgeber des Ganzen, hätte sich die Hauer bei dem Anblick gelb geschämt. Zwei Frauen irrten, unter durchbrochenen Brücken, über aufgeplatzten Kanalisationen, aus denen das Unbewußte der Stadt sich auf die Straße ergoß, zwischen den Bränden umher, die eine bis eben gefesselt, die andere bis vor kurzem damit betraut, auf sie aufzupassen. Die Unterschiede zwischen den Leuten schmolzen dahin, wie immer, nicht erst beim Fall von Landers, Kapseits, Borbruck, sondern schon beim kopflosen Herumrennen in den Straßen des angezündeten neronischen Rom, schon bei der Flucht aus dem untergehenden Pompeji.
Maschinengewehre ratterten in der Ferne, Sirenen heulten, Glas splitterte und klirrte. Minderlinge, die wie Menschen und Gente nur Sterbliche waren, griffen einander auf offener Straße an, stießen Bildsäulen um, die erblindet waren. Es kam, wie immer, zu Plünderungen und zu Heroismus.
Von überall her sprangen rote Affen ins Getümmel und richteten jedesmal größeren Schaden an, als die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt allein vermocht hätten: Hier, wir zeigen euch, wie man vernichtet, macht Platz. Die Frau, die eine Flamme war und nicht mehr wußte, woher sie stammte, sich aber keineswegs verzehren mußte, um zu glühen, sagte verstört, als spräche sie aus dem Schlaf:»Ein Aufruhr, der fast… wie… Musik…«
Die andre, die eben noch, in dem Gefühl, für alle beide die Verantwortung zu tragen, einen Ausweg gesucht hatte, ein Schlupfloch, einen Durchgang, fuhr herum, packte die, für die sie sorgen wollte, bei den Schultern, und schrie, um das Tosen draußen und in ihrem Kopf zu übertönen:»Was, Musik? Wieder: Musik! Was weißt du? Hast du mich auch für dumm verkauft wie Preisnitel, wie die Akademie? Ist es doch wahr, was wir…«
Das wilde Flackern tanzte fast feierlich auf dem Gesicht der Angeredeten, die nicht verstand und sagte:»Was hat man denn…«
«Daß du ein Mantel bist für… eine Streubombe! Daß sie alle in dir sind, als Partiale, ein Invasionsheer, daß du so… mindestens so viele bist wie diese… Affen hier, daß in dir Tausende Gente wohnen und der Schlüssel… bah immer dieselbe Scheiße, immer dieselbe Sackgasse bei allen Ermittlungen und Untersuchungen und… Der Schlüssel, hieß es in den Archiven, die wir knacken konnten, und in den Langzeitgedächtnissen von abgestürzten Siebenvierern, aus altem Schutt und Schrott der zerschlagenen Schiffe, der Schlüssel sei: Musik! Und keiner hier, keine, verstehst du, niemand weiß, was das bedeuten soll, Musik, ob das ein Name ist für etwas in der Sprache, die du hast, für eine, was weiß ich, steganographische Einbettung der Gente-Partiale in deinem Hirn oder für irgendeine verfickte, verschissene Hexerei der alten Welt… Sag mir das jetzt, was ist Musik, was weißt, du, wer bist du? Wir sind doch sowieso im Arsch! Kannst du nicht so viel Respekt vor mir haben, daß du mir die Wahrheit sagst? Musik?«
«Das ist es ja, ich…«, Fiamettina suchte nach Worten,»ich weiß es, und weiß es auch wieder nicht… verstehst du, ich kann's mir vorstellen, aber ich habe… nie… Musik gehört.«
«So. Also. Man hört es. Es ist zum Hören. Es hat… es hat mit Orientierung zu tun? Mit dem Innenohr? Ein Pfeifen vielleicht, ein räumliches… für den Gleichgewichtssinn? So, wie unsere Kameras dich gezeigt haben, daß du… du warst… so ein Schwanken, als du… als du damals das Grundstück betreten hast, den offenen Platz, wo der Tempel…?«
«Ich kann dir das nicht sagen, Pyretta. Ich tu es, und ich bin es, aber ich benenne und bestimm es nicht. Es ist das, was ich soll, so haben sie mich gemacht, gezeugt… meine Mutter und mein Vater, die Luchsin und der Wolf. Daß ich die Musik erkenne, daß sie in mir… es gibt das hier nicht, auf diesem Planeten. Es gibt Töne, es gibt Stimmen, es gibt Sprache und Krach, es gibt die Art, wie du im Gefängnis zu mir geredet hast, in dieser Zelle… aber wir alle, ihr, die Minderlinge, und die Neudachse und die Siebenvierer und die Vaschen und die Salamander… niemand hier hat je einen Ton, einen Takt, einen Klang Musik gehört. Es ist, als habe man das absichtlich ausgebrannt, als liege ein biologisch fixiertes Tabu drauf, als sei diese ganze Zivilisation, das Terraforming, die Kolonisation, anders als auf dem Mars, von Anfang an mit der Absicht errichtet worden, oder losgelassen, oder… gepflanzt… dieses eine Wissen unangetastet zu lassen, bis ich wach werden würde, bis ich mich dranmachen würde, meine Aufgabe… ich kann sie hören, ich kann sie spielen, und wenn man mir die Zeit gibt und die Gelegenheit und den Ort…«
Pyrettas Augen weiteten sich:»Du willst tatsächlich, daß ich dich hinführe. Du willst immer noch… du hast nie von deiner Aufgabe abgelassen.«
Die Angeredete schüttelte den Kopf:»Mach mir keinen Vorwurf. Ich will das hier nicht, ich bin nicht schuld an…«, eine Kopfbewegung,»hieran. Und meine Aufgabe… bewußt hätte ich mich hundertmal davon verabschiedet, nicht erst, als ihr Zagreus ermordet und mich gefangen und gequält habt. Wenn ich nur gekonnt hätte! Ich wäre jederzeit bereit gewesen, zu schwören, daß ich davon ablasse, daß ich niemandem mehr Schwierigkeiten machen will, daß ich mich in jedes neue Schicksal zu ergeben bereit bin, das mir verwehrt, je wieder den Isottatempel zu suchen, je wieder die Musik wahrnehmen und denken zu wollen… aber ich kann das gar nicht lassen. Solange ich atme, gibt es diese Aufgabe.«
Sie wußte, was sie damit sagte: Wenn es Pyretta noch ernst damit war, sie aufzuhalten, wozu die Abwehr sie ausgebildet hatte, dann mußte sie Fiametta töten.
Wollte sie das? Würde sie's tun?
«Ach Quatsch, hör auf«, sagte Pyretta, mit einem unsicheren, hübschen Lächeln.»Was soll's? Was hat irgendwer noch zu verlieren? Komm mit. Ich bring dich hin. Ich kenn die Stadt.«
4. Echse
Padmasambhava, zuvor ein Mädchen und eine Frau, jetzt ein Mann, in schwarzen Samt gekleidet, fuhr als Hauch zwischen die Flammenwände und entdeckte, über Leichen gehend, den Weißen Tiger als eine sehr schöne Stadt, die er gern einmal unter angenehmeren Vorzeichen besucht hätte.
Es hatte nicht sein sollen.
Eine zweite Welt, als Durchgang zu einer dritten: Obwohl Padmasambhava Pflaster betrat und geteerte Wege, auf denen Unfälle stattgefunden hatten und weitere stattfanden, hatte er keine Schwierigkeiten damit, die vergangenen Zeitalter zu erkennen, auf deren Boden er eigentlich ging: Ihr wart schon lange vor mir hier, arme Venusgeister, ich respektiere euch, alle Städte sind geologische Ereignisse, wie daheim die Burgen und die Gräben, die Vulkane und die Beben. Padmasambhava sah Lebendige einander an die Gurgel gehen, einander retten, helfen und schützen, und wußte, daß er keine drei Schritte würde gehen können, ohne künftigen Phantomen zu begegnen, die schon jetzt das Prestige aller Legenden mit sich herumtrugen, die einmal von ihnen erzählt werden würden.
Schade, dachte der Tourist, was hätte aus dieser Stadt alles werden können.
Er durchquerte, ohne sich umzuschauen, bizarre Quartiere, glückliche Bezirke, fürs schönere Wohnen reserviert, noble und tragische Viertel für die braven Kinder, historische Schlachthöfe, Museen und Schulen, von Bildsäulen gesäumt, die wie verbrannte Zapfen aus dem Boden heraus nach Sendungen zu greifen versuchten, die nicht mehr übermittelt wurden. Er ging durch nützliche Straßennetze, umstellt von Krankenhäusern und Werkzeugparks, er fand finstere Winkel und hielt sich dazu an, nur ja nichts davon im Gedächtnis zu bewahren, es ist ja gleich, was für ein Tor, was für eine Kreuzung, was für eine Brücke das hier war, es verschwindet schon, während ich daran vorübergehe, als wäre ich der Gerichtsdiener, der die Vollstreckung des Urteils nur noch notiert, das die Flammen sprechen, die Massenaufläufe, Handgemenge, das Tottrampeln und Totgetrampeltwerden, Feuerwerk zu ebener Erde, und von all diesen wird bleiben, der durch sie hindurchgeht: Padmasambhava, ich selbst.
Sein Streben nach dem Platz, wo der Isottatempel stehen mußte, war fast kein zielstrebiges, viel eher ein détournement, Bummeln im Sturm. Padmasambhava hatte das Gefühl, ein Spiel zu spielen: eine Karte auseinanderfalten, ein Glas, den Rand nach unten, irgendwo auf diese Karte stellen und dann den Kreis abschreiten, so nah wie möglich an der Kurve bleiben und die Erfahrungen zur Kenntnis nehmen, während man geht, als wäre man eine Kamera, die filmt oder fotografiert, ein Manuskriptblock, der mit Impressionen bekritzelt wird.
Auf einer großen, breiten Treppe begegnete Padmasambhava schließlich drei Affen, die gänzlich außer sich waren, die Zähne fletschten, spuckten und jeden zu töten bereit waren. Padmasambhava lächelte und breitete die Arme aus, wie um zu sagen: Meine unartigen Kinder, hört auf, euch um Nichts zu schlagen, hört auf, euch zu benehmen, wie ihr's tut, kommt an meine Brust, seid keine Mörderaffen mehr in eurer Not und gar zu großen Dummheit.
Die Minderlinge, die Zeugen waren, darunter eine Familie, die eben noch in Gefahr gewesen war, von den dreien zerfleischt zu werden, sahen den dunklen Fremden dastehn wie einen Riß im Raum, der das umgebende Licht verzehrte. Sie fürchteten sich und stolperten in alle Richtungen davon. Die drei Affen, die Gewebe und Schmutz in sich hineinstopften, die wuchsen, sich verformten, von Beulen und lebhaften Ausbuchtungen übersät, schlurften und schlappten, schnatterten, grunzten, spien Schleim und Blut, Galle und Geifer, dann streckten sie die krummen, krallenbesetzten Finger nach Padmasambhava aus und sperrten die bissigen Mäuler auf. Aber es kam zu keiner Berührung — als Licht, Duft und Schatten verströmte seine Haut Musik, älter als alle drei Welten zusammen.
Und wo drei mordlüsterne Kreaturen gewesen waren, platzten schimmernde Staubschwärme von Insekten auf, in allen Farben: Frostspinnerschmetterlinge, Sägekäfer, Grashüpfer, Skorpionsfliegen, Flöhe, Ameisen mit und ohne Flügel, Weich- und Zipfelkäfer, Leuchtkäferchen, Motten, Grabwespen und Kreiselwespen, Hornissen, Distelfalter, Rothaarböcke, Blattläuse, Langfühlerschrecken. Ein Zirpen und Sirren und Summen und Brummen und Sägen und Zappeln und Krabbeln überschwemmte die breiten Stufen, und nichts davon kam in Kontakt mit dem Umhang aus feinster Vibration anderer Luft, in den Padmasambhava eingehüllt war. Er brauchte den Sechsbeinern nicht aufzutragen, was er von ihnen wollte, sie wußten es auch so: Als Partiale eines mißratenen Erwachten mußten sie diesen jetzt auflösen, und sie würden ihn, das heißt jeden Orang-Utan, jeden Irrwisch aus Schreikrampf und Haß, ganz sicher finden, in den hintersten Gassen, auf den höchsten Dächern, in den tiefsten Tunneln des Weißen Tigers, dort überwimmeln, zerreißen, stechen, mit Gift bespritzen, daß er zerging zu Myriaden Formen, wie sie selbst entstanden waren. Ein Schwarmfest sollte so erblühen, das die Stadt zu ebener Erde, hoch in der Luft und selbst durch die Abwässer verlassen würde, um draußen, in den Ebenen, auf den Vulkanhängen, an den Kraterbecken, in den Bergen und Senken, Auffaltungen und Schrägen die karge Ökotektur dieser Welt so gut es ging zu stimulieren, vielleicht zu heilen.
5. Flucht nach vorn
Pyretta schlug schell Schneisen durch die Klumpen der Rasenden, schwenkte mal ihre Pistole, trat dann aus wie ein Maultier, bahnte den beiden Frauen einen Weg, daß Feuer dachte: Ich muß mir alles merken — wie sie geht und was sie sagt, wie sie vor mir Türen schafft und Aufgänge, wo keine waren, ich darf das nicht vergessen, denn Fiametta war sich auf nicht zu beschreibende Weise sicher, daß sie Pyretta bald verlassen und danach nie mehr wiedersehen würde. Vielleicht verrieten Wagemut, ja Tollkühnheit, das boxende und tretende Sichvoranarbeiten der Beschützerin sogar, daß Pyretta selbst nicht vorhatte, diese beste Nacht ihres Lebens zu überstehen — wozu auch? Um sich wieder zum Dienst zu melden, oder zur Umschulung?
«Wir sind gleich da«, rief Pyretta immer wieder hinter sich.
Wir: Name einer Freundschaft, die es nicht hätte geben sollen. Man kann also, dachte Feuer, und wie gerne hätte ich dir, Zagreus, das gezeigt, mit Minderlingen befreundet sein.
Zwei junge Männer schlugen unweit der Stelle, da Pyretta Feuer durch einen zerstörten Maschendrahtzaun half, einem alten Mann mit Eisenrohren den Schädel ein.
Territorialverhalten, dachte die Prinzessin, so hatte Wempes der Vasch ihr's beigebracht, als sie ein Junge gewesen war: Wenn Individuen oder kleinste soziale Einheiten einer Art (Banden, Bataillone, Löschzüge: Feuer sah und hörte alles, was geschah) im Raum weiter voneinander getrennt sind, als rein stochastisch angesehen zu erwarten wäre, liegt Territorialverhalten vor. Sie weichen einander aus, aber sie klumpen auch, geraten einander in die Quere. Sie verteidigen die Plätze, auf denen sie sterben wollen.
Ein Glanz fiel vom Himmel zwischen die Dächer; Pyretta seufzte, staunend übers Glitzern:»Ahh!«und zeigte nach oben. Erst dachte Feuer, ein weiteres, noch unbegreiflicheres Wunder als das der Flucht aus dem Gefängnis und das der Freundschaft zu Pyretta sei geschehen, denn es sah aus, als ob die Kräuter, die sie seit Beginn ihrer Haft so vermißt hatte, ihre liebste Speise, von Götter- oder Göttinnenhand auf sie ausgeschüttet würden: Rosmarin tanzte um Engelwurz und Fenchel, Schnittlauch schwebte neben Senfkraut, aber das hatte Beinchen, das hatte Flügel, und also mußte Fiamettina einsehen, daß es keine Kräuter waren, sondern Insekten, auch sie, wie die Minderlinge, in Klumpen, Ballungen, selbstaufgespannten Räumen mit Schnittmengen und Streifgebieten, und die einzelnen Cluster wurden eindeutig nicht von Angehörigen je einer einzelnen Art gebildet, sondern von ganz verschiedenen Spezies, in komplexen Koalitionen, so wie Neuronen sich zu Verbänden im Hirn zusammenfinden, damit das Wesen, das von diesem Hirn gedacht wird, ein Erlebnis haben kann oder einen Traum.
Silber, Gold, Delftblau —»Wo kommen die… was ist das denn?«fragte Pyretta, ohne eine Antwort zu erwarten. Beide Frauen, dicht beieinanderstehend wie die Freundinnen, die sie ja wirklich waren, schauten dem Schauspiel zu und achteten nicht auf die Plünderer und Mörder, die jetzt mit dem alten Mann fertig waren und sich von rechts näherten.
«Sie… sie machen nichts. Es passiert nichts. Warum?«
Pyretta hatte recht: Sie hielten oben inne, als warteten sie, daß man ihnen etwas zurief, ein Zeichen gab, sie vielleicht um etwas bat. In dieses rätselhafte Harren schlug dumpf der Laut von Blei auf Schädelknochen. Pyretta sackte zusammen und war sofort tot. Feuer duckte sich, aber nicht aus Angst, sondern zum Sprung; während ihr Verstand noch darüber erschrocken war, daß etwas so Schlimmes einfach wie nebenher geschehen konnte, ohne daß die Zeit zerriß — die Freundin, eben am Leben, jetzt nicht mehr —, blitzten ihre Augen, und der zweite Schläger, den Arm mit dem Wasserrohr im Ausholen erhoben, zögerte einen Atemzug.
Das genügte den Insekten.
Sie schossen nieder auf die kleine Gruppe, als wären sie Kugeln, und zogen sich zu Filmen aus Leibern zusammen, auf den Gesichtern der Mörder, während sie Feuer nicht berührten, nur etwas einnebelten, daß sie sich fühlte wie von Milde umwoben, vielleicht von Wünschen oder Ahnungen. Es dauerte nur wenige Sekunden. Dann waren beide Minderlinge ohne Atem. Die Insekten erhoben sich erneut in ihre Höhe.
Für mich?
Feuer stand unter Schock und weinte, kniete bei der Freundin und berührte sie hier, da, am Arm, auf der Stirn, sah das Blut aus dem Kopf eine Lache auf dem Boden bilden, nicht versickern, denn hier war die Straße gut geteert. Für mich? Diese Käfer, diese Bienen, haben sie mich beschützt, ist alles, was hier geschieht, auf Befehl geschehen, gibt es eine Intelligenz, die dies steuert — hat meine Mutter alles vorausgewußt, erfüllt sich ein Gesetz?
Lasara, Mutter, lux in diafana, creatrix. Alle alten und noch älteren Sprachen kehrten in Feuer zu einem Verstehen zurück, das einmal, lange bevor es ein Kind namens Feuer gegeben hatte, alle gelernt und gesprochen haben mußten, die jetzt in ihr wohnten, zu ihr kamen, zu sich.
Mutter, du schickst mich weiter. Du spielst dein Spiel, und ich bin eine der Figuren. Auf wie vielen Feldern gleichzeitig kann dasselbe Spiel gespielt werden? In welchen Quartieren, in welchen Häusern wird um welchen Einsatz gewettet?
Feuer beugte sich vornüber und küßte die Tote auf die schöne Stirn, dann sagte sie:»Pyretta«, womit sie der, die sie nicht mehr hören konnte, versprechen wollte, daß sie den Namen nicht vergessen würde.
Ein Name nur: Ich selber habe schon zu viele, Feuer, Prinz, Prinzessin, Fiamettina, und ich weiß, daß auch die Eltern viele hatten, und deren Eltern, und daß gegen Ende der Langeweile auch die Menschen meistens mehr als einen Namen hatten, und Titel, Masken, personae. Feuer nahm an, daß die Minderlinge nur einen einzigen Namen besaßen, weil ihre Zivilisation erst wenige Generationen bestand; die Verwechslungsgefahr war noch nicht groß (da irrte sie: Es war der Ehrgeiz der Minderlinge gewesen, jede und jeden einzelnen als unverwechselbar zu betrachten; aus der Spannung zwischen dieser Einzigartigkeit und dem Gemeinwohl, dem zu dienen alle angehalten waren, sollte die Zivilisation ihren Treibstoff beziehen — das hatten sich einige der ersten Akademieregenten ausgedacht —, und damit sichergestellt war, daß es keine Dopplungen gab, benutzten sie zur Namensvergabe Computer, die jeweils aus einer fixen vorhandenen Anzahl von Morphemen auf der Grundlage historischen Wissens über die Menschen Kombinationen bauten, die dem genetischen Profil einer Person angemessen schienen und einigermaßen wohlklingend waren. Die Bedeutung wuchs dem einzelnen Namen aus seiner Differenz zu allen anderen Namen zu; es war eine uralte, aus der fernen Langeweile ererbte Geheimlehre, auf welche die Computer sich da verließen).
Feuer schloß die Augen der Freundin und dachte: Ich glaube, daß sie frei gestorben ist und daß das immerhin doch etwas wert sein muß.
Die Flamme stand auf. Sie brauchte keine Beschützerin, keine, die sie führte, das wußte sie jetzt. Wohin sie wollte, war, wohin sie mußte.
6. Aus dem Mund der Ewigkeit
Padmasambhava erreichte den Ort, als wäre er hingeweht worden, und fand keine Lebenden mehr. Jede Wirrnis schwieg in der Mitte der Stadt, die auch die Mitte der Welt schien, omphalos, und Padmasambhava hörte, spürte, roch die Schwester, die Geliebte, die andere Seite seiner selbst jetzt herkommen. Ein kleines Weilchen nur, dann wäre sie hier, in den Mustern, in der Freistellung — er spürte, wie sie über Biologie nachdachte, über Territorien, über etwas, das einer namens Wempes, der etwas namens Vasch gewesen war, ihr beigebracht hatte, und Padmasambhava spann ihre Gedanken weiter, während er langsam, mit ruhigen Schritten, einen sehr geheimen Tanz zwischen den Leichen und den Trümmern begann: Die Menschen, die wahren, nicht diese, wie war der Name? Minderlinge? Nicht sie, sondern die echten Angehörigen der alten Art homo sapiens hatten mit anderen Tieren einst Entfernungsexperimente angestellt — man nahm eins aus seinem Territorium in freier Wildbahn, und bald rückte ein anderes nach, verteidigte das Gebiet wie gehabt, die Grenzen blieben, die Regentschaft wechselte, es sei denn, man täuschte die kontinuierliche Präsenz des alten (rechtmäßigen? Royalismus, Loyalismus, Leonismus…) Gebietsherrn mittels playbacks vor, Geräuschen, visuellen und olfaktorischen Attrappen; etwas ganz ähnliches, aber schwerer Benennbares war hier passiert, deshalb verschonte der steigende Terror, die zunehmende Gewalt und Verzweiflung im Weißen Tiger jetzt den Platz: Das Rechtmäßige war noch da, aber es war nicht irgendein Bewohner und Verteidiger des Platzes, was die Scheu wachrief, sondern dieser selbst, wirksam wie ein böses Wort aus dem Mund der Ewigkeit.
Wo bist du? Es muß dich zu mir ziehen, auch wenn du nichts lieber als einschlafen möchtest, an der zarten Freundin Brust, die schon tief schläft. Setz nur einen Fuß vor den andern, finde mich, daß ich dich nicht mehr suchen muß.
7. Um wenigstens einen zu nennen
Als der Akademiker dritter Klasse Norferd seinen unmittelbaren Untergebenen Preisnitel und dessen zwei Leibwächter im Verhörzimmer III des kriminologischen Forschungszentrums und Gefängnisses im Ostflügel der Akademie fand, war er nicht bloß bestürzt, sondern fing pragmatischerweise auch augenblicklich an, über eine Flucht aus der Stadt nachzudenken, vielleicht durch die Abwasserkanäle. Der Akademiker gehörte zu den wenigen Personen im Weißen Tiger, die beim Auftauchen des Affen und der danach von den Eliten her — über deren Chauffeure, Kindermädchen und dergleichen — in die Bevölkerung sickernden Gerüchte betreffend die Gefahr eines Atomschlags seitens der anderen Städte nicht den Kopf verloren hatten.
Norferd gab sich in brenzligen Situationen stets Mühe, den Kopf nicht zu verlieren, denn er mochte ihn sehr, weil er wußte, daß es ein überaus gut funktionierender Kopf war.
Als die ersten nicht mit Dringendem befaßten Leute sich entschuldigten und» nur eben rasch weg «mußten, als die Streitereien an den Konsolen der wachhabenden Techniker lauter, die Temperamente unbeherrschter wurden, hatte sich Norferd zunächst in seinen Arbeitsplatz geduckt wie die Schildkröte in ihren Panzer und sich ein bißchen in den rudimentären elektronischen Netzen umgetan, die auf dieser kargen Welt das immer angeregte Umeinanderflattern der Nachrichten und Schönheiten des Pherinfongewebes aus alter Zeit ersetzen sollten. Alles, das merkte Norferd, noch bevor es anderswo Fiametta aufging, konvergierte auf Territorialinstinkte zu, und daraus, dachte er jetzt, folgten Beißereien. Er setzte sich auf den Stuhl, auf dem Feuer sich vor wenigen Stunden hatte verhören lassen müssen. Die edelgasgefüllten Röhren oben flackerten; noch nicht so zwar, als wollten sie demnächst verlöschen, mit der Energiezufuhr aber war ersichtlich nichts mehr in Ordnung.
Territorialität: Norferd wußte es nicht, aber sein gut funktionierendes, bestens ausgebildetes Hirn war gerade mit Anschlüssen an Mustern sehr weit ausgelastet, die Padmasambhava und Feuer ebenfalls bedachten; Mustern, die überhaupt in dieser längsten, schlimmsten Nacht in der Geschichte der Stadt von vielen gedacht wurden — es hätte ihn aber, Wissenschaftler, der er war, wenn er es gewußt hätte, nicht dazu verführt, sich esoterischen Kurzschlüssen über die Verbundenheit aller Seelen hinzugeben.
Der Zusammenklang war freilich gar kein Spuk, sondern hatte Gründe, die man dem Wissenschaftler durchaus hätte verständlich machen können: Das Ganze kam von der Rekonfiguration des lokalen Ereignismusters im höherdimensionalen Raum, den die Stadt einnahm — einer Rekonfiguration, die auf die elektrischen und elektrochemischen Vorgänge in organischen vierdimensionalen Hirnen Feldeffekte ausübte, die gewisse Gedanken allen nahelegten, die überhaupt denken konnten. Norferd wäre, hätte man ihm Zeit dazu gelassen, vielleicht selbst dahintergekommen. Jetzt fiel ihm aber etwas ein, das er aus den Archiven wußte: Gegen Ende der Langeweile waren auf der Erde Menschen in Erscheinung getreten, die für die Gegend, in der viel später Comtesse Alexandra wohnen sollte, ein sogenanntes pleistocene rewilding forderten. Rewilding war seinerzeit eine Mode im Umweltdesign, das heißt der frühen Ökotekturgestaltung gewesen — diverse Spezies, die in den voraufgegangenen Jahrhunderten aus bestimmten Gegenden vertrieben oder dort nahezu ausgerottet worden waren, wurden in den betreffenden Gegenden mit kundiger zoologischer Begleitung durch die Menschen wieder angesiedelt (»Liebe Bolson-Schildkröte, herzlich willkommen zurück in New Mexico«). Das pleistocene rewilding sollte einen Schritt weitergehen: Die Absicht war, Nachfahren von seit dem Pleistozän in diesem Landstrich nicht mehr aufgetretenen Sorten Megafauna in speziell zu diesem Zweck ausgesuchte Naturschutzgebiete einzuschleusen. Die betroffenen Ökologien, wußte Norferd, hatten das nicht gut vertragen: Neue Parasiten und Seuchen waren aufgetreten, die Umzäunung und sonstige Einhegung verschlang astronomische Mittel, und die menschliche Bevölkerung mußte mit Folgen zurechtkommen, die sich negativ auf das Ansehen überhaupt aller ökologisch planenden Organisationen und Individuen jener Zeit auswirkten. Das einzige tatsächlich Fortschrittsfähige, das dabei herauskam, war eine kleine Gruppe von Löwen gewesen, die schließlich einem noch viel ehrgeizigeren Experiment Substrate lieferte als dem pleistocene rewilding: der Erschaffung der Gente durch einen Menschen. Dieser nämlich fand im Alphatier jener Löwengruppe seine neue kognitive Wohnung und machte aus sich einen König.
Den Menschen wiedererschaffen, hier auf der Venus: War der Plan, der zur Gründung der Neuen Drei Städte geführt hatte, am Ende genauso wahnsinnig gewesen wie das lächerliche pleistocene rewilding? Ein übler Witz, dachte der Akademiker und strich sich mit der zitternden Hand übers wacklige Kinn: Wir wollten reproduzieren, was es während der Langeweile gab, und das haben wir geschafft — wir sind, alles in allem, eine Spezies geworden, die auf zwei Beinen geht und sich selbst ärger bedroht, als irgendwer sonst könnte.
An der Längsseite des Verhörraumrechtecks befand sich eine grobe Konsole. Norferd stand auf, setzte sich dran, rief die Netzverbindung auf. In den meisten lokalen Foren wurde nichts mehr geredet. Die Leute hatten, ein sehr schlechtes Zeichen, anderes zu tun — nur die Selbstläufer, von Computern bespielt, hielten Schritt, darunter, Moment, er suchte ein bißchen, gleich hatte er's: die meteorologischen Beobachtungskameras. Aha: Das war der Hinweis, der noch gefehlt hatte.
Die Siebenvierer.
Sie sammelten sich, höher als sie sonst flogen, über der Stadt, an der Grenze zum Leeraum. Dutzende. Hunderte. Sie wollten zusehen, wie die Stadt verglühte, es im Gedächtnis bewahren. Norferd nickte: Hier kann man dann wohl nichts mehr machen. Ein paar Dinge, dachte er wehmütig, hätte er im Grunde gerne noch gewußt: wie alles angefangen hatte, zum Beispiel, das Leben.
Waren die Replikatoren zuerst dagewesen oder der Metabolismus? Hatte die Evolution eine Richtung? Man müßte das empirisch austesten, irgendein experimentum erfinden, eine große Arena bereitstellen. Er erhob sich, um nach einem Süßigkeitenautomaten zu suchen.
8. Gefunden
Padmasambhava sah sie die Treppe hochkommen, verwirrt, verklärt, glücklich und neugierig auf ihn, kurz bevor die Bomben fielen. Er dachte an das Wort Sankt Oswalds, der es aus der Langeweile hatte, daß»wir Musik mit den Muskeln hören«. Er sah ihr Aufihnzukommen, und seine Nerven sangen.
Sehr viel Arbeit war geleistet worden, damit es den Ort gab, wo diese beiden sich trafen.
Auch sie selbst waren fleißig gewesen — in wenigen Stunden hatten sie wahr gemacht, was nur idealistischer Unsinn gewesen war, als die Denker der Menschen und der Gente es hatten glauben wollen, nämlich, daß Denken Sein umgestalten konnte, ohne den Zwischenschritt des Handelns. Ihre Gehirne waren so gefaltet, daß sie nicht bloß in vier Dimensionen wirkten, sondern in anderen, und schneller als Licht. Deshalb warfen bestimmte Ideen, die sie sich erlaubten, Schatten in die darunterliegende Wirklichkeit, färbten den Stand der Dinge neu, verbanden Bilder und Zeiten oder trennten sie.
Faltungen, Lockerungen und eine Bewegung im Innenohr, eine räumliche, zeitliche Orientierungsweise, die Musik hieß, so daß Feuer, Fiamettina, jetzt den Tanz, den Padmasambhava in den letzten Minuten begonnen hatte, barfuß fortsetzen konnte, im Schmutz, in der Asche, während er ruhig dastand, auf sie wartete und sie mit einer alten Geste begrüßte, der erhobenen rechten Hand.
Hinter Absperrungen, die niemand sehen konnte, starben Affen oder wurden zu Insekten, brachten Minderlinge einander um, so gut sie konnten, wurden, viel zu spät, Schleusen geöffnet, daß aus Bürgern Flüchtlinge werden konnten, daß sich die Stadt wenigstens etwas leerte, bevor alles in ihr verbrannte. Ein Bataillon von Abwehrsoldaten hatte es, gegen äußere und innere Widerstände, zum Rand des Platzes geschafft, wo der Isottatempel gestanden hatte, hätte stehen müssen, gleich wieder stehen würde. Sie waren mit Waffen gekommen, und als sie, aus sicherer Entfernung, sich auf einem Grünstreifen postierten und die beiden Fremden sahen, beschlossen sie, sofort auf sie zu schießen. Von oben erkannten Walhaie mit hochauflösenden Linsen sehr genau, was da geschah, und schwiegen dazu, wie sie es immer getan hatten.
Die Insekten, die ihre Ziele noch nicht gefunden hatten, gaben auf und schwärmten aus der Stadt.
Es blieb der größte, erste Affe übrig, und ein paar kleinere, vielleicht zwei Dutzend.
Die Abwehrleute auf dem Grünstreifen legten an und zielten gut, aber bevor sie den ersten Schuß abgeben konnten, blieb die Zeit stehen.
«Ich bin Feuer«, sagte Fiamettina.
«Ich bin Padmasambhava«, sagte Padmasambhava.
«Was für ein Name«, sagte Feuer.
Sie schaute sich um und ergänzte:»Was für ein Ort.«
Er nickte.»Ja. Und dabei ist es noch nicht einmal der wahre; nur ein Modell. Komm, nimm meine Hände.«
Sie tat es. Er zeigte ihr, mit einem Blick, mit einer Geste, wie man von hier irgendwohin reisen konnte, ohne daß Zeit verging. Das war sein Beitrag. Ihrer war: Sie bestimmte das Ziel.
Die Kinder von Luchs und Wolf verschwanden.
Licht fiel vom Himmel und verschlang die Reste der zerstörten Baulichkeiten.