VII. DIE ANDERE LIEBE

1. Shapely (für Padraic)

«Ihr könnt mich alle mal. Und das könnt ihr gut, brrr«, raunzte Dmitri Stepanowitsch, die mandelförmigen Augen zu Schlitzen verengt, die glühten, als die Irren in den Bäumen nicht aufhören wollten, zu rufen, was keinen Sinn ergab:»Bunter Wanderseil wilde Narrenstube!«

«Rabenwein der Lust!«

«Rip, cut toy man!«

«Geistergraf der Linde, alte Irrgestalt, die lange Feder!«

«Toll. Schwachsinn. «Sie konnten ihn nicht hören; oder sie wollten's nicht.

Die Hitze, durch die er sich kämpfte, war schwül und drückend. Dmitri mochte lieber wieder ins Wasser, zu den Breitmäuligen und Blödäugigen, als durch diesen verbummelten Quatsch zu trotten.

Ein Zypressenwäldchen umstand ihn, spendete aber kaum Schatten; es gab zu viele Lücken, der Wechsel — bald brannte ihm die Sonne aufs Fell, bald durchquerte er einen kühleren, aber abgestanden riechenden Flecken — steigerte seine Gereiztheit mit jedem Tritt aufs zundertrockene gelbe Gras. Er ging auf allen vieren, die Wolfsläufe waren ihm hier lieber als die Bocksbeine. Immerhin wußte er, daß dieses Wäldchen das letzte Hindernis vor dem Zielort war; bald würde er ins Freie treten und das Zuhause des obskuren Vogels finden, wenn die Karte stimmte, die seinem Innenohr eincodiert war.

«Reib Bier bis…«

Sie hörten nicht auf, die Lauten, die Schrägen, die Irren.

Erst hatte er diese kleinen Schreier für Eichhörnchen gehalten, weil sie von Ast zu Ast sprangen, sich in die Rinde krallten, da hockten, ihn narrten. Dann sah er einen davon segeln, fliegen, drei Meter weit, zweieinhalb in der Höhe, die Flügel ausgebreitet, schwarzgefiedert. Endlich erkannte er den schlanken Leib — und hätte fast gelacht, über die rosa Nase und die winzigen Ohren: Silber- und weißgestromt war das Tier, ein Kurzhaar. Die blaue Siam, die so etwas wie die Anführerin zu sein schien, erkannte er als nächstes, die rief» Rot ist alles!«, und aus Gebüschen tuschelten zwei Perserinnen, die weiß leuchteten wie frisch gewaschenes Segeltuch:»Rabenbrut des Todes, schwarzer Gang!«



«Soll mir das jetzt angst machen?«bellte Dmitri heiser.

Geflügelte Katzen — wenn je ein kapriziöser Unfug war, dann dieser.

Dmitri rieb sich den Straßenschmutz der letzten zwei Wanderwochen am Stamm einer Zeder aus dem Fell und dachte: Immerhin war ich gewarnt. Der Vogelfreund des Löwen ist Genetiker, die mögen solche Scherze. Geflügelte Katzen, zum Schreien.

«He Ritter Hunger!«piepsten die Katzen, immer darauf bedacht, in Rufweite zu bleiben, dem Wolf aber nicht zu nah zu kommen. Sein Kragenfell stellte sich auf, er spuckte auf den Boden. Sie haben recht, ich könnte wirklich mal was futtern. Allerdings keine Flatterkatzen und sicher nichts, was die anbieten, selbst wenn sie Eier legen und mir braten würden.



«Wo willst du hin, blöder Köter?«Mit krausen Schnurrhaaren, spitz aufgestellten Flügelchen und trotzigem Blick hatte sich dem Wolf ein Drahthaarkätzchen in den Weg gestellt. Es buckelte, zischte und senkte seinen Kopf, um von unten her möglichst bissig hochzugucken. Dmitri fand's vor allem drollig.

Er beschloß, es mit Verbindlichkeit zu probieren:»Ich will… zu eurem Chef, nehme ich an. Der euch gemacht hat.«

«Uns hat keiner gemacht. Und uns macht keiner kaputt«, sagte die Kleine. Ein Grinsen: Die clownesk verzerrten Züge waren unheimlicher, als das Tier selbst zu wissen schien. Gab's hier gleich ein Gerangel mit dem Flederwisch? Aber die Haltung der Katze entspannte sich. Sie hob den Kopf wieder und schnupperte — Duftpost. Die Katze zeigte ihre Zähnchen; wie sie es hinbekam, daß das diesmal nicht bissig, sondern freundlich aussah, fragte sich Dmitri verdutzt. Sie hob das Näschen und sagte:»Fein. Komm mit. Durchs Dörfchen.«

Dann drehte sie sich um. So fließend war diese Bewegung und so selbstgewiß, daß Dmitri gar nicht anders konnte, als ihr artig zu folgen.

Das Dörfchen, stellte sich heraus, war diesen Namen nicht wert: Ein paar umgefallene Fassaden, eingeknickte Dächer, verkommene Rasenflächen davor, zwischen kurvig schmalen Straßen.»Zwergensiedlung«, fiel dem Wolf ein, und daß höchstens die Dachse aus diesem Trümmerfeld noch etwas hätten machen können, vielleicht eine Kaserne.

Das Kätzchen sagte:»Die Schlausten haben hier gewohnt.«

«Die schlausten was?«

«Na Menschen«, sagte das Kätzchen und verließ hinter einem flachen Steinbau mit bemoosten Säulen den zusammengewürfelten Parcours.

«Über zwei Kämme noch«, erläuterte das kleine Wesen.

Was immer das für ein Distanzmaß war, der Tonfall klang nach weiterer Beschwernis.

Anderthalb Stunden später hing dem Wolf die Zunge lang zur Schnauze raus. Sein Blick haftete fest am Boden, wo er nach Kraut suchte, aus dem er etwas Flüssigkeit hätte saugen können.

Vor ihm kratzte etwas, knirschte wie Kiesel.

Er schaute zu dem Kätzchen hin, das ihn weit hinter sich gelassen hatte; der Abstand betrug jetzt sieben Wolfslängen. Dmitris merkwürdiger Geleitschutz spannte seine Schwingen auf, sprang hoch, sprang noch mal, und wieder, mit jedem Satz ein bißchen weiter. Ein rasches Zusammenklappen der Flügel, wie ein Händeklatschen, dann ein Entfalten, Zittern, und das Tierchen flog.

«He, wohin?«Einen winzigen Augenblick lang verspürte der Kurier des Löwen Furcht, man könnte ihn ins Nichts geführt haben, oder in eine Falle.

Da warf die Katze sich schon nach links und stürzte sogleich aus mühelos erreichter, recht großer Höhe wieder auf ihn zu, mit ausgefahrenen Krallen — greift sie mich an? — und rief:»Schau doch, vorn, da ist es schon! Das Labor!«Sie flog einen gestreckten Bogen, sauste über ihn hinweg — zurück zum Wäldchen; und war fort.



Dmitri schüttelte den Kopf und sah in die Richtung, die ihm angewiesen war.

Da stand eine der hübschesten Ruinen, die er, der viele davon kannte, je gesehen hatte. Das also war übriggeblieben von der Anlage, die ihm der Löwe drüben, vor Monaten, im Aufriß gezeigt hatte: beige Brocken, eine Fassade voll zwiebeliger Arabesken, ein Turm aus vergessenen, zusammengerosteten Fahrrädern. Ranken und Flechten schäumten um alle Mauern, lichte Höfe öffneten sich zum Himmel hin, eine große Aula lag still, wie schlafend.

Dmitri beeilte sich; bald stand er vor dem Haupthaus.



Sollte der Wolf erwartet haben, hier nun von ernsthafteren Leuten als den Flatterkatzen in Empfang genommen zu werden, sah er sich getäuscht. Nur ein paar Grillen zirpten, ein Hase sagte» Hi, Dicker!«und verschwand im Kraut. Also erst einmal alles auskundschaften, abschreiten?

Seminarräume, aufgeplatzte Vitrinen im rückwärtigen Kasten, Patio, Galerie, ein Ladedock mit eingedellten großen Zylindern und elefantösen, verplombten Metallsärgen, voller wahrscheinlich immer noch giftiger chemischer Abfälle. Aus dem Leim gegangene Gewächshäuser — die Flora hatte sich in die Umgegend ergossen, es sah aus, als fiele Blattwerk aus allen Fensterfronten —, eingestürzte Treppenaufgänge. Das Foyer des Hauptwürfels war wie durch Göttergnade unversehrt geblieben: Geputzt hatte hier seit langem niemand. Westlich der Parkplätze mußte eine Bombe eingeschlagen sein. Im Krater fand sich ein an allen Rändern viel zu perfekt abschüssiger Teich, an einigen uneinsehbaren Stellen bewaldet, mit schwarzglänzendem Wasser. Die Sonne stand jetzt an ihrem höchsten Punkt, die Hitze war lächerlich, der Durst unerträglich.



«Du kommst vom alten Pelzgesicht, ja«, lachte eine helle, feminine Stimme.

Der Wolf fuhr zusammen.

«Nein, trink nur weiter. Du mußt deine Kehle schützen — so heiß es bei euch ist, in der alten Welt, unser Wetter seid ihr dann doch nicht gewohnt, was?«

Vor ihm im Wasser schwamm eine Frau, die ein Mensch und ein Schwan war.

Dmitri fielen die Walküren ein, aus dem ersten Film, den er sich mit Clea Dora angesehen hatte: Die streiften ihr Federkleid zum Baden ab. Die Erscheinung legte den wunderschönen Menschenkopf zurück und lachte, daß dem Wolf seltsam wurde. Er schämte sich vor so viel Selbstbewußtsein und sah mit Staunen, wie die dichten weißen Federchen am Kopf und auf den Schultern sich sträubten. Es sah aus wie zerstrubbelt kurzes, weißes Haar. Daunen lagen eng am Körper an, in schleppengleichen Falten, zwischen Armen und Hüften, blitzende Tröpfchen perlten da. Die Spannweite, riet Dmitri, als sie sich aus dem Wasser erhob und feucht glänzend wie eine Venus auf ihn zuwatete, mußte länger sein als sein ganzer Leib.

«Ich rieche schon, wen du suchst und wer dich schickt. Er hat sich lange nicht bei mir gemeldet.«

Der Vogel, dachte Dmitri. Das ist der Vogel? Diese merkwürdige Schönheit?

Er widersprach dem Gedanken laut und deutlich:»Ich… nein, ich sollte einen Mann suchen. Einen Kerl.«

Was geschah hier, zwischen ihnen? Ein déjà vu, ein Geschenk, vielleicht eine Falle.»Das war ich, früher«, sagte sie mit ihrer singenden, weichen Stimme, daß Dmitri dachte: Ich habe Mühe, zu verstehen, was gesagt wird, ist das Hypnose?

«Ich bin«, sie deutete, hochaufgeschossen vor ihm stehend, eine Verbeugung an,»Alexandra Élodie Paula Mirameí, die du suchst. Aber dir helfen — ihm helfen —, das kann ich leider nicht. Mein Gast darfst du sein. Vielleicht bleibst du ja ganz gern.«

Sie ging vor ihm in die Hocke, berührte mit den langen Fingern seinen Nacken, kraulte ihn, als hätte sie das oft getan.

Eben noch hatte er nur hier fortgewollt, jetzt war ihm, als gehöre er her.

«Ein König ist er geworden, hör ich«, sagte sie und hielt Dmitris Schnauze kurz in ihrer schmalen Hand,»das macht aus mir dann wahrscheinlich eine Comtesse.«

Der Wolf verstand nicht, was sie meinte, aber als sie ihn umarmte und dann flüchtig küßte, wußte er, daß er tatsächlich gern bleiben würde.

Solange ich hier bin, sagte ihm sein Herz, bin ich, wo ich sein soll.

2. Die klaren Himmel

Er blieb länger, als selbst die weitherzigste Auslegung der Löwenorder ihm gestattet hätte.

Daß Alexandra nicht bereit war, das Angebot der» erneuten Waffenbrüderschaft, wie in alten Zeiten «anzunehmen, das der Löwe ihr ausrichten ließ, nahm der Wolf gelassen zur Kenntnis und sandte Bienen mit Sprühcodes nach Osten, auf einen weiten, aber sicheren Weg, um diese Auskunft ihrem Adressaten zuzustellen.

Im zerfallenen Palast der Comtesse und an ihrem Teich, im Wäldchen ihrer Katzen und in ihren zerzausten Parks gab es Wichtigeres als den kommenden Krieg: das gute Leben.

Nicht Dmitri kam schließlich noch einmal aufs Thema, sondern die Schwänin.

«Militärische Probleme, sicher, die wird er haben«, sagte sie bei einem Spaziergang durchs saftige Wuchern rund um die geborstenen Gewächshäuser,»aber das ist nur wieder das Spiel, aus dem wir damals ausbrechen wollten. Die ewige Kette: Wärest du der Löwe, so würde der Fuchs dich betrügen; wärest du das Lamm, so würde der Fuchs dich fressen; wärest du der Fuchs, so würdest du dem Löwen verdächtig werden, wenn dich der Esel vielleicht verklagte; wärst du der Esel, so würde deine Dummheit dich plagen und du lebtest doch nur als Frühstück für den Wolf. Welch ein Geschöpf könntest du sein, das nicht einem anderen Geschöpf unterworfen wäre?«

«Shakespeare«, Dmitri lächelte und schaute den Katzen zu, in den klaren Himmeln.

«Du sagst das so, als wüßtest du, wer das war. Wer das für uns gewesen ist, damals, in der schlechten Zeit.«

«Ihr Alten«, der Wolf rieb seinen Hals an ihrer wohlriechenden Seite, sie ließ das gern zu,»tut so, als gäbe es keine Kultur mehr.«

«Gibt's ja auch nicht. Habt ihr nicht nötig, eine eigene Kulturwelt, als etwas vom sonstigen Leben Verschiedenes. Für uns war Kunst selten, wertvoll, für euch… das ganze Leben ist doch Kunst heute.«

«Bis der Krieg zurückkommt«, sagte er in gespielter Besorgnis. Sie faßte nach ihm, er entwischte ihr. Sie liefen durch die schönen Ruinen, bis es dunkel wurde.

Dann schliefen sie das erste Mal miteinander.



Am besten gefiel ihm, daß er neben ihr liegen konnte wie bei Wölfen, Leib an Leib, geschwisterlich.

Der Mond sah auf diesem Erdteil nachts größer aus als in Dmitris Heimat. Der Wolf mußte sich beherrschen, ihn nicht anzuheulen, wenn die Schwänin und er im metallischweißen Licht zusammen schwimmen gingen.



Die Tage waren ein Versteck- und Enthüllspiel hinter Hitzevorhängen.

Wenn Alexandra von der Vergangenheit erzählte, war das eine ganz andere Geschichte als aus dem Mund des Löwen. Ihr Blick aufs Gewesene schien freier, unverstellt von Schuld vielleicht, von Zweifeln. Sie konnte das, was unwiederbringlich war, leicht von dem unterscheiden, was wiederkommen konnte, wie Jahreszeiten.

«Wir hatten auch unsere guten Tage. Halkyonische Sommer, und zum Schluß einen helliconischen.«

«Helliconisch?«

«Dichtung. ›Helliconia‹, ein Kunstwerk, das von einem fremden Stern erzählt, das heißt, von zweien. Es ging da um einen Planeten namens Helliconia, mit Jahreszeiten, die ganze Geschlechter lang währten. Aldiss hieß der Verfasser — ein Engländer.«

«Engländer, was war das für ein Beruf?«

«Oh, nein, kein Beruf… das ist eine geographische Zuordnung. Er kam von der kleinen knautschigen Insel, die vor der größeren Insel liegt, auf der zwei von den drei Städten… Das waren Leute mit Schneid, diese Engländer. Sind früher der ganzen Welt auf der Nase herumgetanzt.«

Sie lachte, und er verbiß sich das Mitlachen, damit er ihr beim Lachen besser zuhören konnte.



In den Gemächern der Comtesse sah Dmitri schöne und rätselhafte Schatten an den papierenen Wänden und Türen, wenn er die Mittagszeit über keuchend auf der Seite lag. Es war ihm unmöglich, sich zu dieser Stunde draußen aufzuhalten; sie dagegen tänzelte mal drinnen, mal draußen durch Pläne, die er nicht erraten konnte, und ihre Füße schienen dabei kaum den Boden zu berühren.

Gegen Abend gingen sie fast immer zusammen schwimmen und tauchen. Er überraschte und beeindruckte sie mit seinen amphibischen Eigenschaften. Sie spielten zwischen den Seerosen, er freute sich: Alles ist Blatt hier, Papier oder Blüte, Lotus oder Kirsche.

Manchmal dachte er an zu Hause und was die dort jetzt vielleicht von ihm dachten, von ihm erwarteten. Da wurde er leicht trotzig: Wir sollten wohl wenigstens noch eine Weile so tun dürfen, als wäre alles ein Spiel. Wir verletzen niemanden und machen einander glücklich, ist das nicht genug?



In Neumondfinsternis, am Lagerfeuer, auf dem Dach des Hauptlabors, gab sie zu bedenken:»Es spricht überhaupt vieles für ein zyklisches Geschichtsbild, Ricorsi, große Räder mit kleineren drin.«

Er zog die Stirn ein bißchen kraus, damit sie sah, daß ihn das interessierte.

Sie sagte:»Na, daß das hier alles schon einmal passiert ist und alles wieder passieren wird. Der Götterhimmel als Zoo. Die Schimären, Sphinxe, die alten Ägypter — daß die ältesten Hieroglyphen vielleicht falsch verstandene Dokumente eines hybriden sodomitischen Äons sind, einer Epoche, in der das Wissen, wie man Tier und Menschen auf einen Nenner bringt und so viele Arten erzeugt, wie es Einzelwesen gibt, bereits einmal da war, aus sogar noch älteren Menschenaltern geerbt, während aber die richtige Auslegung allmählich verlorenging, unter den Pharaonen.«

«Und was ist mit der letzten Ära vor unserer? Der Langeweile?«

Sie blies aus vollen Backen eine Feder, die ihr aus der Frisur gefallen war, in die Luft, ins Feuer. Die Feder verbrannte hüpfend, als ob's ihr gefiele.

Dann sagte Alexandra Élodie:»Er nennt's Vernunft, und braucht's allein, um tierischer als jedes Tier zu sein… ein paar haben's kommen sehen.«

Er rümpfte die Nase, verstand nicht.



Sie küßte seine Stirn:»Du bist so süß, weißt du das? Die Mahner und Warner… sie waren gleich dagegen, schon als es um das Recht auf Schwangerschaftsabbruch ging. Das Argument der Zurechnungsfähigen lautete ja: Die Technik existiert, und was diese Frauen mit ihren Körpern anstellen, ist ihre Sache. Also was, ein paar Dekaden später, soll man, wenn dieses Argument von allen verstanden wurde — jedenfalls von denen, die für die Entscheidungen geradestanden, juridisch, politisch —, dann noch dagegen haben, wenn wieder andere Frauen ein Kind mit ihrem Hund haben wollen, sobald auch diese Technik existiert? Sodomism, hi hi. Euer Zander Westfahl… nun ja, Liviendas Zander… er wollte… sollte das regeln, ordnen. Aber ex post factum gibt's bei derlei grundsätzlichen Brüchen im Fortpflanzungsgefüge eben nicht mehr viel zu ordnen.«

Dmitri kratzte sich mit dem rechten Hinterlauf die Flanke, halb verlegen, halb gelangweilt. Er gähnte groß, dann sagte er:»Schön, aber mal was anderes: Was reden und rufen eigentlich deine Muschikätzchen im Wald da dauernd für einen Stuß? Das hat mich ganz kratzig gemacht im Hirn, weißt du das, als ich…«

«Anagramme.«

«Anagramme. Du meinst Rekombination und Permutation von öh…«

«Ja. Überleg's dir mal. Wirklich. Nein, ernsthaft!«Beide lachten. Dann sagte sie:»Bitte, ganz im… Es ist… der tiefste Beitrag der Gattung homo sapiens zur Wissenschaft von der Evolution. Ein Mensch namens Egan hat's als erster durchgespielt, als Gedankenexperiment in algorithmischer Komplexität.«

Das war nun eindeutig belangvoller als der Sodomism-Unsinn. Dmitri merkte auf:»Rechnen. Wie wenn Pherinfone…«

«Sobald du eine Welt simulieren kannst, die Beobachter enthält, das heißt ihrer selbst und ihrer Umgebung bewußte Substrukturen…«

«Einen virtuellen Raum, in dem seine eigene Beschreibung vorkommt«, half der Wolf.

«Richtig. Also, wenn du das willst und kannst, dann spielt es für das betreffende einzelne Bewußtsein in dieser simulierten Welt keine Rolle, ob die Simulation relativ zur, na ja, wirklichen Welt, in der das Programm auf irgendein Substrat geschrieben ist, zum Beispiel rückwärts läuft — von innen fühlt es sich immer richtig herum an.«

«Klar. Die Schritte sind logisch verknüpft, nicht historisch…«

«Also, CBA ist für das Denken in diesem System dasselbe wie ABC, Hauptsache, die Kausalität zwischen den drei Teilen hält. Die Ableitbarkeit des jeweiligen Schrittes aus dem, der jeweils der logisch vorgeordnete ist. Noch mal: logisch, nicht zeitlich.«

«Einverstanden. Wohin willst du damit?«

«Überleg mal: Was, wenn du sie jetzt ganz anders mischst? Nicht vorwärts, nicht rückwärts, sondern ACB? BCA?«

«Bleibt von innen immer dasselbe. Ein Bewußtsein in C wird's immer so erleben, als ob es auf seine Vorstufe erst in A, dann in B folgt.«

«Von innen fühlt sich ›folgt aus‹ immer an wie ›folgt auf‹.«

«Aber was soll daran bedeutend sein? Ist doch platt: Kausalität, der Mörtel des Universums.«

«Eben. Und weil das so platt ist, sind auch alle denkbaren Muster aus Innensicht gleichberechtigt. Sobald etwas als in sich konsistent denkbar ist…«

«Ahhh… jetzt versteh ich. Sobald… ja, dann kommt es, und sei's verteilt über alle Elektronenhüllen aller Atome aller Zeiten, irgendwie auch vor. Alle denkbaren Kombinationen sind auf ihre Art wirklich. Alle Welten, die es geben kann, gibt es. Das heißt, Moment: Wenn die Rechenzeit reicht.«

«Wieso Zeit?«

Der Wolf bellte ein trocknes Lachen:»Scheiße, stimmt. Gibt ja keine absolute Zeit mehr, wenn man dieses Bild einmal… ach du grüner Dachs.«

«Alle Geschichten sind wahr, hat das ein Mensch namens Alan Moore…«

«Was du nur mit deinen Menschen hast, Mädchen.«

«Und obwohl das so ist… trotzdem muß man keine Angst vor Beliebigkeit oder Relativismus haben. Daß alle Geschichten wahr sind, heißt nämlich nicht, daß…«

«…daß in jedem Programm auch alle Elemente austauschbar wären, ohne das Programm zu zerstören.«

«Siehst du. Also, Alternativen sind was anderes als Chaos. Und sobald man das begriffen hat, muß man sich, um zum… herrlichen Wahnsinn der höchsten Wahrheiten vorzustoßen, nur noch die eine Zusatzfrage stellen: Wenn man die Vorstellung des logischen Auseinanderfolgens und den des zeitlichen Aufeinanderfolgens voneinander ablösen darf, und also Entwicklung auch unabhängig von einem Zeitpfeil, aber nie unabhängig von Kausalität gedacht werden kann, welche Folgen hat das denn für die Vorstellungen, die man sich von Evolution machen sollte?«



Was sie danach noch darüber andeutete, nahm Dmitri, wie er sich später beschämt und verärgert eingestehen mußte, nur am Rande wahr — sie legte ihm eine Art anagrammatische Tiefenwohnlichkeit des Kosmos dar, während er bereits anfing, ihr die Füße und Hände abzulecken.

Sie küßte und zauste ihn, sprach wieder von Menschen: von Unica Zürn und Maya Deren, davon, daß man nicht nur in Prozessoren, sondern auch auf Papier, auf Zelluloid, in Kristallspeichern mit Anagrammen spielen konnte und daß schließlich das Reservoir der dritten Schöpfung, die DNA, in deren beängstigendem Reichtum sich der Löwe bedient hatte, wobei sie ihm geholfen habe, was sie heute nicht mehr tun würde, vielleicht einmal, in tausend Jahren…

So sprach sie weiter, in Zungen, in immer weiter ausgreifenden argumentativen Kreisen, bis sie nichts mehr sprach, weil sie ihm dann, beim Küssen, anderes zu sagen hatte.

Dobroj notschi, Comtesse, Gute Nacht.

3. Einander göttlich

Manchmal unternahmen die Verliebten kleine Reisen ins Grasland, oder ans Meer, wo sie die Weite betrachten konnten, manchmal gingen sie auch zu den Karpfenteichen unter den höchsten Felsen.

Eine Zeitlang war ihr Mund ein Schnabel, dann war ihr Schnabel ein Mund, von dem er besonders die Unterlippe mochte. Wenn die Sonne aufging, waren ihre Augen schneller blau als der Himmel; dann schaute sie ihn an, als wunderte sie sich, daß es ihn gab.

Da war er stolz, denn ihr Sichwundern gab einen geheimnisvollen Kontrast zu der Tatsache, daß sie so viel mehr wußte als er.



Er folgte ihr, in einer Nacht, da sie ihn schlafend glaubte, durch Thymian und wilde Minze, ins Blattwerk, bis auf eine Lichtung. Die war so weit waldwärts, daß man die Neonlichter der Labors nicht mehr erkennen konnte. In Stille, blauer Kühle wollte die Comtesse eine Pflicht verrichten, die sie liebte.

Zwischen blauen Steinen trat sie im Sternschimmer als ein zweiter Leib, der ganz aus Licht war, aus sich selbst heraus, und der verliebte Wolf hielt, von fremdem Schwindel bestürmt und ganz aufgewühlt, den Atem an, geduckt, im Unterholz, wo er sich angeschlichen hatte, gegen den Wind.

Die erste der zwei Schönen, die ein und dieselbe waren, sagte zur andern:»O Romeo, leg deinen Namen ab und für den Namen, der dein Selbst nicht ist, nimm meines ganz!«Da wurde ihr erwidert:»Nenn Liebster mich, so bin ich neu getauft und will hinfort nicht Romeo mehr sein.«»Wer bist du«, sprach die erste ihre Rolle weiter,»der du, von der Nacht beschirmt, dich drängst in meines Herzens Rat?«

«Mit Namen weiß ich dir nicht zu sagen, wer ich bin. Mein eigner Name, teure Heil'ge, wird, weil er dein Feind ist, von mir selbst gehaßt. Hätt ich ihn schriftlich, so zerriss' ich ihn.«

Der Wolf legte die Schnauze auf die feuchte Erde, atmete Pfeffer ein und schloß die Augen. So hörte er die eine» mein Fräulein «flüstern und die andre» Ich rief' wohl gute Nacht «sagen, bis er wußte, was nur er und die Pilze hier vernommen hatten: Daß das der Grund war, warum der Löwe von hier keine Hilfe erhalten würde, daß dies alles war, was die Comtesse wollte, Romeo sein und Julia lieben, oder Julia sein und Romeo lieben.

Die Geschichte versöhnen, die Zeit vergessen, in der man einander gefreit hatte, aber trotzdem nicht gefunden. Wie Geister nickten Rosmarinnadeln im leichten Wind, ein zartes Publikum. Jedem Haar auf seinem Pelz befahl der Wolf Reglosigkeit; lieber wäre er gestorben, als diese beiden zu stören. Es gab hier keine Eifersucht; wie hätte er der Schwänin nicht gönnen können, was ihre wichtigste Begegnung war, in Traum und Wahrheit?

Ich bin nicht Julia, dachte Dmitri, ich bin nicht Romeo, ich bin nur einer, der sich aus ganz gleichgültigen Gründen herverirrt hat und das zu gern für ein Nachhausekommen halten wollte.

Sie ist so viel älter als ich und so viel naiver zugleich.

Was also wird passieren? Wird sie mich begraben, wenn ich hier sterbe, oder wird sie mich lehren, was ich wissen muß, um fortgehen zu können?

Wird es Zeit sein, aufzubrechen, gerade dann, wenn ich wirklich angekommen sein werde?

«Ich will zur Zell' des frommen Vaters gehen, mein Glück ihm sagen und um Hilf' ihn flehen.«

Am Morgen, der auf die Entdeckung folgte, erwachte er auf dem alten großen Parkplatz, im Schatten einer verfallenen Beobachtungskuppel. Ahornblätter lagen um ihn aufgeschüttet wie abgestreifte Federn. Darin hatte er gewühlt, bis die Dämmerung heraufgezogen war. Er streckte sich, summte wie ein Bienenstock, sah nach oben. Da flogen die Katzen in Keilformation, dann in Clustern. Er sah, als er genauer untersuchte, wie sich das bewegte, daß sich andere Schwärme hineinmischten.



«He!«Die Comtesse hatte sich von rechts angeschlichen, im starken Duft der Blätter, daß er ihre Witterung nicht bemerkte. Sie roch nach Rauch.

Alexandra sagte:»Siehst du, was das für Pfeile, für Keile sind?«

Er stutzte, sah's und begriff, daß der Anglerfisch die Wahrheit gesagt hatte: Pelikanaale, Beilfische und eine Wolke aus Hunderten Grenadierfischen.»Sie haben tatsächlich… die Lüfte erobert, diese Fische!«staunte der Wolf. Die Schwänin küßte seine Halsgrube und tuschelte ihm zu:»Wart's nur ab. Die Atlantiker sind ehrgeizig. Lüfte, pffft, die sind erst der Anfang. Das Weltall. Da wollen sie hin, und es steht ihnen ja auch zu, wenn man's als Ozean auffaßt. «Er blies ihr ins Ohr, tänzelte einen Ausfallschritt von ihr weg und sagte:»Ins All? Das haben wir doch hinter uns.«

«Du redest wie der Löwe«, die Schwänin breitete die Flügel aus und faltete sie wieder zusammen, ein keusches Kleid.»Die Menschen waren dafür nie geeignet, das stimmt schon. Sie haben den Plan dann ja auch fallengelassen, noch vor der Befreiung. Denn zwei Dinge hätten sie ändern müssen: Ihre zerbrechliche Genetik, die zu anfällig war für die harte Strahlung, für die ständigen Teilchenschauer im Leerraum, und ihre viel zu kurze Lebensdauer, bei der war an die weiteren, interessanteren Reisen draußen nicht zu denken.«

Der Wolf sah wieder nach oben: Feuerschwerter. Flammenzeichen. Viel Farbe.

«Und die Gente haben das geregelt?«sagte er nachdenklich.

«Ach, Gente. Die da oben, das ist was Frisches. Die vierte Generation nach der Befreiung. Du gehörst nur zur zweiten.«

«Nur. Klingt nicht nett.«

Sie streichelte ihn, das stimmte ihn freundlicher.

«Ist nicht die Imagination unsere Rettung?«fragte sie. Er wunderte sich, zärtlich sorgend, woher eine, die soviel Richtiges getan und gewußt hatte, wohl diese fromme und auch ein bißchen ekelhafte Lüge haben mochte.

Sie hörte wohl, daß er nicht antwortete. So sagte sie ihm etwas anderes:»Ich habe gebaut und gebaut und gebaut. Mit sechzehn Jahren habe ich angefangen. Ich sammle alles, was damit zu tun hat.«

4. Film

Im Keller zeigte sie ihm, was sie meinte:»Zweite Generation. Das habe ich Iemelian damals geraten.«

«Einem der…«

«Vorläufer deines Chefs, ja.«

Die Projektion an der Wand zeigte Infektionsvektoren, nach Riesenpopulationen auf zusammenhängenden Landmassen aufgeschlüsselt. Nach einer Weile zerstob das Bild und machte einem Riesenmolekül Platz.

«Immunität gegen alle natürlich vorkommenden Kleinstangreifer«, sagte Alexandra.

Das Modell drehte sich, die kleinen Kügelchen (Dmitri erinnerte sich an die Gifte gegen die Hände der Menschen) pulsierten im Takt simpler Musik, und die Comtesse erklärte:»Das Konzept war robust, uns vorgegeben von der Naturgeschichte: zwei Helixbänder aus Zucker und Phosphat, verbunden mittels Basenpaaren, in deren Vierbuchstabenalphabet die gesamte genetische Information verschlüsselt ist. Zweite Generation, das hieß: Man hat andere Basen eingefügt, ein ganzes Genom. Ein neues Phylum war geboren. Der Code blieb derselbe, das Alphabet war ein anderes.«

«Ein Schritt übers Anagramm hinaus.«

«Genau. Ein Meta-Anagramm oder… Kata-Anagramm: nach unten ausweichen. Daher hat das tamerlanische Monstrum im Süden wohl auch sein Namenspräfix, Katahomen: Es ist eine Abspaltung der zweiten Generation, eine Erweiterung des Prinzips ins Silizium- und Keramikleben hinein. Erst die DNA, dann die neuen Ribosomen…«

«Und der Stoffwechsel?«

«Standard. Dieselben Proteine wie alles, was die Evolution vorher zusammengebastelt hat. Neunzig Prozent von allem blieben gleich, aber der resultierende multizelluläre Organismus war sofort immun gegen sämtliche Viren, alle Perrhobakter. Die Dinger kommen zwar noch rein, aber…«

Der Wolf stellte sich kleine Roboter vor, die in seinen Schädel gelangten. Kaum sind sie drin, fällt hinter ihnen die Tür ins Schloß, das sie geknackt haben. Da sitzen sie dann in der leeren Kälte und verhungern.

«Ähm, hilf mir nochmal. Zweite Generation, wie ging die erste?«

«Weißt du überhaupt, was du mich da fragst?«

«Na ja, ich frag dich… nach der biotischen Beschaffenheit der Befreiung. Was die eigentlich war.«

«Genau. «Die Comtesse bewegte ihre rechte Flügelspitze und machte dazu ein strenges Gesicht: Das sind böse Geschichten, darüber rede ich nicht gern.

Dmitri nahm sich vor, einmal den Löwen zu fragen.

Kaum hatte er den Vorsatz gefaßt, wurde ihm schmerzlich klar, daß er, so wohl er sich hier fühlte, nicht bei Alexandra bleiben würde. Es war zu schön hier, und wenn er sie fragte, in Andeutungen oder direkt, ob sie ihn bei sich behalten sollte, dann schwieg sie mit tausend Sätzen, dreitausend Ausreden. Von Schmerz verstand sie lieb zu raunen; davon, daß, wer Leidenschaft sagte, auch von Leiden reden mußte, und anderes trauriges, verkehrtes Zeug aus dem Fundus muffiger Selbstbestrafungswahnideen der Langeweile. Er gehörte also wohl doch nicht hierher, in dieses Denkmal, ins Glück der Abgeschiedenheit. Was Dmitri nicht verstand: Sie liebte ihn, aber daran mußte er glauben, das ließ sie ihn nicht wissen. Als ob Glück etwas Schlechtes wäre und unerfülltes Sehnsucht ein stärkeres Argument als erotische Großzügigkeit, die sie ihm doch anfangs geschenkt hatte, ein stolzes und freies Geschöpf.

Die Sonne wurde blasser, mehrdeutige Winde kamen auf.

Der Wolf war ein politisches Tier und würde ihr ab jetzt deshalb im Gegenzug ebensogut verbergen, was er fühlte.

5. Form, forms and renewal, gods held in the air

«Siehst du sie? Siehst du, was sie mit der Zeit macht?«

Der Wolf schaute hin und hatte das erste Mal das Gefühl, er sähe sich selbst beim Schauen zu, so wie man, bei großer Übermüdung etwa, manchmal sich selbst beim Reden zuhört.

Die Comtesse hatte im Auditorium Maximum Vorrichtungen aufgestellt, mit denen man uralte Filme abspielen konnte. Was der Wolf sah, war ein Mädchen, das den rechteckigen Bildrahmen diagonal betrat und zielstrebig durchquerte. Die junge Frau verschwand hinter einer Sanddüne im Vordergrund, am Rand des gezeigten Ausschnitts. Die Kamera setzte für einen kaum merklichen Moment aus. Dann ging das Mädchen in größerer Ferne vorüber und steuerte einen Ort hinter einem weit hinten liegenden Sandhügel an.

Die Kamera drehte sich, in einer das gesamte Panorama erfassenden Bewegung, in die Richtung, in der das Mädchen soeben den Bildausschnitt verlassen hatte. Da sie an exakt derselben Stelle weiterfilmte, an der sie eben ausgesetzt hatte, gab es keine räumlichen Anzeige der verstrichenen Zeit. Der Wolf erwartete (oder erwartete von sich, zu erwarten: seltsame Dopplung) zunächst, das Mädchen hinter der Düne hervorkommen zu sehen, hinter der es sich eben verborgen hatte. Statt dessen aber trat es nun hinter der weit entfernt liegenden Düne ins Freie. Entfremdung des Sehens von seinem Gegenstand, Überschreitung des im Kopf zurechtgelegten Zeitmaßes und diese Dopplung: Dmitri glaubte, als das Bild verschwand und das Licht anging, daß von ihm erwartet wurde, er solle sich dazu äußern.

Zögerlich setzte er an:»Ein ähm Sprung, eine… wie anagrammatische…«

Aber Alexandra Élodie legte ihm eine Flügelspitze auf die Lippen:»Schh. Nur gucken. Sonst tust du ihr noch mal an, was ihr zu Lebzeiten angetan wurde«

Dmitri wußte nicht, wer die Person war, auf die sich das bezog.

«Sie ist an ihrer Wut gestorben«, sagte Alexandra,»weil man sie nicht arbeiten lassen wollte.«

Das Licht ging wieder aus. Der Film begann von neuem.

6. Bright void, without image, Napishtim

Sie zeigte ihm ein letztes Mal ihre Gärten, als die schon dunkler wurden.

Das war bereits der Krieg:»Am Anfang setzt es immer diese plumpen Faustschläge«; seufzte sie, es klang fast peinlich berührt,»da werden die Ernten behext, da wird das Wetter zerstört. Lustig, solche Worte wieder zu sagen. Hab mich damals immer gefragt, wie das möglich ist, wie strikt reserviert überhaupt Wörter sind, jedes will nur da hin, wo es hinzugehören glaubt. Man sagt zum Beispiel, die Stadt sei zerstört worden und man habe die Einwohner ermordet, aber man käme sich komisch vor, zu sagen, die Einwohner seien zerstört worden und die Stadt habe man ermordet. Inferenzen von… ach, was soll's.«

Ein paar Stunden später hatten sich die geschwärzten Blätter erholt, am nächsten Morgen standen sie erneut im Saft.»Es gibt ja nichts, womit wir nicht fertigwürden, genügend Zeit vorausgesetzt. Der Keramikspinner, oder die Keramikspinnerin, wenn sie's denn unbedingt so will«— ein Kolloratürchen kam in dem» will «vor, die Schwänin konnte immer sehr schön singen —,»schickt ihre Virengeschwader und doch… diese Feindin weiß, daß wir so etwas kleinkriegen. Es ist kein ernsthafter Angriff, nur eine Drohung. Eröffnung der Kampfhandlungen auf symbolischer Ebene. Dieselbe Choreographie wie in der Langeweile.«

«Du wirst dich überrennen lassen? Warum, aus Pazifismus?«Der Wolf bleckte die Zähne. Sie lachte gutmütig.»Ich geh nicht mit dir zurück in dein trauriges Resteuropa, vergiß es. Die Festung, die der Löwe baut, ist mir zu eng. Ich habe mein Leben gefunden, hier.«

7. Taufe

Am vorletzten Tag seines Aufenthalts weckte sie ihn nachmittags aus seiner Siesta und stand vor ihm in nachtschwarzem Gefieder.

Trauer, dachte er — da kann ich dem König immerhin erzählen, daß sie den Ernst der Lage versteht.

Aber dann sah er, daß in der Schwärze Sterne blinkten wie flunkernder Straß.

«Du kannst es nicht lassen, was? Melodrama. Fliegende Katzen. «Er leckte ihr die Hand, und beide wußten, daß er sie unbeschreiblich arg mochte; ganz davon abgesehen, daß er sie ja liebte.

«Du bist unverbesserlich«, sagte Dmitri.»Nichts ist unverbesserlich«, sagte die Schwanfrau.



Sie führte ihn zum letzten Mal, mit kleinen Gesten, zwischen die Gewächshäuser, ins heimliche Grün und Rosengold. Als sie anschließend baden gingen, ertappte er sich dabei, daß er das erste Mal seit langer Zeit an Lynxchen dachte, an Clea, Lasara.

Alexandra bespritzte ihn mit Wasser und sagte:»Wir könnten natürlich noch schnell heiraten, bevor du abreist. Nicht weit von hier gibt's eine Art Isottatempel, bißchen schäbig, aber… ich habe so viel für die Suche nach dem Wetzelchen gespendet, daß die Habichte mir zu größtem Dank verpflichtet sind.«

Das gab's hier alles auch?

Er schnaubte, prustete, schüttelte sich.



Nach dem Abendessen setzte sie ihm vorsichtig eine Spritze ins Genick, mit, wie sie sagte,»umfangreichen Dateien, die ich ihm gern überlassen will. Er wird sich damit auskennen.«

«Ich dachte, du wolltest ihm nicht helfen.«

«Ich helfe ihm gar nicht, ich investiere nur in meinen Nachruhm. Sollte ich bei den Verwüstungen, die uns erwarten, mein Leben lassen, so weiß ich wenigstens, daß meine Ergebnisse von dem alten Wichtigtuer mit Zähnen und Klauen verteidigt werden. Selbst die, mit denen er nicht froh wird. Er glaubt an militärische Nutzanwendungen, ob's die nun gibt oder nicht. Das reicht mir. Eine Versicherung meiner Arbeit aufs Künftige.«

«Red nicht so morbide, Liebste.«

«Nenn mich nicht Liebste, Liebster. Das rührt mich zu schlimm.«

8. Leb wohl

Sie hatte ihre Vorkehrungen getroffen, daß er sich später nicht zu genau daran erinnern würde. Die letzte Nacht der beiden war ein traurig schönes Ringen zweier Engel im stummen Grund.

Sie redeten dazwischen über Dinge, über die man in Wahrheit nicht reden kann. Er sehnte sich den ganzen Abend danach, einfach ihre Hand zu nehmen und zu verstehen, was mit ihnen beiden geschah. Es wurde spät und später, dann früh, der Mond stieg auf und sank dann wieder.

Sie sagte:»Du Süßer, in so einem schlimmen Zustand und noch so weit zu gehen. Und ich weiß, du kannst nicht sagen, was du denkst, aber das ist schon gut. Die Worte helfen dir nicht, sie lassen dich im Stich. Und ich muß das jetzt leider auch tun.«

Vielleicht, überlegte Dmitri, stimmt es gar nicht, was man uns beigebracht hat.

Vielleicht haben wir gar keine Sprache, weil es Sprache überhaupt nicht gibt.



Als Dmitri Stepanowitsch am Morgen erwachte, war er allein.

Es wurde Zeit für den Aufbruch.

Sein Lager roch neutral, er dachte: Ich bin also wieder mein eigner Herr und hätte doch gern diese Herrin gehabt. Freiheit, wiedergewonnen: Das muß mir nicht gefallen, aber wahr ist es.

Seine Träume waren bizarr gewesen. Nesselröhrenschildläuse hatten sich nachts in seinem Pelz festgesetzt und ihm die jüngsten Nachrichten aus der Heimat eingeflößt.

Es gab neue Ergebnisse der Fische im Wassertorus von Borbruck, die trotz des stetig abnehmenden öffentlichen Interesses an ihrer Arbeit seit dem Mord am Zander unentwegt weiterforschten, für wen oder was auch immer. Diesmal gaben sie Empfehlungen zur Geschlechterfrage ab:»Jeder Mann muß mindestens eine Frau und einen Mann haben, und jede Frau mindestens eine Frau und einen Mann, so daß die kleinste vernünftige sexuelle Gemeinschaft aus vier Individuen besteht.«

Was für eine Verschwendung, dachte der Wolf: Wie viele der Läuse waren gestorben, um Dmitri diesen Blödsinn zu übermitteln?



Was ist das überhaupt für ein Lager, wie bin ich letzte Nacht hierhergekommen? Hat sie sich verabschiedet, war das der Ausklang des Nachtmahls? Er erinnerte sich nicht.

Dmitri Stepanowitsch Sebassus setzte sich auf, sein Kreuz war starr und seine Schädelknochen taten weh, besonders um die Augen und an den Schläfen.

Er horchte in sich hinein und stellte fest: Die Schwänin war weg, er mußte sie aber noch loswerden, um überhaupt wieder leben zu können.

Schon der Gedanke an sie erregte in ihm eine Art trauernder Abwehr. Er zweifelte nicht daran, daß diese neue Empfindung ihr Abschiedsgeschenk darstellte, sie mußte es ihm irgendwann verabreicht haben, vielleicht mit Speichel, oder sogar im Spritzen-Cache für den Löwen. Genauso sicher, und das fand er tröstlich, war sich Dmitri, daß seine Liebe zu ihr nicht das Ergebnis einer ähnlichen Manipulation gewesen war. Ihn wegzustoßen, das paßte zu ihr, ihn einzufangen aber hätte ihrem Wesen widersprochen.

Er würde nie aufhören, sie zu lieben, das mußte genügen.



Der Wolf rieb sich die Wangen mit neuen Händen, trank aus einem Schälchen.

Da hörte er ein leises Pfeifen.

Als er aufblickte, schwebte vor dem zersprungenen Fenster der Dachkammer, die sein Quartier war, ein absurd breites Gesicht. Es war ein Walhai, zwölf Meter lang, grüngrau, mit weißen Punkten. Der Wolf schüttelte den Kopf, als wollte er seine Ohren loswerden, streckte sich, sträubte sich die Spuren der Nacht aus dem Fell. Der fliegende Riese machte ein fragendes Geräusch, anderthalb Oktaven zu tief eigentlich, aber dennoch leicht zu deuten. Der Wolf sagte:»Wo ist sie? Hat sie dich gerufen? Ich weiß nicht mal, ob wir uns verabschiedet haben. «Dmitri rechnete mit keiner Antwort; aber der Ätherschwimmer sagte:»Ich glaube, das kannst du vergessen. Sie ist schon aufgebrochen, nach Süden. Der Armee der Verwüster entgegen. Die ziehen durch die Gegend, als ob sie ihnen schon gehört. Keramikaner. «Er schnaufte zornig und übermittelte dem Sehzentrum in Dmitris Hirn per Sprühspeichel ein furchtbares Bild: Horden, nicht ordentliche Formationen. Brennende Matten, fliehende Gente, sprachlose Tiere in Panik.



«Ich bring dich zum Meer«, sagte der Walhai.

Seine Augen waren klein, aber sie sahen schlau aus. Sein Maul hatte einen gemütvollen, leidenden Zug, als höre er den ganzen Tag impressionistische Klaviermusik, in Moll.

«Bah, nee, nicht die Schwimmerei schon wieder«, sagte Dmitri angewidert.

«I wo, das ist nicht nötig, das war nur die Herreise. Du solltest dir ja das Buckyprojekt der Atlantiker anschauen. Diesmal wirst du mit dem Schiffchen fahren. Dem Eisschiff, unter Käpt'n Patel. «Sein Tonfall verriet, daß das etwas war, worauf der Wolf sich freuen sollte.

«Von mir aus. Brechen wir auf. Hier gibt's nichts mehr.«

9. Allmähliche Verdunkelung

Dmitri Stepanowitsch ging hinter dem Walhai her wie die Israeliten hinter Wolke und Feuersäule, drei Tage lang, landauswärts.

Sie durchquerten neue Steppen, die vor Monaten nicht hiergewesen waren, und sahen ein Rudel ausgemergelter und schmutziger Erdhörnchen vorbeistreichen: Flüchtlinge.

«Die Gegend verkommt schnell«, bemerkte Dmitri.»Wahrscheinlich werden alle, die sprechen können, den Schutz des Löwen suchen. Viele werden übers Meer reisen und ihn bitten, daß er sie in seine Zivilisation aufnimmt, die jetzt ein stehendes Heer wird.«

Der Walhai erwiderte aus seinen Höhen mit voller Baßstimme:»Da bereitet' er sich zu neuen gewaltigen Lügen / ›Könnt' ich des Königes Huld und seiner Gemahlin‹, so dacht er, / ›Wieder gewinnen, und könnte zugleich die List mir gelingen, / daß ich die Feinde, die mich dem Tod entgegengeführt / Selbst verdürbe, das rettete mich aus allen Gefahren. / Sicher wäre mir das ein unerwarteter Vorteil! / Aber ich sehe es schon, Lügen bedarf es und über die Maßen.‹«

Dmitri witterte politische Unzuverlässigkeit bei dem lebenden Luftschiff und lachte.

Der Bursche hatte immerhin Charakter.



«Wir kennen uns lange, du und ich«, sagte der Walhai,»nur hast du mich nie in diesem Leib angetroffen. Der ist neu, ein Geschenk der Atlantiker. Ich war früher, sagen wir… viel grüner.«

Dmitri lachte verblüfft; er hätte es längst erkennen müssen, die Art zu reden, der Humor verrieten es:»Georgescu?«

«Eine Kopie, um genau zu sein — der Fachbegriff lautet jetzt ›Setzling‹. Du hast ein paar technische Entwicklungen von großer Tragweite verpaßt.«

Das war nicht ganz wahr: Dmitri hatte vor seiner Abreise durchaus noch davon gehört, es hatte mit den Arbeiten tun, die Izquierda beaufsichtigte:»Öhm, Setzlinge, das ist… das sind maschinell eingelesene Persönlichkeitsabbildungen — programmierte Gente, nicht?«

Der Walhai brummte bestätigend.

Dmitri riß eine Wurzel aus dem kargen Boden, saugte ein bißchen Kraft, spuckte aus und fragte:»Aber sollte das nicht eher eine Art Sicherung sein, eine Option der… Inneren Emigration in die… felsengeschützten Großrechner? Für einen Introdus? Wieso läßt man solche… Setzlinge auf einem lebenden… schwebenden… Schwimmhirn…«

«Ein Experiment, mehr oder weniger. Ausschließlich auf Freiwilligenbasis. Die Vorschriften sind viel laxer geworden, Cyrus Golden läßt alles zu, was neue Wege geht. Er ist wirklich in Sorge. Ich bin einer von bis jetzt drei Setzlingen, die man in ein synthetisches Lebewesen eingebettet hat. Und wenn du meinen Kopf aufspalten könntest und dir das Ding betrachten, mit dem ich… denke und… ich bin, würdest du schnell wissen, daß das kein Hirn ist, in dem alten Sinn, den du erkennen könntest.«

«Ein biotischer Rechner aber doch.«

«Kleiner als ein Hirn, vor allem. Der ganze redundante Kram ist in andere Welten verschoben.«

«In andere Wel… ah, ein Quantencomputer.«

«Wenn man archaische Ausdrücke liebt.«

Die Comtesse hätte gesagt, daß sie das tut, dachte der Wolf.

10. Akku

Dmitri pißte, müde und niedergeschlagen, an ein verrostetes Autoskelett.

Er dachte an die Comtesse und daran, daß das, was sie für Souveränität hielt, für Stoizismus gar und Würde, einfach ihr verdeckter Selbsthaß war. Sie macht sich häßlich klein, sie will nicht mehr eingreifen in Geschicke, die auch ihre sind, um ihren früheren hohen Ansprüchen an sich nicht länger genügen zu müssen. Man kann ihr nicht helfen.



Hätte er ihr noch etwas sagen dürfen, so hätte er ihr gesagt, daß sie ihm leid tat und daß er sie jetzt los war, ohne daß ihn das erleichterte: Ich kann glücklich sein, und frei, und schön, wenn ich nicht mehr zulasse, daß du mich damit folterst, die gemeinsame Gegenwart immer schon so zu behandeln wie bloße Erinnerung. Wie lange war sie wohl schon so kaputt, so tot, und wie traurig war diese böse Wahrheit, daß sie in ihrem ausgedachten Kulissenleben nicht einmal ahnte, daß sie tot war?



Die Worte des Königs fielen ihm wieder ein: Aber die Lähmung verurteilt die Gelähmte, die Lüge wird zum Gefängnis der Lügnerin und das feige Herz stirbt am eigenen Gift.

Der Walhai dröhnte:»Hör mal, Kleiner. Ich muß ein bißchen ausreißen. Deine Bahn ist… anstrengend für mich, ich sollte mich ab und zu in höheren Luftschichten aufhalten, wegen…«

Dmitri dachte an das, was die Comtesse ihm über Raumfahrt erzählt hatte, und rief nach oben:»Batterien, hm? Teilchenschauer. Ein Akku.«

Das tiefe Summen, das ihm antwortete, war zustimmend.

Die Sonne ging gerade unter. Dmitri schlug vor:»Flieg doch der Nacht kurz davon, hol dir, ich weiß nicht, im Westen mehr Kraft. Ich roll mich hier eh ein paar Stunden zusammen. Die Rast kann ich brauchen.«

«Abgemacht.«

11. Horden

An einem rostroten Fluß fand Dmitri es nötig, die Lage zu sondieren.

Er roch etwas, das konnte heißen, daß die Keramikaner in der Nähe waren. Der Wolf spuckte auf den Boden und ins Wasser. Die Femtospinnen im Sekret waren instruiert, das Gelände nach allen Himmelsrichtungen so schnell sie konnten auszuspionieren und ihm, während er schlief, im Lauf der nächsten Nächte allmählich wenigstens eine Ahnung von den strategisch und taktisch relevanten Verhältnissen zu übermitteln.

Was er so vier Tage später erfuhr, war bestürzend: Präriehunde und Büffel im Westen wurden von der Armee Katahomenleandraleals systematisch aufgerieben. Die Keramikaner fielen über sie her wie ein plötzlicher Regenguß; sie töteten ein Drittel, vertrieben ein Drittel, pflanzten einem Drittel eine Saat ein, aus der in kurzer Frist weitere Keramikaner werden würden.

Die Abfallprodukte dieser großmaßstäblichen Vergewaltigung der lokalen Ökotektur trieben sie ohne Gnade vor sich her. Wie Sporen erbrachen sie durch die Luft schießende Heliozoa aus Eiweißabfällen, Blut, Hast und Schmerzen, eine infernalische Wolke, die ihr Kommen schon in mehreren Kilometern Entfernung ankündigte.

Die Spinnen des Wolfes versuchten, sich auf Keramikanern niederzulassen, um biometrische Daten zu sammeln. Es war unmöglich.

Die äußerst eigenartige Magnetorientierung dieser Panzerungen erzeugte so starke Felder, daß die Spinnen sich verwirrten, taumelten, von den Heliozoawolken verschluckt und unter den eisernen Fersen der Vorrückenden zermahlen wurden. Nur etwas wie Gesang konnten die Spione des Wolfs aus vorsichtiger Entfernung aufzeichnen, das sagte: Wir sind die neuen Frauen, wir holen euch, wir kriegen euch!

Die Beine des Wolfes zuckten, als er sie sah und hörte, in unruhigem Schlaf.



Die Männchen eines großen Stammes wilder Schafe bockten, als ihnen der Gesang aufgezwungen werden sollte, und wurden zerfleischt. Nicht einmal zu fotografieren waren die Keramikaner. Ein Expertensystem im Stammhirn des Wolfs wagte aufgrund der nicht abbildbaren, immer seltsam verwischten Konfigurationen von Nesseln, die aus den Exoskeletten der Keramikaner hervorkabelten, die Vermutung, daß diese Unabbildbarkeit von ihrer Bauart herrührte.»Sie sind«, riet das Programm,»wahrscheinlich nicht vollständig vierdimensional wie das, was wir gewöhnlich wahrnehmen. Ihr Konstruktionsplan reicht in mindestens eine weitere Dimension, vielleicht auch in insgesamt sechs oder mehr. Wenn das stimmt, können sie sich selbst von allen Seiten sehen und wissen Dinge, für die wir keine Ausdrücke besitzen.«



Nur eine einzige von Dmitris fleißigen Sonden drang schließlich durch Zufall doch noch in einen der Keramikanerkörper ein.

Sie kämpfte sich durch Höhlungen und Laibungen vor bis zu einer Membran von Schleimhaut, von der sie ebensowenig wie später der Wolf wußte, ob ihr bei den Gente oder den Menschen irgend etwas Bekanntes entsprach. Der Glibber hatte nur einen Millimeter Dicke, und wie es schien, konnte er denken. Die Spinne fing Impulse ab und schickte dem Wolf ein löchriges Protokoll.

Spürbewegungen, ein Riß, Erschrecken.

Dmitri löschte die Spur sofort, weil sie nicht lesbar war. Wenn er danach noch einmal an sie dachte, wurde ihm übel.

Schließlich geschah ein Kundschafterunfall.

Der Walhai befand sich direkt unterhalb der Ionosphärengrenze und sandte, ohne daß das mit dem Wolf abgesprochen gewesen wäre, Ortungspings in Richtung Horde.

Einer davon wurde von der Spinne, die sich an der Schleimhaut des Keramikaners festgesetzt hatte, abgefangen und identifiziert. Sie meldete, weil ihre Routinen ihr das befahlen, den Empfang in zwei Richtungen: dem Wolf und dem Wal. Das führte zur doppelten Strahlstärke ihrer sonstigen Sendeleistung. Hierdurch öffnete sich für die Taster der Keramikaner ein Abhörfensterchen.

Sofort richteten sie ihr vieltausendfach geteiltes Facettenauge auf das Wänzchen.

Anstatt es auszubrennen, sandten sie ihm einen Übernahmevirus und kooptierten es ohne Mühe. Dann schickten sie dem Setzling Georgescus und dem Wolf ein bewegtes Bild: Die beiden sahen einen nackten Menschen in einem kalten, ovalen, grünlich aus unklarer Richtung von nicht sichtbaren Quellen beleuchteten Raum. Der Mensch hantierte mit Biomaterial, zog irgend etwas Lebendes auf dünne Gläser.

Sie sahen, daß er elend dran war, hohle dunkle Wangen hatte und fiebrige Augen. Sein weißer Laborkittel, der einmal gepaßt haben mußte, schlotterte ihm viel zu weit um die ausgemergelten Glieder. Ein Mensch? Eher schon ein Skelett. Seine Lippen bebten, er war erregt; offenbar nahe daran, zu finden, wonach er suchte.

Die Reihen von Spektrometeruntersuchungsbildern erinnerten den Wolf an irgend etwas; er wußte nur nicht gleich, woran.

«Es hat ganz harmlos angefangen«, höhnten die Keramikaner mit Sirenenstimmen,»als echte Neugier und Verbesserung der Lebensbedingungen des Menschen. Nanofakturen, Synbiodevices, verbesserte Wermutpflanzen, die Säuremedikamente gegen Malaria synthetisierten, ein sprechender Gymnocorymbus, ein Rechnernetzwerk aus Gangliosiden, das erste Zweithirn. Dann erfand man die Pherinfone. Bald wurde die erste rein ribobasierte universale Turingmaschine gebaut. Und als das geschehen war, stand er an seiner Schwelle, dieser abgehärmte Mann da.«



Der Blick, zu dem Wolf und Walhai gezwungen wurden, nahm sich das Gesicht des Mannes jetzt genauer vor, verweilte auf den Augen, dem Mund — es war der Wolf, der zuerst verstand, was ihnen gezeigt wurde: Das also ist er, so hat er ausgesehen, und was er hier zusammenrührt, ist die erste Generation der Befreiten.

«Wir haben keinen Grund«, das war Georgescu, sie versuchte, über die Spinne als Relais den Wolf zu erreichen,»uns für so einen Anfang zu schämen. Vieles, das später allen gefällt, nimmt sich in der Wiege kaum schön aus. Was wollen Sie? Iemelian«, das war der vertraute Name, den Georgescu für den Löwen verwandte, weil es der war, unter dem er ihr die Dachsenbataillone aufzustellen befohlen hatte,»ist das hier nicht. Das ist nur sein erster Vater. Und unserer.«



Diese Nachricht wurde nicht durchgelassen zu Dmitri, für den sie bestimmt war.

Georgescu mußte sie später mündlich nachtragen. Statt dessen sandten die Keramikaner dem Walhai eine Antwort:»Vater, Vater! Wer wen zeugt, darauf kommt's euch immer noch an. Wir sind die Mütter eines stärkeren Geschlechts.«

12. In deren Herzen

Der Tau auf Dmitris Zunge, als er zu sich kam, schmeckte bitter.

Er stand auf, sein Fell knisterte leis an tausend Stellen, er fand sich elektrostatisch geladen. Er dachte an Katzenfelle, an Clea Dora, das Lynxchen, und war verärgert, daß die Propaganda der Keramikaner zumindest ein klein wenig bei ihm verfing: Dem Wolf war mulmig beim Gedanken an den Mann mit den dunklen Augenhöhlen, der, brütend über Gestellen mit Reagenzröhrchen gebeugt, das Kinn auf von blauen Äderchen durchzogene Hände stützte.

Mein König? Mein Schwiegervater?

Natürlich war die Nachricht der Keramikaner darauf angelegt, der Propaganda zu begegnen, die der Löwe selbst im Tierreich verbreiten ließ, wonach das Schlimmste an den Keramikanern sei, daß es sich dabei um eine verbesserte Sorte Menschen handelte: Die Bleichlinge sind zurückgekehrt, sie legen ihre kalten Leichenfinger um die Hälse der Heutigen.

«Wir sind also Menschen«, erwiderten die Gepanzerten,»und was ist dann mit eurem König?«

Verdrossen nagte der Wolf an zähen blassen Halmen, die kränklich aus dem allgegenwärtigen grauen Staub herausragten. Er riß etwas ab und kaute, dann spürte er, wie der Schatten des Walhais über ihn hinwegglitt, Richtung Osten.



«Bist du zurück, ja?«

Der fliegende Riese pfiff.

«Du nimmst's ja leicht«, bellte der Wolf.

Der Walhai gab ihm recht:»Sicher. Du nicht? Nein, natürlich nicht. Du nimmst es so schwer du nur kannst, Grauröckchen.«

«Sie wissen alles über uns. Mehr, als wir selber wissen. Und über sie wissen wir gar nichts.«

«Nicht so voreilig, Zivilist. Ich hab von deiner Spinne noch ein paar hochwertige kleine Codefetzchen empfangen. Sie konnte immerhin einen sensiblen Ordner knacken, für interne Memoranda. Du hast sie gut geschrieben, ihre Software: Der Krabbler hat den Ordnerinhalt steganographisch auf den Film gesattelt, den sie uns über Iemelians Vater geschickt haben. Soll ich dir's überspielen, oder bist du zu düster drauf, um die gute Nachricht von der verzweifelten Stimmung zu empfangen, die den ganzen Feldzug treibt? Sie sind in Aufruhr. Sie müssen die bewohnte Erde rasch erobern, sonst bricht diese ganze Flut von Ungeheuern aus… inneren Gründen zusammen.«

«Mach nur«, sagte Dmitri.

Kaum war das ausgesprochen, hörte und sah er Katahomenleandraleal seine Berserkerhaufen mit Erwägungen über die Zukunft anpeitschen, in visueller Form ihren Denkapparaten eingespeist: politische und informationstopographische Lagebeziehungen zwischen den älteren und den neueren Landmassen, Erwartungsgraphen über die Gegebenheiten in schmalen Zonen um die drei Städte, Kosten-Nutzen-Rechnungen über den Energieverbrauch des Feldzugs und über die Notwendigkeit, Ressourcen zu plündern. Ein Aufriß von Kapseits wurde als Insert geliefert, dann folgten lange Kolonnen populationsdynamischer Kennziffern der verschiedensten Gentequasitaxa.



Schmerzliches Zwitschern störte den Wolf bei der Betrachtung der Daten.

Es war ein Lied, eine Klage:»Nun nähert sich ein Wandelstern. Und nun…«

Mitten in der Einöde, oben auf einem von zuviel Zeit zerfressenen Drahtgeflecht, das in verwachsenen Bäumen hing, saß ein Rubinkehlchen, das den Keramikanern entkommen war. Es sprach von den Verwandten, die es nicht mehr gab. Der Wal schickte dem Wolf kurze Warnpulse:»Weg da, komm, laß das sein. Was willst du, du hast einen Auftrag. Ich führ dich zur Landestelle, der Vogel braucht dich nicht zum Jammern.«

«Ich will das aber hören«, der Wolf wurde unwirsch: Für dich, Georgescu, sind das alles Zivilistenschicksale ohne Bedeutung; ich sehe das anders.

Er wandte sich dem kleinen Vogel zu, aber der reagierte auf keinen Zuruf, keine Pherinfone, nicht einmal auf ein gespieltes Zuschnappen Dmitris.

Der Vogel war der Welt abhanden gekommen, er lebte nur noch für sein leises Lied:»Lutarius, und vom Schlamm sind wir alle, aber jetzt bringt man uns etwas Besseres, Grausames bei. Jetzt nähert sich ein Wandelstern. Ich erleide den Stoß eines schrecklichen Windes. Ich klage mit der Stimme des Neugeborenen übers Geheimnis meines ersten Atemzugs, und will woandershin gebracht sein. Wir befahren Reiche, die wir kaum erkennen, vom Anschwellen der Zeit getragen. Wir pflügen magnetische Felder. Die Vergangenheit und die Zukunft treffen aufeinander, in Donnerwolken, und unsere toten Herzen leben mit Blitzen in den Wunden der Götter.«

13. So oder anders

Den Rest des gemeinsamen Weges legten Dmitri und Georgescu zurück, ohne sich miteinander zu unterhalten.

Sie kamen schließlich erneut an einen Fluß; dieser war schildkrötengrün.

Urig und struppig fiel ein Abhang auf beiden Seiten des Stroms steil ab, mit safrangelben und scharlachroten Pilzen und bläulichen Kapseln, groß wie Menschen. Dem Wolf gefiel es hier, er grub die Schnauze ins Erdreich, wälzte sich ein bißchen, sprang durch Gras, das so hoch war wie er. Der Walhai nahm Abschied:»Bleib nur hier in der Gegend, Dmitri, es wird dich bald ein Floß aufnehmen und bis zur Mündung bringen.«

«Was für ein Floß?«

«Du wirst schon sehen. Es bringt dich aufs offene Meer, zum großen Eisschiff unter Käpt'n Patel, das dich zum Löwen zurückträgt. Dem kannst du dann erzählen, wie du dich vor ihm geekelt hast, als dich die Keramikaner aufgeklärt haben, über seine Vergangenheit.«

«Wollen wir so auseinandergehen?«

«Wir sehen uns wieder, so oder anders«, sagte der Walhai und erhob sich ins Blaue.

14. Übersetzen

Dmitri Stepanowitsch Sebassus ließ sich auf einem Stein nieder. Da wollte er die Fähre erwarten. Er sonnte sich ein Weilchen und hatte dabei den Geruch von weißen Federn in der Nase; ein bißchen nämlich, sogar ein bißchen sehr, vermißte er die Comtesse.

Das Floß erschien.



Es kam dem Wolf wenig vertrauenerweckend vor: zu faserig, wie aus Binsen oder Stroh gemacht, auch unförmig, mit zuwenig Tiefgang, aber dafür gelblich golden, eine Theaterbarke mehr als etwas Wirkliches.

In der Mitte, damit er sich draufsetzte, fand sich ein Sessel aus schillernd rötlichen Haaren, die wimmelten, daß Dmitri dachte: Das muß kitzeln. Beeindruckt war er allerdings davon, wie leicht, und mit Mitteln, die man nicht sehen konnte, der Nachen der durchaus heftigen Strömung widerstand und ganz ruhig zu dem Stein gefahren kam, kaum daran stieß und den vorgesehenen Passagier mit Wohlgerüchen lockte: Zimt, Pudermehl, Gummiarabikum.

Das obskure Floß schien sogar Zugang zu Dmitris Erinnerungen zu haben, denn er meinte, etwas vom Duft Clea Doras an den Gerten festzustellen, aus denen man es zusammengebunden hatte. Er hob die linke Vorderpfote, setzte auf, übte Druck aus: Es wankte immer noch nicht. Die rechte Pfote: Es hielt.

So war er schließlich überredet, nicht zuletzt auch aus Heimweh und weil er diesen im Grunde bereits an Katahomenleandraleal gefallenen Kontinent nun wirklich nicht länger bewohnen wollte als unbedingt nötig.



Der Sitz war bequemer, als es den Anschein gehabt hatte. Kein Kitzeln, mehr ein wärmendes Vibrieren.

Dmitri lehnte sich zurück. Der Fahrt fing an. In dem aufgewühlten Wasser brach sich die Gischt mit unebenen Mustern, fallende Regenbogen wurden von dunklem Kielwasser hinter ihm fortgetragen. Zwischen den hohen Gräsern am andern Ufer, erkannte Dmitri blinzelnd und sich wundernd, stand ein alter Orang-Utan mit einem weißen Schild in der Hand. Er winkte dem Wolf langsam, er mußte ihn schon länger beobachtet haben. Auf dem Schild stand ein Symbol, von dem der Wolf leicht erkannte, was es bedeutete: Beeil dich. Ja, dachte der Kurier des Löwen: Sie kommen bald und nehmen uns weg, was wir haben.

Da war nun gar nichts zu machen, und was hieß Beeilung? So lang die Überfahrt dauern würde, so lang dauerte sie eben. Dmitri schloß die Augen und sank in ein vergleichsweise unschuldiges Nickerchen.



Auf den Wellchen, in dem Weichen und recht Vagen, dachte Dmitri Stepanowitsch, er mochte vielleicht gar nicht derjenige sein, der das Zeitalter der Gente noch einmal zusammenhält und seine Zerstörung, Durchseuchung, Zersetzung verhindert, indem er mit langen Reisen ein Netz spinnt, durch das die Feindinnen nicht dringen können. Was, wenn diese Reisen vielmehr nur eine Inventur möglich gemacht hatten, einen abschließenden langen Blick aufs Löwenäon, das wider alles Erwarten kein neues Millennium geworden war, sondern nur ein Intermezzo, in dem sich die Tier- und Pflanzensphäre von den menschenverursachten Verwüstungen ein bißchen hatte erholen dürfen?

Wolf ohne Rudel, letzter Valediktor des Zwischenspiels, vielleicht vorgesehener Verfasser einer Grabrede, weil er davon wußte, was am Werk seines Königs gerecht gewesen war und was nicht.

Da blies ihn das lauteste Nebelhorn, das er je gehört hatte, aus den Nebeln seiner Ahnungen und Planungen. Er hatte eine Menge Häfen besucht, so laut war's nirgends zugegangen; und ein Fahrzeug wie das, welches er jetzt zu sehen bekam, hatte er nie gesehen.

Dieses Eisschiff war weiträumiger als das Reich der Schwanenfrau; die ganze Lewis-Thomas-Anlage in Princeton hätte aufs Zwischendeck gepaßt. Stockwerke, schräge Plattformen, aufeinander aufgesetzt, als könnten sie jederzeit wieder wegrutschen, ausgefrorene Zinnen und Treppen, Vorsprünge und Balkone: eine verfestigte Wolkenburg.

Obwohl der Wolf, der daran emporsah und die Kapitänin erblickte, wie sie in ihrer dicken Eisbärenklaue die Kapitänsmütze schwenkte, um ihn zu begrüßen, sicher wußte, daß dieses Fahrzeug aus verläßlich solidem, auf dieser Welt von nichts zu schmelzendem Substrat gefügt war, kam ihm die zwischen küstennaher Strömung und offenem Ozean verharrende Erscheinung gespenstisch vor, miragehaft, wie aus verfestigten Traumschleiern und — schlieren zurechtgeklobt.



«Sebassus?«brüllte die Kommandantin.»Ich bin Rolfa Patel!«

«Und wer sind die andern?«schrie Dmitri zurück. Er sah schwarze Punkte, mal größer, mal kleiner, die an der ausladenden Architektur des Schiffs herumwuselten, aus Bullaugen guckten, jedes Geländer emporkraxelten oder herunterrutschten.

«Das? Die? Fische mit Beinen und geschrumpfte Pinguine! Meine Crew!«

Wirst nichts Billigeres gefunden haben, dachte der Wolf.

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