Am nächsten Morgen sind die Tauben immer noch da. Philipp fragt sich, ob die Vögel wissen, was am Vortag geschehen ist. Vielleicht hat das Gehirn von Tauben nicht die Kapazität, sich Steinwald und Atamanov zu merken. Vielleicht haben die Tauben die Arbeiter und das Massaker schon wieder vergessen. Philipp hält das für möglich eingedenk einer Behauptung Johannas, daß das Erinnerungsvermögen eines Goldfisches nur für die zurückliegenden zwei Sekunden reicht, nicht einmal für eine Runde im Glas.
Trotz des gestrigen Blutbades klingt das Gurren der Tauben völlig routiniert.
Zu Mittag nieselt es.
— Daß wir so ein Wetter haben, sagt Steinwald.
Er und Atamanov haben in der Früh einen hellblauen, gut halbmeterdicken Schlauch aus Hartplastik installiert, der vom Dachbodenfenster direkt zum Abfallcontainer führt. In diesen Schlauch schaufeln sie den Taubendreck, Ladung um Ladung, so geschwind, daß auch Philipp Lust bekommt, die Ärmel hochzukrempeln und etwas zum Kämpfen zu haben. Er hebt in einem verkrauteten Winkel des Gartens mit dem Spaten ein Loch für die Kadaver der erschlagenen Jungvögel aus. Es sind unglaublich viele. Philipp zählt sie, bis das Zählen seinen Reiz verloren hat, das ist bei fünfundzwanzig. Den Rest kippt er in zwei Eimern hinterher. Dann schaufelt er das Loch wieder zu, stampft die Erde fest und uriniert auf die Profilabdrücke seiner Gummistiefel in der Hoffnung, daß dies die Hunde der Nachbarschaft davon abhalten wird, sich durch seinen ohnehin in schlechtem Zustand befindlichen Garten zu scharren.
Als er zum Container zurückkommt, ist dieser schon beinahe halb voll mit einem teils verkrusteten, teils schmierigen, feuchtklumpigen Brei aus Kot, Federn und Knochen, zwischen denen es von Maden und anderem Ungeziefer nur so wimmelt. Auch ein Nest junger Mäuse macht Philipp aus, was ihn zusätzlich ermuntert, mit der Firma zu telefonieren, die den Container geliefert hat. Er bittet, man möge den Container so rasch wie möglich abholen und einen neuen bringen. Unterdessen saust weiterhin Zeug, von dem er nicht weiß, ob es noch lebt oder nicht, den Schlauch herunter, mit einem raspelnden, scharrenden Geräusch, das ihn beklemmt. Philipp beschließt, Steinwald und Atamanov etwas zum Trinken zu bringen, zur Hebung der Moral. Er steigt mit drei Flaschen Bier zum Dachboden hoch. Er klopft vorsichtshalber, ehe er eintritt. Als die beiden Männer sich ihm zuwenden, ist ihre Zerschlagenheit ohne Pose. Steinwald ist fahl im Gesicht, als ob er aus einem Fernseher mit Grünstich gefallen wäre, er spuckt aus und gesteht Philipp, daß sich diesmal auch er habe übergeben müssen.
— Allerdings nur einmal.
Philipp schaut Atamanov an. Der ist blaß wie immer, starrt auf seine Stiefel und wischt sich mit einem schon durchweichten, schmutzigen Taschentuch den Schweiß vom Nacken. Obwohl Philipp die beiden bestimmt nicht darum gebeten hat, sich eine solche Mühe mit seinem Dachboden zu machen, bekommt er ein schlechtes Gewissen, eine Art beschämtes Klassenbewußtsein bei dem Gedanken, daß die Reichen die Arbeit, wenn sie etwas Schönes wäre, nicht den Armen überlassen würden. Er macht sich ebenfalls ein Bier auf und stößt mit seinen Arbeitern an.
— Auf daß wir weniger Feinde haben, als Tropfen in der Flasche bleiben.
Er trinkt mit großen Schlucken. Einmal ertappt er sich dabei, wie er aus Verlegenheit gemeinsam mit Atamanov hustet. Auch das ist ihm peinlich, und er fängt ziemlich unmotiviert von dem verschwundenen Schutzengel zu reden an.
— Auf dem Sandsteinpodest links von der Auffahrt ist in meiner Kindheit eine Schutzengelfigur gestanden. Möchte wissen, wo die hingekommen ist.
Steinwald geht nicht darauf ein, und Atamanov verschanzt sich mit zuckenden Achseln hinter der Sprachbarriere, die sichere Deckung bietet. Schweigend tritt Atamanov die Kippe seiner Zigarette in den feuchten Schmutz, unter dem die angefaulten Dielen wieder sichtbar geworden sind. Ohne erkennbaren Widerwillen kehren er und Steinwald zu ihrer magenfeindlichen Arbeit zurück.
— Solltet ihr etwas brauchen, laßt es mich wissen.
Philipp verzieht sich. Er steigt einen Stock tiefer ins ehemalige Schlafzimmer seiner Großmutter, dessen zwei Fenster zur südlich gelegenen Seite und hinten hinaus (nach Westen) gehen. Er streckt sich auf der schwächer durchgelegenen Hälfte des Bettes aus und ist ausgesprochen dankbar, daß die Tauben, die am Leben geblieben sind, sich wenigstens vor dem Regen Richtung Stadt geflüchtet haben.
Im Schlafzimmer ist es ruhig. Philipp hört zwar das schneidende Scheuern der Schaufeln auf den Dielen des Dachbodens und manchmal kräftige Schritte, die er mit dunkelgrauen Gummistiefeln in Verbindung bringt. Aber Schritte und Scheuern dringen nur erstickt bis an seine Ohren, fast zur Unkenntlichkeit deformierte Segmente der Wirklichkeit, die in ihrer dumpfen Fieberhaftigkeit auf sein Gemüt drücken, die er aber trotzdem bald vergißt, als er einige Gedanken in sein aktuelles Notizbuch kritzelt.
Als Kind in einer Ehe, die kaputt ist, sollte man zumindest eines lernen (wenn schon nicht Zärtlichkeit und die Fähigkeit zum Gespräch): Den Umgang mit Unsicherheit. In einer schlechten Ehe gibt es keine Kontinuität. Das schärft den Blick für das Unberechenbare. Das sollte einem helfen (Hilfe! Hilfe! S.O.S.), sich im Leben einzurichten.
Sollte. Sollte.
Haha.
Und dennoch: Da fühlt sich einer (ich) zu einer Frau hingezogen (Johanna), die stichhaltige Prognosen abgibt darüber, wie die Dinge einmal sein werden, zu einer Frau, die bestrebt ist, das Maß an täglicher Unsicherheit zu schmälern.
Insgeheim möchte doch jeder wissen, wie die Zukunft sein wird, und sei es nur, damit es in der Gegenwart leichter fällt, sich einzubilden, daß man weiß, was man tut.
Johanna, die Wettersammlerin, der Wetterfrosch (die Wetterhenne?) sagt: Je geistreicher du zu sein versuchst, Philipp, desto mehr rennst du vor dir selbst davon. Deine Klugheit ist dein bevorzugtes Mittel, dich vor dem zu drücken, wofür du deine Klugheit eigentlich verwenden solltest. Du läßt dich mit Vorliebe auf Dinge ein, die harmlos sind und ungefährlich — auf all das, was sich nicht lohnt. Auf all das, was außerhalb deiner Selbst liegt. Du bist ein Feigling. Feiger als ein Stallhase.
Und weiter: Alles, was du machst, ist ein Versuch, Kontrolle zu bewahren. Deine Passivität ist eine strategische Passivität, die dich vor der Gefahr bewahren soll, dich Dingen auszusetzen, die nicht angenehm sind. Dein Vater hat sich die Aufgabe zum Beruf gemacht, die Wahrscheinlichkeit von Verkehrsunfällen zu minimieren, und du versuchst dasselbe in deinem Privatleben. Du glaubst, du kannst den Katastrophen ausweichen oder wenigstens deine Probleme vereinfachen, indem du dich sowenig wie möglich bewegst. Deine Strategie ist es, drei Meter neben der Straße zu stehen, um den Preis, daß das Leben an dir vorbeigeht. Es ist alles nur, damit die Katastrophe ausbleibt.
— Ja, ja, ich hab es eh schon gewußt. Ich hab’s mir eh schon gedacht. Damit die Katastrophe ausbleibt. Stallhase. Würde nicht sagen, daß das etwas Neues ist. Trotzdem danke für die Belehrung.
Der Regen hat nachgelassen. Mit vor Konzentration gespitzten Lippen trägt Philipp einen Bananenkarton mit allerlei Papieren, die er im Zimmer der Großmutter aus den Kommoden gefischt hat, zum Altpapiercontainer vorne an der Straße. Er denkt sich, daß er für das Zeug sehr wohl Interesse hätte, wenn es statt von ihm von den Nachbarn weggeworfen würde. Aber so: Pech gehabt.
Der Container ist bereits randvoll mit Zeug, das ebenfalls er hineingeworfen hat. Er muß den Container nach vorne kippen und einen Fuß mehrmals in die Papiere stoßen, um den nötigen Platz zu schaffen.