Mittwoch, 20. Juni 2001

Am Vormittag haben Steinwald und Atamanov das Hochzeitsgeschenk von Steinwald, die Eheringe, im Motorraum des Mercedes eingeschweißt, angeblich, weil sie mehrere Grenzen und Steuerbehörden fürchten. Jetzt stehen sie in bequemer Haltung neben Philipp, und sehen den Handwerkern zu, die mit Hilfe eines mobilen Krans größere Stellen des Dachs freilegen und Ziegel auf den Schneehaken stapeln. Als der Kran kurzzeitig nicht benötigt wird, räumt Atamanov die Dachrinne aus. Steinwald holt unterdessen eine Axt aus dem Keller. Er will den sehr nahe am Haus stehenden Marillenbaum fällen, damit der Kran auch hinter das Haus fahren kann. Philipp redet ihm nicht drein, ihm ist klar, der Baum steht im Weg. Doch als er sich Richtung Vortreppe verdrückt, denkt er, wie schade es ist, daß auch die Putzbürste verschwinden wird, die im Marillenbaum hängt. Jemand hat sie mit dem Kopf nach oben an einen Ast gebunden, weil der Ast abgestützt werden mußte. Aber der Baum war jung und ist noch fast einen halben Meter gewachsen.

Die Axt schlägt regelmäßig gegen den Stamm. Den Kopf dem Geräusch zugewandt, hört Philipp auf die Schläge und (und) stellt sich dabei vor, wie von den Erschütterungen ein Erdbeben unter dem Haus durchläuft, wie in Atamanovs Zimmer das Bild seiner Braut aufs Gesicht fällt, wie die Schneehaken die Ziegelstapel nicht mehr halten können. Die Ziegel kommen ins Rutschen, schlittern über die Dachkante und regnen entsetzlich auf Philipp herab.

Sein Vater hat wiederholt erzählt, daß er in den fünfziger Jahren bei einem Besuch im Naturhistorischen Museum das stärkste je in Österreich registrierte Erdbeben erlebt habe, ausgerechnet bei den ausgestopften Tieren. Plötzlich hätten sich die Tiere zu bewegen begonnen und seien reihenweise von ihren Stangen, Steinen und Podesten gefallen. Die Scheiben der Vitrinen seien gesprungen, er, Philipps Vater, habe sich nur mühsam auf den Beinen gehalten und Maul und Augen aufgesperrt, weil er gar nicht begriffen habe, was da vorging. Dieser Bericht hat Philipp als Kind tief beeindruckt, der Gedanke an die stürzenden Tiere, die Schneeziege, das javanische Nashorn, der sizilianische Zwergelefant, hat nie aufgehört, ihn zu beeindrucken. Doch mittlerweile ist Philipp überzeugt, daß ihn sein Vater belogen hat. Vermutlich hatte jemand von dem Erdbeben und den Auswirkungen des Erdbebens auf das Naturhistorische Museum erzählt, oder sein Vater hatte davon in der Zeitung gelesen und sich ein paar Details hinzuerfunden. Jedenfalls kann Philipp die Geschichte genausogut als von sich erlebt ausgeben.

Er hört den Marillenbaum fallen. Kurz darauf geht er hinters Haus, um sich ein Bild zu machen, wie die Arbeiten vorankommen. Atamanov steht neben dem Kran und schaut mit den Händen auf dem Rücken zum Dach hinauf, wo die Dachdecker angefaulte Latten ersetzen. Steinwald, den Oberkörper mittlerweile entblößt, den Hut im Nacken, holzt zwischen den stehengebliebenen Bäumen Gestrüpp aus. Eigentlich wollte Philipp Steinwald die Geschichte von den ausgestopften Tieren und dem Erdbeben im Naturhistorischen Museum erzählen, statt dessen schnauzt er ihn an, er solle endlich den Garten in Ruhe lassen. Steinwald hält inne, rührt sich nicht, läuft nur ein wenig rot an. Philipp hat weiterhin Mühe sich zu beherrschen. Mit denen bin ich fertig, denkt er, die legen mich ja doch nur rein (die legen mich ja doch nur rein).

— Ich lasse mir diese Demütigungen nicht länger gefallen. Ihr haut mich in einer Tour übers Ohr.

Steinwald runzelt die Stirn, verblüfft, daß Philipp ihm in einem solchen Tonfall kommt. Er setzt an, etwas zu erwidern. Doch bevor er noch Zeit hat, ein Wort herauszubringen, dreht Philipp ihm den Rücken zu und geht gemessenen Schritts und erhobenen Haupts zur Vortreppe zurück.

Dort ärgert er sich maßlos über sein Verhalten. Noch während er Steinwald angeschnauzt hat, war ihm bewußt, daß der Garten lediglich den nötigen Vorwand liefert, um eine Szene zu machen. In Wahrheit ist er (Philipp) zornig, daß Steinwald und Atamanov ihn bei der Hochzeit in der Ukraine nicht dabeihaben oder ihn nicht mitnehmen wollen; was auch immer. Eine Weile überlegt Philipp, wie er das Vorgefallene wiedergutmachen könnte. Aber es fällt ihm nichts ein, nichts jedenfalls, was er übers Herz bringen würde, ohne nochmals in Zorn zu geraten. Mehrmals steht er von der Treppe auf, lugt um die Hausecke, kann sich aber nicht dazu durchringen, zu Steinwald zu gehen und sich zu entschuldigen. Mürrisch verzieht er sich in den Garten. Neben einem der Stühle lehnt er sich rücklings an die Mauer und beobachtet von dort die Dachdecker, die sich mit schweren Schuhen und kiloweise Werkzeug am Gürtel über die Dachschräge bewegen. Zwei Arbeiter pinkeln auf die neu verlegten Ziegel. Ist wohl ein Ritus, überdies zeitsparend. Man kann den Männern keinen Vorwurf machen. Die Arbeit geht flott voran. Während die Dachdecker ihre Blasen leeren, wird Philipp bewußt, daß er bald allein sein wird: Die Dachdecker weggefahren, Steinwald und Atamanov in der Ukraine. In zwei Tagen reisen sie los. Johanna hat sich in einem Anfall von er weiß nicht was ein neues Fahrrad gekauft, während ihr altes, von ihm repariert, in seiner Garage steht. Johanna läßt sich seit Tagen nicht blicken. Auch die Stimmen der Kinder, die Philipp vor einer Stunde noch gehört hat, sind aus dem Nachbarsgarten verschwunden.

Beim Hören der Kinderstimmen kam es ihm vor, als hätte auch er gestern noch gespielt. Aber jetzt, ohne die Stimmen im Rücken, ist es ihm unerklärlich, wie dieser Eindruck hat entstehen können. Jetzt kommt es ihm vor, als sei er nur ein großer Angeber, der alles erfindet: das Wetter, die Liebe, die Tauben auf dem Dach, seine Großeltern, Eltern und seine Kindheit — die hat er auch (nur) erfunden.

Er kämpft sich zur westlichen Mauer durch, dort versucht er, eine hüfthohe Fichte auszureißen, was ihm aber nicht gelingt, er schürft sich nur die Hände auf. Weil er Steinwald nicht um die Axt bitten will, holt er aus dem Keller einen stumpfen Fuchsschwanz, der beim Sägen ständig steckenbleibt, so daß Philipp sich mehrmals fast das Handgelenk bricht. Er sägt wie ein Verrückter und ist nahe an einem Muskelkrampf, da läßt sich der Stamm endlich brechen. Einige Fasern sind noch zu kappen. Dann geht Philipp mit der Fichte unterm Arm zu Steinwald, hält ihm den Baum entgegen und bittet ihn, dafür zu sorgen, daß die Dachdecker den Baum auf dem First plazieren.

— Ich will am Abend eine kleine Feier veranstalten, der Tag ist es wert, gefeiert zu werden. Das Haus ist ja fast wie neu.

Prepared for the future.

Steinwald schaut Philipp einen Moment lang an, als ob dieser im Fieber rede, dann verlangt er:

— Erst nehmen Sie zurück, was Sie vorhin gesagt haben.

Der Sauhund, fährt es Philipp durch den Kopf, das ist Erpressung. Er atmet tief durch. Der Lumpenhund.

— Ich nehme es zurück.

Steinwald nickt. Er nimmt den Baum, lehnt ihn gegen die Hauswand, tastet sein Hemd ab, das in den Zweigen eines Fliederbusches hängt, und bietet Philipp eine Zigarette an. Sie rauchen wortlos eine Länge. Hinterher geht Philipp ins Haus, bestellt per Telefon Essen und Trinken für fünfzehn Personen, ein paar Raketen, ein paar Fackeln. Anschließend widmet er sich ganz der Aufgabe, möglichst viele Gäste einzuladen.

Johanna sagt, sie habe schon eine Verabredung, überdies seien für die Nacht Regenfälle vorhergesagt.

Philipp fragt, ob das metaphorisch gesprochen sei oder ob sie neuerdings ebenfalls lieber über das Wetter reden wolle.

— Ein Tief herrscht an allen Fronten.

Sie tut den Einwurf mit einem Murren ab und verkündet, daß mit ihr nicht zu rechnen sei, definitiv, unabhängig von der Verabredung möge sie kein Gegrilltes, das erinnere sie zu sehr an ihre erste Ferialarbeit bei der Wiener Messe. Außerdem sei da noch das Kind und der Franzl (und dessen Hosen, Hoden, Finger, Füße, der Schlüssel für das Atelier, das Haus, die Bilder, der Schreibtisch, das Schwarze Kamel und die Stadt).

Und weiter:

— Ich muß morgen früh raus.

Ach so:

— Ich habe schon verstanden.

Gar nichts hat er verstanden. Vor allem mag er es nicht, wenn er sich im Stich gelassen fühlt (hat er noch nie gemocht) und wenn ihm Johanna gleichzeitig das Gefühl vermittelt, er rücke ihr auf den Pelz, er falle ihr auf die Nerven. Falle. Falle. Wie die Fliege ins Mus, wie der betrunkene Bauer ins Wirtshaus.

Vor Weihnachten stellte er Johanna zur Rede. Da konterte sie:

— Ich glaube, du verwechselst öfters mal deine eigene Ablehnung mit Abgelehntsein.

— Aha?

— Scharf beobachtet, was? Bestimmt hast du in dieser Form noch gar nicht darüber nachgedacht.

Ehe er sich auch diesmal eine solch deprimierende Replik einhandelt, sagt er lieber nichts. Lieber. Lieber behauptet er, Johanna, bevor ich’s vergesse, das anzukündigen: Daß er beschlossen habe, mit Steinwald und Atamanov in die Ukraine zu fahren.

— In zwei Tagen geht es los.

Johanna tut verblüfft:

— Aha, sagt sie. Und: Was in aller Welt, so kenne ich dich gar nicht, so kurzentschlossen.

Pause. Sehr aufgeladen. Philipp sagt:

— Wer keine Freunde hat, ist sich selbst ein Feind.

Pause, neuerlich aufgeladen (distanziert, erstaunt, verzweifelt, überlegen).

— Hast du schon ein Hochzeitsgeschenk gekauft, und wenn, was für eines?

Schweigen. Kann mitzählen. Philipp fällt auf, daß bei den neuen Telefonen kein Rauschen mehr in der Leitung ist.

Johanna lacht (amüsiert?):

— Das hätte ich mir denken können, daß ich dir zwei Arbeiter schicke, die dir den Rücken freihalten sollen für die Familienfront, und du verwendest die freigewordene Energie dafür, diesen trostlosen Figuren hinterherzulaufen. Da kann ich nur sagen, viel Glück. Hoffentlich holst du dir bei den beiden eine Injektion Tatendrang in Sachen Scheiße beiseite räumen.

Nachdem Philipp auch auf diese grimmige Analyse (seiner Torheit seiner Tragik seiner sozialen Krankheit?) nicht reagiert hat, weil ihn der Abschied, der gleich zu leisten sein wird, schon im voraus anstrengt, beendet Johanna das Gespräch mit der Aufforderung, er solle bei Gelegenheit erwachsen werden oder schauen, wo er bleibe.

So, das war wieder nötig.

— Ciao.

— Baba.

Vielleicht, denkt Philipp, ist das hervorragendste Merkmal des Erwachsenwerdens, daß man systematisch die Zuversicht verliert, das Blatt könne sich jeden Moment zum Guten wenden. Er ist auf dem besten Weg. Auch die Hoffnung, daß zu der Firstfeier Gäste kommen, ist mit einmal sehr gedämpft. Er sagt sich, Johanna müßte laut Beifall klatschen, wenn sie die Lustlosigkeit sehen könnte, mit der er zur Gartenmauer trabt.

Bei Johannas letztem Besuch vor über einer Woche haben sie in der Früh, nachdem der rote Mercedes aus der Einfahrt gebogen war, ein Bad genommen. Johanna auf der Frauenseite, so nennt sie den bequemeren Teil der Wanne, dessen Ende abgeflacht ausläuft, Philipp mit dem fingerdick gerippten Drehgriff zum Regulieren des Abflusses im Kreuz. Sie redeten über Johannas Arbeit beim Fernsehen und über Philipps Großmutter, die im hohen Alter ihr Englisch noch mal aufgefrischt hatte. Unterdessen wusch Philipp Johanna zweimal die Haare mit einem Lindenblütenshampoo, dem sie bescheinigte, daß es gut rieche. Sie wollte, daß Philipp ebenfalls sage, daß es gut rieche. Sie saß vor ihm, zwischen seinen Beinen. Er spülte ihr den Schaum aus den Haaren und hob die Haare an, damit er mit dem Strahl, der aus dem Duschkopf kam, auch ihren Nacken erreichte. Wasser floß gurgelnd in den Überlauf, weil Johanna Wellen erzeugte, indem sie rasch die Beine immer wieder öffnete und schloß. Philipp sagte, das Gurgeln höre sich an, als seien Gespenster unter der Wanne. Johanna lachte. Auch Philipp lachte. Gleich darauf stieg er aus der Wanne, um Platz zu machen, was das Gurgeln verstummen ließ, obwohl Johanna mit dem Öffnen und Schließen der Beine fortfuhr. Philipp war ganz schmierig von dem Zeug, das sich während der letzten halben Stunde im Wasser aufgelöst hatte, und da die Handtücher am Vortag in der Schmutzwäsche gelandet waren, rutschte er auf dem Badvorleger ins Schlafzimmer der Großmutter, wo frische Handtücher lagerten. Als er von dort zurückkam, stand Johanna aufrecht in der Wanne, unglaublich groß und breit und weit weg, strahlend von einem Glück, das ihm nicht in den Schädel wollte. Sie wrang mit beiden Händen ihr Haar aus.

Philipp steht auf dem letzten der Stühle an der Gartenmauer und horcht mit angehaltenem Atem.

Aber die Abwesenheit der Nachbarn ist weiterhin skandalös.

Er geht zu Frau Puwein und bringt ihr Kirschen. Auch Herr Prikopa sei herzlich eingeladen. Er führt drei Telefonate mit der Post in der Absicht, die Postbotin ausfindig zu machen. Doch man weigert sich wiederholt, ihm über den Nachnamen der Frau Auskunft zu geben.

Er ruft einen Kollegen an. Dort nimmt niemand ab.

Er ruft seinen Vater an. Der ist zu Hause.

— Erlach.

— Hallo Papa, ich bin’s, Philipp.

— Was für eine Überraschung. Ich staune. Ich staune.

— Wie geht es dir?

— Ich kann nicht klagen. Und dir?

— Die Dachdecker sind gerade da. Sie bessern das Dach aus.

— Dann bist du fleißig?

— Wenn man es so nennen will. Und du?

— Ich habe die Lizenzen, die ich heute mit der Post zurückerhalten habe, in einen Ordner abgelegt. Sie stellen das Spiel mit Ende des Jahres ein.

Wer kennt Österreich?

— Nach einundvierzig Jahren. Plus der Jahre, die ich das Spiel in Eigenregie vertrieben habe.

— Wenn ich an Österreich denke in der Nacht.

— Schade, ja.

— Papa, ich mache heute abend eine kleine Grillfeier. Willst du kommen? Dann unterhalten wir uns darüber.

— Kenne ich jemanden? Außer dir?

— Frau Puwein?

— Sagt mir nichts.

— Herrn Prikopa?

— Der vom Fernsehen? Sachen zum Lachen?

— Ist der nicht schon tot?

— Einen anderen Prikopa kenne ich nicht.

Funkstille.

— Ich glaube, ich würde es vorziehen, daheim zu bleiben. Trotzdem danke, daß du an mich gedacht hast. Du nimmst es doch nicht persönlich?

— Warum sollte ich es persönlich nehmen?

— Dann ist ja gut.

— Ist es traurig für dich, daß sie das Spiel einstellen?

— Ein wenig. Nicht sehr.

Funkstille.

— Weißt du, in der allerersten Ausgabe von dem Spiel lautete die letzte Spielregel: Der Verlierer darf nicht lachen. Das fand ich mit Anfang zwanzig originell. Als ob in Österreich je jemand gelacht hat, wenn er unter den Verlierern war. Man war ja nahezu immer unter den Verlierern. Heute, wenn ich das Fernsehen andrehe, und ich sehe diese Shows mit jungen Leuten, die sich einsperren lassen, ist es genau das Gegenteil. Wer verliert, tritt vor die Kamera und sagt, danke sehr herzlich, es war toll, ich bin stolz, derselbe geblieben zu sein. Das leuchtet mir nicht ein. Wenn ich verloren habe, war ich hinterher immer ein anderer. Ich habe nie gern verloren. Das Verlieren hat mir nie sonderlich gutgetan.

Funkstille.

— Nur Idioten verlieren nie, sagt Philipp.

— Das Spiel hätte man nochmals modernisieren können. Andererseits, was soll’s, es ist vorbei. Habe ich dir je erzählt, daß DKT vor dem Krieg Spekulation geheißen hat und daß die Nazis es verbieten wollten, weil sie gegen das Geld eingestellt waren? Da hat man das Spiel kurzerhand in Das kaufmännische Talent umgetauft, das klang nach Fortbildung und ist noch heute erfolgreich. Die Deutschen nennen es ohne Genierer Monopoly.

Wer kennt Österreich? klingt ebenfalls nach Fortbildung.

— Ist auch Fortbildung. Na, wie schon gesagt: Vorbei. Mach dir keine Gedanken um mich. Vielleicht ist es tatsächlich nicht sonderlich wichtig, daß die Leute wissen, wie man am schnellsten von Kufstein nach Bruck an der Leitha gelangt. Es ist ja auch mit mir so, um ehrlich zu sein: Ich will lieber zu Hause bleiben. Okay? Ich leg mich wieder nieder. Nett, daß du angerufen hast, Philipp.

— Ja, du, in dem Fall.

— Und sei mir nicht böse, daß ich nicht komme. Es riecht irgendwie nach Regen.

— Das sagt auch Johanna.

— Die Johanna von vor —?

— Ja, die.

— Siehst du sie hin und wieder?

Hin und wieder trifft es ziemlich genau.

— Ich wollte nicht neugierig sein.

— Ist schon okay.

— Also, bleib gesund.

— Du auch.

Philipp legt den Hörer auf. Er geht raus vor die Tür, wo gerade das Essen zugestellt wird, und wirft ein Fischfilet neben die Vortreppe. Das Filet ist für die Katze bestimmt, die sich seit zwei Tagen ebenfalls rar macht (weil sie im Dachboden vom Rattentod gefressen und ihr Lebensgeschäft in einem Schrank der oberen Diele zum Abschluß gebracht hat — aber das weiß Philipp noch nicht). Er rammt die Fackeln in den Boden, legt ein Stromkabel in den Garten und setzt die Hochzeitsmusik in Gang. Sogar den Küchentisch schleppt er ins Freie und bedeckt ihn mit einem weißen Tischtuch, damit das Ganze nach etwas aussieht. Dann besteigt er neuerlich die Stühle bei der Mauer in der Hoffnung, den wenigen Gästen, die ihr Kommen zugesagt haben, noch welche hinzuzufügen.

Der ältere Herr, der ihn vor einigen Wochen mit der Drahtbürste bedroht hat, pflückt Himbeeren. Philipp macht auf sich aufmerksam, indem er einen guten Abend wünscht. Der Mann dreht sich Philipp zu, mißt ihn mit einem gründlichen Blick. Philipp zweifelt im ersten Moment, ob der Mann ihn erkennt. Immerhin trug Philipp bei der bisher einzigen Begegnung eine Gasmaske und eine Schutzbrille. Nach einer langen Sekunde, während der Philipp Rauchgeruch von seinem Grill wahrzunehmen glaubt und eine kurze Hoffnung spürt, die ihn irritiert, weil nicht der leiseste Anlaß besteht, sich Hoffnungen zu machen, grüßt der Nachbar retour, nicht sonderlich freundlich, auch nicht sonderlich unfreundlich, aber in einer Art demonstrativer Geduldsausübung, die Philipp begreifen läßt, daß alle über ihn Bescheid wissen. Er würde am liebsten auch diesmal die Gasmaske und die Schutzbrille vor dem Gesicht tragen oder gleich ein vor Mund und Nase gebundenes Taschentuch. Er schaut den Nachbarn an, gekränkt, beleidigt, voller Unbehagen und doch auch, obwohl er nach außen hin ruhig bleibt, um Mitleid heischend, innerlich auf Knien vor dem nachbarlichen Gegenüber, dessen Gedanken klar vor Philipps Augen stehen: Das also ist die nächste Generation, dieser kleine Spion und Abweichler, er hat das Klettern am Stammbaum einer windschiefen Familie erlernt, und jetzt nutzt er die so erworbenen Fähigkeiten, um auf Stühle zu steigen, die entlang seiner Gartenmauer stehen. Philipp beginnt zu reden. Der Mann nimmt seine Beschäftigung wieder auf, hört aber, was durch gelegentliches Aufblicken signalisiert wird, in aller Ruhe zu, was Philipp vorzubringen hat: Daß er den Mann zu einer Grillparty einlade, ihn und die Familie, die Tochter.

— Sie ist doch Ihre Tochter? fragt Philipp und spürt, daß seine Ohren glühen.

— Ja, antwortet der Nachbar in hölzernem Ton und schaut Philipp ohne große Neugier an, ob dieser noch etwas mitzuteilen hat.

Da Philipp nichts Besseres einfällt, fügt er hinzu:

— Ich habe sie kennengelernt. Sie erwartet Zwillinge.

Der Mann nickt, aber so, als würde er eigentlich lieber den Kopf schütteln, was er nur aus Höflichkeit unterläßt. Spätestens jetzt ist auch für Philipp nicht mehr zu leugnen, daß das Gespräch die Grenze zur Peinlichkeit überschritten hat.

— Würde mich sehr freuen, wenn Sie kämen, sagt er rasch und meint es in dem Moment auch so. Und ob er Kirschen wolle, er habe jede Menge Kirschen. Nein, er habe eigene, sagt der Mann und deutet auf einen Baum hinter ihm, der voller Früchte hängt.

Der Mann entfernt sich Richtung Haus. Präziser: Er läßt Philipp stehen.

Der seinerseits geht zum Vorplatz zurück, wo Atamanov in der Glut des Grills stochert und Steinwald bei den lachenden Dachdeckern steht und zuschaut, wie die von Philipp gefällte Fichte am Dachfirst befestigt wird. Philipp freut sich, daß die Dachdecker so guter Laune sind.

Einer ruft:

— Der Hut steht dem Baum ohnehin besser als dir, für deinen Schädel ist er zu klein.

Erst in dem Moment begreift Philipp, daß Steinwalds Hut über den Terminaltrieb des Baumes gestülpt ist und auf diese Weise das Hausdach krönt. Steinwald protestiert nicht, lacht auch zaghaft. Aber die Ringe um seine Augen sind plötzlich sichtbarer als sonst, seine Mundwinkel sind etwas herabgezogen und die Schultern zurückgeschmissen. Er weiß offensichtlich nicht, wie er sich verhalten soll. Ein wenig ist es, als schäme er sich des Abdrucks in seinem fettigen Haar, der zeigt, wo der Hut gesessen ist. Er reibt sich wiederholt den Kopf. Einer der Dachdecker beobachtet ihn dabei und sagt zur prompten Bestätigung des Sprichworts vom Schaden und dem Spott:

— Paß bloß auf, daß du keine Phantomschmerzen bekommst.

Steinwald schmäht den Dachdecker und einen dicht neben dem Mann stehenden Lehrling mit einigen hinter den Zähnen gemurmelten Schimpfwörtern. Er spuckt aus. Gleichzeitig wird der Arm des Krans eingefahren. Weiterhin lachend kommen die Dachdecker zum Grill, um zu sehen, was es zu essen gibt.

Sie nehmen sich die ersten Würstchen, öffnen sich schnell mit Hilfe ihrer Feuerzeuge Bier, lecken die Tropfen vom Flaschenhals, springen in den Kranlastwagen und fahren davon, noch ehe die nächsten Gäste eingetroffen sind. Philipp wartet gemeinsam mit Steinwald und Atamanov, ohne viel zu reden (wie meistens) oder besser, Steinwald und Atamanov reden anfallsweise. Philipp hingegen ist nicht nach Reden, weil er Angst hat, daß mit dem Reden etwas kommt, das ihm sagt, wie schlimm es wirklich steht. Es wird allmählich diesig. Ein paar Dämmerungsstrahlen über dem Wienerwald, wo einige Wolken das Licht über dem Horizont auffächern. Dann treten Frau Puwein und Herr Prikopa durch das Tor der Einfahrt und überreichen Philipp eine Flasche Wein, die in Geschenkpapier eingepackt ist, Strohblumenköpfe auf blauem Grund. Philipp könnte sich nichts annähernd so Trostloses ausdenken wie eine Flasche Wein in Geschenkpapier mit einer goldenen Schleife um den Hals. Jetzt, jetzt so richtig, spürt er, wie erbärmlich alles ist, und wenn nicht alles, dann doch so viel, daß der Rest nicht weniger erbärmlich dasteht als das übrige. Er ist nahe daran, die Flasche gegen das Podest zu schmettern und sich mit Flüchen von seiner eigenen Feier zu verabschieden: Nur weg, unter die Bettdecke, ins Kopfkissen beißen. Manchmal tut es einfach gut, ins Kopfkissen zu beißen. Doch da er nicht einmal dazu den Mut aufbringt, wartet er noch eine Stunde, bis ein paar Sterne zu sehen sind. Dann zieht er seine Zigarette ordentlich in Brand und zündet in der Hoffnung, dem Abend auf diese Weise eine andere Richtung geben zu können, sämtliche Raketen, die er geliefert bekommen hat. Sie steigen pfeifend hoch, explodieren mit lautem Knall und werfen farbiges Licht über den Garten, über das Haus, über die Fichte mit Steinwalds Hut, über seine Nachbarn.

Die Stimmung bleibt dieselbe.

Steinwald ist unverändert schlechter Laune, die er in seiner eckigen Art mit entsprechend großem Talent demonstriert. Trübselig, kopfschüttelnd, mit sauertöpfischer Miene wirft er Fleisch und Paprikahälften auf den Grill und sieht sich ständig nach Stellen um, wo er noch nicht hingespuckt hat. Wenn Philipp Steinwalds Blick sucht, mustert ihn der verdrossen, ohne zu verhehlen, daß Philipp eine aufs Maul riskiert, sollte es ihm einfallen, etwas Falsches zu sagen. Als Philipp von Steinwald wissen will, woher der seinen Anzug habe — einen allzu weiten und beigen Anzug mit großen Brusttaschen, der Philipp an asiatische Diktatoren erinnert —, murmelt Steinwald unverständliche Worte, die er auf Nachfrage nicht zu wiederholen bereit ist, weshalb Philipp sich den Sinn zusammenreimen muß (Philipps Mutter soll oft gesagt haben: Man kann nur die Faust machen und still sein). Selbst Frau Puwein gegenüber, mit der sich Steinwald beim letzten Mal so gut unterhalten hat, neigt Steinwald zur Kürze, und zwar mit solchem Nachdruck, daß Frau Puwein den Versuch, Steinwald aus seiner Verschanzung zu locken, bald aufgibt. Sie wendet sich Philipp zu und erzählt (ob er es wissen will oder nicht — er will es nicht, weil ihm diese Kleinigkeiten vor Augen halten, wie wenig er weiß, wie wenig er bekommen hat, wie viel er bräuchte, nach wie vor braucht und weiterhin nicht bekommt): Von Alma Sterk, seiner Großmutter, die ihren Enkeln nie einen Vorwurf gemacht habe, daß sie sich nicht blicken ließen, und von Ingrid Sterk, seiner Mutter, als diese noch ein Kind war, bildhübsch, und wie schade, daß Ingrid so jung gestorben sei, und daß die Frage, weshalb Ingrid nicht einfach aus dem Armreif geschlüpft ist, sich nie geklärt habe (no na).

Philipp tut sein möglichstes, Frau Puweins Mitteilungsbedürfnis zu zügeln. Sie ist grausam ausführlich in ihren Erinnerungen. Während sich in ihrem Gehirn die verschiedensten Zusammenhänge und nur selten Spuren der Verflüchtigung finden, überlegt Philipp, warum er diese gattungsmäßig typischen, eher durchschnittlich anmutenden Kindheitsepisoden nicht hören will und warum sie ihm beliebig vorkommen, zufällig, irgendwie beschämend. Frau Puwein berichtet weitschweifig, wie Ingrid sich als Elfjährige zum Ziel gesetzt habe, die komplette Besetzung des Schönbrunner Tiergartens aus Kastanien und Zahnstochern nachzubilden, und weiter, daß sie, Ingrid, zu dieser Zeit bis über beide Ohren in ihren, Frau Puweins, Sohn Manfred verliebt gewesen sei, den Fredl.

— Sie hat ihm Liebesbriefe geschrieben. Der Fredl sagt, einen der Briefe besitze er noch.

Das geht Philipp endgültig zu weit. Ehe Frau Puwein sich in weiteren Details ergehen kann, nutzt er die von einem sentimentalen Erinnerungslachen Frau Puweins markierte Unterbrechung, um das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu lenken. Konkret: Er erkundigt sich nach der Ganggenauigkeit der Pendeluhr, die er Frau Puwein überlassen hat.

Frau Puwein, so kommt es ihm vor, glaubt, er wolle die Uhr zurückfordern. Sie gibt ausweichende Antworten, das spiele keine Rolle, ein paar Minuten vor oder zurück, mehr oder weniger, früher oder später, was mache das schon. Gleich darauf verabschiedet sie sich höflich unter dringendem Hinweis auf das Wetter, das schlecht zu werden drohe. Tatsächlich fahren einige schwere Wolken heran.

— Machen Sie sich keine Sorgen, das zieht trocken vorüber, sagt Philipp.

Frau Puwein und Herr Prikopa argumentieren mit Gründen, die bis zum Ende der Woche ausreichen würden, um sich als entschuldigt zu betrachten. Sie haken sich einer beim andern ein, streben schlurfend, ohne sich ein einziges Mal umzusehen, dem Ende der Auffahrt zu und verschwinden durch das Tor und hinter der Mauer.

Philipp bleibt mit Steinwald und Atamanov allein. Da stehen sie: eins, zwo, drei. Und Philipp denkt, so sehen keine intakten Persönlichkeiten aus. Man muß nur genau hinsehen, dann sieht man, das ist keine Unabhängigkeitserklärung, das ist nicht die Rettung von drei Leben, das ist ein Fiasko, das sind drei traurige Gestalten mit der grundlosen Hoffnung, daß es Hoffnung gibt, in der schmerzhaften Erkenntnis, daß nichts geblieben ist, wie es war, und auch nichts bleiben soll, wie es ist.

— Nehmt ihr mich mit? Wenn ihr übermorgen fahrt? fragt Philipp im vagen Gefühl, daß die Gelegenheit jetzt, bei allem Stolz und bei aller Scham, die er empfindet, halbwegs erträglich ist. Gleich wird es anfangen zu regnen, ganz so, wie Johanna es vorhergesagt hat. Die Sterne, nach denen sich die Schiffe richten, sind vom Himmel entfernt. Wind kommt auf, die Brise, die alles verändern kann. Es blitzt schon. Glutfäden stürzen, sich verästelnd, aus den Wolken, deren Bäuche gelbe Falten zeigen. Sekunden später fällt das Donnergrollen wie ein Haufen Steine in den Nachbarsgarten, und in Philipps Garten vibriert das Grollen im Boden nach.

Steinwald schaut Atamanov an, sie wechseln ein paar Worte, die Philipp nicht versteht. Philipp stürzt ohne jeden Halt in eine Leere, die nichts Erleichterndes hat. Er fühlt sich einsam, und sowenig er es zugeben kann: er ist es auch. Ein Autoscheinwerfer kriecht in der Einfahrt vorbei. Philipp schaut in diese Richtung. Schon ist auch vom Geräusch des Wagens nichts mehr zu hören. Die Dunkelheit zieht sich wieder zusammen, ist jetzt dichter als zuvor. Steinwald und Atamanov beratschlagen sich noch immer. Philipp steckt die Hände in die Hosentaschen, um gewappnet zu sein. Die beiden nicken einander zu. Für eine Sekunde glaubt Philipp, den Anlaß, weshalb Steinwald und Atamanov nicken könnten, bereits wieder vergessen zu haben. Sie nicken und drucksen heraus:

— Oh, wir wußten nicht, ja, ja, natürlich, wir hätten nicht gedacht.

— Heißt das ja?

— Ja.

Er würde mitfahren können, wahrhaftig. Und obwohl er sich aufdrängen mußte, um diese Gunst zu erringen, freut er sich oder ist zumindest froh, sei’s, weil er statt Gehilfen Gefährten haben, sei’s, weil er für einige Tage dazugehören wird, was er schon seit einiger Zeit nicht mehr empfunden hat. Zwar spürt er auch die Unsicherheit, in die er sich begibt und von der da draußen, in anderen Wetterlagen, wahrscheinlich mehr auf ihn wartet, als er sich vorstellen kann (und seine Vorstellung reicht weit, schon von Berufs wegen). Trotzdem würde er am liebsten unverzüglich ins Haus laufen und mit dem Packen beginnen: Reisepaß, ein Zwischenstecker, Augentropfen, gute Medikamente gegen Durchfall, gegen Alkoholintoxikation — er muß Johanna anrufen, ob sie Empfehlungen hat.

Ja, sicher, mein Lieber: Einen Reisenden soll man nicht aufhalten.

Danke.

Steinwald schlägt die rechte Faust in die offene Linke und verkündet, daß er seinen Hut vom Dach holen müsse, trotz des heraufziehenden Wetters, trotz der Finsternis dieser gärenden Sommernacht. Trotz des staubigen Blaus, das der Vorplatz den Blitzen zurückwirft. Wind kommt auf. In wenigen Stunden, noch vor Morgengrauen, so Steinwald, werde sich der Hut in Böhmen befinden (und wenn nicht in Böhmen, dann bei den Nachbarn, die zu der Feier nicht erschienen sind). Steinwald schleppt mit Atamanovs Hilfe die längste Leiter herbei, die hinter der Garage zu finden ist. Aber die Leiter reicht nur bis knapp unter die Dachrinne. Steinwald knirscht mit den Zähnen. Philipp merkt, daß Steinwald sich nicht so leicht geschlagen geben will. Also regt er an, die Leiter in den Kofferraum des Mercedes zu stellen, in den Kofferraum des Mercedes, in dem er bald mitfahren wird, übermorgen schon.

— So kann die Leiter um den fehlenden halben Meter verlängert werden, außerdem hat die Leiter im Kofferraum mehr Halt.

Steinwald schaut Philipp erstaunt von der Seite an, aha, soll das heißen, so dumm, wie ich gedacht habe, ist der Mensch ja gar nicht. Er lobt Philipps Sinn für das Praktische. Philipp freut sich mit großen, glänzenden Augen. Steinwald parkiert den Wagen um, steckt sich die Hosen in die Socken, hängt die Jacke über die offene Wagentür. Dann steigt er mit großer Behendigkeit die Leiter hoch. Und Philipp hinterher. Einfach drauflos. Aus so vielen Gründen, von denen einer den andern so unklar macht, daß Philipp am Ende nicht weiß weshalb. Er arbeitet sich von Schneehaken zu Schneehaken, er will bis ganz hinauf, soviel steht fest, er will bis hinauf zum Giebel und und — die unter ihm wankende Stadt gründlich auspfeifen!

Aber dann sitzt er rittlings über dem frisch reparierten First und freut sich nur, verblüfft über den Wirrwarr, in dem er sich befindet, höchst erstaunt über eine ängstliche, ihn gleichzeitig beschämende Glücksempfindung, die ihn nach links und rechts blicken läßt, verwirrt von den dunklen, übereinander- und hintereinandergeschichteten Dächern der Nachbarhäuser, angezogen von den Lichtern der Stadt und von Steinwalds Gesicht.

Steinwald sitzt ihm gegenüber, den Hut hat er kurz inspiziert und ausgeklopft. Jetzt trägt er ihn wieder am Kopf, eine Hand an der Krempe, vornübergebeugt, so daß ihm der Wind den Hut auf die Ohren drückt, statt ihn von dort wegzublasen. Steinwalds Traurigkeit ist verflogen. Er mustert Philipp, wie dieser ihn. Philipp scheint es, Steinwald ist zufrieden. Die Hochzeitsmusik spielt, sie flattert vom Wind zerfetzt durch den Garten und über dem Garten, den Philipp jetzt gut überschauen kann. Beim Podest des Schutzengels, wo das Feuer zweier Fackeln zuckt, übt Atamanov mit sauberen Bewegungen einige Tanzschritte, er singt dazu. Seine Stimme ist am Dach nur selten und in Bruchstücken zu hören, weil die Töne in alle Richtungen zerstieben. Die ersten Tropfen fallen und verdichten sich rasch. Der Wind läßt kurzfristig nach, frischt gleich wieder auf, wird kräftiger als zuvor. Philipps T-Shirt flattert an der Brust. Aber er sitzt fest im Sattel. Er drückt die Beine an das Hausdach, reckt seine Zwei-Hüftumschwung-Arme in die Höhe und schaut in die Wolken, die vorüberziehen.

Gleich wird Philipp auf dem Giebel seines Großelternhauses in die Welt hinausreiten, in diesen überraschend weitläufigen Parcours. Alle Vorbereitungen sind getroffen, die Karten studiert, alles abgebrochen, aufgeräumt, auseinandergezerrt, geschoben, gerückt, gerüstet. Er wird reisen mit seinen Gefährten, für die er ein Fremder ist und bleibt, gleich geht es dahin auf den wenig stabilen Straßen der ukrainischen Südsee, gleich geht es dahin durch Moraste und über Abgründe. Er wird von den Dieben verfolgt sein, die ihn schon sein Leben lang verfolgen. Aber diesmal wird er schneller sein. Er wird den Löwen und Drachen auf den Kopf treten, singen und schreien (schreien bestimmt) und ungemein lachen (ja? sicher?), den Regen trinken (schon möglich) und — und über — — über die Liebe nachdenken.

Er winkt zum Abschied.

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