Sie weiß auch nicht, warum die Leute in der Nacht sterben. Sie selbst ist in der Nacht immer wie erschlagen, da kann sie sich nicht konzentrieren und richtig mitarbeiten. Außerdem erfaßt sie den Schrecken, wenn so ein Leben zu Ende geht, in der Nacht besonders gut, während tagsüber eine gewisse Gelassenheit bleibt. Sie mag die Nacht nicht sonderlich. Bei Tag ist alles schöner.
Ingrid ruft bei Frau Grauböck zu Hause an, es nimmt niemand ab. Doch zehn Minuten später kommt ein Anruf von Herrn Grauböck, ob etwas sei. Nachdem Ingrid ihn über den schlechten Zustand seiner Frau informiert hat, fragt er, ob er mit den Kindern kommen dürfe.
Rasch schieben die Schwestern die anderen Patientinnen auf den Gang und wiegeln deren neugierige Fragen ab. Im Stationszimmer findet Ingrid zwei Sträuße übriggebliebener Blumen, die sie in das Zimmer zu Frau Grauböck stellt. Die Atmung von Frau Grauböck ist jetzt feucht und rasselnd, als drücke eine ungeheure Last auf den Brustkorb. Ingrid saugt der Sterbenden den Rachen ab, gibt ihr eine letzte subkutane Dosis Morphium. Sie kippt vorsorglich das Fenster, damit es nicht allzusehr riecht.
Der Tod, eine knappe Stunde später, wird dadurch nicht verdaulicher. Die düsteren Zeremonien (rund ums Bett knien, Kerzen anzünden, das Psalmodieren von Sätzen im Konjunktiv der Vergangenheitsform) setzen Ingrid auch diesmal hart zu. Und dann eine zyanotische, fast schwarze Leiche, wie auch Ingrid noch nie eine gesehen hat, und das Zusammenbrechen der Angehörigen, als hätte der Herzschlag der jungen Frau mehr als nur ihren eigenen Körper in Gang gehalten. Schwester Gitti kümmert sich um den Mann, einen kleinen Beamten mit krausen Haaren. Ingrid nimmt sich der Kinder an, die neun, zehn und vierzehn sind. Es ist erschütternd. Alle heulen. Und obwohl das erfahrungsgemäß besser ist als das Betäubtsein, das dann wochen- und monatelang anhält, geht es Ingrid so nahe, daß auch sie weinen muß. Sie liegt sich mit der älteren Tochter von Frau Grauböck in den Armen, bis sie beide wieder ruhiger sind. Ingrid holt mehrmals tief Atem, es ist, als sei sie heftig gerannt. Dann schickt sie die Angehörigen hinaus, damit sie die Formalitäten erledigen kann. Sie leuchtet der Toten in die Pupillen, die trüb und entrundet sind, prüft mit dem Stethoskop die Herzaktion, dabei hat sie die Augen geschlossen, um sich besser zu konzentrieren. Wie meistens hört sie auch diesmal nicht nichts, sondern dumpf die Geräusche draußen vom Gang, die im stillen Körper der Toten widerzuhallen scheinen; was ein wenig gespenstisch ist, beunruhigend und tröstend zugleich, aber auch gespenstisch. Ingrid veranlaßt den Transport der Leiche in den Keller. Sie redet nochmals mit Herrn Grauböck, der sich vielmals für Ingrids Engagement bedankt. Um halb fünf, nach anderthalb Stunden auf vorgeschobenem Posten, als die Angehörigen nach Hause gefahren sind, kann auch Ingrid sich ins Schwesternzimmer verziehen und um einen Kaffee bitten. Sie zündet sich eine Zigarette an, rutscht am Stuhl so weit es geht nach vorne und streckt die Beine aus. So sitzt sie, trinkt, raucht, starrt geradeaus auf die Wand und horcht auf das kratzende Geräusch der Füllfeder von Schwester Bärbel, die ihr Tagebuch schreibt. Auf dem Gang die schlurfenden Schritte eines Patienten, der seine senile Bettflucht auslebt, und geraume Zeit später die quietschenden Räder am Karren der Putzfrau, die kommt, um den Boden feucht aufzuwischen. Ingrid fällt auf, das Gebläse im Schwesternzimmer ist total laut.
Von fünf bis sieben schläft Ingrid. Zuletzt träumt sie, daß sie eine Leiche beiseite schaffen muß, eine grausliche Angelegenheit. Entsprechend ist die Stimmung, als sie vom Krachen des Schneepflugs unten im Hof erwacht. Obwohl es noch dunkel ist, strahlt der Schnee ein wenig Helligkeit in den kleinen Raum, so daß Ingrid ohne Licht aufstehen kann. Sie putzt gerade die Zähne, als das Telefon sein Klingeln gegen die Metallspinde wirft. Es ist Schwester Bärbel, die wissen will, ob es Ingrid gutgeht. Ingrid rennt rüber und hilft Blut abnehmen. War noch was? Wie ist der Zustand der anderen? Frau Mikesch, den Kopf auf der rosaroten Spitzenkrause des Nachthemds, verweigert beharrlich die Blutabnahme, einerseits (Ingrids Eindruck) weil Frau Mikesch diese Weigerung für ihre Psyche braucht und daraus die Energie zum Gesundwerden zieht, andererseits um einen Anlaß zu schaffen, der Ingrid nötigen soll, sich auf Frau Mikeschs endloses Reden einzulassen (auch das zu therapeutischem Zweck). Ingrid läßt Frau Mikesch grantig in ihrem Bett sitzen und verrichtet den Rest der anstehenden Arbeit. Anschließend trinkt sie eine Tasse schwarzen Kaffee und berichtet den Kollegen, die den Dienst antreten, von den Vorkommnissen der vergangenen Nacht: Frau Grauböck gestorben, ihr Tod eine Katastrophe. Frau Mikesch eine Nervensäge.
Oberarzt Doktor Kalvach streichelt Ingrid die Haare, was Ingrid als Ausdruck größten Wohlwollens auffaßt. So was hat Kalvach bisher nie getan, und es ist väterlich gemeint. Ingrid freut sich darüber. Kollegin Ladurner gibt sich derweil die Blöße, allen zu erzählen, daß sie auf ihren Mann grantig ist und deshalb später nach Hause kommen will, um ihm selbiges heimzuzahlen. Kindisch. Ingrid würde so was nie betreiben. Aber es kann ihr recht sein, daß Kollegin Ladurner drauf aus ist, ihre Eheprobleme mit Arbeit suffizient zu therapieren, da braucht sie selbst kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn sie das Haus so früh wie möglich verläßt. Sie memoriert rasch die Gänge, die sie am Vormittag zu machen hat, dann deklariert sie Kollegin Ladurner ihre eigene Ehe:
— Ich bin seit 11 ½ Jahren verheiratet.
— Das schaffe ich nie, sagt Ladurner.
Und eine junge Schwester gibt ebenfalls ihren Kren dazu:
— Ich auch nicht, schon gar nicht, wo hoffentlich bald neue Scheidungsgesetze kommen. Da werden wir die Männer schön angelehnt lassen.
Nach dem entsetzlichen Tod von Frau Grauböck hat Schwester Bärbel Ingrid in alle Affären des Hauses eingeweiht. Sowie jemand stirbt, kann man damit rechnen, die vertraulichsten Dinge zu erfahren, das ist Ingrid schon öfters aufgefallen. Da hat jeder sein Maß, der eine zum Weinen, der andere zum Reden. Dem Vernehmen nach stimmt Kollegin Ladurner ihre Nachtdienste mit einem Assistenten der Chirurgie ab, einem Ägypter. Ingrid fragt sich, warum sie selbst so blöd ist und nicht ebenfalls anfängt, ihre Fähigkeiten in puncto Fremdgehen auszuloten. Vermutlich, weil ihr die momentane Einteilung mit Mann-Kinder-Berufstätigkeit-Haushalt auch ohne Liebhaber zum Kragen herauswächst. Ein Pantscherl, denkt sie, ist genau das, was mir auf dem Weg ins Narrenhaus noch fehlt.
Drei Aufnahmen und Telefonate um ihre Lohnzettel mit der AUVA und mit dem Rathaus. Die Frau von der AUVA kennt Ingrid sogar noch beim Vornamen, was Ingrid verblüfft. Auch im Rathaus ist man sehr dienstbeflissen. Beide schicken ihr die Lohnzettel von 1968. Somit kann der Wohlfahrtsfonds haben, was er will.
Die Morgenbesprechung ist dann der Schock zum endgültigen Wachwerden. Der Chef hat eine Art wie in der NS-Zeit. Es läuft Ingrid kalt über den Buckel. Diesmal regt er sich darüber auf, daß etliche Kollegen Termine in anderen Häusern wahrnehmen, während sie hier noch im Dienst sind. Er sagt, diese Sümpfe werde er trockenlegen. Er nennt sogar Namen, coram publico, was betretene Gesichter bei den Oberärzten zur Folge hat. Aber den meisten ist es zu gönnen. Dann heimst ein Kollege Lob für Dinge ein, die auf Ingrids Konto gehen. Aber weder der Kollege sagt etwas noch Ingrid. Die ärgert sich bloß, das war ich, müßte sie sagen, und sei’s nur, damit es wenigstens die Kollegen hören, die in unmittelbarer Nähe sitzen. Müßte sie. Aber sie gibt keinen Laut von sich, vielleicht weil sie nach den bedrückenden Ereignissen der vergangenen Nacht nicht begreifen kann, wie solche Ungerechtigkeiten überhaupt möglich sind und warum der Primar ihr den Schrecken nicht ansieht, den sie irgendwie verdauen muß.
Wieder am Gang, erntet das lauteste Lachen ein Witz von Oberarzt Kober:
— Fünf Frauen an der Kette in der Küche. Artgerechte Haltung.
Ingrid lacht pflichtschuldig.
— Ist echt zum Schießen. Hahaha.
Kery hingegen wird böse, Kober solle sich als geohrfeigt betrachten, weil, wie sie sagt, frauenfeindliche Aussage. Ingrid weiß sofort, wie gut das bei den Kollegen ankommt. Kery, das dumme Huhn, kapiert nicht, daß sie sich mit dieser Masche in die Sackgasse manövriert. Ingrid bespricht den schönen Fall mit Kollegin Ladurner, die stimmt zu und meint, sie würde sich ebenfalls hüten.
Raus und weg.
Dick verpackt fährt Ingrid mit dem Lift nach unten. Sie mag das Rasseln der Seilrollen und das dumpfe Aneinanderschlagen der Liftkabel im Schacht. In den Ambulanzgängen werden Namen aufgerufen. Man hört das Brummen des Entwicklers für die Röntgenbilder noch vorn in der Aufnahme. Ingrid stülpt im Gehen die blaue Wollmütze beidhändig über das Haar, schlüpft mit geübtem Ärztinnengriff in die Handschuhe und drückt sich durch die Schwingtüren ins Freie, in die schneidend kalte Luft, in der sie sich ein wenig benommen fühlt. Oder ist es die Erleichterung, den Nachtdienst überstanden zu haben? Für einen kurzen Moment, als sie träge den Schnee von den Scheiben ihres Käfers schiebt und der Wind ihr die aufgewirbelten Kristalle seitwärts ins Gesicht und in den Atemzug treibt, empfindet sie so etwas wie Glück. Das Scheuern der Schneeschaufeln hallt durch die Gassen. Ein Hubschrauber trägt sich ruckend im böigen Wind schrägrechts heran. Ihn in der morgendlichen Diesigkeit landen zu sehen ist ebenfalls ein gutes Gefühl.
Als sie den Wagen startet mit zweimal elsternhaft schnarrender Zündung und dann nur langsam anstotterndem Motor, ist es zwanzig vor neun. Saukalt. Vier Grad unter Null.
Mit kratzenden Scheibenwischern fährt Ingrid zu Palmers und belohnt sich mit zwei Garnituren schwarzer Unterwäsche für den Dienst. Als sie sich nach dem vertraulichen Gespräch mit Schwester Bärbel niederlegte, mußte sie die Diagnose stellen, daß die Wäsche, die sie trägt, schon morsch ist und für eine Affäre nicht mehr geeignet wäre. Ingrid muß zusehen, daß sie trotz des Gedränges, in dem sie sich befindet, mehr auf sich achtet. Sie fährt sogleich zum Friseur. Dort angekommen, wirft sie lediglich einen kurzen Blick durch das Schaufenster und stellt fest, daß es noch immer zu wenige Hippies gibt. Der Laden ist bummvoll, und stundenlanges Warten kommt für Ingrid nicht in Frage, weil ihr kein Laden bekannt ist, in dem man sich Zeit anschaffen kann. Also weiter zum Konsum, einkaufen, sehr kursorisch, Hauptsache viel. Der Grund: Sie kann sich nicht darauf konzentrieren, was sie am Neujahrstag für die Meute kochen will. Sie räumt die Einkäufe in den Kofferraum, dann steuert sie vis-à-vis die Trafik an. Sie hat ihre Zigaretten im Ärztezimmer liegenlassen. Die sind verloren.
Der Trafikant sagt:
— Frau Doktor sehen gut aus.
— Hübsche Kinder habe ich und einen tollen Mann, antwortet Ingrid. Hat der eine Ahnung. Aber sie ist immerhin beruhigt, daß ihr nicht jeder auf den ersten Blick ansieht, wie’s ihr geht.
Dann die nächste eilige Angelegenheit: Die Weihnachtsfilme zum Entwickeln bringen. Und noch mal zum Konsum, weil sie die Servietten vergessen hat. Es ist jetzt Viertel nach zehn. Wenn sie sich beeilt, kommt sie rechtzeitig nach Hause, um von der Couch aus den Vormittagsfilm zu verschlafen. Seit längerem steht wieder einmal Der Hofrat Geiger auf dem Programm, mit der elfjährigen Ingrid als Statistin. Die Freude darüber (oder ein Anfall von Sentimentalität?) läßt sie der Versuchung nachgeben, den Einkauf durch eine Flasche Marillensekt zu vervollständigen. Nach dem Nachtdienst ist sie immer so halb hinterm Mond, sie neigt an diesen Tagen zu Spontaneinkäufen. Wenn schon. Sie ist der Meinung, sie hat sich die Flasche heute verdient.
Was Ingrid daheim geboten bekommt, ist ein fürchterlicher Dreck im Windfang und Cara, die Hündin, die Ingrid vor Wiedersehensfreude am liebsten auffressen würde, obwohl Cara es bestimmt nicht nötig hat, fett wie sie ist. Offenbar haben die Kinder Cara wegen ihrer Schreckhaftigkeit zu Hause gelassen, und auch Peter, den Ingrid in seiner Werkstatt arbeiten hört, wird die Kracherei dankbar zum Vorwand genommen haben, sich im Keller zu verschanzen, statt mit den Kindern zu gehen. An diesem Großkampftag.
Ingrid kann Peters Aversion gegen das Böllerschießen nicht für voll nehmen, schließlich bereiten ihm Fehlzündungen von Rennautos sichtliche Freude. Ihrer Meinung nach hat Peter von der Silvester-Symptomatik bei ehemaligen Kriegsteilnehmern gelesen, wie manche Frauen von Migräne lesen und bei Bedarf Betroffenheit herzustellen wissen. Der Krieg ist bei ihm eine Art Männer-Migräne, sehr schlau, klug, ausgeklügelt. Ausreden. Am zweiten Weihnachtsfeiertag hat Ingrid saubergemacht. Fenster und Türen standen zum Lüften offen, da knallte eine Tür vom Luftzug mit großer Wucht zu, und Peter, der auf dem Sofa eingeschlafen war, bekam einen solchen Schrecken, daß er vom Sofa fiel. Aber Frage (skeptisch): Würden in so einem Fall nicht auch die Kinder vom Sofa fallen? Und: Und außerdem verbringt Peter seine Freizeit ohnehin das ganze Jahr über im Keller, in der festen Überzeugung, daß der Einsatz an der Werkbank seine familiären Schwächen aufwiegt. Auch unter diesem Gesichtspunkt, findet Ingrid, braucht ihr der Herr Straßenverkehrsspezialist nicht sonderlich leid zu tun.
Sie stellt zwei Taschen in die Küche. Ehe sie auch die restlichen Einkäufe aus dem Wagen holt, dreht sie im Wohnzimmer den Fernseher auf, damit er warmlaufen kann. Es blitzt im Inneren des Kastens, die Bildfläche schimmert grünlich, wird nach und nach milchig hell, die Konturen gewinnen an Schärfe und zeigen ein weißes Insert:
Dieser Film spielt im heutigen Österreich, das arm ist und voller Sorgen. Doch — haben Sie keine Angst — davon zeigt er Ihnen wenig.
— Das hätte noch gefehlt, sagt Ingrid gähnend.
Nachdem einige Sekunden des Filmanfangs wie durch einen Schleier vor ihr abgelaufen sind, geht sie in die Garage und schleppt die Getränke herein. Sie brüht Kaffee, schneidet einen Apfel in Schnitze, und während die blasierte Stimme von Hans Moser vertraut an ihr Ohr dringt, hat sie eine präzise Vorstellung von den Bildern, die ins leere Wohnzimmer strahlen. Sie gibt Cara Baldrianperlen und beruhigt sie mit Streicheln und Zureden. Sie verräumt die Einkäufe, alles an seinen Platz. Der Marillensekt? Mit dem hat sie sich eindeutig zuviel zugetraut, besser zum Neujahrskonzert, wenn die Nachbarn kommen, die keinen Fernseher haben. Ob Sissi und Philipp mit den Nachbarskindern zum Rodeln gegangen sind? Vermutlich. Sie hofft, daß Sissi ihren Bruder gut angezogen hat. Das ewige Kranksein der Kinder geht ihr schön langsam auf die Nerven. Masern, Scharlach, Feuchtblattern, Bindehautentzündung and so on. Was sie jetzt nötig hat, ist ein ruhiger Start ins neue Jahr.
Ingrid legt sich auf die Couch. Sie richtet den Heizlüfter auf ihre Beine und wickelt sich eng in die Decke, die Arme vor der Brust überkreuzt. Ehe sie einnickt, sieht sie fünf Minuten von Der Hofrat Geiger. Hans Moser, als Faktotum des Hofrats, will bei einer Bäuerin eine Vase gegen Eier eintauschen, aber Eier sind nur gegen ein Ofenrohr zu bekommen und ein Ofenrohr nur gegen eine Probierpuppe und eine Probierpuppe nur gegen einen Grabkranz und ein Grabkranz nur gegen eine Sitzbadewanne, die Sitzbadewanne nur gegen eine Unterhose und die Unterhose nur gegen einen Papagei. — Eine wie mit dem krummen Finger lockende Einladung zu wirren Vormittagsträumen.
Ingrid wacht auf, als sich Peter in der Küche durch die Besteckschublade wühlt. Sie zieht die schweren Augendeckel hoch. Am Fortgang der trübe heranschwimmenden Bilder — der Hofrat trifft seine Jugendliebe, Marianne Mühlhuber, die er vor achtzehn Jahren sitzengelassen hat — kann sie ablesen, daß nicht einmal eine halbe Stunde vergangen ist. Der Hofrat verspricht Wiedergutmachung, er beabsichtigt seiner früheren Geliebten und der mittlerweile siebzehnjährigen Tochter Mariandl den Namen zu geben, der den beiden zusteht. Doch die ehemalige Geliebte verhöhnt ihn:
— Weil wir ja jetzt im Wiedergutmachungszeitalter leben, nicht wahr! Wiedergutmachung! Wiedergutmachung! Ich kann das Wort schon nicht mehr hören!
Ingrid weiß, daß Marianne Mühlhuber das Anerbieten nach einigem Hin und Her akzeptieren wird, weil sie hofft, durch die Heirat die österreichische Staatsbürgerschaft zurückzuerhalten, die ihr in den Kriegswirren abhanden gekommen ist. Sehr romantisch. Der Hofrat indes, der sich gerade unerträglich einschleimt, wird seine Familie vom Hochzeitsbankett weg abermals verlassen, weil ihn der Ruf ins Amt ereilt.
— So ein Arschloch, mault Ingrid.
— Hast du etwas gesagt? fragt Peter, der in diesem Moment in der Tür erscheint, die schlanke Gestalt in für das Büro bestimmter Kleidung, Hose und frischem Hemd.
— Oh, nein, nein, wiegelt Ingrid ab mit schräg aufwärts in Peters Blick hineingewandtem Kopfschütteln.
— Ich habe Arschloch verstanden.
Ingrid setzt sich mit langsamen Bewegungen auf, zieht die Knie vor die Brust und schlingt die Arme um die Beine, ihre Vorstellung von Bequemlichkeit. Sie deutet mit dem Kopf Richtung Fernseher. Sie nimmt einen prüfenden Schluck vom Kaffee, der noch lauwarm ist. Ihr Blick wirkt, als falle sie in Zeitlupe aus allen Wolken.
— In zehn Minuten wird sich der Herr Hofrat darauf hinausreden, daß ihn das Amt rufe und daß er nur deshalb keine Zeit für seine Familie habe, weil er sich für die Gemeinschaft zersprageln muß. Das übliche Freilos. Ich wunder mich, daß mir dieser beinharte Realismus bisher nie aufgefallen ist. Ich habe immer gedacht, ich hätte in einem süßlichen Heimatfilm mitgewirkt. So kann man sich täuschen.
Peter blickt eine Weile auf den Bildschirm.
— Das muß ich in der Zeitung übersehen haben, daß der wieder einmal gesendet wird.
Dann kneift er Ingrid sacht in den Nacken, seine übliche Art. Er hat ein Pflaster um den Daumen, das scheuert. Weil Ingrid nicht reagiert, erkundigt sich Peter, ob sie etwa immer noch böse sei.
Sie ist erstaunt, daß er das Gespräch von vor zwei Tagen nicht längst verdrängt hat, das wertet sie als sicheres Zeichen, daß ihm das Gewissen zusetzt. Deshalb hakt sie nach — sie versucht (natürlich versucht sie es) zu erklären, mit zunächst leiser, die Silben verschleppender, allmählich sich erregender Stimme, warum die Diskussion nicht einfach erledigt sein könne, nur weil zwei Tage vergangen sind und der Jahreswechsel bevorsteht, davon werde nichts besser. Sie argumentiert, so eine profane Versöhnung, obwohl keine Änderung eingetreten ist, halte nicht lange, wäre überdies unehrlich. Er solle sich endlich mit den Tatsachen auseinandersetzen und sie (Ingrid) mit seinen Ausflüchten und ewiggleichen Antworten in Ruhe lassen. Für alles sei sie der Trottel, und falls er sie in dieser Ansicht korrigieren wolle, soll er zuerst in den Windfang schauen und dann in die Abwasch, in der sich das Geschirr von gestern und vom Frühstück türmt. Es gebe ja immer den Trottel Ingrid, der hinter allen herräumt. Ob er, wie die Dinge stehen, allen Ernstes meine, daß sie da nicht mehr böse sein soll.
— Na, eigentlich schon.
Er sagt es irgendwie recht lieb und würde es besser so stehenlassen. Aber er fährt fort, er finde ihr Verhalten genauso eigenartig, und er denke nicht daran, diesen Zustand auf Dauer mitzumachen. Ihre Berufstätigkeit beeinträchtige das Familienleben auf eine Art, da könne er nicht einfach zusehen.
Sie funkelt ihn mit einem schnellen Blick an, eine Sekunde später sind ihre Augen wieder geschlossen. Sie sagt, und erst am Ende des Satzes gehen ihre Augen wieder auf, aber Richtung Fernseher:
— Wozu hätte ich dann so lange studiert, wenn ich die Ausbildung nicht nutzen würde. Du hast doch gewußt, daß du eine angehende Ärztin heiratest.
Keine Antwort. Sein hilfloses Dastehen ist Antwort genug. Er hat nichts zu sagen, denn er weiß genau, daß es nichts gibt, was zu seiner Rechtfertigung dienen könnte.
Ingrid reibt die kalten Hände vor den weiterhin hochgezogenen Knien. Sie heftet den Blick auf den Bildschirm. Sie sucht einen Anhaltspunkt für ihren stockenden Gedankenfluß und zitiert schließlich einen Satz, den Kanzler Kreisky unlängst verwendet hat:
— Wie die Vogelscheuchen im Gurkenfeld, zum Reden nicht fähig.
Peter beklagt sich:
— Du bist so aggressiv.
Mit träger Genugtuung gibt Ingrid zurück:
— Allerdings.
In der Tat ist sie schon wieder sauer, kaum hat sie ein paar Worte mit Peter gewechselt. Sie sagt sich, was bildet der sich überhaupt ein. Im kommenden Jahr wird sie fünfunddreißig, sie hat die ersten grauen Haare, und er meint, über sie bestimmen zu müssen. Sie hat genug Probleme damit, sich von ihrem Vater zu lösen, da braucht sie keinen Mann, der genauso dominant sein möchte und, statt ihre Bemühungen zu unterstützen oder wenigstens anzuerkennen, ihr ein Gefühl der Unzulänglichkeit vermittelt. Obwohl sie viel mehr leistet als er, erhält sie fast nie ein Kompliment, außer vielleicht, daß das Essen gut ist. Stundenlanges Kochen wird honoriert, weil es ins Bild von der vorbildlichen Gattin, Hausfrau und Mutter paßt, wie es an den Fassaden der Gemeindebauten prangt: ein Heimchen mit Holzschuhen und Nackenhaarknoten, eine Garbe Ähren im Arm, links und rechts Kinder. Ansonsten? Kein Wort der Anerkennung. Es wird tunlichst alles vermieden, was daheim den Eindruck erwecken könnte, sie sei tüchtig oder gar begehrenswert. Das läßt Peters Egoismus nicht zu. Er schafft es nicht, sich aus dem Zentrum zu nehmen, das ist die Pathologie der Männer, da sind sie alle gleich, und wenn nicht alle, so die meisten. Garantiert steht Ingrid nicht allein da mit einem Mann, der nur sich selbst liebt. Das alles ist schade, sehr schade, zumal der Herr Haushaltsvorstand eindeutig keine Einsicht besitzt. Da könnte sie genausogut versuchen, Cara das Einmaleins beizubringen.
Wie war der Dienst, Ingrid?
Das fragt niemand.
Da sie schon einmal dabei ist, teilt sie Peter mit, daß sie es zuwege gebracht hat, ihren nächsten Dienst von Sonntag auf Montag zu tauschen. Sie komme seit Tagen nicht zur Ruhe und brauche das lange Wochenende zum konzentrierten Ausschlafen und Regenerieren. Da Peter in der kommenden Woche noch frei habe, sei es ja eigentlich egal.
Peter regt sich furchtbar auf, er habe sich für Montag soviel vorgenommen, er sei davon ausgegangen, Ingrid werde zu Hause sein und den Laden schmeißen (seine Diktion). Er habe sich mit zwei Kollegen für das Fußballturnier in der Stadthalle verabredet.
— Na toll, sagt Ingrid.
Eine Sekunde später verzieht sie den Mund:
— Die Kinder werden nicht das erste Mal allein zu Hause sein. Ich habe den hartnäckigen Verdacht, sie beschäftigen sich auch heute ohne elterliche Anleitung. Dann ist das halt ein Training für Montag.
— Die Kinder sind nicht das Problem, die schicke ich mit dem Andritsch-Buben in die Stadt, wo es schon etwas geben wird, einen Ersttagsstempel oder eine Rede am Rathausplatz. Aber ich kann die Arbeiter fürs Bad nicht auch mitschicken. Außerdem weiß ich nicht, wie du den Spiegel im Bad montiert haben willst.
Er redet lauter Schwachsinn, findet Ingrid, und weil sie Peter einbremsen muß, damit er nicht alles auf sie abwälzt, sagt sie dreimal, sie sei in diesen Dingen ja doch keine Hilfe, da müsse er schon seine eigenen Fähigkeiten in Anschlag bringen. Hier folgt sie dem Beispiel von Sissi. Die nicht einmal zehnjährige Tochter ist in strategischen Dingen gewiefter als die bald fünfunddreißigjährige Mutter. Im vorliegenden Fall heißt das, Sissi hat längst begriffen, wie zuverlässig es funktioniert, wenn sie die Blonde spielt. Zweckdenken als Selbstschutz. Dummheit als Anwendung, als wäre Dummheit eine Form von Höflichkeit: Tut mir leid, aber das kann ich nicht. Da kenne ich mich nicht aus. Das ist mir nun wirklich zu schwer. Ingrid muß diese Sätze automatisieren, etwas anderes, das leuchtet ihr ein, bleibt ihr nicht übrig. Entweder man gibt den Männern die Möglichkeit, sich überlegen zu fühlen, oder sie ziehen sich aus der Affäre.
Ob dann am Montag wenigstens etwas gekocht sei, fragt Peter. Das empfindet Ingrid erst recht als eine Frechheit. Wenn Peter einmal zum Einsatz kommen soll, kriegt er die Panik, dabei ist Ingrid weitaus öfter diejenige, die in den sauren Apfel beißt. Sie arbeitet auch härter für ihr Geld als der Herr Straßenverkehrsspezialist, der ganze Tage durch die Gegend heizt, wie es ihm beliebt. Wenn man einen Gradmesser sucht, wie unterschiedlich bei ihnen die berufliche Belastung ausfällt, muß man sich nur anschauen, was sie nachts träumen. Während Ingrid regelmäßig dienstliche Probleme verarbeitet und von Glück reden kann, wenn sie mittendrin aufwacht, kauft Peter sich im Traum einen Alfa Romeo und ist am Morgen vor Seligkeit nicht ansprechbar. Er prahlt sogar damit, daß er im Innendienst mit den Kollegen Dart spielt. Vermutlich auch deshalb ist ihm daheim jeder Handgriff zuviel.
Sie sagt:
— Ganz nach deinen Wünschen, es wird alles passieren.
Ohne ein weiteres Wort steht sie auf und schlägt mit schmalen, vom Gähnen wäßrigen Augen den Weg Richtung Küche ein.
Als sie an Peter vorbeigeht, meint er geduldig (kann sein, es ist versöhnlich gemeint):
— Ich weiß, du bist in letzter Zeit etwas drüber.
— Sprich: Du brauchst das, was ich gesagt habe, nicht besonders ernst zu nehmen.
Sie schüttelt den Kopf und wendet sich bereits wieder ab. Sie ist nicht gewillt zu streiten, dem Energieaufwand, der dazu erforderlich wäre, fühlt sie sich im Moment nicht gewachsen. Im Weitergehen nimmt sie an, daß Peter und sie an diesem Tag nicht mehr viel miteinander reden werden. So ein Idiot. Alles, was recht ist. Er hält sich in ihr eine Putzfrau, eine Köchin, eine Gouvernante für die Kinder und ab und zu eine Geliebte, die aber nicht befriedigt wird. Die seltenen Male, die er sich für seine frühzeitigen Ejakulationen entschuldigt, sind gezählt. Und die Verwandlungskunst geht weiter: Wäscherin, Büglerin, Tippse. Und alles sehr billig. Die Früchte des langen Kampfes für die Emanzipation der Frau. Wohin diese Entwicklung bisher geführt hat, dafür ist Ingrid der gemeingültige Beweis. Da pfeift sie auf den ganzen Linksruck, der ist nur auf den Straßen laut. Aber zu Hause heißt es: Psst!
Mit einer Zigarette zwischen den Lippen wäscht Ingrid einen Teil des Geschirrs ab. Nachdem Peter sich beleidigt in den Keller verzogen hat, legt sie sich langgestreckt und mit spitz angewinkeltem Ellbogen zurück auf die Couch und verfolgt an einer Haarsträhne vorbei das weitere Geschehen im Fernsehen, ohne daß ihr die Passagen, die sie versäumt hat, abgehen. Sie ist mit dem Film zu gut vertraut, als daß sie nicht in der Lage wäre, das Fehlende aus dem Gedächtnis einzufügen. Außerdem hat während der dreiundzwanzig Jahre, die der Film jetzt alt ist, auch in Ingrids Kopf eine gewisse Fragmentierung stattgefunden. Es gibt Lieblingsszenen, die ein Eigenleben abseits der Filmhandlung führen, während andere Szenen, ebenfalls abseits der Filmhandlung, ihre Bedeutung ganz und gar eingebüßt haben, totes Material, das genausogut herausgeschnitten werden könnte, wenn es nach Ingrid ginge. Diese Szenen läßt sie teilnahmslos ablaufen und nutzt die Flaute zum Nachdenken über Alltagssorgen, über die vergangene Nacht, zum Träumen. Dann wieder ist sie wie gefangen von einer Einstellung, deren Vertrautheit ihr fast gespenstisch vorkommt.
Wenn sie zurückschaut, stellt sie dieselbe Fragmentierung an ihrem eigenen Leben fest. Es gibt darin keine durchgehende Ordnung, keine strenge Chronologie. Ihr Leben kommt ihr vor wie eine auf den Haufen geworfene Ansammlung scheinbar in sich abgeschlossener Etappen, zu denen auch ihr Auftritt im Film gehört. Sie hat dies gemacht, sie hat jenes gemacht, und alles in allem hat sie nichts gemacht, was ihr in der nächsten Etappe sonderlich weitergeholfen hätte.
Ingrid schläft, aber wieder nur einige trümmerhafte Minuten. Die heimkehrenden Kinder und das Bellen des Hundes reißen sie heraus. Philipp hat einen knieweichen Schritt, seine Finger in den nassen Fäustlingen sind weiß, trotzdem lächelt er mit seinem vor Kälte gespannten Gesicht und macht zweimal» Brrr«. Ingrid zieht ihn aus, frottiert ihn ab, schleppt ihn in sein Zimmer, wo er darauf besteht, seinen Universitätspyjama als Trainingsanzug zu tragen. Seit dem Heiligen Abend hat er zu Hause nichts anderes mehr angehabt als seinen Universitätspyjama, auch tagsüber, da er auf Sissi mit ihrem Universitätspullover neidisch ist, wohingegen Sissi, damit sie nachts nicht nachsteht, sich im Universitätspullover niederlegt, mit dem einzigen Unterschied, daß sie den Pullover im Bett ohne Unterhemd trägt. Ein Volltreffer.
— Morgen muß der Pyjama gewaschen werden, sagt Ingrid.
Sie hilft Philipp hinein, fordert ihn auf, mit nach unten zu kommen und sich im Fernsehen die Mama anzuschauen, wie sie als Mädchen in Schwarzweiß und im Schürzenkleid ausgesehen hat. Wie war eigentlich die Farbe? Sie laufen polternd die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Dort hat Sissi bereits auf den anderen Sender gedreht. Ingrid schnauzt sie an, sie solle sofort zurück auf den Film drehen. Sissi gehorcht bereitwillig in gespielter Ahnungslosigkeit, anschließend erzählt sie, daß Philipp beim Rodeln, als er bei einem gewissen Hansi mitfahren durfte, sich um zehn Zentimeter Breite fast den Schädel entzweigeschlagen hätte. Hansi, sagt Sissi, sei urgestopft (dürfte sie beeindrucken) und insulinpflichtiger Diabetiker (dürfte sie ebenfalls beeindrucken).
— Kannst du nicht ein einziges Mal für fünf Minuten dein Mundwerk schonen, bittet Ingrid.
Philipp geht nach draußen und kommt mit Sissis orange getönter Skibrille zurück. Er schildert den Film in Farbe und äußert die Hoffnung, daß er die Mama, wenn sie ins Bild komme, mit Hilfe der Skibrille besser erkennen werde. Sissi verpaßt Philipp einen Schlag auf den Kopf, er höre doch, daß die Mama fernsehen wolle, dann gibt sie ihm den Rat, sich zum nächsten Weihnachten Buerlecithin zu wünschen, ganz oben auf der Liste, damit er ruhiger werde (das könnte auch Ingrid brauchen, sie ißt den Kindern bereits heimlich das Biomalz weg). Als hätte sie, was sie zu Philipp gesagt hat, im selben Moment wieder vergessen oder als glaube sie, sich ausreichend eingeschmeichelt zu haben, fängt Sissi zum zehnten Mal in dieser Woche an, Ingrid anzusingen, sie wolle sich die Ohren stechen lassen. Ingrid möchte wissen, woher das Mädchen diese hartnäckige Idee hat. Doch da im selben Moment das Fernsehbild zusammenfällt, weil Peter im Keller die Bohrmaschine in Betrieb genommen hat, bleibt Ingrid eine abermalige Behandlung des Themas erspart. Ein hochfrequentes Heulen füllt die Mauern des Hauses und den Kamin, gleichzeitig zucken hektische weiße und graue Linien über den Schirm und reißen die Mutter von Mariandl aus ihrem Erstaunen darüber, daß ihr Mann, der feine Herr Hofrat, hinter ihrem Rücken dem minderjährigen Mariandl die Erlaubnis zur Heirat gegeben hat.
Ingrid hält es im Kopf nicht aus, die Interferenzen, diese Mischung aus Heimatfilm und Bohrmaschinenstörfeuer, strahlen bis in ihr Hirn. Sie faßt es nicht: Wie konnte sie diese Ungeheuerlichkeit dreiundzwanzig Jahre lang übersehen? Wie konnte sie übersehen, daß sich die sitzengelassene Frau mit dem unehelichen Kind durch die dreißiger Jahre und den Krieg schlägt, damit der Herr Hofrat nach achtzehn Jahren daherkommt und sich großzügig zum totalen Familienoberhaupt aufschwingt? Wenn Ingrid sich vergegenwärtigt, daß ihr die Schnulze, als sie ein Mädchen war, Inbegriff des höchsten Glücks inmitten der vertrauten Landschaft gewesen ist. Wenn sie bedenkt, wie sehr sie von diesem Film und seinen Happy-End-Exzessen gerührt war, und ihre Freundinnen nicht weniger, in einem kollektiven Tagtraum, den der Film erzeugte oder aufgriff und verstärkte. Wenn sie außerdem bedenkt, wie sehr sie noch Jahre später für den Hofrat und seine bornierte Lebensart schwärmte und daß sie die Autogrammkarte des päpstlich lächelnden Paul Hörbiger bis heute bei den besonders gehüteten Schätzen aufbewahrt: Wenn sie dies alles bedenkt — und zwar unter dem Aspekt ihres eigenen Lebens und ihrer jetzigen Situation —, müßte ihr eigentlich speiübel werden.
Nach fünf Sekunden hat Peter sein Loch gebohrt, und die Bilder fluten zurück in die gewohnt ruhige Gangart, bis die Bohrmaschine nochmals für drei Sekunden alles durcheinanderwirft. Ingrid schickt Philipp in den Keller, er solle seinem Vater mitteilen, daß erst nach dem Mittagessen weiter gebohrt werden dürfe. Philipp, die Skibrille im Gesicht, rennt hinaus und kommt mit der Nachricht zurück, der Papa sei in drei Minuten fertig. Der Film auch. Tatsächlich halten die wiederhergestellten Bilder ihre Balance nur für Sekunden, dann lösen sie sich abermals in Zucken, Knistern und Rauschen auf; als würde Peter im Keller etwas versäumen. Mio marito. Ingrid nimmt es ihm übel.
— Was baut er da unten? fragt sie scharf.
— Ein Modell der Opernkreuzung, sagt Philipp naiv.
Heftig stampft Ingrid mehrmals mit dem Fuß gegen den Boden. Sie geht in die Diele, reißt die Tür zum Stiegenhaus auf und schreit die Treppe hinunter:
— Verdammt, ich schaue den Schluß des Films! Schlimm genug, daß dich deine Straßenkreuzungen mehr interessieren!
Sie kehrt in der gebotenen Schnelle ins Wohnzimmer zurück, gerade rechtzeitig, um ihren eigenen Auftritt nicht zu verpassen. Der Auftritt kommt ihr diesmal ausgesprochen kurz und substanzlos vor. Ingrid hat den Eindruck, von dem damaligen Mädchen völlig abgeschnitten zu sein. Die äußeren Spuren sind ebenso erloschen wie die Sehnsüchte und Träume von damals, keine Verbindung zu der vierunddreißigjährigen Frau, die übernächtigt mit einem summenden Gefühl in den Gliedern auf der Fernsehcouch eines kleinen Hauses im achtzehnten Bezirk sitzt und fassungslos in den Fernseher schaut, während ihre eigene Weltgestalt von 1947 über den Bildschirm geistert.
Philipp, der sein Lippenkauen unterbricht, sagt, er habe die Mama vor lauter Musik und anderen Menschen nicht gesehen, und er würde gerne wissen, wie der Film in den Fernseher kommt.
— Der Strom kommt aus der Steckdose, und die Sendung aus der Luft. Sie durchdringt die Wände, sonst könnte man nur im Freien fernsehen. Aber wie das geht, daß die Sendung durch die Wände dringt, und warum die Leute, die hinter den Flaktürmen wohnen, einen senkrechten Balken mitten durchs Bild haben, kann ich dir nicht erklären. Am besten, du fragst den Papa, der wird dir auch sagen können, weshalb die Bohrmaschine das Bild zusammenhaut.
Ingrid stürzt sich ins Kochen, damit es keine Nachrede gibt, sie mache ihre Arbeit nicht. Zwischen den pfeifenden, stöhnenden Töpfen, während sie schneidet und raspelt, reibt und würzt, spielt sie die Szene von damals nach. Sie bewegt ihren um mehr als zwanzig Jahre gealterten Körper, wie sie annimmt sich seinerzeit bewegt zu haben, glaubt aber nicht, besonders überzeugend zu sein. Es ist, als wäre ihre Leichtigkeit am Wegrand zurückgeblieben.
Selbst Cara, die Hündin, die hereinkommt, schaut Ingrid nur kurz an und geht wieder hinaus.
Die Unterhaltung beim Essen ist normal und friedlich. Wenn nicht Sissi den Mund offen hat, sagt Ingrid belangloses Zeug über den Dienst, damit keine Stille entsteht, von der sie weiß, daß sie Philipp bedrückt. Ingrid hat die Beobachtung gemacht, wenn es am Tisch still ist, fängt Philipp an, mit dem Essen zu spielen. Hingegen ißt er sehr brav, wenn man Geschichten erzählt. Also berichtet sie, daß ein Kollege für ihre Arbeit Lob eingeheimst habe. Danach kommt ihr in den Sinn, was Schwester Gitti beim Frühstück erzählt hat, und das gibt sie ebenfalls zum besten: Daß der neue Primar nicht weiß, daß Schwester Margot mit Oberarzt Dr. Feldhofer verheiratet ist, und daß der Primar, während Feldhofer assistierte, ständig mit Schwester Margot flirten wollte. Es soll enorm peinlich gewesen sein.
Philipp ißt brav und macht anschließend ein Probst-Gesicht. Ansonsten interessiert die Geschichte niemanden, wieso auch.
Philipp sagt:
— Es wäre leichter, wenn das Essen nicht wäre.
Einen Augenblick später steht er, ohne zu fragen, vom Tisch auf und steigt in den oberen Stock hinauf. Sissi nutzt die Gelegenheit und steht ebenfalls auf, sie bittet um den Feldstecher, damit sie die Vögel am Futterhaus beobachten kann. Peter, geschmeichelt, holt den Feldstecher, und auch er setzt sich bei dieser Gelegenheit ab, in den Keller. Ingrid badet die Hände im Abwaschwasser, schichtet die Teller in den Reiter zum Abtropfen. Mitunter, wenn sie einen schlechten Tag erwischt, kommen ihr diese Kleinigkeiten schlimmer vor als Krieg und Winter.
Dann Ohropax, was an solchen Tagen die einzige Möglichkeit ist, zu einer Stunde Schlaf zu kommen. Ein Lärm, ein Durcheinander, Kinder, die sich gegenseitig die Türen zuhalten, die um jedes Stück Papier streiten, und für Ingrid kein Platz außer in ihrem Körper. Stöpsel rein, Schlafmaske über die Augen, über den Kopf gezogene Decke, kellerdunkle Nacht, unabhängig sein von der Umgebung und der Familie. Mit Ohropax wird sich Ingrid der harten Grenzen ihres Körpers bewußt, sie denkt an eine Stahlröhre, schwer und hohl. Die Geräusche von außen sind fast weg, aber die im Innern belästigen und nehmen ganz gefangen: Atmen, Schlucken, Pulsschlag.
Der beängstigende Effekt, sich wegen zweier kleiner Stöpsel in den Ohren eingesperrt zu fühlen, hält sie eine Weile wach.
An dem Tag, an dem die Verhandlungen um den Staatsvertrag zum Abschluß gekommen waren und Ingrid erst um elf Uhr zu Hause eintraf, weil sie mit Peter im Magazin geschlafen und sich vertrödelt hatte, rechnete sie mit einem Riesenwickel. Wegen der Zahnschmerzen ihres Vaters, die so akut geworden waren, daß sogar Sehstörungen auftraten, fiel aber niemandem etwas auf.
In der Früh sagte Ingrid:
— Das muß ich alles verschlafen haben.
Und ihr Vater sagte:
— Deinen Schlaf hätte ich gerne.
Zwischendurch muß Ingrid aufs Klo, und großen Durst hat sie auch. Da sieht sie Philipp mit seinem Matchbox-Traktor auf dem oberen Treppenabsatz sitzen und vor sich hinstarren. Er tut ihr leid, und sie hat ein schlechtes Gewissen, so daß sie die Ohrenstöpsel herausnimmt, sich anzieht und den Rest der Familie zusammentrommelt. Wer Lust habe, sich auszulüften, solle bis in fünf Minuten gerichtet sein.
Sissi grantelt herum, kommt aber mit.
Peter macht keine Anstalten, was Ingrid nicht im mindesten erstaunt. Er argumentiert mit seinem Knöchel, den er sich Heiligabend verstaucht hat, als er mit den Rollschuhen, die Sissi vom Christkind bekommen hat, im Vorzimmer gestürzt ist. Wenigstens ist immer etwas los.
— Einverstanden, entschuldigt.
Obwohl: Der soll sich nicht so anstellen. Wenn er nicht spazierengehen kann, soll er mit den Kindern wieder einmal eine Runde mit den öffentlichen Verkehrsmitteln drehen, was sich ja auch großer Beliebtheit erfreut.
Kurzes Nachfragen.
Kurze Antwort:
— Jetzt bist du ja schon angezogen.
Der Herr Kellerbewohner. Er weiß gar nicht, was er wegschmeißt, wenn er diese Zeit mit seinen Kindern versäumt.
Ingrid spannt die Gummis am Ende von Philipps Overall-Hosenbeinen über die Sohlen seiner Stiefel, zieht die Schnur, an denen die Fäustlinge hängen, durch die Ärmel des Oberteils, zieht Philipp die Pudelmütze über den Kopf. Sie legt den Hund an die Leine und gibt Peter einen Kuß auf die Wange. Peter hält ihr auch die andere Wange hin, so daß sie ihm vor den Kindern ein zweites Bussi geben muß. Darauf soll es ihr nicht ankommen. Peter verspricht, die Silvestertelefonate zu erledigen und im Kohlenkeller etwas Ordnung zu schaffen. Ingrid ist überzeugt, daß er, drei Minuten nachdem sie gegangen sind, vorm Fernseher sitzen wird. Bestimmt gibt es irgendwo Sport, dann kann er sich dafür entschädigen, daß ihn seine Kinder, wie er unlängst jammerte, seinen Fernseher nur nutzen lassen, wenn es ihnen paßt. Der Ärmste. Kann einem richtig leid tun. Lauter Menschen, die ihn nur brauchen, wenn er das Geldbörserl offen hat.
— Türkenschanzpark oder Schönbrunn? fragt Ingrid.
— Schönbrunn, tönt es einhellig.
Auch Ingrid ist Schönbrunn lieber, weil dort die Wege besser geräumt sind und das Gehen leichter fällt. Sie packt Kinder und Hund in den Wagen, wechselt zwei Sätze mit der Nachbarin, die das Tischtuch zum Fenster hinausschüttelt — auch jemand, der Angst hat, daß die Ehe krachen geht; ihr Mann zieht dem Hörensagen nach die Unterhosen seines verstorbenen Vaters an, was allerdings bitter ist —.
Und los geht’s.
Eigentümlich geduckt sind die Gebäude von Schönbrunn diesmal hingestellt, dick und voll. Das Gelb der Fassaden wirkt gebleicht vom niedergedrückten Schornsteinrauch, nach dem die Luft schmeckt. Die Alleen sind fast menschenleer, die Hecken aufgepackt mit Schneehauben, und die kahlen, schmutzigen Laubbäume stehen hart gezeichnet im weißgrauen Licht, Krähen im Geäst, schwarze Päckchen, wie vom Christkind hineingeworfen. Die Luft ist kalt. Am Himmel treiben graue Wolken, und Philipp, der seinen Bob nicht zu Hause lassen wollte, zieht ihn quietschend über den Rollsplitt und das steifgefrorene Laub im hartgetretenen Schnee. Manchmal läuft Philipp voran, er schaukelt in seinem dick wattierten Overall mit den armsteifen Bewegungen eines Pinguins. Er blickt unablässig umher. Man hört Böllerschießen und Musik aus der Gegend des Tiergartens oder des Platzls, Geräusche, die rasch verhallen über dem Schnee, als kämen sie von weiter weg. Eine wunderbare Stimmung, findet Ingrid. Sie genießt es und sagt sich: Wenn das neue Jahr so schön wird wie dieser Nachmittag, wäre es die reinste Freude. Wer weiß, vielleicht frißt das Schwein des Glücks die schlechten Vorzeichen noch einmal weg.
Sissi läßt sich von Cara kreuz und quer über die Gehwege zerren, und Ingrid hat Zeit zum Sinnieren. Nur leider kommt sie auf keinen grünen Zweig, jedenfalls nicht dort, wo sie darauf aus ist, die momentane Situation zu verbessern. Sie hat einfach zu spät eingesehen, daß es blöd ist, immer die perfekte Ehefrau abgeben zu wollen. Statt sich die damit verbundenen Plackereien mit Küssen und Rosen aufwiegen zu lassen, hätte sie ihren Mann besser rechtzeitig zum Mithelfen erzogen, etwas, wofür er jetzt nicht mehr zu gewinnen ist. Er putzt sich ab nach dem Motto, einmal die Dumme, immer die Dumme. Ingrid bestreitet nicht, daß sie sich das teilweise selbst anlasten muß, weil sie Peters Bequemlichkeit zuerst gefördert und dann nicht energisch genug unterbunden hat. Wobei (das ist alles sehr kompliziert) ihr ohnehin kein Beispiel einfällt, das Peters Fähigkeit belegen würde, in Beziehungskonflikten etwas sowohl zu verstehen als auch Konsequenzen daraus zu ziehen. Da dürfte bereits seine Mutter in der Erziehung das eine oder andere falsch gemacht haben.
Und das ist wieder typisch für sie: Kaum hat Ingrid einen wunden Punkt an Peter aufgedeckt, empfindet sie Mitleid mit ihm. Der Tod von Frau Grauböck in der Nacht fällt ihr ein (seltsam, daß sie es zwischendurch immer wieder vergißt) und daß Peter, als seine Mutter starb, erst fünfzehn war, im Krieg, das frühe Kriegspielen, das dürfte sich bei ihm ebenfalls negativ eingeschrieben haben, auch wenn der vierzigjährige Mann und der Bub von damals schwer zusammenzubringen sind, wo genau und worin sie sich treffen und was schon davor angelegt war und was erst hinterher dazugekommen ist. Das Davor und Danach vernachlässigt man meist. Krieg ist leichter, und noch leichter ist Krieg und Kindheit, obwohl keiner in Krieg und Kindheit steckengeblieben ist. An ihrer eigenen Person kann sie wenig erkennen, von dem sie überzeugt ist, daß es ohne Krieg anders geworden wäre. Bei Peter hingegen? Da führt der Komplex geradewegs in ihrer beider Eheschlamassel, jedenfalls, wenn Ingrid es beim Nachdenken bequem haben will. Dann sieht sie den kleinen Peter, wie er seinen verwundeten Arm hält, wie ihm die Rotzglocke von der Nase hängt, wie er sich sagt (sie glaubt es): Alle sind gegen mich, die einen schießen auf mich, und die andern lassen mich im Stich, allen voran die Familie.
Ein dunkelbraunes Eichkätzchen mit weißem Brustfleck taucht am Weg auf, bleibt stehen, hebt den Kopf und schaut dem heranwackelnden Philipp entgegen. Das Eichkätzchen scheint für einen Moment zu überlegen, welche Richtung es nehmen soll. Dann kracht ein Böller über den hoch ummauerten Flächen, und das Eichkätzchen springt in eine dichte Hecke. Philipp läuft zu der Stelle, wo das Tier verschwunden ist, schaut hinein, und Sissi gibt ihm einen Stoß gegen das Hinterteil, so daß er kopfüber in die Hecke fällt. Sehr hoppadatschig. Ingrid weist Sissi zurecht. Philipp rast hinter seiner lachenden Schwester her wie Mord und Brand. Die ist ihm nicht zu groß zum Raufen. Er schreit:
— Du blödes Viech.
Doch da Philipp darüber das Weinen vergißt, kann auch Ingrid über die Situation lachen. Am liebsten würde sie Sissi den Rat geben, sich diese Art für ihre späteren Männer zu bewahren.
Kurz darauf übernimmt Ingrid das Ziehen des Bobs, weil Philipp allmählich die Puste ausgeht. Na bitte, da ist die Welt für ihn wieder heil.
— Du bist die beste Mama, keucht er, schon wieder unbekümmert (das ist ein guter Zug an ihm). Ein blinkendes Tröpfchen hängt an seinem Nasensteg, es scheint ihn aber nicht zu stören. Ingrid hält ihn am Nacken fest, putzt ihm die Nase. Sie denkt: Das einzig Gute, was dabei herausgekommen ist, sind die Kinder.
Die Probleme begannen in den Jahren des zweiten Studienabschnitts, als Ingrid bis an den Rand des Nervenzusammenbruchs schuftete und von Peter keine Unterstützung bekam. Das ging schon in Hernals los, noch bevor Peter die Lizenzen seiner Spiele verkaufte. Mit dem Verkauf der Lizenzen Ende 1960, während der Schwangerschaft mit Sissi, hoffte Ingrid, daß jetzt ein besseres Leben beginnen werde. Statt dessen wurde es schlimmer. Ingrid lag im Krankenhaus, Peter war beruflich unterwegs, weil er seine Straßenkreuzungen zu fotografieren hatte. Sie preßte und schwitzte, und von draußen drang ständig Schlagergesang von einem Frühschoppen herein, Trude Herr, Vico Torriani, das machte sie ganz fertig. Dann Peters viel zu kurze Besuche auf der Wochenstation und die Behauptung, daß es über seine neue Arbeit nicht viel zu erzählen gebe. Die vielen einsamen Spaziergänge am Wilhelminenberg mit dem Kinderwagen und später das langweilige Entenfüttern mit Sissi, als Ingrid eigentlich hätte lernen sollen. Einmal, da waren sie zu viert beim Konsum, 1965 oder Anfang 1966, Philipp war noch kein Jahr, und Sissi mußte speiben, genau auf Philipp in den Kinderwagen und auf die Waren, die Ingrid dort abgelegt hatte. Philipp schrie wie am Spieß. Und Peter? Lief rot an bis unter die Haare, schaute sich um, ob jemand ihn und seine Familie beobachtete. Vorsorglich nahm er zwei Schritt Abstand, um seinen fehlenden Anteil an der Misere für jedermann kenntlich zu machen. Wenn etwas schiefging, war immer Ingrid schuld, weil Peter sich ja einen Dreck um etwas kümmerte. Schöne Logik. Ingrid könnte Dutzende Beispiele nennen, lauter Dinge, die sie nicht vergessen kann. Ihr geht es da wie einem Elefanten, jedenfalls solange diese Vorfälle nicht verarbeitet sind. Und verarbeiten kann sie erst jetzt. Denn erst jetzt, seit Philipp im Kindergarten ist, findet Ingrid wenigstens manchmal die Zeit, sich die Gedanken zu machen, die sie sich schon damals dringend hätte machen müssen. Die Crux bestand darin, daß sie in dem Strudel aus Alltagssorgen nicht zur Besinnung kam und deshalb das Ausmaß, wie wenig Unterstützung sie von Peters Seite erhielt, gar nicht zu würdigen wußte. Eben weil sie sich alleine durchboxen und drüberhanteln mußte. Die Angst, sich vor den Eltern eine Blöße zu geben, tat den Rest. Und so, zwischen Hammer und Amboß, vergingen die Jahre.
Nicht einmal eine Hilfskraft für die Kinder oder den Haushalt gelang es ihr durchzusetzen. Peter legte sich wiederholt mit dem Argument quer, er hasse diese semifamiliären Bindungen, er wolle nicht parat stehen für fremde Leute und jederzeit den Chauffeur machen müssen. Damit hatte es sich. Das Angebot ihres Vaters, das Kindermädchen von der Steuer abzusetzen, indem er es als Hilfskraft beim Ordnen seines Nachlasses führt, kam gar nicht zur Diskussion. Und Ingrid hatte es auszubaden. Wären nicht Frau Andritsch und die anderen Nachbarinnen gewesen, sie hätte sich aufhängen können.
Sie war jung, auch wenn sie sich damals nicht gar so jung vorkam: zwanzig, zweiundzwanzig, vierundzwanzig. Sie sah nicht annähernd und wollte vielleicht auch nicht sehen, was sie ruhig ein wenig kritischer hätte unter die Lupe nehmen dürfen. Es ist ja nicht so, daß sie nicht gewarnt worden war. Selber schuld, kann sie nur sagen. Denn sie muß zugeben, vieles hat sie sich vorgemacht. Das große Glück zum Beispiel — wenn sie ehrlich ist, gab es das nie.
Und jetzt: Jetzt muß sie mit den Konsequenzen leben. Sie muß das Beste daraus machen, obwohl es keine leichte Aufgabe ist, Peter in seiner freundlichen, unbekümmerten, konsequent distanzierten, eingefleischt gleichgültigen Art zu lieben.
Fortsetzung: In seiner grundanständigen, gutmütigen, selbstgenügsamen, nein, anspruchslosen, in seiner alles verharmlosenden und vieles herunterspielenden, von Not und Krieg gelehrten, defensiven, kontaktscheuen undsoweiter undsoweiter —.
Aus der Verjüngung der Allee Richtung Neptun-Grotte dringt Gelächter und Geschrei. Augenblicke später biegen Jugendliche in Ingrids Gesichtsfeld, die sich auf italienisch unterhalten. Zwei Paare bilden sich. Ohne Musik tanzen sie im Walzerschritt die Allee herunter. Schnee quietscht unter ihren Füßen, sie lachen und stoßen» Auguri!«-Rufe aus. Cara bellt. Sissi schaut blauäugig, Philipp steht der Mund offen, ein wenig empört. Ingrid hat eine riesige Freude, sie strahlt mit den Jugendlichen, wirft ihren roten Schal, der gut zu ihren vielen Haaren paßt, zurück über die Schulter und dreht sich ebenfalls zweimal. Mit einem Luftpartner und der Zigarette in der Hand. Das erste Mal an diesem Tag, daß sie das Gefühl hat, der Boden unter ihren Füßen ist fest.
Wien und Walzer, früher (früher!) war das für sie ein Begriff.
Als die Laternen angehen, sind sie wieder zu Hause. Peter empfängt seine Familie unter der Tür, so kann Cara ins Haus und Tapser bis in die Küche machen. Ingrid, die ihren feuchten Mantel aufknöpft, bekommt einen Kuß, nicht gerade einen Kinokuß. Aber immerhin. Sie freut sich darüber, zumal sie vom geisterhaften Tanzen der Jugendlichen nach wie vor halb abwesend ist. Es kommt noch besser: Gefragt, was um Himmels willen in ihn gefahren sei, ob er den ganzen Marillensekt weggetrunken habe (er verneint), schwingt Peter sich zu dem Bekenntnis auf, daß er sich ein Leben ohne sie drei nicht mehr vorstellen könne. Auch das tut Ingrid gut, obwohl Peter damit zu verstehen gibt, daß er Frau und Kinder als Personalunion begreift.
Peter hilft den Kindern aus den Stiefeln. Er berichtet von den Telefonaten, die er geführt und entgegengenommen hat.
Er sagt:
— Trude läßt fragen, ob wir einen Kalender brauchen. Sie schickt uns einen.
— Das ist nett, daß sie an uns denkt.
Als Ingrid die Kinder in die Badewanne steckt, bringt Peter sogar eine Tasse Kaffee mit warmer aufgeschäumter Milch. Sehr aufmerksam. Er ist wie verwandelt.
Wie verwandelt? Natürlich, Ingrid kennt die dahintersteckenden Mechanismen aus jahrelanger Erfahrung. Für den Moment sind Peters Annäherungsversuche und Versöhnungsgesten trotzdem ganz angenehm. Sie ist ja immer schnell zu erweichen. Den Wunsch, daß es wieder besser wird, hat sie schon aus dem pragmatischen Grund, weil es die Kinder gibt. Sie hofft halt, daß keines von ihnen Peters partnerschaftliche Minderbegabung geerbt hat. Gleichzeitig hofft sie natürlich auch, daß die Zwanghaftigkeit, mit der Peter sich in Nebensachen vertieft, nicht an die beiden übergegangen ist. Damit würden die Ärmsten schlecht fahren.
Sie meint Peters Basteln in der Werkstatt und die Spiele, von denen er nicht abgelassen hat, bis ihm nichts anderes mehr übrigblieb. Schlagende Beispiele in puncto radikaler Nebensachen. Für Ingrid hatten die Spiele am Anfang Freiheit und Abenteuerlust und Kreativität und Wille zur Selbstbehauptung signalisiert. Aber bis auf die Sache mit der Selbstbehauptung hat Ingrid das ziemlich falsch eingeschätzt. In Wahrheit war es eine Fortsetzung des Tschick-Sammelns in der Erbsenzeit, ein während der ersten Nachkriegsjahre entstandenes, aus der Not geborenes, völlig ineffizientes, letztlich sinnloses Unternehmen, mit dem Peter sich beschäftigte, um größeren Plänen aus dem Weg gehen zu können.
Wer kennt Österreich?
Ingrid denkt: So langsam, doch, so langsam mache ich mir ein Bild.
Sie seift den Kindern die Köpfe ein und spült ihnen das feine, leichte Haar, wie es schon ihre eigene Mutter gemacht hat, als Ingrid und Otto gemeinsam in der Wanne saßen. An Otto erinnert Ingrid sich nicht mehr sehr gut. Aber sie weiß noch, daß ihre Mutter Otto Waschbär nannte und sie (Ingrid, Gitti) Iltis. Sie nennt Philipp Waschbär und Sissi Iltis. Die Kinder stoßen ihre schrillen Lacher aus, und weil Ingrid vom Dienst und vom Spaziergang ziemlich geschlaucht ist und weil sie von der Kälte ein wenig Kopfweh hat, überredet sie die beiden zu einem Wettbewerb, wer länger untertauchen kann. Die Kinder halten sich die Nasen zu und saugen auf Fertig!Los! mit aufgerissenen Mündern die Luft ein. Ehe sie mit den Hintern zur Badewannenmitte rutschen und mit den Oberkörpern unter Wasser fallen, kneifen sie fest die Augen zu. Ihre Gesichter mit den trompeterdicken Wangen sehen unter Wasser schlierig aus, verschwommen durch die Seife, perspektivisch vergrößert. Ingrid denkt an Fische, die man unter einer Brücke schwimmen sieht. Das Kreischen der Straßenbahn auf der Pötzleinsdorfer Straße ist jetzt ebenso vernehmbar wie das Ticken in der Gastherme.
Sie wiederholen das Spiel mehrmals. Einmal rufen die Kinder etwas unter Wasser, hinterher wollen sie wissen, ob Ingrid verstanden hat, was.
— Donaudampfschiffahrtsgesellschaftskapitän?
— Nein! kreischt Sissi.
— Also noch einmal.
Ingrid sitzt neben der Badewanne, sie nimmt einen Schluck vom Kaffee. Die Luftblasen platzen an der Wasseroberfläche. Dumpf und entstellt steigen die Stimmen der Kinder zu Ingrid auf und trotzdem verständlich.
— Popocatepetl?
— Nein!
Es plätschert alles so dahin, aber es plätschert sehr rasch. Es vergeht. Die Zeit ist einfach weg. Was habe ich gemacht? Die letzten sechs Monate? Im letzten Jahr? Bei den Kindern hat sich viel getan. Sissi kommt im nächsten Jahr ins Gymnasium, Philipp in die Schule, dann ist auch er aus dem Gröbsten raus. Aber bei mir? Alles, was geschieht, hat mit den Kindern zu tun. Die Jahre ordne ich Dingen zu, die nur indirekt mich betreffen. Früher habe ich Peter kennengelernt, und im nächsten Jahr habe ich maturiert, und in dem einen Jahr war meine erste Fehlgeburt, und wieder in einem anderen Jahr bin ich von zu Hause ausgezogen, und irgendwann habe ich promoviert. Jetzt werden die Kinder eingeschult und haben Scharlach undsoweiter. Und ich: lebe so nebenher.
Die Kinder müssen ihre Geschlechtsteile waschen, währenddessen erzählt Ingrid, daß im Tiergarten zu der Zeit, als Peter dort als Fotograf arbeitete, ein Seehund eingegangen ist, nachdem er den Fotoapparat eines sowjetischen Soldaten verschluckt hatte. Die sowjetischen Soldaten hätten Schlitzaugen gehabt wie Der kleine Wassermann in Philipps Lieblingsbuch (sein Haar, ob es grün ist? von Wasserlilien durchzogen, wenn er auf moosigen Karpfen zwischen Algenbäumen reitet).
Die Kinder sind beeindruckt, sie tauchen nochmals unter. Ingrid soll die Zeit nehmen. Sie sitzt da, ihr Blick ist auf die Uhr gerichtet, zehn Sekunden sind vergangen. Gleich wird Philipp hochschießen, daß das Wasser an alle Wände spritzt, und keuchen, ganz erschöpft und enttäuscht, daß ihn Sissi schon wieder geschlagen hat.
Es ist vielleicht das letzte Mal, daß die Kinder um die Wette tauchen, denkt Ingrid. Unten klingelt derweil das Telefon. Peter ruft nach ihr, und noch ehe die Kinder aus dem Wasser hochkommen, läuft Ingrid aus dem Bad und die Treppe hinunter. Sie geht davon aus, daß der Rest von dem, was an den Kindern noch schmutzig ist, von selbst sauber werden wird, indem es einweicht.
Es ist ihr Vater, der seine Glückwünsche zum Jahreswechsel deponiert, die Stimme belegt von all dem, was zwischen ihnen je gesagt worden ist, ergänzt um manches Wort, das er mit Peter gewechselt hat. Er beklagt sich im Auftrag von Alma (wie er behauptet), daß Ingrid zu Weihnachten nicht gekommen ist.
Ingrid klemmt den Hörer zwischen Ohr und Schulter und wischt sich die feuchten Hände am Kleid ab. Seit Peter und ihr Vater beim Auseinanderbauen der Wohnzimmermöbel handgreiflich geworden sind, hat sich der Kontakt zwischen dem dreizehnten und dem achtzehnten Bezirk auf ein Minimum reduziert.
— Weihnachten ist ein Fest des Friedens, Papa.
Ingrid ist nicht unfreundlich, aber hörbar distanziert.
(Das Singen, das Umarmen, das Küssen, das Die-Dankbare-Spielen und die blöden scheinheiligen Reden, sie will das alles nicht.)
— Und ich brauche meinen Frieden ganz besonders.
Ihr Vater seufzt nachsichtig. So milde hat sie ihn schon lange nicht mehr erlebt. Er spricht eine weitere Einladung für den Neujahrstag aus. Doch da Ingrid auch das neue Jahr abseits der Pyrotechnik nicht mit Familienböllern und Knalleffekten beginnen möchte, stellt sie einen Besuch erst im Anschluß an den nächsten Nachtdienst in Aussicht.
Sie sagt es gleich:
— Ich komme besser allein.
Peter muß sie gar nicht fragen, und die Kinder, die sich bei den Großeltern langweilen, können das Schispringen genausogut zu Hause anschauen.
— Mutter wird enttäuscht sein. Sie würde die Enkel gerne wieder einmal sehen.
Nach einer Pause fragt er:
— Geht es dir gut?
— Ich denke, ja, so halbwegs. Ich bin halt ohne Unterbrechung beansprucht. Nichts Neues.
— Du mußt dich mehr schonen, rät Richard.
— Ich mich? Eher man mich.
Aber darauf geht ihr Vater nicht ein.
— Weißt du schon, auf welches Fach du dich spezialisieren wirst, wenn du mit dem —?
Das Wort Turnus fällt ihm nicht ein, und nach einiger Zeit sagt er:
— Mit dem post-graduate fertig bist?
— Gynäkologie.
(Wenn überhaupt.)
Er lacht. Ingrid hat den Eindruck, er will seinen überlegenen Humor demonstrieren, indem er sagt:
— Ich bin aufrichtig dankbar, sagen zu können, daß ich zwei Fächer bislang nicht in Anspruch genommen habe, die Gynäkologie und die Psychiatrie.
Anschließend redet ihr Vater eine Weile über den Linksruck nach der letzten Wahl, über den sich Alma insgeheim freue. Er läßt einfließen, daß diese Entwicklung ihm keineswegs, wie man vermuten könnte, das Gefühl gebe, er habe den Sinn seines Lebens verfehlt. Mittlerweile seien die einen wie die andern. Er berichtet von der Situation innerhalb der Partei. Die meisten Geschichten hört Ingrid zum zweiten oder dritten Mal, sie sagt aber nichts und hört sich alles brav an, das tut nicht weh. Einer der Vorteile der Jahre, die sie mit Peter verbracht hat, ist der, daß sie ein gewisses Gespür für das andere Geschlecht entwickelt hat. Niemand besser als ihr Vater, um das Gelernte anzuwenden.
Es vergehen fünf Minuten, dann gelingt es Ingrid, die Langatmigkeit der väterlichen Ausführungen freundlich abzuwürgen mit der Frage, was er zu Weihnachten verschenkt habe.
— Mama einen Safe von Wertheim und mir einen Feuerlöscher fürs Auto.
Das wird auch immer origineller. Aber immer noch besser als bei ihr, wo nur Dinge geschenkt werden, die ohnehin fällig sind.
– Übrigens, sagt Richard, Mutter läßt fragen, ob du genug Handtaschen hast.
— Man kann nie genug haben.
— Ja, natürlich.
Funkstille.
Peter kommt vorbei, auf dem Weg zwischen Wohnzimmer und Küche. Er berührt Ingrid am Hals. Es läuft ihr kalt den Rücken hinunter; ob angenehm oder unangenehm, kann sie nicht sagen. Ihr scheint aber, Peter ist eigens deshalb vom Fernseher aufgestanden.
Richard fragt:
— Und was macht ihr heute abend?
— Die Einladung an den Semmering, zu der sich Peter hat breitschlagen lassen, ist ausgefallen, weil dort alle krank sind. Wenn die Kinder jetzt noch zwei Stunden schlafen, gehen wir zum Chinesen, sonst bleiben wir zu Hause.
— Wirst du eine Ente essen?
Sie bläst hörbar die Luft aus.
— Weiß nicht, ich denke, ich habe noch Zeit mit meiner Wahl, bis ich im Lokal vor der Karte sitze.
— Na ja, wozu geht man zum Chinesen, wenn man keine Ente ißt?
Diese Art von Kritik ist Ingrid zu hoch beziehungsweise schüttelt sie derartige Kommentare mittlerweile ab, und übrig bleibt: Der Mann ist nicht mehr zu ändern, der wird nur immer noch besserwisserischer (und kann ihr den Buckel runterrutschen).
Oben rufen die Kinder, daß sie fertig sind.
— Sag Mama schöne Grüße und Prosit Neujahr.
— Mama will mit dir reden. Ich gebe sie dir.
— Hallo, Ingrid?
— Mama? Ich muß jetzt aufhören, die Kinder sitzen in der Badewanne und rufen nach mir. Ich komme am Dienstag.
Gewicht nackt:
Philipp
19,5 Kilogramm
Sissi
32 Kilogramm
Ingrid
62 Kilogramm
Peter föhnt den Kindern die Haare und füttert sie mit Broten ab. Ingrid stellt sich derweil unter die Dusche und hat Schuldgefühle, weil sie innerlich zumacht, sowie sie mit ihren Eltern zu tun bekommt. Es ist, als hätte sie ein abnormes Interesse daran, daß zwischen ihr und ihren Eltern alles bleibt, wie es ist. Klar, sie hat hinreichend Gründe, ihren Eltern die kalte Schulter zu zeigen. Doch gleichzeitig will sie nicht bestreiten, daß sie weder Zeit hat, das Verhältnis zu verbessern, noch ein Verlangen verspürt, sich mit einer eventuellen Verbesserung der Beziehung zusätzliche Verpflichtungen aufzuhalsen. Manchmal kommt es ihr vor, als ob sie vor allem aus Routine barsch und unleidig ist, damit man sie in Ruhe läßt. Wobei von Ruhe dann erst recht nicht die Rede sein kann, weil sie sich schuldig fühlt, sowie sie ihre Eltern abgebeutelt hat. Diese Schuldgefühle führen dazu, daß sie ihren Fehler gutmachen will; das hat weiterhin mit ihrem Ruhebedürfnis zu tun. Jetzt zum Beispiel: Beschließt sie, sofort nach dem Duschen unter einem Vorwand zurückzurufen und freundlicher zu sein. Doch davor schreckt sie gleichzeitig zurück, weil es wenig wahrscheinlich ist, daß sie sich hinterher besser fühlen wird. Wirst du dann zufrieden sein? Eingehüllt in Wasser und Dampf, kommt sie zu dem Schluß, daß sie der größte Egoist von allen ist.
Konter, Parade:
Nein, Ingrid, du dummes Huhn, du mußt dich von dieser idiotischen Vorstellung freimachen, denn das stellt alles auf den Kopf. Du kannst nicht für das Glück aller zuständig sein. Man braucht auch ein Minimum an Energie für sich. Denk dran, was in der Cosmopolitan stand, die vor einigen Wochen im Ärztezimmer lag: Man verwendet seine Energien für sich und den Rest, der verbleibt, für andere. Du machst es genau umgekehrt. Du bist eindeutig zuwenig egoistisch, das springt jedem sofort ins Auge. Statt daß du ständig nach Rechtfertigungen für dein eigenes Verhalten suchst, sollten besser die anderen sich an der Nase nehmen. Ist doch so? Oder?
Aber das schlechte Gewissen bleibt trotz des guten Zuredens, und Ingrid nimmt sich vor, wenigstens am Dienstag, wenn sie ihre Eltern besucht, einen Anfang zu machen. Nicht mehr als einen kleinen Anfang. Das tut nicht weh.
Ingrid trocknet sich ab und kleidet sich für den Abend. Bei dieser Gelegenheit kramt sie die Autogrammkarte von Paul Hörbiger aus ihrer Schublade und verbrennt sie in der Klomuschel. Sie kippt das Fenster, damit sich der Rauch verziehen kann. Dann geht sie nach unten, wo Peter im Spielzimmer für die Kinder den August macht. Philipp herzt Peter ein paarmal und drückt ihn, so daß Ingrid fast ein wenig eifersüchtig wird. Daß Peters Nichtstun ihm bei den Kindern soviel Ansehen einträgt, sobald er sich doch einmal herbeiläßt, mit ihnen zu spielen, ist ein Phänomen, das sich Ingrid nie erhellen wird. Aber bitte, sie erzieht die Kinder, Peter konsumiert sie.
— Ich möchte euer Idyll nicht stören, aber wenn ihr zwei (sie deutet auf Sissi und Philipp) nicht stantepede ins Bett geht, ist der Chinese gestrichen und auch das Bleigießen fällt ins Wasser. Also los, ich mein’s, wie ich’s sage.
Als dann während des Fernsehens ihr Feuerzeug runterfällt, bückt sich Peter unverzüglich, um es aufzuheben. Und als sie niesen muß, sagt er sofort:
— Zum Wohl.
Diese enorme Fürsorglichkeit macht sie fast stutzig. Seit dem Mittagessen, seit immerhin sechs Stunden, hat Ingrid kein Wort der Kritik mehr gehört, es gibt keine Rhetorik und keinen beleidigten Unterton. Peter sucht sogar Hautkontakt, wenn auch auf unbeholfene Art; wie er ihr das feuchte Haar hinters Ohr streicht. Doch da gute Absicht zweifellos vorhanden ist und Peter trotz allem nicht mehr zum Himmel stinkt als die meisten Männer, will sie nicht so sein und dem harmonischen Abend nicht im Weg stehen. Ein paar Mal beißt sie sich auf die Zunge und schluckt eine Bemerkung hinunter, die sie gerne losgeworden wäre. Aber bitte. Der Himmel wird es ihr vergelten, oder die Hühner werden lachen.
Vielleicht wird Peter sich ja der Tragweite bewußt, weshalb ein anderer Wind weht, vielleicht packt ihn die Angst vor einer möglichen Trennung, wie sie Andritschs gerade droht. Vielleicht trifft das seinen Stolz, und er entsinnt sich für ein paar Tage seiner häuslichen Pflichten. Denkanstöße gäbe es genug.
Apropos Andritsch: Ingrid ist gespannt, ob Herr Andritsch um Mitternacht wieder ein Feuerwerk abbrennt wie zu Silvester im letzten Jahr. Da wehte kein Lüftchen, und der Rauch der gezündeten Raketen blieb auf der Terrasse stehen und wurde immer dichter, bis Herr Andritsch und seine Gehilfen (zuletzt Peter, nachdem der Andritsch-Bub das Handtuch geworfen hatte) inmitten der Batterien aus Getränkekisten und Feuerwerkskörpern nur mehr als verschwimmende, lallende Schemen auszumachen waren. Es kommt Ingrid vor, als habe sie übers Jahr nicht so mit dem Bauch gelacht wie zu Silvester 1969 beim Anblick dieser eingerauchten und hustenden Männer. Im Gedröhn des Mitternachtswalzers und der heftig schwingenden Kirchenglocken und unter den hellen Funken- und Gelächtergarben brachten sie ihre Mission unverdrossen zu Ende. Donau so blau, so blau —.
Cara kommt zu Ingrid auf die Couch und bohrt ihre kalte Schnauze in Ingrids linke Achselhöhle, die ledrigen Vorderpfoten auf Ingrids Schenkeln und in ihrer Hand. Draußen kracht es wieder heftig. Es hört sich an, als würden die Nachbarskinder Cola-Dosen in die Luft sprengen, mag sein, es ist der eine oder andere Briefkasten betroffen. Ehe es richtig arg wird, sollte Ingrid Cara nochmals Baldrianperlen verabreichen und sie dann in den Keller sperren.
— Hast du gute Vorsätze fürs neue Jahr? will Peter wissen.
— Gute Vorsätze? Das ist Opium für die Unglücklichen, erwidert Ingrid. Sie streichelt den Hund. Nach einer Weile sagt sie:
— Weißt du, die guten Vorsätze haben auch im abgelaufenen Jahr nichts geholfen, die erstbeste Hürde hinter Dreikönig haben wir gerissen.
Peter murmelt betreten, aber ohne zu widersprechen, vielleicht weil er die richtigen Worte nicht findet. Man kann ihm aber anmerken, daß gute Vorsätze für ihn tröstlich wären.
Er hockt neben ihr, vorgekrümmt, rollt seine Zigarette zwischen den Fingern, mit vorgeschobenen Lippen. Er widmet sich eine Weile dem Fernseher, lacht sogar mehrmals, wie zweigeteilt, denn nachher, nachdem er eine Weile gewartet hat, richtet er sich auf und will darüber sprechen, wie es weitergehen soll. Ingrid, die ebenfalls raucht und dem Rauch ihrer Zigarette nachblickt, ruhig von den wechselnden, belanglosen Bildern im Fernsehen, antwortet freundlich, sie habe ihm vorgestern alles gesagt, es gebe nichts hinzuzufügen.
Peter meint dann noch, es falle ihm schwer, sich mit ihrer Position abzufinden. Sie münzt das um auf sich, ihr gehe es umgekehrt genauso. Peter drückt seine Zigarette aus und sitzt da mit den Händen in den Hosentaschen, die Schultern hochgezogen. Ingrid reicht ihm verbal den einzigen Strohhalm, der zwischen ihren Fingern noch irgendwie Substanz hat:
— Es ist ein Erfolg, daß wir dieses Jahr überstanden haben. Das kommende kann eigentlich nur besser werden.
Immerhin: Wünsche für das Jahr 1971 hätte sie schon. Wünsche. Die hat man immer, obwohl man sich auch die am liebsten abgewöhnen würde.
Eine Feststellung, nichts weiter.
Ende des Lateins.
Von ihrer Übernächtigkeit hat sie ein schläfrig summendes Gefühl in den Zähnen und einen schleierartigen Schmerz hinter der Stirn. Ihre Gedanken verschwimmen um so mehr, je länger sie dasitzt. Aber eins steht ihr klar vor Augen: Sie ist keinesfalls bereit, ihren Beruf aufzugeben. Da gibt sie nicht nach. Sie liebt ihren Beruf. Es ist der Beruf, den sie haben wollte. Sie mag es, das Spital zu betreten, sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen und dann in die weißen Hosen und den weißen, knielangen Mantel zu schlüpfen. In der Dienstkleidung fühlt sie sich als moderne, selbständige und kräftige Frau. Ihre Schrift in den Krankenakten. Der Umgang mit den Patienten und dem Personal. Sie gefällt sich dabei, es entspricht ihrem Gefühl von sich selbst, es ist das, was sie braucht.
Inzwischen ist es halb sieben, und sie hört die Kinder oben nach wie vor herumlaufen. Ihre kleinen trappelnden Schritte, die den Lampenschirm zum Erzittern bringen, wenn sie einander von einem Zimmer ins andere jagen.