Donnerstag, 31. Mai 2001

Gegen Morgen hat Philipp einen Traum: Er ist Arbeiter auf der Kolchose Sieg des Kommunismus und begegnet dort Atamanovs Braut, die als Operateurin der mechanisierten Melkung arbeitet. Operateurin der mechanisierten Melkung. Der Ausdruck verblüfft Philipp noch im Traum und scheint in seiner sonderbaren Gestelztheit alles, was sich sonst noch zuträgt, von vornherein zu verbürgen: Daß die Frau Asja heißt, und warum auch nicht, sie befinden sich in der Ukraine, im Landkreis Kriwoj Rog. Dort fängt Philipp ein Verhältnis mit Asja an, in einem Raum, in dem zahlreiche 50-Liter-Milchkannen und eine tischgroße Milchschleuder stehen. Die Details der Verführung sind die üblichen, und wie nicht anders zu erwarten in solchen Träumen, gefällt der Frau, was Philipp mit ihr macht. Sie schreit vor Glück, was Philipp besonders beeindruckt wie überhaupt die ganze Person: Sie ist etwa 25 Jahre alt, dunkelhaarig, hat ein sehr eigenwilliges, großflächiges Gesicht, hohe Backenknochen, hängende Oberlider und eine leicht vorgespitzte Oberlippe. Sie ist mittelgroß, praktisch ohne Busen, hat aber die obersten zwei Knöpfe offen, was den fehlenden Busen irgendwie wettmacht, als bestehe darin, daß nichts versprochen wird, der eigentliche Reiz. Tatsächlich hat Philipp das Gefühl, daß ihm von Atamanovs Braut etwas verweigert wird, als wäre es ihre Entscheidung, eine Art Hochnäsigkeit, keinen Busen zu besitzen. Diese Empfindung verwirrt ihn, und plötzlich steht Atamanovs Braut in einiger Entfernung zu ihm, wieder zur Gänze bekleidet, und er begreift, weiterhin im Traum, daß der Traum während seiner Verwirrung einen Sprung gemacht und ihn um das Ende des Geschlechtsverkehrs gebracht hat. Philipp und Asja verlassen den Raum. Atamanovs Braut trägt jetzt eine abgewetzte Lederjacke, in der sie aussieht wie eine Parteigenossin zur Zeit der Klassenkämpfe. Sie strahlt etwas Entschlossenes und Überzeugtes aus, das Philipp neidisch macht, so daß er Lust bekommt, Kommunist zu werden, einen roten Paß zu besitzen und so einen Ausweg zu finden für seine Misere. Das sagt er Atamanovs Braut, bereits in einem der Ställe, und einen Augenblick lang ist ihm, als müsse er in Tränen ausbrechen vor lauter Rührung über die Tiefe und Tragweite seiner Gefühle. Doch Atamanovs Braut schaut ihn lediglich kurz an und sagt dann:

— Von Politik verstehe ich nichts.

Von diesem Traum hochgradig irritiert und gewillt, in Zukunft ein besserer Mensch zu sein, geht Philipp in der Früh zuallererst zum Papiercontainer, um vom geschriebenen Nachlaß seiner Großmutter zu retten, was sich noch findet (zielstrebig werde ich werden, verantwortungsvoll, das Erz der Vergangenheit abbauend). Aber nein, nein, er hat kein Glück. Kein Glück. Der eine wirft’s weg, der andere zerrt’s wieder raus. Außer ein paar vergilbten Betriebsanleitungen (Staubsauger, UV–Lampe, Mixgerät, Fernseher) und einer verrutschten Postkarte aus den fünfziger Jahren, die ein Lappländerpaar in Tracht beim Rentiermelken abbildet (Renmjölkning), hat alles Persönliche und auch sämtliche Bücher, die er weggeschmissen hat, den Interessenten gefunden, der er selbst nicht war. Niedergeschlagen und mit dem Wissen, daß die Zusammenhänge nicht mehr herstellbar sein werden, setzt er sich auf die Vortreppe und ruft sich Einzelheiten der Briefe, die er gelesen hat, ins Gedächtnis zurück.

Philipp geht nur mit Widerstand in den Kindergarten.

Ihm offenbart sich nicht ganz, wieviel Realität diese Bemerkung für ihn noch besitzt, ob er mehr als dreißig Jahre später, während er den Satz wiederholt, den Widerstand aufgegeben hat und vorwärtskommt oder freiwillig geht oder gehen will oder nicht mehr gehen muß.

Er wartet, er weiß nicht worauf.

Gegen zehn kommt die Postbotin. Philipp küßt sie wie schon öfters und wieder im Blickschatten der Mauer. Dann fragt er sie (inspiriert von einem Roman Wilhelm Raabes), wie viele Kilometer sie von Berufs wegen pro Tag zurücklege.

— Etwa zehn, gibt sie zur Antwort.

Er sagt ihr, angestrengt rechnend, daß sie, anstatt die Erde zu umrunden, wofür sie bei zehn Kilometern pro Tag wenig mehr als zehn Jahre bräuchte (da wäre sie Ende dreißig): daß sie statt dessen am Fleck trete. Sie komme trotz der vielen Kilometer, die sie mit ihrem Postkarren zurücklege, aus Wien nicht hinaus, nicht einmal aus dem dreizehnten Bezirk. Sie überlegt einen Moment, verständnislos, dann sagt sie mit gleichgültiger Miene, daß ihr das egal sei, sie wolle lieber noch ein wenig schmusen statt reden. Als ob Philipp um des Redens willen geredet hätte. Sie küssen einander noch ein wenig. Aber das ist nichts, was Boden unter den Füßen hätte. Es überrascht Philipp, wie kalt ihn die Berührungen lassen, die ihm die Postbotin gestattet.

Betrug und Verrat sollen das letzte Auflodern und somit die letzte Hoffnung der Liebe sein. Heißt es. Aber Philipp kehrt ebenso niedergeschlagen zur Vortreppe zurück wie er sie verlassen hat. Blitze zucken, es beginnt zu regnen. Bald schüttet es nur so. Die Tropfen prasseln mit hoher Geschwindigkeit nieder, was sich akustisch am deutlichsten am kupfernen Vordach über der Haustür niederschlägt. Es knöchelt regelrecht. Der Kies am Vorplatz spritzt mit den Tropfen hoch. Ab und zu hört es ein wenig auf, aber nur kurz. Es dunstet stark ein. Alles grau in grau. Die grünen Bäume, die grünen Sträucher, die grünen Fensterläden. Grün und grau. Kein knallroter Mercedes, weil Steinwald und Atamanov in andere Geschäfte verwickelt sind. Kein Telefon. Keine Johanna. Nichts.

Vor lauter Zorn schnallt Philipp den Gürtel ein Loch enger und macht sich trotz des Regens an der Teppichstange zu schaffen, wo er den ersten Hüftumschwung zustande bringt, seit er sich um diese Kunst bemüht. Er probiert es gleich nochmals, weil er spürt, daß er gerade die nötige Faust für die Sache hat, rutscht von der regennassen Stange ab und fliegt mit Wucht zu Boden. Seine Lunge krampft sich zusammen, und während er mit aller verbliebenen Kraft das Kreuz wölbt und wartet, bis er wieder Luft bekommt, ermahnt er sich, ruhig zu bleiben und sich nicht an das Leben zu klammern. Er atmet wieder normal, oder beinahe. So liegt er eine Zeitlang im Gras, das Staubkorn im Auge unseres Herrn und Schöpfers, mit herausfordernder Hochnäsigkeit, die ihn vor dem Fluchen bewahrt. Der Regen klatscht ihm ins Gesicht (ein feiner Regen fällt auf ihn herab), und er spürt, wie an seinem Hinterkopf ein diffuser Schmerz und eine unangenehme Wärme rhythmisch an einer Beule arbeiten. Er will gar nicht hingreifen, aus Trotz, nicht aus Angst, aus reinem Trotz.

Doch als er wenig später in der Badewanne liegt, greift er doch hin und ist höchst überrascht, daß Blut die Haare verklebt.

— Himmelherrgott, was mir alles passiert.

Am Abend sitzt er mit einem Verband um den Kopf vor dem Fernseher und fühlt sich einigermaßen wohl. Steinwald und Atamanov kommen nach Hause. Philipp hat die beiden schon erwartet. Er hört, daß sie den Kühlschrank auffüllen, mehrmals die Treppe ins Obergeschoß hoch- und wieder heruntersteigen. Sie haben in den ehemaligen Kinderzimmern, die die kleinsten Zimmer des Hauses sind, ihre Quartiere genommen, wie um zu demonstrieren, daß sie den Ehrgeiz haben, möglichst wenig Platz zu brauchen; oder um Philipp beim Bewohnen des Hauses nicht mehr als unbedingt nötig zu helfen. Nach einiger Zeit klopft Steinwald an Philipps Tür. Er tritt ein und erkundigt sich, ob Philipp am Essen teilnehmen wolle. Nachdem Philipp zugesagt hat, bittet Steinwald, weiterhin mit der unbefangensten Miene von der Welt, Philipp möge, solange es regnet, keine Dinge in den Container werfen. Außerdem sei das Dach des Hauses undicht.

Philipp schaut vom Fernseher auf und fragt sich, was Steinwald noch alles einfallen wird, ehe er auf seinen (Philipps) bandagierten Kopf zu sprechen kommt. Steinwald fährt fort, Atamanov sei gerade am Dachboden gewesen, um den Cassettenrekorder zu holen, und habe dabei die bedauerliche Feststellung gemacht (Wasser dringt ein, ein König ist nichts neben einer Tatsache). Steinwald hebt entschuldigend die Arme.

— An mehreren Stellen.

— Schlechte Neuigkeiten für einen eingefleischten Müßiggänger wie mich.

Steinwald kratzt sich unterm Hut. Wie meistens trägt er auch jetzt seinen kleinen braunen Filzhut, unter dem die dunklen Locken hervorquellen.

Philipp sagt:

— Sie haben einen hübschen Hut, Steinwald. Er erinnert mich an den Hut des Polizisten in French Connection. Sie wissen doch, Gene Hackman, die Verfolgungsjagd, in der ein Straßenkreuzer einer hochtrassig geführten Stadtbahn nachjagt.

Steinwald preßt die Lippen aufeinander, für einen Augenblick ist das Rot fast verschwunden. Philipp glaubt, gleich kommt Steinwald auf das Thema des Kopfverbands zu sprechen. Aber nein. Als sei er überzeugt, daß Philipp lediglich Mitleid heischen wolle, und als glaube er obendrein, daß man am weitesten kommt, wenn man sich gegen Schmeicheleien taub stellt, ignoriert Steinwald Verband und Kompliment und sagt lediglich noch, geschäftsmäßig, bevor er geht, daß er und Atamanov nicht imstande seien, den Schaden am Dach zu beheben. Aber er könne, wenn Philipp es wünscht, bei Firmen, die verläßlich und nicht zu teuer sind, Angebote einholen und die Arbeit beaufsichtigen. Steinwald schaut Philipp unbefangen an, und Philipp, der nicht weiß, was er erwidern soll, brummt ein mürrisches Danke und wendet sich wieder dem Fernseher zu.

Bis zum Essen hat er noch eine Stunde Zeit, und wie schon die Tage zuvor achtet er dort, wo er beim ständigen Wechseln der Kanäle länger verweilt, genau auf das, was geredet und verlesen wird. Vielleicht, so sagt er sich, begegnet ihm irgendwo ein Satz, den er Johanna gegenüber verwenden oder der ihm in einem anderen Zusammenhang nützlich sein kann, Steinwald und Atamanov gegenüber, im Gespräch mit der Postbotin, in Betrachtung eines der Fotos, die im Schlafzimmer der Großmutter über der Frisierkommode hängen. Er braucht sehr viele Sätze.

Ich bin noch zu klein für deine Gute-Nacht-Geschichten. Es wird etwas förmlich, ziehen Sie etwas Dunkles an. Warum hast du das nicht gleich gesagt? Da kann man nicht so einen Clown reinlassen. Auch für die Pipi-Sätzchen drängen junge Kollegen nach, und peu à peu werden auch die Solohuster abnehmen. Aber es reicht, Edda, Schluß mit dem Herumgeseiere, reiß dich zusammen! Guten Abend, Johanna sagt uns, wie das Wetter wird. Er braucht dringend einen Arzt! Lassen Sie mich durch! Wenn du jetzt nicht gehst, werfe ich dich hinaus, und wenn mir das nicht gelingt, hole ich jemanden, der mir hilft. Morgen muß ich wieder zurück und habe noch gar kein Gefühl dafür. Wer gewinnt? Keiner, die eine Seite verliert nur langsamer als die andere. Das ist genau das richtige Wort. Ich möchte nicht um jedes Paar Strümpfe bitten müssen. Augenblickmal, das ist von nun an deine Geschichte, nicht mehr die unsere. Zerbrich dir nicht meinen Kopf. Leg dich schlafen, dann geht das vorbei. Alles verlockt zur Trägheit. Regenwahrscheinlichkeit 60 Prozent. Wind aus nordwestlicher Richtung. It’s a crying shame. Man sagt zwar, es kämen opernhafte Stellen darin vor, aber das ist spitzfindig.

An einer Klowand auf der Uni hat Philipp einmal den Satz gelesen:

Einst hörte ich eine Trompete blasen, doch wußte ich nicht, was dies zu bedeuten hatte.

Solche Dinge fallen ihm wieder ein.

Beim Abendessen reden sie über Philipps Beule, und Steinwald gibt ein paar Unfälle zum besten, die er am Bau erlebt oder erzählt bekommen hat. Am meisten beeindruckt Philipp ein verlorenes Auge. Bei einem Reifenplatzer an einem vollbeladenen LKW sei unter dem Druck der austretenden Luft ein Kiesel mit solcher Wucht in das Auge eines Arbeiters geschleudert worden, daß der Arbeiter das rechte Auge verloren hat. Diese Erzählung macht Philipp ganz baff. Er versinkt in Gedanken an riesige Sattelschlepper und Augenklappen und Seeräuber und Filibustiere, die Töchter polnischer Grafen entführen, und sagt für eine Weile gar nichts. Aber später, als er im Bett liegt (als er von fern einen der Arbeiter die Querflöte blasen hört, spaßeshalber), ist er froh um seine Kopfverletzung und sucht nach einer Lage, in der er die Beule spürt, ohne Schmerzen zu empfinden.

Zu spät kommt ihm in den Sinn, daß auch er eine Lastwagengeschichte auf Lager hat. Jetzt ärgert er sich, daß er es versäumt hat, die Geschichte anzubringen, wo es so schön gepaßt hätte. Obwohl Steinwald und Atamanov noch nicht zu Bett gegangen, sondern im Obergeschoß mit dem Gestalten ihrer Zimmer beschäftigt sind, widersteht Philipp dem Bedürfnis, nochmals aufzustehen. Aber damit er die Geschichte beim nächsten Abendessen verläßlich parat hat (ihm fällt ein, daß auch Johanna die Geschichte noch nicht kennt), erzählt er sie sich selbst, bestimmt vier oder fünf Mal, in verschiedenen Ausführlichkeiten:

In allen Versionen ist er sechzehn und läuft von daheim weg. Einmal nimmt ihn ein finnischer Lastwagenfahrer Richtung Griechenland mit, ein andermal ein burgenländischer Lastwagenfahrer Richtung Frankreich. Beide Fahrer manövrieren ihre Sattelschlepper mitten in der Nacht auf einen kleinen Parkplatz und legen sich über das Lenkrad in der Absicht, für eine Stunde zu schlafen. Von da an läuft die Geschichte immer präzise nach dem gleichen Schema ab: Im Gegensatz zum Fahrer hat Philipp keine Lust zum Schlafen, weil er nicht sonderlich müde ist. Außerdem ärgert er sich, daß die Standheizung auf vollen Touren läuft und ihm der Fahrer aus Sorge um seinen Nacken, den er sich leicht verkühlt, verboten hat, das Fenster zu öffnen. In der Kabine herrscht eine erniedrigende Hitze. Philipp schaut gelangweilt Richtung Autobahn, auf die Lichter, die sich in die Dunkelheit bohren. Nach einiger Zeit kommt ein zweiter Sattelschlepper auf den ansonsten leeren Parkplatz und parkt unmittelbar vor ihnen ein. Der hinzukommende Sattelschlepper setzt zurück, der Abstand zu ihnen verringert sich langsam. In dem Moment richtet sich der Fahrer neben Philipp von seinem Lenkrad auf, im Halbschlaf sieht er die näher kommenden Schlußlichter, sein Gesicht verzerrt sich, er stemmt sich gegen das Lenkrad und tritt voll auf die Bremse, die aber nicht reagiert. In noch größerer Panik, dem näher kommenden LKW im nächsten Moment hinten draufzuknallen, tritt der Fahrer mit aufgerissenem Mund zwei weitere Male voll auf die Bremse. Aber auch diesmal tut sich nichts. Der Fahrer will das Lenkrad herumreißen. Im selben Moment packt Philipp ihn an der Schulter und ruft (hier sind Varianten möglich):

— Wir stehen, Mann, wir stehen!

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