Samstag, 29. September 1962

Der Regen hat inzwischen aufgehört. Noch laufen Rinnsale durch die Furchen, die sich das Wasser im Schotter der Auffahrt gebahnt hat. Aber im Westen, woher die Wolken gekommen sind, klart es bereits wieder auf. Zaghaft sickert Licht durch vereinzelte Wolkenlöcher. Gleich werden dort oben die Nähte platzen.

— Arschlöcher. Die können mich mal alle.

Er steigt die Vortreppe hoch. Ein modriger Geruch nach k.u.k.-Mörtel entströmt der feuchten Fassade. Er lehnt den vom Kellner geliehenen Schirm neben die Haustür und sperrt die Tür auf. In der unsinnigen Hoffnung, daß jemand bei seinem Eintreten aufspringen und ihm den Mantel abnehmen wird, geht er die Zimmer des Untergeschosses ab. Ein Topfenkuchen, der noch in die Backform gespannt ist, steht zum Auskühlen auf der Anrichte in der Küche. Weitere Zeichen von Almas Anwesenheit findet er nicht.

— Alma! — — Alma!

Er hört seine Frau aus dem oberen Stockwerk antworten, unverständlich: Ich bin hier! sollte das wohl heißen. Was er hingegen sehr gut verstanden hat, ist, daß Alma es nicht der Mühe wert findet, seinetwegen ihre Zimmertür zu öffnen.

Er wirft seine Aktentasche auf den Schreibtisch im Herrenzimmer. Auf dem Weg zurück in die Diele streift er die Schuhe ab. Als er mit der linken Socke in die selbstgezogene Wasserspur tritt, kommt ihm der Einfall, ein heißes Bad zu nehmen, ehe er in eine trockene Garnitur schlüpft. Vielleicht ist ein Bad ein guter Anfang, vielleicht gelingt es ihm in der Badewanne, zur Ruhe zu kommen oder sich wenigstens an einen antriebslosen Zustand heranzuführen, der es ihm erleichtern wird, die neue Situation zu akzeptieren. Vielleicht kommt ihm das Bad auch für den Nachmittag zugute, für den sich Ingrid und Peter angekündigt haben. Sie wollen Möbel für das Haus holen, das sie vor vier Wochen erstanden haben, eine vorhersehbar strapaziöse Angelegenheit, vor der sich Richard am liebsten drücken würde — die beiden haben ihren eigenen Stil, dem muß man gewachsen sein.

Entspann dich, fordert Alma mit unerschütterlicher Regelmäßigkeit. Und er gibt regelmäßig zur Antwort: Ich bin weniger entspannt als andere, weil ich Verantwortungsgefühl besitze.

Er geht nach oben ins Bad und öffnet die Wasserhähne. Er wartet, bis heißes Wasser in den Rohren ist, dann verschließt er den Abfluß, nimmt die Flasche mit dem Schaum aus dem Schrank und gießt mit der Verschlußkappe etwas von der tiefgrünen Flüssigkeit in die Wanne. Bis die Wanne vollgelaufen ist, hat er zehn Minuten Zeit. Er geht hinaus, rechts über den Flur, dort klopft er sacht an Almas Schlafzimmertür.

In dem von zwei Fenstern erhellten Raum liest Alma ein Buch, halb liegend, halb sitzend, mit dem Kopf zum Fußende des Bettes, weil sie dort das bessere Licht hat.

— Schon zurück? Ich staune.

— Ausnahmsweise.

— So kenn ich dich gar nicht.

Es stimmt, eigentlich ist es undenkbar, daß er sieben Wochen vor einer Nationalratswahl, und sei’s an einem Samstag, nur kurz aus dem Haus geht.

— Ich wollte noch ins Ministerium und in Ruhe ein Memorandum über den Assuan-Hochdamm durcharbeiten. Aber der Regen hat mich nach Hause getrieben.

— Wohl ein Wetter, das sich im Tag geirrt hat.

Alma heftet ihre Augen auf Richard. Er fühlt sich nicht wohl unter ihrem Blick, mag sein, weil ihm bewußt ist, daß dies der Moment wäre, ihr zu sagen, daß die Partei ihn nicht mehr benötigt. Er sollte ihr sagen, daß er bald öfters zu Hause sein wird. Er sollte ihr sagen, daß ihn die Situation an seinen Cousin Leo erinnert, der bis 1953 in Kriegsgefangenschaft war und sich seine Rechte als Hausherr nach der langen Abwesenheit mühsam zurückerobern mußte. Er sollte sagen, daß er sich ein Bad einläßt, um die vage Idee, die er vom Privatleben hat, aufzufrischen. Er sollte so vieles sagen, und — durch ein plötzliches Entsetzen ahnt er die Wahrheit — vor allem sollte er wieder anfangen, sich Alma mitzuteilen.

— Von einer Kellnerin im Café Dommayer habe ich erfahren, daß das schlechte Wetter von den Satelliten kommt, die ins All geschossen werden und die Sonne nicht durchlassen. Vielleicht wird die Donau wieder einmal zufrieren.

Alma nickt. Offenbar hat Richard verlernt, etwas so zu sagen, daß andere lachen. Er tritt zum Fenster, das gegen den hinteren Garten geht. Die Gardinen sind zur Seite geschoben. Durch die Wasserschlieren blickt er auf die Obstbäume, die seit einigen Tagen Laub verlieren. Dunst steht in Hüfthöhe über dem Rasen. Richards Blick verschwimmt für einen Augenblick, gleichzeitig befällt ihn das Grauen, weil leerer Raum ihn umgibt, mehr leerer Raum, als seine Vorliebe für Respekt und Distanz erfordert. So klein dieses Land ist, für das er seine Kräfte aufwendet (oder aufgewendet hat), und so überschaubar das Haus und der Garten, die ihm gehören, ihm ganz allein: Alles ist immer noch groß genug, sich darin zu verlieren.

— Was liest du? fragt er.

— Nachsommer.

— Von wem ist es?

— Stifter.

— Adalbert Stifter, aha.

— Es ist eins der Bücher, die wir von Löwys bekommen haben. Es steht ein Datum drin, Weihnachten 1920, und auch der Preis, 24 Kronen.

— Ist das Buch spannend?

— Wenn man etwas für Seelen- und Landschaftsbilder übrig hat.

— Es heißt, die bedeutendste Landschaft ist das menschliche Gesicht.

— Gleich nach Österreich, das bekanntlich der Himmel auf Erden ist.

Klar, er weiß, sie nimmt ihn auf den Arm. Aber gut. Auch wenn es bis dorthin ein weiter Weg ist, mit den Jahren gewöhnt man sich an so manches.

— Ein friedliches, ein freundliches und schönes Land.

Alma streckt sich, sie dreht sich auf die Seite, Richard zugewandt. Sie trägt ein hellblaues, busenbetontes Kleid mit Karreeausschnitt. Ihrer Stimme ist anzuhören, daß sie das Kinn in die Hand gestützt hat.

— Vergeßlich fehlt in deiner Aufzählung. Ein Land, in dem man bei der Einreise die Vergangenheit abgeben muß oder darf, je nach Lage der Dinge.

(In dem man mit Vergessen bestraft oder belohnt wird, je nachdem, von welcher Seite man kommt, von links oder von rechts, wie in dem Weltspiel, mit dem Peter endgültig bankrott gemacht hat.)

Almas Worte sinken in Richard hinein, träge wie Ascheflocken. Er setzt sich auf die Bettkante, öffnet den seitlichen Reißverschluß an Almas Kleid und schiebt seine Hand hinein, über der Taille. Almas Gesicht verändert sich nicht. Ihre Atmung verändert sich nicht. Sie sieht aus wie jemand, der eine kurze Rast einlegt, wie jemand, der ohne Erwartung mit der Eisenbahn fährt. Sie bewegt sich in ihrer eigenen Wirklichkeit, die sich Richard nicht erschließt, in ihrer eigenen Geschwindigkeit. Sie entzieht sich Richard, indem sie sich seine Berührungen gefallen läßt.

Wie noch selten kommt Richard zu Bewußtsein, daß der Großteil des Glücks, das in diesem Leben für ihn bestimmt war, in Alma verkörpert ist und daß es dort in einer für ihn nicht konvertierbaren Währung lagert und verrottet. Doch statt seine Hilflosigkeit zu bekennen oder schlicht zu sagen, daß er seine Frau nach wie vor liebt, nach all den Jahren, und daß es ihm nicht schwerfällt, sich das einzugestehen, fragt er:

— Wie kommt es eigentlich, daß du dich mir seit Monaten nicht mehr genähert hast?

Er starrt in Richtung des nach Süden gelegenen Fensters. Er kratzt sich am Kopf. Er weiß, er ist am Ende mit seinem Latein.

— Aber letzten Sonntag war doch, stellt Alma fest, mit einem Kopfschütteln, mehr amüsiert als unruhig angesichts eines Problems, das ihr unwirklich vorkommen muß.

Richard versucht sich zu erinnern, und tatsächlich, es fällt ihm wieder ein, Sonntag war doch, unten im Wohnzimmer, auf der Ottomane. Er wendet Alma das Gesicht zu, reuig, er weiß, daß er es falsch angepackt hat und jetzt nichts mehr erreichen wird.

— Es kommt mir halt so vor.

— Was darauf schließen läßt, daß du, sowie du deine Hosen anziehst, mit dem Kopf schon wieder bei der Arbeit bist.

Sie blicken einander an. Richard fällt ein, was Ludwig Klages vor mehr als zwanzig Jahren behauptete: Wenn in einer Ehe die beiden Partner sexuell übereinstimmen, ist alles andere weniger wichtig. Er und Alma hörten Klages gemeinsam bei einem Vortrag im Bösendorfersaal, und Richard betrachtete es von da an als Garantie, daß Alma und er immer eine gute Ehe haben würden. Was ihm an Alma von Anfang an gefallen hat, war unter anderem, daß sie seine tiefsitzenden Befürchtungen in bezug auf das weibliche Geschlecht innerhalb weniger Wochen widerlegte. In seiner Jugend hätte er nie zu hoffen gewagt, je einer Frau mit Bildung zu begegnen, die er nicht jedesmal unter Anwendung von Rhetorik würde dazu bringen müssen, mit ihm ins Bett zu gehen. Sämtliche Beobachtungen im Familien- und Bekanntenkreis hatten in diese Richtung gedeutet.

Er sagt:

— Mir war in letzter Zeit, als bedeute es dir nichts mehr.

— Es hat mir in der Tat schon mehr bedeutet.

Sie schaut in ihr Buch, als wolle sie sich vergewissern, daß sie die zuletzt gelesene Stelle auf Anhieb wiederfindet.

— Ich verstehe, sagt Richard.

Er stemmt sich gekränkt vom Bett hoch. Mit vor der Brust verschränkten Armen stellt er sich zurück ans Fenster. Er weiß, wenn er jetzt nach den Ursachen fragt, wird sie ihm ausweichend antworten, mit Verweis auf ein Buchzitat, oder Dinge sagen, die ihm bekannt sind, von denen er es trotzdem nicht mag, daß man sie ihm ins Gedächtnis ruft. Wie wenig anregend die Vorstellung ist, einen Mann mit dritten Zähnen zu küssen. Gut, das hat sie ihm vor einigen Jahren gesagt, das weiß er jetzt, das merkt er sich, sie hat es ihm gesagt, er möchte es nicht noch mal hören.

— Vielleicht wird alles irgendwann langweilig, gibt er zu bedenken.

Alma zieht den Reißverschluß an ihrem Kleid zu.

— Alles? will sie wissen.

— Ja, wenn man es nur lange genug macht. Auch die Arbeit.

Er ist nervös. Ärger. Scham. Angst? Verbitterung? Nicht das erste Mal muß er sich sagen, daß Alma eine harte, selbstbewußte Frau geworden ist. Sie kann viel einstecken, denkt er. Nicht gut Kirschen essen mit ihr. Ihr schüchternes Lächeln, als sie Anfang zwanzig war, hat er schon lange nicht mehr gesehen. Ob es diese Dinge noch gibt?

— Nur ein Idiot wirft tagein, tagaus seinen Oberkörper vor und zurück, ohne daß es ihm eines Tages zu dumm wird.

Alma lacht stirnrunzelnd:

— Ein seltsames Bild.

Und unmittelbar darauf, in einem anderen Tonfall, ohne den geringsten Verdacht, das geringste Interesse an dem, worauf er hinauswill:

— Du solltest nach deinem Bad sehen.

Mit schlaff am Körper liegenden Armen und geöffneten Beinen liegt Richard im heißen Wasser und sagt sich, daß Alma ihn sowenig braucht wie die Partei ihn noch braucht. Seine sogenannten Parteifreunde. Schöne Freunde. Schieben ihn aufs Abstellgleis ohne ein einziges sachliches Argument. Oder weil ihm das Fernsehen nicht paßt, wo es einem auf dem Bildschirm den Kopf verzerrt wie in einem Fischauge. Oder weil die Jungen sich einbilden, sie seien John F. Kennedy. Diese Armleuchter. Es wäre zum Kranklachen, wenn einem nicht gleichzeitig das kalte Kotzen käme. Alles, was recht ist. Von politischem Charme und der Höhe der Zeit faseln, aber nicht wahrhaben wollen, daß die wichtigsten Grundlagen im Leben Verantwortungsgefühl, Sorgfalt und Respekt sind. Dr. Klaus? Das soll der kommende Mann sein? Sieht der so aus? Bei aller Liebe, aber da darf man seine Zweifel haben. Gut, die werden noch früh genug dahinterkommen, was für miserable Entscheidungen in letzter Zeit getroffen werden. Es sind schon bittere Pillen zu sehen, wie man den Sozialisten die Wähler in die Hände treibt. Diese unfaßliche Dummheit. Hohlköpfe samt und sonders. Flucht er. Und mit demselben Ingrimm klatscht er sich beidhändig Wasser ins Gesicht und über den Kopf, obwohl er weiß, daß er jetzt aussieht wie ein Vollidiot. Ein düpierter, gedemütigter, ausgetrickster Vollidiot. Ein weiterer Beitrag zur Verdüsterung seiner Laune, mitverantwortlich wie der total unzutreffende Wetterbericht, wie Almas Distanziertheit. Mitverantwortlich, wenn auch nicht ausschlaggebend: Wie der Undank der Welt.

Es ist die Lehre, die er seiner Meinung nach im Leben erteilt bekommen hat: daß man nicht anfangen soll, den Mitmenschen Gutes zu tun, wenn man es gedankt haben will. Die innere Nötigung, sich einzusetzen, muß der zentrale Antrieb sein, alles andere behindert nur und läuft oft genug auf Enttäuschungen hinaus. Wenn sich Dank einstellt, um so besser, aber erwarten darf man ihn nicht. Richard hat festgestellt, daß Dank und Anerkennung oft von Leuten gezollt werden, die man nicht auf der Rechnung hatte. Das sind dann diejenigen, für die man eingetreten ist, gleichgültig, ob das eigene Wähler sind oder die einer gegnerischen Partei. Hauptsache, man hat eine Sache für richtig befunden und mit eiserner Konsequenz durchgezogen. Aber in diesem Punkt versteht er sich mit den maßgeblichen Parteifreunden überhaupt nicht mehr. Erst vorhin beim Vieraugengespräch im Café Dommayer hat Dr. Gorbach wieder gesagt, daß das Interesse der Partei nicht zu kurz kommen dürfe. Aber was ist das Interesse der Partei? Das Richtige ist immer im Interesse der Partei, das muß doppelt unterstrichen werden. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Als politischer Mandatar hat er die Verpflichtung, nicht nur für diejenigen dazusein, die ihn gewählt haben, er muß das Ganze im Auge behalten, die Nöte aller. Er ist ja nicht Minister der Partei, sondern Minister der Republik. Das ist die Basis seiner politischen Überzeugung. Aber ein Parteifreund, gleichgültig welchen Charakters, gilt heute leider mehr als ein noch so integerer Mann, der keiner Partei angehört. Einem von der Gegenpartei traut man erst gar nicht zu, daß er ein Ehrenmann sein könnte und in manchem recht hat. Diese Einstellung findet sich jetzt quer über alle Fraktionen. Auch er selbst, muß er sich eingestehen, hat bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg die Christlichsozialen für bessere Menschen angesehen, ganz wie auch die Sozialdemokraten dachten, sie seien bessere Menschen. Und erst die Nationalsozialisten, die sich einbildeten, sie stünden über allem. Dank Führer, Volk und Vaterland. Zu welcher Ernüchterung (gelinde gesagt) diese Einschätzung bei den Nationalsozialisten führte, ist bekannt. Doch alle andern fühlten sich in ihrer Selbsteinschätzung bestätigt, auch Richard, der beschloß, in die Politik zu gehen. Er legte sich ins Zeug. Er glaubte, alle Christlichsozialen würden es ihm gleichtun, würden sich bemühen, die Eigenschaften, die sie an politischen Gegnern verurteilen, bei sich selbst noch mehr zu bekämpfen als bei anderen. Leider muß er diese Überzeugung zum Ende seiner Karriere gründlich revidieren. Er muß erkennen, daß christlichsozial nicht automatisch bedeutet, demokratisch zu sein, nicht automatisch bedeutet, daß es einem um mehr als nur die eigenen Annehmlichkeiten geht, nicht bedeutet, daß man der Meinung des Gegners vorurteilsfrei entgegentritt, nicht bedeutet, daß man weiß, wieviel Alkohol man verträgt, nicht bedeutet, daß man sich verpflichtet fühlt, auf das zu verzichten, was man seinerzeit den Kommunisten vorgeworfen hat, nämlich sie würden Vielweiberei betreiben. Es machen die Parteifreunde genau das gleiche. Auch hier Kennedy, das große Halali. Und bei den Sozialdemokraten sieht es hinter den Kulissen mindestens ebenso traurig aus, wenn nicht noch trauriger. Dasselbe Halali. Und trotzdem, auch wenn diese Entwicklung Richard hart zusetzt, auch wenn ihm die Parteispitze keinen Dank weiß und ihn ins Abseits schieben will, bereut er nicht, soviel Kraft und Zeit in die Parteiarbeit gesteckt zu haben. Vielleicht ist irgendwohin ein Samen gefallen, vielleicht kommt seine Auffassung von der fundamentalen Verpflichtung eines öffentlichen Mandatars in einigen Jahren wieder in Mode. Für ihn selbst wird es bis dahin zu spät sein, allerdings. Die Zukunft, das sind seine Luftwurzeln, seine Hansguckindieluftwurzeln, seine Heimatluftwurzeln. Zum nochmaligen Überwintern wie im Krieg, als er sich für ein paar Jahre geduckt hat, ist er zu alt. Entweder er bleibt am Ball oder er kommt nicht wieder. Ende der Fahnenstange, servus.

Er findet, er hätte sich einen anderen Abschied verdient, und im nachhinein besehen war es ein Fehler, daß er nach der letzten Wahl nicht ins Direktorium der E-Werke zurückgekehrt ist. Aber das ist mittlerweile ein ermüdender, fast schon peinlicher Gedanke, weil in die Vergangenheit gerichtete Spekulationen billig zu haben sind. Entscheidend ist a), daß ihm diese Tür nicht mehr offensteht, weil man ihm b) auch von seiten der E-Werke altersbedingt die Pensionierung nahelegen würde, und c), daß folglich kulturelles Tamtam auf ihn wartet, Gartenarbeit, Zithermusik, Tennisturniere und die Mitgliedschaft im Beschaffungsausschuß diverser Bälle samt Ehrenschutz und Eröffnungswalzer mit einer Frau, die kurz nach Mitternacht zum Aufbruch drängt. Nein danke. Wenn er sich die Details ausmalt, wird ihm schlecht, richtig schlecht, da rumort etwas in seiner Magengrube. Er will diese Kröte nicht schlucken. Er hat für die Arbeit gelebt, Wochen ohne Sonn- und Feiertage, in denen er politisch für das Privatleben der Leute eintrat, während sich bei ihm zu Hause die Niederlagen summierten mit dem Effekt, daß er sich weiter in Richtung Ministerium zurückzog. Dort hat er seit 1948 alles im Rahmen seiner Möglichkeiten gemeistert. Noch in diesem Jahr wird die letzte Gaslaterne in Wien erlöschen, nahezu wöchentlich weiht irgendwo ein Pfarrer ein Transformatorenhäuschen ein. Er, Dr. Richard Sterk, Der Römer, hat Turbinenhallen bauen lassen groß wie Opernhäuser. Er hat mitgeholfen, den Platz zu schaffen, den der Wohlstand benötigt, um sich auszubreiten. Und jetzt? Jetzt wollen sie ihn kopfüber nach Hause werfen.

Dr. Gorbach sagte im Café Dommayer:

— Dann hast du Zeit für all das, was du dir immer vorgenommen hast.

Richard faßt es nicht.

— Den Spruch werde ich mir rahmen lassen, gab er zur Antwort.

Ja? Ja? Wie bitte? Soll er jetzt den einsamen Mann spielen? Soll er wie Alma ein Buch ums andere lesen, um klüger zu werden, aber ohne die Möglichkeit, die neue Klugheit noch anwenden zu können? Es mutet ihn an wie Hohn. Denn es stimmt, daß er Zeit braucht. Aber Zeit in einem völlig anderen Sinn, Zeit als Frist, Zeit zur Vorbereitung auf die sich ändernde Situation, die in erster Linie von einem bedrohlichen Überfluß geprägt sein wird. Richard hat sich nichts immer vorgenommen. Er hat geglaubt, daß seine eigene Zukunft eng genug mit der Zukunft der Republik verknüpft sein wird und daß sich daraus ganz von selbst Effekte auch für ihn ergeben werden. Ein fundamentaler Irrtum, wie ihm jetzt aufgeht. Vaterland gerettet, doch das gilt nicht für ihn. Er, der den Staatsvertrag mit ausverhandelt hat, aber auf den wichtigen Fotos fehlt. Pech gehabt. War lange genug ein hohes Tier. Soll zusehen, wie er zurechtkommt. Du bist erwachsen, Dr. Sterk, na los. Stimmt, ich bin erwachsen. Hab ich das nötig, mich so behandeln zu lassen. Die können mir mal alle den Buckel. Und Hut drauf.

Richard legt ächzend den Kopf an den hinteren Rand der Wanne, das kühlt seinen Nacken und gibt ihm das Gefühl, alles sei halb so schlimm. Er starrt hinauf zur Decke und spürt, wie sein ganzer Körper schlaff wird. Geistig hingegen fühlt er sich nach all den Aufregungen sehr konzentriert, sehr hell, was in letzter Zeit selten genug vorkommt. Wahrscheinlich, weil er ständig überarbeitet ist.

Vielleicht sollte er einfach versuchen, das Beste daraus zu machen, und die naturwissenschaftlichen Interessen, die er als junger Mensch hatte, wieder mehr pflegen. Die perfide Mischung aus Ehrenämtern und nichts als Privatleben ließe sich mit etwas trockener Materie vielleicht entschärfen. Zum Beispiel könnte er endlich der Frage nachgehen, ob bereits jemand herausgefunden hat, warum Wasser zuweilen vergißt zu gefrieren. Er hat in der Schule davon gehört, das Phänomen ist ihm nie ganz aus dem Sinn gegangen. Damals hieß es, der vergessene Vorgang werde bei der geringsten Erschütterung nachgeholt, und zwar innerhalb von Sekundenbruchteilen. Das imponierte ihm. Wäre interessant zu wissen, woran das liegt. Das heißt, eigentlich ist es ihm egal, mal abgesehen davon, daß darin ein Keim jener Hoffnung steckt, ein Nachholen von Dingen, die man irgendwann versäumt hat, könnte möglich sein.

Ob auch Zeit vergessen kann zu vergehen, liegengebliebene Zeit, die man berühren muß, um sie zum Verstreichen zu bringen? Hundert Jahre, die in einem kurzen Moment vergehen, ganz schmerzlos?

Für einen Augenblick, während er diesen Gedanken hat, kann er sich sogar vorstellen, daß er die geänderte Situation genießen wird. Es muß ihm nur gelingen, gelassener zu werden, all das wegzudrängen, was ihm am Herzen hängt. Und weil er ein methodischer Mensch ist, nimmt er dieses Projekt sogleich in Angriff, und zwar anhand dessen, worum es in seinem Leben, wie er meint, momentan vor allem geht: der Zeit.

Mit auf- und zuklappenden Beinen erzeugt er Wellen, schaut diesen Wellen bei ihren Bewegungen zu und fragt sich dabei, ob die Zeit tatsächlich arbeitet. Na ja, denkt Richard, arbeiten wird sie auf jeden Fall, aber vermutlich nicht für ihn oder für andere, sondern nur für sich selbst. Ob man einen Wettlauf mit der Zeit gewinnen kann. Vielleicht wie im Märchen vom Hasen und dem Igel, indem man sich reproduziert, siehe Ingrid, die ihn zum Großvater gemacht hat. Ob man Zeit an der Hand haben kann — vergleichbar mit einem Sohn, der den Vater an der Hand nimmt und zu einem toten Tier führt.

Ob die Zeit je an Bedeutung verliert?

Er weiß, seine Person verliert an Bedeutung, und nicht nur an Bedeutung, auch an Elan und Willenskraft, an Attraktivität, an geistiger Aufnahmefähigkeit. Die Liste ließe sich noch eine Weile fortsetzen. Doch das gute Gefühl, sich noch eine Weile behaupten zu können, ist so oder so dahin, da will er auf weiteres Nachdenken gerne verzichten.

Die Wellen laufen immer wieder in der Mitte der Wanne aufeinander zu, Bauch und Wannenrand, hin und zurück, Havarie. Richard gleitet mit dem Oberkörper tiefer ins Wasser, die Knie seiner abgewinkelten Beine stoßen jetzt als Inseln hervor, sein Kopf taucht unter, mit geschlossenen Augen, die Nasenflügel zwischen zwei Fingern. In etwa so wird die Zukunft aussehen. Das wohlig warme Wasser, das ihn umgibt, das schmierige Wasser vom September 1962, das ist der Alltag ist der Ruhestand ist die Einsamkeit ist die Trauer ist der Raum die Distanz ist der Untergang. Prustend kommt er wieder hoch. Er seift sich den Kopf ein, läßt heißes Wasser darüberlaufen. Er wäscht sich die Achselhöhlen, kratzt sich, liegt wieder reglos. Sein Bauch wölbt sich armselig, wabbelige Lappen mit mehreren tiefen Falten dazwischen und ohne einen Hauch von Bräune, obwohl der Sommer gerade erst vorbei ist. Keine Muskeln, alles Fett, aufgequollen, das Fett der sieben fetten Jahre. Dunkle und graue Haare darauf, rings um einen käsigen Nabel, als gehe von dort ein magischer Sog aus. Die Haare wehen schlaff in der leichten Strömung, die seine Atmung und sein Puls verursachen, kann sein, es sind seine Hände, die ein wenig zittern. Vielleicht. Ansonsten rührt er sich einige Minuten lang nicht. Schließt die Augen. Ja. Ja. Und in der Erinnerung taucht eine Zeit auf, da fingen Alma und er an gemeinsam zu baden. Fingen es an und hörten es wieder auf.

Wann das war? Er weiß es nicht mehr genau. Nicht am Anfang, eher in den vierziger Jahren, als Alma nicht mehr mit den Kindern badete und die Kinder viel außer Haus waren. Otto mit der Hitlerjugend und den Kanuten, Ingrid im Rahmen der Kinderlandverschickung. Otto ist schon länger tot, als er gelebt hat. Und Ingrid? Die macht es ihm wahrlich nicht leicht, so eine Unverträglichkeit, das hat er noch nicht erlebt. Grundsätzlich sind die andern schuld. Da fällt ihm ein —. Das war nicht immer so. Wann wird es gewesen sein? Frühsommer 1943. Oder 1944? Mondsee. Schwarzindien, das weiß er noch. Schwarzindien hieß das Wirtshaus, in dem Ingrids Klasse untergebracht war. Vage hat er noch den Ton von Ingrids kindlichem Stolz im Ohr. Mädel vom Dienst im sommerlichen Schwarzindien, Fahnendienst im stürmischen Schwarzindien. Küchendienst, Tagraumdienst, Stubendienst, Waschraumdienst, Schuhdienst, Verdunkelungsdienst. Er hat die Einteilungsliste gesehen, als er Ingrid besuchte, im Zuge von Ingrids Degradierung zum langfristigen Klosettdienst. Dieses dürre Mädchen mit den Pinocchio-Beinen, dem man gar nicht genug Eisen verabreichen konnte, damit es ein bißchen Farbe bekam. Bei der Essensausgabe hatte sie beanstandet, daß die Lehrerin ein Stück mehr auf dem Teller hat als sie. Der Aufruhr, den diese Bemerkung nach sich zog, war trotz Kriegslärm bis nach Wien zu hören. Bei Richards Ankunft, das wird er so schnell nicht vergessen, warf sich ihm ein todunglückliches Mädchen in die Arme, blieb den ganzen Tag an seinen Hals geklammert, pendelte zwischen Weinen und Benommenheit und dem hochheiligen Versprechen, in Zukunft bestimmt das Hirn einzuschalten, bevor sie etwas sagt. Verschreckt, eingeschüchtert und wie blöde davon. So kannte er Ingrid gar nicht. Das heulende Elend. Er ließ sie reden auf der Aussichtsbank mit Blick auf den Mondsee, die Berge und Wolken spiegelten sich darin. Zwischendurch Heulen: Papa, das wird mir eine Lehre sein, das schwör ich. Jaja, das sollte es, Kindchen, wirst sehen, dann renkt es sich wieder ein. Oder sonstwas an Allerweltsweisheit. Da redet man stundenlang vor dem Nationalrat, und wenn die Tochter Kummer hat, fällt einem nichts ein.

Er muß sagen, der Krieg war auch für Kinder eine miserable Zeit, sogar im Sommer am Mondsee, speziell wenn ein Kind das Pech hatte, daß die Eltern in Opposition zur herrschenden Meinung standen. Da halfen keine Wassertemperaturen und kein Paddeln und Blumenrupfen. Wenn Richard es in diesem Licht besieht, haben die Konflikte mit Ingrid schon damals begonnen. Daß das Mädchen die ganze Härte der seinerzeitigen Erziehungsmethoden zu spüren bekam, hatte bestimmt damit zu tun, daß sie die Tochter eines politisch unzuverlässigen Vaters war. Sie selbst wird es vermutlich so empfunden haben, nachdem Richard bei seinem Besuch keinerlei Abmilderung der Strafmaßnahmen hatte erwirken können. Damit das Mädel weiß, was sich gehört. Auch Ottos Kriegsbegeisterung ließe sich vor diesem Hintergrund besser erklären, eine Kompensation der Irrtümer seines Vaters. Daß Richard das nicht früher in den Sinn gekommen ist. Wo es so naheliegend ist. Jawohl, das hat er davon, daß ihm die Nazis nicht paßten. Spannungen seit eh und je, unverändert bis zum heutigen Tag, obwohl ein Antifaschist zum Familiensilber gehört, ein mittlerweile beliebig oft teilbares Erbe für Kinder und Enkel, das man nicht hoch genug einschätzen kann.

Und was, bitte, lehrt uns diese Erfahrung? Wo bleibt der Dank? Ja? Wo? Wo bleibt der? Bitte? Wo bleibt der.

Richard steht in der Wanne auf und duscht sich ab, mit einer gewissen Genugtuung, daß er gerade eine weitere Ungerechtigkeit in seinem Leben ausgemacht hat.

Im Jemen, heißt es, bilden die Rebellen eine Regierung. Die Beduinen drohen mit Bürgerkrieg. Der Tod des Imam in den Flammen des Königspalastes wird bestätigt. Die harten Männer in Chinas KP rücken vor. Boykott gegen Negerstudenten löst Staatskonflikt in den USA aus. Und Piccioni? Behauptet vor den UN: Südtirol sei ein juridisches Problem, und wie schon Kreisky kündigt er die Fortsetzung der bilateralen Verhandlungen für den Herbst an. Über 800 Tote bei Hochwasserkatastrophe in Spanien. General Franco sieht Spaniens Zukunft in einer sozialen Monarchie. SPÖ für Änderung der Verfassung. Vizekanzler Pittermann läßt in einer Rede bei der Eröffnung des SPÖ-Wahlkampfes aufhorchen, indem er für eine Legalisierung des Proporzes eintritt zur Sicherung der Zusammenarbeit zwischen den großen Parteien. ÖVP beginnt den Wahlkampf am 1. Oktober mit der Veröffentlichung eines Wahlaufrufes. Eine Woche später wird die Volkspartei ihr Wahlprogramm bekannt geben und eine Eröffnungskundgebung im Wiener Konzerthaus abhalten. Außer den üblichen Wahlversammlungen wird die Volkspartei im Laufe der Wahlkampagne in ganz Österreich rund 500»Jugendparlamente «und ebenso viele» Teenager-Parties «abhalten. Zu den Werbemitteln der Volkspartei gehört eine Schallplatte mit Dixieland-Musik, gespielt von der Band eines Ottakringer Jugendclubs, die lediglich durch den Werbetext» Frohe Stunden mit Musik — Frohe Zukunft mit der Volkspartei «unterbrochen wird. Das Wetter in weiterer Folge: Mild, aber etwas unbeständig. Gelegentliche Regenfälle ohne größere Ergiebigkeit. In den Mittags- und Nachmittagsstunden werden sonnige Abschnitte überwiegen.

Als der ockerfarbene Kleinbus, den Peter sich ausgeborgt hat, hupend in die Einfahrt biegt, ist es kurz nach vier und das Wetter wieder schön. Wenn die Sonne sich in kargen Wolkenfetzen verpackt, ist sie verwaschen milchig, einmal für einen Augenblick gelb wie ein Butterbrot. Dazu Wind, der in den höheren Regionen stärker weht als dort, wo Alma und Richard stehen. Der Wind schleift Wolkenschatten durch den Garten und über die Mauer zu den Nachbarn.

— Ich bitte dich, Richard, egal, wie Ingrid sich anstellt, vergiß nicht, daß du nur diese eine Tochter hast.

— Ich werd’ mir Mühe geben.

Alma und Richard treten vom Rosenbeet unterhalb der Pergola auf den weitgehend abgetrockneten Vorplatz. Kleine Pfützen blinken als schmutzige Ovale, wo sie vom herbstlichen Sonnenlicht erreicht werden. Peter wendet den Bus und setzt ihn zurück zur Eingangstür, damit die Möbel nicht unnötig geschleppt werden müssen. Ingrid steigt aus, in kniehohen Lederstiefeln, einem kurzen, hellroten Kleid mit Plisseefalten und einer glatten schwarzen Lederjacke. Ihr blondes, sandfarbenes Haar baumelt als Pferdeschwanz. Mit einer Zigarette im Mund hebt sie das Kind von der vorderen Sitzbank, ein Mädchen, das Sissi heißt und das seit dem letzten Mal, als Richard es gesehen hat, ebenfalls blond geworden ist. Es kann seit vier Wochen laufen; das hat Alma bereits angekündigt. Ingrid stellt Sissi ab. Das Kind trippelt im Kreis. Alma umarmt es. Und obwohl das Abgreifen des Kindes und das Begrüßungsgeplapper dem Moment einen fröhlichen Anstrich verleihen, fühlt Richard sich wie in einer Gesellschaft, deren Regeln ihm nicht geläufig sind. Er meint, unter Ingrids Herzlichkeit eine leise Gereiztheit zu spüren, ein Eindruck, den er bestätigt findet, als er sich mit rauher Befangenheit in die Begrüßungszeremonie einschaltet.

Er geht vor seiner Enkelin in die Knie und sagt:

— Bist du aber ein dünnes Kind. Geben dir deine Eltern nichts zu essen?

Indem er es ausspricht, begreift er, daß selbst harmlose Floskeln wie diese verfänglich sind, und so fügt er auflachend hinzu:

— Deine Mutter war auch so. Man erbt nicht nur Möbel.

Ingrid tritt kopfschüttelnd ihre Zigarette aus. Dazu sagt sie:

— Prost!

Nicht mehr, nicht weniger, aber es reicht, daß der gewohnte Abstand zwischen Vater und Tochter auch diesmal hergestellt ist.

Richard streicht dem Kind flüchtig übers flaumige Haar. Er richtet sich wieder auf und sucht Ingrids Blick. Sie schaut ihn unter zusammengezogenen Brauen an. Ihm ist, als wolle sie ihn zu einem weiteren unvorsichtigen Kommentar herausfordern. Bloß weiß er nicht, was es noch groß zu sagen gäbe außer vielleicht, daß es ein Scherz war, der ihm da rausgerutscht ist. Aber selbst das will er zu seiner Entlastung nicht aufbieten. Er hat es satt, sich vor Ingrid ständig rechtfertigen zu müssen.

Er bleibt einige Augenblicke unschlüssig. Alma kommt ihm zu Hilfe und leitet auf das eigentliche Thema des Besuchs über: daß etwas mehr Luft vor allem in den unteren Räumen längst fällig sei. Die meisten Zimmer, sagt sie, ersticken an ihren Möbeln. Im Wohnzimmer sehe es aus wie im Magazin eines Altwarenhändlers.

— Und das ist nicht nur meine Schuld, sagt Richard: Nur damit niemand auf die Idee kommt, es mir vorzuhalten.

In den letzten Kriegswochen, als die Ostfront viel schneller als erwartet näher kam, war eine der drängendsten Fragen, wie man sich vor Plünderungen schützen kann. Mit einem Transport der E-Werke (Richard war wegen seiner kriegswichtigen Position bis zuletzt zurückgestellt) ließ er kleinere Einrichtungsgegenstände, die von bedeutendem Wert waren, in ein Kraftwerk nach Salzburg bringen. Aber der Großteil der Einrichtung blieb zurück. Gemeinsam mit Alma besprach er die Situation. Sie saßen in der Küche, und die Dauer der Unterredung hielt sich nicht nur in Grenzen, weil inmitten der einander überstürzenden Ereignisse noch anderes zu bedenken war, sondern auch aufgrund der Einvernehmlichkeit der letztlich getroffenen Entscheidung. Richard ließ einen Tischler ins Haus kommen, der wegen einiger fehlender Finger von der Wehrmacht als nicht verwendungsfähig eingestuft worden war. Der Mann versah nach Richards Vorschlägen alle größeren Möbel mit Spezialkrampen. Er verleimte, stiftete und schraubte, schliff Schraubenköpfe ab, bis nach zwei Tagen gewährleistet war, daß die Schränke und Betten nur mit größtem Aufwand wieder zerlegbar sein würden. Richard spekulierte auf die Sperrigkeit der Möbel, auf ihr erhebliches Gewicht und auf die Bequemlichkeit der Russen, nicht zuletzt wegen der reichhaltigen Alternativen zum Plündern in der Nachbarschaft.

— Es war deine Idee, sagt Alma.

— Und ich bin heute noch stolz darauf, daß ich dich von ihrer Richtigkeit überzeugt habe.

— Ich weiß nicht.

— Denk an die Nachbarn.

— Ein zweites Mal würde ich es mir trotzdem überlegen.

— Damals hat es dich gefreut, daß nur Kleinigkeiten weggekommen sind.

— Weil ich nicht vorhergesehen habe, daß ich ein Leben lang mehrmals jährlich die Möbelpacker kommen lassen muß.

Richard strafft den Rücken. Er weiß, die Aktion hat längst einen Pferdefuß bekommen, weil man die Möbel nach dem Krieg nicht zurückbaute, zunächst aus mangelnder Notwendigkeit, später in der Befürchtung, mehr kaputtzumachen als ganz. Das rächt sich zwischendurch immer wieder, wenn ein Schrank verrückt werden muß, ob beim Ausmalen der Wände oder zum Abschleifen der Böden. Manche Möbel gehen aus ihren Zimmern gar nicht mehr raus, weil die Türstöcke zu schmal sind, und spätestens auf der Treppe zum Dachboden bleibt man auch mit kleineren Stücken, die man durch die Türen gezirkelt hat, hängen oder verreißt sich das Kreuz. Etliche Zimmer sind aus diesem Grund seit einem Vierteljahrhundert nahezu unverändert. Das ist eine Art zu wohnen, die Richard keine Schwierigkeiten bereitet, denn er weiß es zu schätzen, wenn er die Dinge beim Nachhausekommen so wiederfindet, wie sie in der Früh beim Weggehen waren. Mein halsstarriges Wohnen nennt es hingegen Alma. Sie verbringt den weitaus größeren Teil ihrer Zeit daheim. Bis dato. Und bis zu einem gewissen Grad kann Richard ihre Unzufriedenheit sogar verstehen. Trotzdem würde er es lieber sehen, wenn Änderungen nicht ausgerechnet jetzt ins Haus stünden. Im Moment wird ihm alles zuviel.

— Alt und gediegen: Für mich sind das Werte, sagt er.

Und Ingrid lapidar:

— Für mich nicht.

Er sieht das Etikett, das er gerade verpaßt bekommen hat, als wäre es ihm mit Spucke auf die Stirn geklebt: Spießig — unflexibel — gestrig. Nicht alt, sondern veraltet. Kurz erwägt er, sich eine Erwiderung zu verkneifen, damit sich Ingrid keine Gelegenheit bietet, eins draufzusetzen. Denn daß ihr sein Leben insgesamt gegen den Strich geht, hat sie ihn oft genug spüren lassen. Er zögert. Letztlich will er den Vorwurf aber nicht auf sich sitzen lassen.

— Das beweist nicht, daß du das Leben besser verstanden hast. Es bestätigt nur, daß sich unsere Erfahrungen nicht decken und daß wir deshalb verschiedener Meinung sind.

— Letzteres immerhin ist unbestritten.

— Und bedauerlich.

Bedauerlich? Ingrid kann es aushalten, ganz offenkundig. Sie weint dem Helden ihrer Kindheit keine Träne nach. Sie zuckt die Achseln.

Und Richard ist verblüfft, wie selbstverständlich er Ingrids Geste hinnimmt. Vermutlich entwickelt man im Laufe der Zeit eine gewisse Resistenz gegen verdrehte Augen, ausbleibende Antworten und ironische Aha-Bemerkungen.

Sie treten ins Haus und gehen die unteren Räume ab, ohne sich lange aufzuhalten. Die krummbeinigen Kommoden mit den bauchigen Lampen darauf, die Bücherschränke mit den teilweise verglasten Türen, hinter denen sich drapierte Vorhänge fälteln, die Biedermeierschränke und die von geschnitzten Holzfassungen umlaufenen Sofas, all das ist für Ingrid ohne aktuellen Gebrauchswert, düsterer Plunder, den man früher gemocht hat, wie Klassenkameraden, die sitzengeblieben sind und mit denen man seither nicht mehr redet.

— Laß mich nicht im Stich, Ingrid, fleht Alma: Seit der Fernseher da ist und wir das Sofa umgestellt haben, fehlt die Ecke für meinen Sorgenstuhl.

Mit langgezogenen, aufeinandergepreßten Lippen überblickt Alma die unbefriedigende Situation. Let’s learn English, Nachrichten, Löwinger-Bühne (Die drei Dorfheiligen). Sie schaut Peter an:

— Der Sorgenstuhl ist der Ort, wo ich nachdenke. Früher oder später beschäftige ich mich dort mit jedem.

Der Schwiegersohn mit seinem eingeschüchtert dumpfen Gesicht nickt und legt verlegen seinen Arm um Ingrids Taille. Mit einem leichten Schwanken in der Stimme bietet er an, am nächsten Wochenende einige der Möbel, die im Weg sind, auseinanderzubauen. Er behauptet, im Umgang mit Werkzeug geschickt zu sein, noch von früher aus der Zeit, bevor er die Lizenzen seiner Spiele verkaufen mußte. Ingrid bestätigt die handwerkliche Begabung ihres Ehegatten. Richard indes, der sich im Hintergrund hält, hofft, daß ihm niemand seine Skepsis vom Gesicht ablesen kann. Er schaut beiläufig auf die Pendeluhr und nimmt sich vor, sie am Abend aufzuziehen, sie schlägt schon sehr schwach.

— Mir wäre lieber, wenn die Möbel in Gebrauch blieben, sagt Alma.

— Du mußt dich damit abfinden, daß unsere Tochter Stahlrohrmöbel bevorzugt.

— Ist etwas dagegen einzuwenden? fragt Ingrid.

— Nein, sagt Richard.

— Dann ist ja recht.

Mit schrägem Oberköper, damit ihre Tochter an der Hüfte Halt findet, macht Ingrid am Absatz kehrt und biegt ins Nähzimmer ein, vom Nähzimmer ins Herrenzimmer, vom Herrenzimmer ins Speisezimmer und von dort in die Veranda. Bei der spanischen Eichentruhe, in der früher Kinderspielzeug deponiert war, hält Ingrid inne und bittet ihre Mutter, die Truhe mitnehmen zu dürfen. Als ob die Truhe Alma gehören würde.

Alma räumt Tischtücher, Servietten, Kerzenständer und Kerzen heraus. Unterdessen stellt Ingrid sich in die Verandatür und fragt, wie gut die einzelnen Bäume in diesem Jahr getragen haben.

— Die Kirschen haben gut angesetzt, die frühe Ernte war köstlich. Aber nach der Regenperiode Ende Juni waren die meisten wurmig. Ein Fressen für die Vögel.

Richard erwähnt die Marillen (Frost während der Blüte), die Erzherzog-Johann-Äpfel (zuverlässig, der Baum in den besten Jahren), die großen Pflaumen (der Baum wird alt). Aber seine Auskünfte scheinen Ingrid nicht zu erreichen. Richard kommt es vor, als sehe seine Tochter da draußen sich selbst laufen.

Er unterbricht sich:

— Vom Zurückschauen bekommt man Heimweh.

Ingrids Antwort trocken, fast gemurmelt im halben Umdrehen, und doch bitter:

— Seit ich hier die Kündigung erhalten habe, hält sich mein Heimweh in Grenzen.

Richard fragt sich, warum er überhaupt noch den Mund aufmacht. Ein normales Gespräch scheint seit Jahren nicht mehr möglich. Jedes Wort ist falsch. Also schade drum. Und was nutzt es, wenn er sich ins Gedächtnis ruft, daß Ingrid ihm, als sie klein war, blind glaubte? Nicht weniger unbegreiflich, daß sie als frischgebackene Gymnasiastin dieses kaum zu stoppende Mitteilungsbedürfnis besaß. Nachdem sie im Garten der Wesselys, wo sie Federball gespielt hatte, zu den Dreharbeiten von Der Hofrat Geiger eingeladen worden war, erzählte sie bis ins letzte Detail, wie man an sie herangetreten sei, und dann gleich noch einmal für den Fall, daß eine Kleinigkeit nicht ausreichend gewürdigt wurde. Auch dies: Vorbei, vorbei, vorbei.

Er sagt:

— Wie wichtig es ist, daß man rechtzeitig aus dem Haus kommt, kann man jetzt überall lesen.

— Dann hast du also auch an meinem Rauswurf eine gute Seite entdeckt.

Vorbei.

— Wenn du es so sehen willst.

— Ich will es so sehen. Ich kann dir auch sagen, warum. Weil du immer im Recht sein mußt, egal wie.

Richard gibt es auf. So vollgestopft und ausgebeult sein Hirn an diesem Tag ist mit Fragen und Attacken der Vergangenheit, er gelangt zu der Erkenntnis, daß es sinnlos ist. Sie reden im Kreis. Es ist schon wahr: Als Ingrid wieder einmal um Mitternacht nach Hause kam und auch noch freche Antworten gab, ist ihm der Kragen geplatzt, und er hat sie eine halbe Stunde lang angeschrien und dann rausgeworfen. Aber nur, weil ihm nichts mehr einfiel auf ihr Schweigen, das mal widerspenstig, mal verächtlich war. Das hat ihn dermaßen auf die Palme gebracht. Außerdem war seine Laune bereits vorher verdorben, eins kommt halt immer zum andern, weil seine Sekretärin schon wieder schwanger war. Aber am nächsten Morgen hat er die Maßnahme zurückgenommen, er ist keiner, der seine Fehler nicht einsieht. Ich bestehe nicht auf dem, was ich gesagt habe. Trotzdem ist Ingrid noch am selben Tag auf und davon, als hätte der Koffer gepackt im Schrank gewartet und nur der geeignete Anlaß gefehlt, ihn hervorzuzerren. Das konnte einen schon stutzig machen. In Richards Augen erweckte das sehr den Verdacht, daß Ingrid das Haus in dem Augenblick verlassen hat, wo sie alle Schuld abschieben konnte und keine eigene Verantwortung übernehmen mußte. Er selbst hatte dann nur mehr die Wahl, entweder seinen Namen in den Dreck gezogen zu sehen und sich nicht drum zu kümmern oder der sofortigen Hochzeit zuzustimmen. Was er dann wohl oder übel gemacht hat. Wenn Ingrid neuerdings eine vereinfachte Auffassung dieser Vorkommnisse vertritt, so bleibt es ihre eigene Wahrheit, die ihr im nachhinein so passen würde, damit sie zu Hause weiterhin zuverlässig ihren Grant abladen kann. Aber was soll’s, warum sich aufregen, warum einen Schlaganfall riskieren. Auch den Kommoden kann man die Beine nicht geradeziehen.

Ingrid wartet mehrere Sekunden. Als sie sicher ist, daß von seiten ihres Vaters nichts mehr kommt, sagt sie:

— Bloß ein Glück, daß ich hin und wieder hier bin, dann sehe ich, daß es nur ein Haus ist, nicht mehr. Nur ein Haus mit Garten.

Also doch Heimweh, möchte Richard mit einer gewissen Genugtuung attestieren. Aber auch das verkneift er sich. Er hat sich gut in der Gewalt, er weiß, daß Ingrid immer das letzte Wort haben wird, schon allein, weil sie jünger ist. Das ist ihr Trumpf.

Alma gibt die Truhe frei. Auch diesmal lenkt sie umgehend auf ein anderes Thema, diesmal zum Gesundheitszustand diverser Nachbarn, wo dieser zu wünschen übrigläßt. Ohne Widerstreben beteiligt sich Ingrid an der Konversation. Eine Gallenkolik, der Krebs häuft sich, hat mit den Nerven zu tun. Richard geht unterdessen seinem sich sichtlich unwohl fühlenden Schwiegersohn beim Hinaustragen der Truhe zur Hand. Peter bedankt sich zweimal, er berichtet, daß der VW-Bus von einem Arbeitskollegen geliehen sei und wie gut er (Peter) sich beim Kuratorium für Verkehrssicherheit eingelebt habe. Er kommt darauf zu sprechen, daß er ein fotografisches Gesamtverzeichnis aller relevanten Kreuzungen der Republik erstellen werde, plus Statistik aller Unfälle, die sich auf diesen Kreuzungen ereignet haben. Mal sehen, was dabei herauskommt. Nachdem Richard zuvor zweimal» So, so «gesagt hat, steuert er jetzt ein» Interessant, interessant «bei.

Sie kehren ins Haus zurück, dort steigen die Frauen gerade die Treppe hoch. Richard und Peter schließen sich an. Jetzt trägt Alma das Enkelkind, es blickt mit dem Kinn auf Almas rechter Schulter auf Richard herab, der sich am Ende des Handlaufs mit der linken Hand an der Kanonenkugel aufstützt. Richard fühlt sich angezogen von Sissis Blick. Mit plötzlichem Herzklopfen gewahrt er, daß auch er Spuren in diesem Mädchen hinterlassen hat. Diese Vorstellung weckt in ihm einen trotzigen Stolz. Einige Stufen lang ist ihm, als behalte er in seiner Enkelin recht, auch dann noch, wenn es ihn nicht mehr gibt. Aber einen Augenblick später bleibt der Stolz auf halber Treppe zurück, und ein Stich des Bedauerns erinnert ihn daran, daß er im Alltag dieses Kindes nicht oft vorkommen wird. Zu Neujahr und zur Marillenernte, so das Wetter den Marillen gnädig war. Als nicht weniger demütigend empfindet er, daß Ingrids Familie ausbaufähig ist, während ihm seine eigene Familie Stück für Stück abhanden kommt.

Er hat sich bemüht, richtig zu leben, zu handeln, zu denken, zu fühlen, dem Gewissen gemäß, nach den Regeln, die ihm seine Eltern beigebracht haben. Er hat getan, was getan werden mußte, was bei weitem nicht jeder von sich sagen kann. Sein Handeln war stets vom Gedanken an das Wohl der anderen getragen. Trotzdem ziehen sich alle von ihm zurück.

Sie setzen den Rundgang fort. Anfänglich ist Ingrid auch im oberen Stockwerk wählerisch. Das ändert sich, als die Kinderzimmer an der Reihe sind. Mit einmal ist Ingrid bester Stimmung, sie freut sich, die Möbel in Ottos Zimmer wiederzusehen, und bittet um die komplette Einrichtung, den kleinen, in blassem Türkis gestrichenen Schrank, der staksig auf seinen ganz gerade geschnittenen Kirschholzbeinen steht, das Bubenbett mit dem Flechteinsatz im Kopfteil, den Tisch, die beiden Stühle und die gleichfalls türkis gestrichene Kommode, deren mittleres Schubfach Sissi unter Einsatz ihres kleinen Körpers herausziehen will.

Richard könnte wetten, daß es Alma um Ottos Zimmer besonders leid tut. Vom Sorgenstuhl ins Heulzimmer und retour, das hat sich erledigt. Er beobachtet Alma. Sie ist kontrolliert. Wie so oft drängt sie ihre Gefühle zurück, ohne sich etwas anmerken zu lassen (Richards Eindruck). Sie wagt lediglich die Frage, ob Ingrid und Peter weiteren Nachwuchs planen. Nicht auszudenken, was wäre, wenn er diese Frage stellen würde, Richard.

— Solange ich mit dem Studium nicht fertig bin, keine Idee, sagt Ingrid: Das Studium hat jetzt eindeutig Vorrang.

Ingrid öffnet die Schranktüren. Ein Geruch nach Mottenpulver breitet sich aus. C10Hirgendwas. Richard würde die chemische Formel gerne anbringen, aber sie fällt ihm nicht ein. Und auch die lexikalische Bezeichnung ist ihm im Augenblick gerade entfallen.

— Welche Prüfung kommt als nächstes? fragt er.

— Das wird sich zeigen.

— Du wirst doch hoffentlich wissen, welche Prüfung als nächstes kommt?

— Och.

Ingrid dehnt es unbestimmt.

Da wölbt Richard, als wäre er überrascht von dem, was er hört, die linke Augenbraue, seine Lippen werden schmal, und Ingrid erinnert sich gerade noch rechtzeitig, daß sie vor allem erst einmal die Prüfung ablegen muß, wie sich’s auf eigenen Beinen steht — weil (wenigstens) die väterliche Hand mit dem darin befindlichen Geld sich nie von ihr zurückgezogen hat. Auf der Basis von Verliebtheit ist halt doch keine Existenz zu gründen. Bei dem wenigen, das Peter beim Kuratorium für Verkehrssicherheit verdient, wäre weder das Nest, das Ingrid sich gerade polstert noch die Fortsetzung des Studiums denkbar. Richard zieht die ganze Familie mit durch. Die einzige Ausübung von Autorität, die ihm kritiklos zugestanden wird, besteht darin, diesen drei Pfleglingen unter die Arme zu greifen.

Seufzend bekennt Ingrid:

— Ich habe die Lernliste wegen der Aufregung rund um den Hauskauf wieder umschreiben müssen. Ich hoffe stark, daß es auch mit Sissi leichter wird, sowie wir fix eingezogen sind.

Alma, als würde es sie nicht im geringsten berühren, ob Ingrid ihrem Vater das Schauspiel einer ewigen Studentin liefert oder ihr Studium — im Gegensatz zu ihrem Gatten — doch noch fertigbringt, läßt wissen:

— Es freut mich, wenn Ottos Möbel in guten Händen sind.

Genau das bezweifelt Richard.

Ingrid und Peter nehmen nur, was nicht beständig ist, Verlegenheitsmöbel, Reserveschränke, alles, was nicht sonderlich anstrengt, was zurückbleibt oder schon immer zurückgeblieben war, alles das, was keiner besonderen Aufmerksamkeit bedarf, keiner Verbundenheit (durch Leim und Krampen). Keines Respekts. Möbel als Sinnbilder für Gleichgültigkeit, zum leichtsinnigen Abwohnen, denkt Richard. Und er lehnt diese Haltung — denn es ist eine Haltung — innerlich ab, weil er nicht glaubt, daß man unter solchen Voraussetzungen je Wurzeln schlagen kann.

Nachdem auch das Bett und der Schrank aus ihrem eigenen früheren Zimmer zum Abtransport bestimmt worden sind, sagt Ingrid:

— Was wir nicht in den Bus bringen, holen wir nächsten Samstag, wenn Peter für Mama das Wohnzimmermobiliar zerlegt.

Sie läßt ihren Blick einen Moment auf ihrem Mann ruhen. Richard fallen die trägen Bewegungen ihrer Lider auf.

— O.K. sagt Peter.

— O.K. sagt auch Ingrid.

Dann stockt das Gespräch erneut. Vier Leute, vier ungebetene Gäste im eigenen Haus. Dazu ein Kind, das nichts weiß und wissen wird und das für Gesprächsstoff sorgt, als sich inmitten des Schweigens herausstellt, daß es sich eingemacht hat.

— Stinkst du etwa?

— Ja, ich glaub, sie stinkt.

— Habt ihr Windeln dabei?

— Im Wagen. Sie kackt ja wie nach der Uhr.

— Wir Frauen gehen nach unten.

— Papa, könntest du inzwischen im Dachboden nach meiner Puppenküche forschen. Du weißt, meine Spinnenphobie. Peter soll dir helfen.

Bereits auf dem Weg nach unten, ruft Ingrid:

— Vermutlich ist sie in meinem alten Reisekoffer, dem schwarzweiß karierten.

Richard ist nicht sehr erbaut über diesen Auftrag, zumal sein Schwiegersohn in etwa der letzte Mensch auf der Welt ist, mit dem er allein in den Dachboden steigen will. Er fragt sich, was seine Frau Tochter mit ihrem Grips sich dabei denkt, sie beide zusammenzuspannen. Nach allem Vorgefallenen kann eine Freundschaft zwischen ihnen wirklich von niemandem mehr erwartet werden. Aber was bleibt ihm übrig? Widerstrebend ersteigt er den sich in den Schatten hinaufwindenden Stich von zweimal zwölf Treppen. Vor der Dachbodentür bleibt er stehen, er dreht sich um und vergewissert sich, daß ihm sein Schwiegersohn folgt. Als auch Peter das Podest erreicht hat, stößt Richard die Tür auf. Aus den Angeln springt ein düsteres Ächzen, das die Stickluft in dem selten frequentierten Raum zusätzlich einzudicken scheint. Es ist, als enthielte die Luft den schon fast schwerelosen, seiner Farben beraubten Abrieb der dahingegangenen Ereignisse, die graue Asche Erinnerung, die mit den Jahren ausgekühlt ist.

Da ihm nichts Besseres einfällt, sagt Richard:

— Morgen werde ich aus Anlaß von Leopold Figls sechzigstem Geburtstag eine kleine Rede halten.

Er versucht sich in seinen Schwiegersohn hineinzuversetzen, und es lindert seinen Widerwillen, daß Peter auf diese Situation wahrscheinlich noch weniger Wert legt als er selbst.

— Der ist also auch schon sechzig, stellt Peter tiefsinnig fest.

— Was heißt schon? Für jemand Gesunden hat sechzig nicht viel zu sagen.

— Kann sein.

Peters Gesichtsausdruck ist ruhig, fast nichtssagend. Er schiebt sich zwischen den Kaminen und dem ausrangierten Krempel hindurch, als könnten ihn die Dinge, die hier durch leere Tage wachsen, mit Tentakeln anfassen, so kommt es Richard vor. Die Dielen knarren. Auf einer Schulbank beim südlichen Giebelfenster wackelt bedrohlich eine geklebte Blumenvase. Sogar ein Tintenfaß steht dort, als werde jeden Moment jemand kommen, sich niedersetzen und aus der Luft die dadaistischen Gedichte abschreiben, zu denen sich der Staub zur Erheiterung der Hausgeister gruppiert.

Draußen der feuchte Garten, die Mauer, schräg abseits die Nachbarhäuser hinter einem Saum grüngelber, herbstlich raschelnder Baumwipfel. Zwischen den Giebeln schlaffe Telefondrähte, die von den verlorenen Substanzen der stets hohl eintreffenden Stimmen längst verstopft sein müßten wie sklerotische Arterien.

— Aber Figl ist nicht gesund, bedauerlicherweise. Sein Zustand weckt mehr Befürchtungen als Hoffnungen.

Peter zieht leicht die Brauen hoch, die Geste kann einem Gegenstand gelten, den er sieht, sie kann Zufall sein und keinerlei Verständigung mit was auch immer suchen. Dem Befinden des ehemaligen Kanzlers fragt Peter nicht nach.

— Ich glaube, sagt Richard, für seine Gesundheit hat der rasante Schlußteil der Rutschbahn bereits begonnen. Auch der Beginn war rasant. Sechs Jahre Dachau, das mag man spüren.

Eine Reaktion bleibt neuerlich aus, auch nicht blickweise das Signal, daß Peter von den Ausführungen Notiz nimmt. Offenbar soll das Gespräch versanden, noch ehe es begonnen hat. Richard indes, mit der festen Absicht, in Gegenwart seines Schwiegersohnes auf das zu vertrauen, was er im Umgang mit politischen Gegnern gelernt hat, holt zu einem längeren Monolog aus.

Er referiert die Biographie des ersten gewählten Nachkriegskanzlers und jetzigen niederösterreichischen Landeshauptmannes. Er erwähnt verschiedene Schmankerln der bevorstehenden Rede, zum Beispiel, daß Figl und seine Weggefährten, zu denen Richard sich seit der Wäscheaktion von 1938 zählen dürfe, für dieses Land die Sterne vom Himmel geholt hätten, speziell die fünfzackigen roten. Männer wie Leopold würden immer seltener, eine aussterbende Spezies und klug, keine Bildung als Firnis, sondern klug aus Erfahrung. Nur nicht die Pferde scheu machen, habe Figl während der Verhandlungen mit den sowjetischen Emissären wiederholt gemahnt. Ohne Figls Verhandlungsgeschick, so Richard, wäre heute nicht nur dessen eigener Hof Teil eines niederösterreichischen Kombinats.

Er zwinkert, obwohl er sich außerhalb von Peters Blick befindet. Der hält gerade die Signallampe eines Eisenbahners hoch.

— Von den Russen zurückgelassen, die hier für einige Zeit einquartiert waren, sagt Richard.

Dann fährt er unverdrossen fort, schwenkt ganz auf seine Rede ein, die, wie er eigens ankündigt, darin gipfeln werde, daß dem Jubilar noch viele Jahre zu wünschen seien, in denen er sich in höchsteigener Person für die von ihm geleistete Arbeit verantworten dürfe. Allen Nachfolgern Figls lege er indes ans Herz, nicht zu vergessen, daß sich mancher nicht verantworten dürfe, sondern verantworten müsse.

Während Richard so redet und während er mehr an sich selbst als an die hervorragende Persönlichkeit seines Parteikollegen denkt, räumt Peter im trüben Licht der schmutzigen Scheiben einen Bauernschrank aus. Stäubchen kreisen um seinen Kopf. Von Zeit zu Zeit knipst er von einem der beschrifteten Kartons, die er heraushebt, einen Mäusekötel weg, der in den Staub des Fußbodens kullert. Peter legt einen Koffer frei. Aber der enthält lediglich ein altes Federbett; sinnloserweise. Nur mit äußerster Mühe ist der Deckel wieder zuzuzwängen. Die Schlösser schnappen träge über den schorfigen Bügeln ein.

Von unten sind die sachlichen Stimmen der Frauen zu hören. Worüber die bloß reden?

— Um bei Leopold Figls Beispiel zu bleiben. Er hat versucht Österreich so zu gestalten, wie er es sich in den Baracken von Dachau ausgemalt hat. Ich finde, das Ergebnis kann sich sehen lassen.

Von Peter weiterhin nur ein Keuchen der Anstrengung, wo er sich einen Weg durch den ausgemusterten Hausrat bahnt. Er begutachtet die alte Weihnachtskrippe und Ottos Tretauto, an dem ein Hinterrad gebrochen ist. Er hebt ein Buch von den Bodenbrettern auf, er tritt zum Fenster und liest in das Buch hinein. Vielleicht wäre jetzt das Gurgeln und Schlürfen zu hören, das die Spinne erzeugt, wenn sie das Flüssige aus einem Fliegenkadaver saugt. Vielleicht liefern sich die Sonnenstäubchen in der Luft tausend kleine Schlagabtausche und erzeugen statt Erinnerungsromantik eine Atmosphäre nervöser Feindseligkeit: Jawohl, es trifft zu, daß die Kinder hier oben Rollschuh gelaufen sind, aber es war nur aufgrund der Brandschutzmaßnahmen zur Zeit der alliierten Bombenangriffe, als auf Dachböden lediglich Kübelspritzen und Sandeimer stehen durften. Richard könnte den Krieg ins Gespräch bringen, in dem Peter verwundet wurde. Doch just in diesem Moment geht ihm auf, daß er in Peters Augen ein Narr ist, daß Peter nicht im Traum daran denkt, den Mund aufzumachen, um seinem Schwiegervater einen Schritt entgegenzukommen. Die peinliche Lage zweier Menschen, die an einer Unterhaltung nicht interessiert sind, sich aber dazu gezwungen sehen, dieselbe aufrechtzuerhalten, damit die Lage nicht noch peinlicher wird, ist von absichtlich einseitiger Natur. Seinem Schwiegersohn ist nichts peinlich, diesem Windbeutel, der keinen Familienstolz kennt, diesem Weiberhelden und verwaschenen Sozialisten, der auf fremden Dachböden wildert und dort nur totes Inventar findet, weil seine eigene Vergangenheit, nazibedingt entrümpelt, nein, abgeschafft ist.

Richard denkt, das beste wäre gewesen, Peter vor fünf Jahren ein dickes Kuvert zuzustecken mit der Aufforderung, sich nicht mehr blicken zu lassen und woanders sein Glück zu versuchen. Das wäre billiger gekommen als der Hauskauf.

Wie schon am Vormittag im Café Dommayer, als er mit Dr. Gorbach das enttäuschende Vieraugengespräch hatte, spürt er Trostlosigkeit und Ohnmacht angesichts all dessen, wofür er kein Verständnis aufbringen kann. Eine unbestimmte, dumpfe Trauer befällt ihn, ihm ist, als würde er seinem Leben nachtrauern, noch während er es lebt.

Und weil mittlerweile auch ihm das Reden vergangen ist, läßt Richard sich dazu herbei, an der Suche nach der Puppenküche teilzunehmen. Er schaut dort nach, wo Peter sich bislang nicht hingetraut hat, um gebührenden Abstand zu seinem Schwiegervater zu wahren. Erst jetzt fällt Richard auf, daß das Bett, neben dem er steht, aus der ehemaligen Kammer des Kindermädchens stammt. Das Bett ist ohne Matratze, ein bloßes Gerippe. Richard hebt eine auf dem Rost liegende, großformatige Mappe mit alten Stichen und Radierungen hoch. Einige Federn des Rostes sind gebrochen, allen anderen Federn ist nicht mehr zu trauen. Sonderbar, daß sie früher gehalten haben. Sonderbar, daß Richard mit Frieda in manchen Nächten glücklich gewesen sein will. Sonderbar, daß er einen Augenblick lang auf dem Bett ein rothaariges Mädchen von zwanzig Jahren knien sieht, in völliger Nacktheit, wohingegen die unqualifizierte Figur seines Schwiegersohnes, der schon bisher durch alles hindurchzublicken schien, auch durch diesen Bettrost hindurchblickt auf einen Koffer aus Pappkarton.

— Das wird er hoffentlich sein, sagt Peter.

Richard, abwesend, wie mit sich uneins, ob er sich ebenfalls freuen soll (er weiß noch, daß Frieda geweint hat, als sie ihre Kündigung erhielt, sie schrieb hundertmal Ich hasse dich auf die Tapete in ihrem Zimmer, was erst auffiel, als das Mädchen bereits auf der Bahn war), er sagt:

— Ja, anzunehmen, das wird er sein.

Sie räumen den Laderaum des Kleinbusses voll. Richard hat den Verdacht, Ingrid und Peter wollen den Besuch möglichst kurz halten, da ist Sissis Quengeln und Werfen von Gegenständen ein willkommener Vorwand. Daß Kinder um sieben ins Bett gehören, ist eine Erfindung des Biedermeier, und auf das Biedermeier, wie Richard festgestellt hat, legt Ingrid keinen Wert. Ein Stück von Almas Kuchen, geschlungen, ein Glas Bier, geschüttet. Ein Korb mit Danziger Kantäpfeln zum Mitnehmen. Benzingeld aus der generösen Hand des Vaters. Immer zu Diensten. Und dabei das deutliche Gefühl auf seiten Richards, daß ihm, gleichgültig, was er macht, die Gabe, von sich zu überzeugen, abhanden gekommen ist, daß er nicht mehr zu den Menschen gehört, bei denen sich das Blatt schlagartig zum Guten wendet. Der Bus schaukelt an, das Licht der Scheinwerfer streift über die gewaschenen Kiesel, die gleich darauf von den Wagenreifen herumgeworfen werden, die schmutzige Seite nach oben. Kurz eine erhobene Hand im Fensterspalt der Beifahrerseite, wieder zurückgezogen. Und auch der Bus ist gleich darauf weg, mit hängender, wippender Stoßstange, stotternd im schon dichter werdenden Dunkel, hinaus durch das Tor und weg, weg, wie das geht, darüber im hellblaugrauen Himmel der gelb leuchtende Halbmond, in stabiler Seitenlage, über dem Wienerwald, kann sein, daß der Mond dort oben die Ursache dafür ist, weshalb das Grün der Bäume noch schimmert.

— Das war’s für heute, sagt Richard.

Etwas vom verwirrenden Eindruck des Besuchs muß auch bei Alma haftengeblieben sein, denn sie beschließt, in der Dämmerung noch Nüsse einzusammeln.

Eine ganze Weile sieht Richard ihr von der Vortreppe aus zu. Leichter Laubgeruch zieht ihm in die Nase. Er blickt auf die Uhr. Zwanzig vor acht. Er schneuzt sich, schließt dabei die Augen und macht sie erst wieder auf, als sich über den Schotter Almas Schritte nähern. Gemächlich kommt sie heran, mit einem kleinen Eimer in der Hand. Richard nickt ihr zu. Wieso? Er weiß selbst nicht wieso. Rasch wendet er sich ab. Mit einem Gefühl tiefer Niedergeschlagenheit geht er auf sein Zimmer und sperrt sich ein.

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