Sonntag, 29. April 2001

Bei Johannas nächstem Besuch ist immerhin das Badezimmer so weit entrümpelt, daß sie trotz der zahlreichen gebrochenen Fliesen und der darauf niederregnenden Dispersionsflocken zu Philipp in die Wanne steigt. Sie sagt, vom ständigen Sitzen auf der Vortreppe habe er schon Sommersprossen wie normalerweise erst im Hochsommer. Sie schaut ihn an, er mag es, wenn sie ihn so anschaut, und das, obwohl ihm nicht recht aufgeht, ob hinter ihrer Feststellung eine leise Kritik verborgen ist. Oder will Johanna das Gespräch vom letzten Mal wiederaufnehmen? In puncto familiärer Unambitioniertheit? Nein. Bestimmt nicht? Um so besser. Nichts Neues an der Familienfront. Johanna läßt heißes Wasser nachrinnen. Es fließt über die gelblichen Kalkschlieren unterhalb des Hahns, bis Philipp die Röte ins Gesicht steigt. Nach der Fensterscheibe beschlagen jetzt auch die hellblauen Fliesen an der Wand. Johanna streckt sich aus, so gut es geht. Dann fragt sie:

— Du, Philipp, kann ich für ein paar Tage bleiben?

Eingedenk des vortägigen Telefonats (und so vieler Telefonate) ist Philipp nicht sonderlich erstaunt. Johannas Ruf: Ich will dich nicht verlieren, ich trenne mich von meinem Mann! Darauf die kurze Hoffnung, daß sie es wirklich und wahrhaftig tun wird, und unmittelbar danach das Gelächter der Wiederholung (als trete der Narr im Reigen der Turmuhr in die offene Luke), weil der Vorsatz auch diesmal vorübergehen wird wie eine Grippe, wie eine Halluzination.

— Was verschafft mir diesmal die Ehre? fragt er.

Das Übliche halt.

Daß Johanna sich mit Franz gestritten hat und daß Julia (das Kind, mit dem Franz und Johanna ihre Beziehung verewigt haben) das verlängerte Wochenende bei den Eltern von Franz in Neckenmarkt verbringt. Da fühlt sich Johanna zu Hause entbehrlich.

Während sie beide im Wasser herumrutschen, halb liegend, halb sitzend, reden sie über das, was sich in letzter Zeit bei Johanna angehäuft hat, über Franz, der in einer künstlerischen Krise stecke, so Johanna. Sie führt Einzelheiten an: Daß Franz den ganzen Tag über nichts anderes als über sein Ringen mit Ideen rede, ohne je zu arbeiten. Er lasse sich stundenlang über das Körperliche und das Intuitive aus und darüber, daß er seinen absoluten Anspruch in die Welt hineinzwingen wolle. Er wisse, daß er mit diesem Anliegen scheitern werde, aber nur, weil er längst von Menschen ohne Format und Sinn heruntergewirtschaftet sei. Damit meine er selbstverständlich sie, Johanna, sagt Johanna. Sie lacht. Gestern abend sei Franz in der Wohnung auf- und abgelaufen und habe andauernd gerufen, die Welt ist voller Beep! Beep! Beep! Er habe an seinen Skulpturen gerüttelt, sich hinter ihnen versteckt und wieder gerufen: Beep! Beep! Beeper! In seiner brüsken Art. Nach etlichen weiteren Beep! Beep! Beep! habe er die Wohnung ohne Erklärung in Richtung des neuen Ateliers verlassen. Das neue Atelier, mit dem die Probleme gleich weitergehen. Franz will partout keinen Schlüssel für das Atelier hergeben, nicht einmal für Johanna, seine ihm amtlich angetraute Frau.

— Er argumentiert, sagt Johanna, meine Forderung sei ein Versuch, Macht über ihn zu erlangen, weil ich mir die Möglichkeit schaffen will, ihn kontrollieren zu können. Und falls ich behaupten wolle, daß ich den Schlüssel nicht fürs eigene Ego oder zur Besitznahme brauche, dann frage er sich, wofür ich den Schlüssel überhaupt benötige. Wenn ich ohnehin jedem Kommen eine Warnung voranschicken wolle, sei das alles nur ein bürgerlicher Popanz, den er nicht einsehe.

Philipp meint:

— Eine gute Argumentation, auf die sich nicht viel sagen läßt.

— Mag sein. Trotzdem ist es eine Frechheit. Immerhin bin ich mit ihm verheiratet.

— Wem sagst du das.

Obwohl Philipp das Gedankenspiel rund um Johannas Ehe zunehmend als unnötige Strapaze empfindet und als Falle, in die er irgendwann einmal getappt ist, denkt er, daß es vielleicht ganz normal ist: Wenn man ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau und Mutter hat, muß man sich auch regelmäßig mit den psychologischen Hintergründen des Verhältnisses dieser Frau zu ihrem Mann und umgekehrt beschäftigen. Bei der Gelegenheit fällt ihm auch wieder ein, daß er sich schon seit längerem wundert, wie selbstverständlich er sich vor einigen Jahren damit abgefunden hat, Nummer zwei zu sein, wie anstandslos er sich seit Johannas Heirat mit der stundenweisen Liebe begnügt und wie restlos er es für erwiesen hält, daß Johanna ihn mehr liebt als Franz, solange sie mit Franz nicht fünfzehn Kinder in die Welt setzt, sondern es bei dem einen Ungewollten beläßt.

Johanna weiter:

— Der Atelierschlüssel ist zu einem Statussymbol geworden. Aber ich habe gestern zu Franz gesagt, daß ich auf die Aushändigung um des lieben Friedens willen scheiße. Jetzt kann er sich was drauf einbilden, daß er seine künstlerische Intimsphäre samt Schaffenskrise erfolgreich verteidigt hat.

Und nach einer Pause:

— Von mir aus kann er zum Teufel gehen, so schnell wie möglich und je eher, desto besser.

Aber diese Ankündigungen und Glücklichmacher haben für Philipp nach der langen Behandlungszeit keine nennenswerte Wirkung mehr.

— Ich bin gespannt, sagt er.

— Du wirst schon sehen, beteuert Johanna: Bei Franz und mir läßt sich nichts mehr beschönigen.

— Wie gesagt, ich bin gespannt.

— Wart’s nur ab.

— Ich warte es ab, ganz bestimmt. Wer lange genug wartet, kann König werden.

— Wetten!

— Erbsenkönig.

(Wir könnten zusammenziehen, Johanna würde mich niemals betrügen oder nur sehr selten. Wir könnten rasch ein Kind machen oder zwei und —. Nein, das wird nicht passieren.)

— Na los, wetten, fordert Johanna.

— Ein Bier in Texas, ein Besuch beim Schlamm-Catchen und das Sex-ohne-Kondom-Privileg fortan für mich.

— Kannst du haben.

— Im Jahre Nimmerlein.

Sie zieht die Augenbrauen spöttisch hoch.

— Weil ich die Wette gewinne.

Sie schlägt mit den Händen auf die Wasseroberfläche und verspritzt das Badewasser hemmungslos in Philipps Gesicht und bis zur Tür. Dann läßt sie nochmals heißes Wasser nachrinnen. Der Badeschaum ist größtenteils in sich zusammengefallen, die wenigen Reste bilden Ringe um die aus dem Wasser ragenden Körperteile. Die Ringe steigen hoch, bis sie genau unter Johannas Brüsten stehen. Philipp fällt auf, daß Johannas Brustwarzen aufgerichtet sind, herausfordernd fröhlich, was nicht zu Johannas allgemeiner Stimmung passen will, nur zu der Wärme und Feuchtigkeit im Raum, zum ruhigen, schwadengesättigten Licht aus der nackt in einer Weißblechfassung hängenden Glühbirne.

Philipp sagt:

— Ich bin ja auch nicht gerade die Unkompliziertheit in Person, aber einen Schlüssel zum Haus kannst du gerne haben. Es gibt ein halbes Dutzend Kopien.

— Ich bitte darum.

Er sieht zwischen ihre Beine, eigentlich im Bedürfnis, in dem vom Badesalz schlierigen und bläulich eingefärbten Wasser ihr Geschlecht zu bewundern. Aber da hängen kleine Luftperlen in ihren drahtigen Schamhaaren, was ihn dermaßen erstaunt, daß er auf andere Gedanken kommt. Mit langsam wieder abflauendem Herzklopfen inspiziert er, wie das bei ihm selbst ist, ob sich in seinen nicht so drahtigen Schamhaaren ebenfalls kleine Luftperlen gehalten haben. Aber da hängen keine, und er würde gerne dahinterkommen warum, warum all diese Unterschiede.

Johanna hat mittlerweile den Faden wiederaufgenommen:

— Franz geht mir dermaßen auf die Nerven, du glaubst es nicht. Er und er und er und er. Er er er. Immer nur er. Ich halte das nicht mehr aus. Er und seine Skulpturen, er und sein Atelier, er und seine Stadt, er und sein Auto, er und sein Schwarzes Kamel. Seine Fotografien, seine Schuhe, seine Hosen, Hoden, sein Kopf und seine schlechte Laune. Er geht mir wahnsinnig auf die Nerven mit sich selbst.

— Ich weiß, ich weiß, sagt Philipp, um zu signalisieren, daß er auf der Höhe dessen ist, was Johanna zu berichten hat.

Und später sagt er zu demselben Zweck:

— Ich staune, ich staune.

Kurz darauf stehen sie auf und duschen sich ab. Noch während das Wasser glucksend abläuft, wechseln sie vom Badezimmer nach unten ins Nähzimmer, das neben dem Badezimmer der einzige Raum ist, den Philipp weitgehend ausgeräumt hat. Mit den wenigen Möbeln ist der irgendwie traurige Geruch nach Politur, gewachstem Schrankpapier und alten Menschen verschwunden. Vom oberen Stockwerk hat Philipp eine Federkernmatratze heruntergeschafft, sie frisch bezogen und unter das Fenster gelegt. Zu dieser Matratze zieht Philipp Johanna hin. Er ist nervös, aber nicht wegen der Großeltern, die als erkaltetes Abbild eines Brautpaares von der Wand aus zusehen, sondern im Wissen, daß er mit Johanna schlafen und es das einzige Mal an diesem Wochenende sein wird, bei dem Johanna sich in der Überzeugung bewegt, die Trennung von Franz sei beschlossene Sache. Das überhaupt nicht mehr Wollen kommt Philipp an, wenn er nur daran denkt. Er ist sich sicher, daß Johannas Trennungsphantasie eine Revolution der letzten Apriltage ist, ein anarchistisches Interregnum, das den Mai nicht erleben wird. Wie ein kurzer Blickkontakt mit all seinen Lügen kommt es ihm vor, wie Sterblichkeit. Trotzdem greift seine linke Hand von hinten zwischen Johannas sich bereitwillig öffnende Beine, mit dem Mittelfinger voran, einfach deshalb, weil er die kurze Verschnaufpause, die ihm Johannas Streit mit Franz gewährt, nicht verstreichen lassen will, ohne sexuelles Kapital daraus zu schlagen. Er spürt die Berührung ihrer Zunge an seinem rechten Oberarm, ein rastloser, trauriger Genuß.

— Hörst du? sagt sie.

Und dann, bevor ihre Zunge zu seinem Hals wandert:

— Windstärke vier erkennt man in der Skala nach Lamont daran, daß die Kamine sausen.

Wahrhaftig, die Kamine sausen.

Mitten in der Nacht wacht Philipp auf, weil Johannas Handy klingelt. Ihrer Begrüßung ist zu entnehmen, daß Franz am anderen Ende der Leitung ist. Sie sagt, sie sei bei einer Freundin und habe gerade gekotzt, und Durchfall habe sie auch und sie sei sicher, daß es in spätestens zwei Minuten weitergehen werde. Wenn er etwas mitzuteilen habe, solle er es tun, sich aber kurz fassen, weil sie nicht gleichzeitig telefonieren und am Klo sitzen wolle. Sekunden später drückt sie unter Murmeln auf den roten Knopf, dann schaltet sie das Handy aus und widmet sich wieder einem der Notizbücher von Philipp, in dessen Lektüre sie gestört wurde.

Philipp erscheint die Situation wie ein seltsam transparenter Traum. Er schmiegt sich eng an Johannas nackte Hüfte. In dieser Stellung würde er gerne weiterschlafen und sehen, ob der Traum eine Fortsetzung findet. Gleichzeitig hört er Johanna sagen, in ihrer Stimme nach wie vor eine Spur Gereiztheit:

— Ich lese gerade, was du über deine Urgroßeltern und die Herkunft der Kanonenkugel schematisierst. Der Gedanke ist nicht gerade nett, ich weiß, aber du bist in etwa derselbe Stümper wie Franz. Du schreibst fleißig, und es scheint dir leicht von der Hand zu gehen, in Wahrheit aber steht dir jedes Wort im Weg, weil nicht wirklich etwas im Entstehen begriffen ist. Reines Zeitvertun. Weißt du, ich könnte es vielleicht akzeptieren, daß du durch unglückliche Umstände von den genealogischen Informationstransfers, wie sie zwischen Verwandten üblich oder wenigstens nicht unüblich sind, von früh auf abgeschnitten warst. Aber ich muß dir auch ins Gedächtnis rufen, daß zumindest dein Vater noch lebt.

— Nur hat der im Laufe des vergangenen Jahrhunderts das Reden verlernt.

— Und deshalb drehst du dir lieber deine eigenen Geschichten zusammen, ja? Aber selbst dafür könnte ich dich bewundern. Ich glaube, das könnte ich, wenn du nicht eitel wärst, also wirklich dran arbeiten würdest, ich meine, wenn du deine Familiengeschichte — wenn schon — wenigstens ohne Eitelkeit erfinden würdest. Nimm’s mir nicht krumm, aber dazu bist du als Nachkomme der hier beschriebenen Helden ganz offensichtlich außerstande.

— Na ja, ich habe gedacht —, murmelt Philipp schläfrig, betreten.

Er ahnt schon, daß Johanna wieder am Boden der Wirklichkeit angelangt ist mitsamt der Erkenntnis, daß er, Philipp Erlach, nicht der Mann ist, der Johanna Haug aus ihrer kaputten Ehe reißt.

— Du hast was gedacht? fragt sie.

Aber er bringt den Satz nicht zu Ende, und wenig später, als Johanna eine Anmerkung hinterherschickt, dringt das Gesagte schon nicht mehr recht zu ihm vor. Soll sie doch sagen, was sie will:

— Wenn es in dieser Tonart weitergeht, werde ich mich am Ende als Regenmacherin wiederfinden. Darauf läuft es doch hinaus. Das werde ich aber nicht hinnehmen, das kündige ich schon mal an.

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