Er befindet sich im Dunkelsteiner Wald, tastet mit aufgestellten Lichtern die zurückweichenden und sich wieder aufbäumenden Straßenränder ab, an jeder Kreuzung auf dem brüchigen Fahrdamm rangierend, er wüßte gerne, wohin die Hinweisschilder gekommen sind und wer die wenigen vorhandenen Schilder verdreht hat und wofür das Bezahlen von Steuern gut sein soll, wenn nicht einmal auf die Beschilderung der Straßen Verlaß ist, und ob unter den neuen Herren vielleicht doch alles besser wird, breitere Straßen, hellerer Mond, bessere Orientierung. Auch die Grenzen der Phantasie haben sich unter dem Druck der Übermacht verschoben: Das große Reich der Ordnung und Gerechtigkeit hebt an. Na ja, denkt er, vorstellbar ist vieles, auch das Unwahrscheinliche, doch muß man von dem ausgehen, was wahrscheinlich ist, weshalb er an die nationalsozialistische Verheißung nicht recht glauben kann. Von glauben wollen ist noch nicht einmal die Rede. Klüger wäre es (zumindest träte der gewünschte Effekt verläßlicher ein), wenn er sich so schnell nicht wieder zu einer derartigen Zusammenkunft überreden ließe. Wobei: Ablehnen wäre auch schwer möglich gewesen aufgrund der Dienstreise und der zufälligen Anwesenheit in der Gegend. Die glücklose Suche nach einer halbwegs plausibel klingenden Ausrede hat ihn verlegen gemacht, so daß er sich kurzerhand zusagen hörte. Selbstverständlich werde er, allein aus Verbundenheit mit den werten (bedauernswerten) —.
(Stille.)
— Und wo genau soll das stattfinden?
Also ist er den Vertretern des niederösterreichischen Bauernbundes nach Ratzersdorf gefolgt, einem Flecken nördlich von Sankt Pölten, wo behördliche Störungen nicht zu befürchten sind, wie es hieß. Und alles wegen Geldangelegenheiten, um die Versorgung der Familien jener christlichsozialen Gesinnungsgenossen sicherzustellen, die seit dem Einmarsch in Dachau angehalten werden und von denen niemand vorherzusagen weiß, wann sie wieder freikommen. Richard versprach einen namhaften Betrag, und weil er dank dieser Zusage abkömmlich war, hielt ihn niemand zurück, als er sich verabschiedete, noch ehe er sein Bier getrunken hatte. Das war ihm dann auch wieder nicht recht. Wenigstens ein paar höfliche Einwände hätte er gerne gehört.
Jetzt irrt er seit gut einer halben Stunde durchs nächtliche Land, zwischen kleinsten, in Feldschneisen geduckten Ansiedlungen ohne jegliche Straßenbeleuchtung (was für ein Marktpotential, durchfährt es ihn). Wie Hasen springen die Häuser durchs Licht und zurück in die Deckung, wo man die Hand vor Augen nicht sieht. Von Bewohnern kein Zeichen, keine Menschenseele, alle im Bett. Das Kreuz schmerzt Richard, so spannt er den Oberkörper über den Lenker, den Hals langgestreckt, damit der Blick hinter den hastigen Scheinwerfern nicht zurückbleibt. Als an einer größeren Kreuzung wieder nur ein blecherner Pfeil mit Krems, aber nicht Sankt Pölten aus der Schwärze durchs Licht ruckt, nimmt er entnervt den Weg dorthin, weshalb er Wien erst kurz vor Mitternacht erreicht.
Lediglich Frieda ist noch auf, das Kindermädchen (das Hausmädchen, das Mädchen für alles). Sie sitzt in der Küche an dem mit Blech überzogenen Arbeitstisch und schreibt an einem Brief. Während sie ihre Schleifen malt, murmelt sie jedes Wort Silbe für Silbe vor sich hin. Richard, am Treppenabsatz, den Hut in der Hand, versucht mit schräggeneigtem Kopf aus dem in die Diele dringenden Gemurmel einzelne Wörter herauszulösen. Er horcht angestrengt, dabei wird ihm bewußt, daß man Wünsche haben kann, die einander direkt widersprechen: Den Wunsch, Alma nicht zu betrügen, und den Wunsch, in die Küche zu gehen und das Kindermädchen aufzufordern, den Brief später zu Ende zu schreiben. Er besinnt sich darauf, wie Frieda am Nachmittag vor seiner Abreise im Garten eine Decke ausgebreitet und sich in die Sonne gelegt hat, um im Freien den Schlaf nachzuholen, der ihr in der Nacht zuvor entzogen worden war. Sie schmierte sich mit Creme ein, und solange sie damit beschäftigt war, hatte Richard sie betrachtet, ihre kurzen dunkelblauen Hosen, das bunte, quergestreifte Ruderleibchen und das weiße, auf beiden Seiten verknotete Tuch am Kopf. Vorne ließ das Tuch einen Teil der roten Haare sehen, den Stolz der ganzen Person, auf der rechten Seite schaukelten die verknoteten Enden des Tuches vor Friedas kräftigen Brüsten. Jetzt, in der Erinnerung, kommen ihm ihre Brustwarzen wie runzlige Stielaugen vor, die ihm mit seltsamem Grimm über Tage hinweg und auf Umwegen über Ybbs und Ratzersdorf nachsehen bis hierher.
Was geschieht? Was in den letzten Monaten viel zu oft geschehen ist: Daß sich der Vizedirektor der städtischen Elektrizitäts-Werke mit einer Hutblume unmöglich macht, Dr. Richard Sterk, Ende dreißig, doch kraft seines Amtes und seiner Würde ein gereifter Mann, der um sein Versagen weiß und trotzdem nicht in der Lage ist, dem Ganzen ein Ende zu machen. Er kommt von diesem Mädchen nicht los, obwohl es allerhöchste Zeit wäre. Sooft er den Beschluß faßt, daß es das definitiv letzte Mal sein wird oder gerade ist oder war, so oft sehnt er den Augenblick herbei, an dem er erneut mit Küssen über diese kinderspeckige Weinviertler Molligkeit herfällt. Er will es und will es gleichzeitig nicht. Bereits mit dem warmen, rauhen Kleid in der einen Hand, wenn er unter Friedas Achseln riecht, wenn er mit der anderen Hand die Speckröllchen streichelt, dort, wo der Büstenhalter einschneidet (der rote Büstenhalter, der auf der Vorderseite heller ist als auf der Rückseite): Wenn er diesen BH öffnet und Friedas weiße Brüste herausquellen und Frieda ihm währenddessen die Namen ihrer zwölf Geschwister psalmodiert: Da schwört er dem Mädchen heftig ab, so wahr ich hier stehe, um es kurz darauf ebenso heftig zu nehmen. Diesmal dreht er sie herum, sie beugt sich bereitwillig nach vorn und die Sommernacht und das Zirpen der Heuschrecken und die Dünste der Küche und das Knallen einer Fliege am gekippten Fenster — und — und — die wie von einer obszönen Feuchtigkeit glänzenden Ausläufer von Friedas durchgebogenem, durchgedrücktem Rücken im Licht der Deckenlampe und das Erlöschen der Glanzpartikel, als Richard sich nochmals nach vorn beugt, um Friedas dicke Brüste zu berühren. Dann, mit den Händen ihre Hinterbacken auseinander- und hochschiebend, während Frieda in ihr rechtes Handgelenk beißt, weil ihr gerade ein Stöhnen ausgekommen ist, stößt er hastig in diese wohlig warme, hinter dem borstigen Haarbüschel versteckte Höhle hinein, von alles überflutender Lust getrieben und von nicht minder heftiger Reue geplagt. Mit dem beunruhigenden Unterschied, daß die Lust hinterher rasch abklingt, die Reue jedoch bleibt. Die Reue kommt mit, als Richard sich mit angehaltenem Atem neben Alma ins Bett schiebt. Sie nimmt nicht ab mit dem Rasierschaum, den Richard sich in der Früh aus dem Gesicht schabt, und sie bohrt in seiner Magengrube, während er im Amt telefonisch mitteilt, daß er an diesem Tag nicht kommen werde, weil er die Dienstreise genausogut daheim aufarbeiten könne. Das trifft sogar zu, ist ihm normalerweise trotzdem kein hinreichender Grund für eine englische Woche. Vielmehr hat er beschlossen, diesen Samstag mit Alma und den Kindern zu verbringen und nebenher einen Weg ausfindig zu machen, wie unauffällig beendet werden kann, was nie hätte beginnen dürfen. Er will nicht den Rest seines Lebens in solcher Unordnung verbringen, das fällt ihm nicht im Traum ein. Oft empfindet er eine solche Abscheu gegen sich, und weil er Abscheu gegen sich empfindet, auch eine Abscheu gegen Frieda, daß es ihn Überwindung kostet, sich im eigenen Haus von einem Zimmer ins nächste zu bewegen. Ich darf kein Doppelleben führen, ermahnt er sich beim Mittagessen. Das wiederholt er einige Male zur Bekräftigung, skandiert es mit je einem Löffel Frittatensuppe: Ich darf kein Doppelleben führen. Aber am Ende weiß er nicht, ob ihn der Gedanke schreckt oder — noch schlimmer — ob es ihm schmeichelt, daß ihm dieses Doppelleben seit fünfeinhalb Monaten, seit Ende Februar, besser (wenn auch nicht leichter) von der Hand geht, als er es sich zugetraut hätte.
Bisher tut Alma, als lebe sie ohne Verdacht. Richards spätes Heimkommen am Vortag hat sie gar nicht angesprochen, sich allerdings auch nicht nach dem Verlauf der Dienstreise erkundigt, was ihn doch kränkt. Es scheint niemanden allzuhart zu treffen, wenn er ein paar Tage außer Haus verbringt. Im Moment, wie Alma es nennt, ist er in der Tat nichts anderes als der Ernährer und Haushaltsvorstand. Und außerdem der Liebhaber des Kindermädchens. Kann gut sein, daß Alma mehr als nur eine Vermutung in diese Richtung hat, auch wenn sie nach außen hin vorgibt, die Zeichen zu mißdeuten. Neulich kreidete sie ihm an, neben der Arbeit zuwenig Gestaltungskraft für die Familie aufzubringen, ständig sei er abgekämpft und müde, ohne Ringe unter den Augen würde sie ihn gar nicht mehr erkennen. Sie erkundigte sich nach seinem Schlaf, ohne Hintergedanken, wie ihm schien, sehr fürsorglich. Bei seinen bekannt mäßigen Ansprüchen auf diesem Gebiet muß Richard trotzdem befürchten, daß ein Denkprozeß in Bewegung gekommen ist. An der Arbeit allein kann seine Übermüdung nicht liegen, da wird auch Alma sich ihren Reim machen. Wann gab es bei ihm je Gähnen am Nachmittag? Und Ringe unter den Augen? Schlafstörungen zählen nicht zu seinen Sorgen, die nächtliche Hitze scheuert nicht an seinen Nerven, die Verdauung funktioniert ohne jeden Anstand, was bei der gemischten Kost, die er aus Rücksicht auf die Kinder nimmt, schon etwas heißen will. Auf die Sorgen im Zusammenhang mit den politischen Umwälzungen kann er auch nicht ewig alle Schuld schieben, wo doch schon jetzt etliche Anhaltspunkte darauf schließen lassen, daß vorerst nicht einmal die Absicht besteht, ihn von seinem Posten zu entfernen.
Am 13. März, dem Tag nach Beginn des Einmarsches, einem Sonntag, wurde Richard morgens von der Polizei aus dem Bett geholt und auf das Kommissariat in der Lainzer Straße verbracht. Man forderte ihm Gürtel und Schnürsenkel ab, beides bekam er nicht zurück, als er am späten Nachmittag in einem Taxi, das er selbst bezahlen mußte, in das Polizeigefängnis auf der Elisabethpromenade überstellt wurde. Er verbrachte mehrere Stunden in Gewahrsam, wenn man so nennen will, was er als Gefährdung empfunden hat, in einer katastrophal überfüllten Zelle, wo es ununterbrochen Streit gab. Kommunisten stritten mit Christlichsozialen und Christlichsoziale mit Sozialdemokraten und Sozialdemokraten mit Kommunisten um die Sache mit dem Gewissen, auf dem irgendwer das liebe Vaterland ja haben müsse. Am meisten beunruhigte Richard, daß die Männer sich größtenteils im Besitz sowohl ihrer Gürtel als auch ihrer Schnürsenkel befanden, wenn bei manchen auch Nase und Lippen und weniger sichtbare Körperteile Beschädigungen aufwiesen. Augenpartien erblühten als Veilchen, in Taxitüren eingeklemmte Finger färbten sich schwarz. Wo nicht gestritten wurde, war die Stimmung gedrückt, und Richard einer der Gedrücktesten, weil er keine Bürgerkriegserfahrung hatte und im Gegensatz zu den meisten der Anwesenden mit derlei Situationen völlig unvertraut war. Mit zunehmendem Schrecken richtete er sich auf seine erste Nacht im Arrest ein, die dann aber doch nicht stattfand, weil die Aktion wenigstens in seinem Fall vor allem der Einschüchterung diente. Nach einer kurzen nächtlichen Befragung durch reichsdeutsche Beamte, denen Illegale zur Seite standen, unterschrieb er ein im Stapel aufliegendes, mehrseitiges Gelöbnis, dessen Inhalt ihm dahingehend verdeutscht wurde, daß man von ihm erwarte, sich politisch nicht mehr zu betätigen. Als ob er sich je ernsthaft politisch betätigt hätte. Daraufhin wurde er nach Hause entlassen. Er weiß noch, daß er sich von den Beamten in aller Form verabschiedete und die Tür hinter sich schloß, als läge drinnen jemand im Sterben. Auf dem Flur nahm er Haltung an und stieg, so würdevoll es seine offenen Schuhe zuließen, die breite Steintreppe hinunter. Was ihm dabei durch den Kopf ging, hat sich bereits wieder verflüchtigt, aber ein Gefühl von nie zuvor empfundener Wucht ist ihm in Erinnerung geblieben: daß jede Stufe, wenn sie mit seinem Gewicht belastet wird, einen Mechanismus auslösen könnte, der seine sofortige und neuerliche Festsetzung sowie Schläge ins Gesicht zum Ergebnis haben würde. Er fühlte sich beobachtet und verfolgt, und trotz der peinlichen Mängel an seiner Garderobe traute er sich nicht, ein Taxi zu nehmen, wofür er keine wirkliche Erklärung hatte; vielleicht, weil die Fahrer allesamt wie Großdeutsche aussahen. Er zog es vor, die um vieles zeitaufwendigere Stadtbahn zu nehmen, setzte sich in den hintersten Wagen, und selbst dort erschien ihm, vom Schienenschlag und einer unbestimmten Angst geschüttelt, sein plötzliches Freikommen noch äußerst gespenstisch — wiewohl weitere Behelligungen seither nicht stattgefunden haben.
Mit dem warmen Gefühl des Mittagessens im Bauch knöchelt er im Vorbeigehen gegen das Barometer in der Veranda, dabei beruhigt er sich mit Zureden, wozu bin ich ein reicher Mann, notfalls ziehe ich mich in die Vorstadt zurück, um hier die Geborgenheit der Familie zu genießen. Er schnappt sich vom Sofa ein Kissen, und in der anderen Hand mit Henry Fords monotonen Denkschriften, mit denen er seit Wochen nicht vorwärtskommt, sowie der Reichspost vom Tag, tritt er hinaus in den Garten. Das Sonnenlicht prickelt in seinem Gesicht, er blinzelt über die Rasenfläche und gibt sich Mühe, das herumliegende Spielzeug und die für den Kinderwagen zu schmalen und deshalb beidseits abgefahrenen Gartenwege mit den Augen eines glücklichen Familienvaters zu sehen. Bald wird Ingrid auch längere Strecken alleine gehen können, und vor allem wird man sie nicht mehr, wie jetzt, zum Mittagsschlaf durch den Garten kutschieren müssen. Das Befahren der Gartenwege mit dem Kinderwagen schadet den Wegen außerordentlich. Vermutlich ist auch das Tretauto beteiligt, das Otto im Vorjahr bei einer Kindertombola gewonnen hat und aus dem er bald herausgewachsen sein wird. Wenn Otto das Tretauto wenigstens nicht immer mitten am Vorplatz abstellen würde, dieser Bengel. Richard schaut zu Otto hinüber, faul liegt der Bub, die Katze im Arm, auf den warmen Steinplatten unter der mit Bohnen bewachsenen Pergola und bohrt in der Nase.
— Schreibst du mir eine Postkarte? fragt Richard.
— Ich? fragt Otto.
— Weißt du von wo?
Otto schaut nochmals auf und wischt sich die Finger an seiner Lederhose ab, die aufgestickten Edelweißmotive an seinem rechten Schenkel erzeugen ein holprig scheuerndes Geräusch. Otto hält inne, überlegt, ob seine Reaktion richtig war, streichelt dann wieder die Katze, was ihm bezogen auf seine Rotzfinger unverfänglicher vorkommt.
— Von oben, sagt Richard: Man kann im Leben hinaufkommen und hinunter. Wenn man ganz oben ist, kann man seinen Wagen quer in der Einfahrt parken. Das ist, was ich meine.
Richard schaut wieder zum Vorplatz, wo Frieda, von der anderen Seite des Hauses kommend, auf einer ihrer Runden den Kinderwagen in sein Blickfeld schiebt. Der lose Untergrund knirscht und knistert unter den hohen, mit Hartgummi bezogenen Rädern. Gleich wird der Kinderwagen auf Höhe der Schutzengelfigur, die Richards Mutter während des Krieges dort aufstellen ließ, den Gartenweg erreichen und wippend auf die Platten springen.
— Ist sie schon eingeschlafen? will Richard wissen.
Frieda wiegt den Kopf.
— Warum fährst du nicht in den Park mit ihr?
Frieda errötet und drückt den Stoßbügel halb mit den Händen, halb mit dem Bauch nach unten, damit der Wagen ein wenig schaukelt. Die Federung quietscht an den Nietstellen, sie sollte geölt werden.
— Vor die Soldaten ist man im Moment nirgends sicher, sagt sie, kichert verlegen, ihr Busen hebt und senkt sich schneller als sonst oder wie sonst nur in der Nacht, wenn sie ihre Plumpheit verliert, diese Verschrecktheit aus Heimweh und der Unfähigkeit zu einem halbwegs normalen Deutsch. Richard hat begonnen, auf derlei Kleinigkeiten zu achten, ihre Schüchternheit, wenn sie Hunger hat, ihr Zusammenzucken, wenn Alma brüsk das Wort an sie richtet, und darauf, wo Frieda sich tagsüber kratzt und ob es an Stellen ist, wo Richards eingetrockneter Speichel für das Jucken verantwortlich sein könnte (während Friedas Speichel offenbar nächtliche Alpträume verursacht).
Er tritt zur Seite und läßt Frieda mit dem Kinderwagen passieren. Sie bewegt sich mit scheuer Ungelenkigkeit an ihm vorbei. Auch Richard fühlt sich nicht sonderlich wohl bei dieser Begegnung. Wie schon beim gemeinsamen Mittagessen empfindet er die Situation als ziemlich verrückt. Das Verhältnis ist ohne Zukunft, und trotzdem ist da ein enormer Reiz, der anhält und anhält und von dem ganz unklar ist, wozu er sich auswachsen wird. Im Moment: Er weiß nicht, es muß ein Ende haben, und zwar rasch, er hat keine Begabung für die Unordnung, betrüblicherweise, einerseits. Andererseits wird alles unkalkulierbar, und er mag es nicht, wenn sich die Dinge seiner Kontrolle entziehen.
— Werden weiterhin Truppen in die Stadt verlegt? fragt Alma.
— Wer Augen hat zu sehen, der sehe, antwortet Richard.
Er nimmt die zweite Liege, die außen an einem Stützbalken der Pergola lehnt. Noch während er die Liege auseinanderklappt, fügt er dem Gesagten hinzu:
— Apropos Augen auf: In der Klosettabteilung der Mansarde ist die rechte Seite des Fensters mit dem Blech nicht dicht genug abgedeckt, so daß Wasser eindringt und der Fensterrahmen und auch der Balken darunter faul geworden sind. Man sieht es, wenn man sich hinausbeugt.
Alma räkelt sich bäuchlings auf ihrer Liege, in einem weißen Sommerkleid mit blauen Punkten und Puffärmeln, diese große, gelassene und trotz ihres grobknochigen Körperbaus mehr lunare als ländliche Schönheit. Sie blättert in ihrem Buch einige Seiten nach vorne, um zu sehen, ob das Kapitel bald zu Ende ist, sie schließt das Buch und legt es in den Schatten unter ihrem Stuhl. Ihre Augen sehen vom Lesen schläfrig aus. Sie hebt die Brauen und läßt den Blick, schräg hoch, länger als sonst auf Richard verweilen.
— Ich beuge mich nicht zum Klosettfenster hinaus. Warum sollte ich das tun?
— Sei so gut und laß einen Spengler kommen, er soll es in Ordnung bringen. Meinetwegen kann er nach eigener Einschätzung alle Blechteile des Hauses minisieren und streichen. An der Nordseite ist die Wand entlang der Rinne ständig feucht. Kann sein, daß die Rinne beschädigt ist, man muß es sich gründlich ansehen.
— Soll ich Frau Mendel fragen? Vielleicht will ihr Schwiegersohn kommen.
Richard setzt sich als Schutz gegen die Sonne seine Kapitänsmütze auf und macht es sich auf der Liege bequem. Die Bespannung gibt unter der Belastung ein knarzendes Geräusch von sich. Er sagt:
— Ich bin vor ein paar Tagen auf der Hietzinger Hauptstraße mit ihr zusammengetroffen, und ich kann nicht behaupten, daß sie ausgesprochen freundlich war.
— Frau Mendel?
— Ja, Frau Mendel.
Alma räkelt sich und atmet tief ein, bis ihre Lunge ganz von Gartenluft angefüllt ist.
— Ich nehme halt an, man wird im Verkehr mit ihr in nächster Zeit die Lage berücksichtigen müssen, in der sie sich neuerdings befindet. Sollte sie deswegen schlechte Laune haben, mich würde es nicht wundern.
Sie schließt die Augen.
— Wie wahr, wie wahr, grunzt Richard.
Diese Art Logik, denkt er, ist Almas Stärke, außer ihr kennt er niemanden, der sich in der Befindlichkeit anderer wie in einem vertrauten Element bewegt. Alma scheint mit diesem Talent auf die Welt gekommen zu sein, mit den Dingen im kleinen Finger. Diese Gabe ist etwas, was ihn in ihrem Fall beunruhigt, was er in seinem Fall gerne für sich hätte. Er selbst wird meistens nicht sonderlich schlau aus seinem Gegenüber, auch nicht aus Alma, die von einer immer gleichen, schwierigen Ruhe beherrscht wird. Oft, wenn er wüßte, was in ihr vorgeht, wäre ihm leichter, und er würde im Umgang mit ihr vielleicht mehr als nur ein paar eckige Alltäglichkeiten zustande bringen. Ohne Alma, glaubt er, wäre das Leben trostlos. Was ohne sie wäre, kann er mit letzter Bestimmtheit nicht sagen, aber er stellt sich vor, daß es trostlos wäre. Auf einmal fallen ihm eine Menge Dinge über sie ein, an die er schon lange nicht mehr gedacht hat und die seine Gereiztheit abklingen lassen: Daß sie vor neun Jahren, als sie einander kennenlernten, behauptete, eine moderne junge Frau zu sein, und daß sie zum Argwohn seines Vaters das Haar schon damals sehr kurz trug. Richard öffnet nochmals die Augen, schon ganz schläfrig, er wirft einen heimlichen Blick zu Alma hinüber. Sie hat ihre Sonnenbrille aufgesetzt und liest wieder in dem Roman von Schnitzler, zwischendurch mit einem Bleistiftstummel an den Rand schreibend, diese geheimen Zeichen, deren Sinn er nicht ergründen kann. Ob sie wohl manchmal ihrem Studium nachtrauert? Nein. Und wenn doch? Ein bißchen vielleicht. Als sie schwanger wurde —. Wie war das damals? Sie hat es auf die ihr typische Art in Glück umgemünzt, mit offenen Armen für alles, was vorfällt, weil sie so gerne am Leben ist (ihre eigenen Worte). Er hat diesen Zug an ihr erst viel später wahrgenommen. Und er? Er hat gesagt, jetzt wird geheiratet. Ein großes Haus. Das war vorhanden. Eine Handvoll Kinder. Aus der ist nichts geworden. Ob sich diese Dinge in Almas Kopf mit dem Gelesenen vermischen? Er würde es gern wissen. Die zweite Schwangerschaft mit Ingrid, von der ihr die Ärzte dringend abgeraten hatten und die tatsächlich beinah schiefgegangen wäre? Anschließend fiel Alma aus allen Kleidern, nur langsam setzt sie wieder Speck an, auch oben herum, wo sie nicht mehr viel aufzubieten hat. Es sollte alles wieder wie früher sein, sagt er sich. All die Jahre. Und dann. Wie dumm kann man eigentlich sein? Wo ist bloß sein Verstand hingekommen? Mit dem Kindermädchen. Kein Platz vor ihnen sicher. Nicht einmal das Ehebett. Was bloß in Almas Kopf vorgeht? Sie wäre bestimmt nicht sonderlich erfreut, wenn sie. Sie würde vermutlich aus dem gemeinsamen Bett ausziehen, Moment, nein, das würde sie nicht, aber die Probe aufs Exempel will er trotzdem nicht machen. Er liebt sie, er würde ihre Füße küssen, beide Füße, alle Zehen. Wie sie. Komisch, daß er dem Kindermädchen die Füße küßt, während er bei Alma, obwohl ihre Schönheit nach wie vor seinen Herzschlag beschleunigt, meist nur das Nachthemd hochschiebt. Sie ist jünger als er, im Vormonat einunddreißig geworden. Und er mag es, wie sie die Beine öffnet, nicht nur ein bißchen. Ob es ihr auch von hinten gefallen würde? Durchaus im Bereich des Möglichen. Aber was denkt er da eigentlich? Egal, er wird sie ohnehin nicht fragen, denn sein Respekt vor ihr vereitelt jeden Anlauf. Er weiß nicht warum und ob das richtig ist, er weiß auch bei den Kindern oft nicht, was richtig ist, wie weit er gehen darf, damit sie beim Spielen nicht die Achtung vor ihm verlieren. Etwas Ähnliches gilt bestimmt auch für sein Verhältnis zu Alma im Bett. Und. So viele Gedanken gehen ihm durch den Kopf, er versucht, einzelne Gedanken anzuhalten, aber sie laufen geschwind weiter, ungehorsam wie Kinder, mit denen man zuviel gespielt hat. Daß sein Vater überhaupt je mit ihm geredet hätte, als er, Richard, klein war? Er kann sich nicht erinnern, daß das vorgekommen ist. Verständigung bedeutete, den Kindern etwas aufzutragen. Ansonsten hatten sie sich wie Topfblumen zu betragen, kein Vergleich zu den heutigen Freiheiten. Topfblumen, ja. Er denkt an Topfblumen.
Später fröstelt es ihn, trotz der schwülwarmen Temperaturen, woran er erkennt, daß er längere Zeit geschlafen hat.
Ohne die Augen zu öffnen, dreht Richard sich zur Seite, krümmt sich, zieht die Knie ein Stück an und legt die Ellbogen fest an den Körper, um in dieser Haltung noch eine Weile vor sich hin zu dämmern. Seine Wahrnehmung ist angenehm diffus, er riecht den eingefärbten Leinenbezug der Liege, etwas dumpf, und im Kissen, in dem sein Gesicht halb verborgen ist, den süßlichen Speichel seiner zweijährigen Tochter. Das Gras ringsum verströmt weiche Hitze und Sommer und Gott und die Welt. In seinem Rücken hört er trippelnde Schritte, die sich nähern und wieder entfernen, dazu Ingrids helles Stimmchen beim Auflachen. Ihm fällt ein, daß ihn ein solches Lachen gerade geweckt hat. Wasser plätschert, und Alma ruft:
— Gleich hab ich dich!
Und wieder dieses helle, fröhliche Lachen, unter das sich das Schlagen von Almas Sandalen mischt, sehr hart, als würde Alma lediglich vortäuschen zu laufen. Richards obenliegendes Ohr vernimmt das Klacken einer Wegplatte. Er hört in die verschiedenen Geräusche hinein, holt sie zu sich heran, ehe er sie wieder mit dem Hintergrund verschmelzen läßt: Das Reiben und Knarzen der Schaukelketten an den Gummischalen, die Richard aus einem kaputten Wagenreifen hat sägen lassen zum Schutz des Astes, an dem die Schaukel hängt, dann erneut Ingrids trippelnde Schritte, ihr langes, dünnes und gellendes Stimmchen, von dem Richard sich, wie widersinnig es klingen mag, seltsam behütet fühlt. Schon lange ist er nicht mehr so gelegen, alles kommt ihm friedlich vor, so frei von Sorgen. Ein Gefühl der Zufriedenheit erfaßt ihn, und einen Augenblick lang hat er die sichere Empfindung, nicht nur Teil dieser Geräuschkulisse zu sein, sondern ihr Mittelpunkt, Brennpunkt eines familiären Kraftfeldes, der Unterbau, der dem Überbau zuhört. Dr. Richard Sterk: Jede familiäre Regung ein Attribut seiner großmächtigen Person. So hat er es sich vorgestellt, bevor er verheiratet war — und natürlich weiß er (was er offen nicht zugeben kann), daß hier der wahnhafte Teil seines Wünschens beginnt.
Seufzend dreht er sich auf den Rücken und hebt den Oberkörper, gleichzeitig öffnet er die Augen zu schmalen Schlitzen. Sein Blick gleitet langsam über den Rasen zwischen den Bäumen hindurch zur Veranda. Bei einem halbwüchsigen Apfelbaum, der noch von seinem Vater stammt, sieht er seine Tochter im Kreis um den Stamm laufen. Irgendwer hat ihr ein riesiges Rhabarberblatt um den Kopf gebunden. Die Schritte, die sie macht, sind ungleich, sie schwankt auf ihren kleinen nackten Füßen und mit dem dicken Windelpopo, als wäre sie eine Barkasse, die zu schwer geladen hat. Dahinter läuft Alma mit der Gießkanne. Immer wieder läßt Alma sacht einige Spritzer Wasser aus der Gießschnauze auf Ingrids Schultern und Rücken schwappen, auch noch, als Ingrid Richtung Vorplatz schwenkt. Beide leisten sich eine strahlende Miene. Richard schaut ihnen hinterher, bis sie über der Auffahrt verschwinden, wo der Garten von Richards Platz aus nicht einzusehen ist. Lediglich Ingrids fröhliches Kreischen wird von der warmen Luft noch herübergetragen.
— Stimmt es, erkundigt Otto sich von der Schaukel, daß man um den Ast herumschaukeln kann, wenn man schnell genug schaukelt?
— Wer behauptet das? fragt Richard.
— Frieda.
— Es ist Unsinn, du würdest dir den Schädel an den Ästen darüber anhauen.
— Und wenn man die Äste darüber wegschneiden würde?
— Dann würden wir im Herbst keinen Most bekommen.
— Und stimmt es, daß wir jetzt, wo wir Deutsche sind, niemanden mehr zu fürchten brauchen?
— Von wem stammt das? Doch bestimmt nicht von Frieda? Sie fürchtet sich ja vor jedem Soldaten.
— Fredl, der Sohn von Frau Puwein, sagt es.
— Na, in gewisser Weise hat er sogar recht, da wir bisher nur die Deutschen gefürchtet haben und das jetzt wegfällt, weil wir ja selber Deutsche geworden sind.
— Mir gefällt es, daß wir Deutsche sind. Am besten hat mir gefallen, als die Flugzeuge die Hakenkreuze aus Aluminiumfolie abgeworfen haben.
Am Morgen des 12. März bei niedrigstehender Sonne, wie ein riesiger Schwarm gleißender Fische sah es aus.
Otto lehnt sich mit ausgestreckten Beinen weit zurück, holt Schwung, dann springt er am höchsten Punkt seiner Schaukelbahn ab, breitet die Arme aus und imitiert ein Flugzeug. Die Schaukelkette klirrt, als das Brett zurücksaust. Nach einer Drehung um 180 Grad landet Otto mit einem Plumps auf allen vieren, eine der ganz gewöhnlichen Komponenten eines sonnigen Sommernachmittags im Garten, etwas, das Richard gar nicht auffallen würde, wenn er tagsüber öfter daheim wäre.
Er ruft Otto hinterher:
— Wo ist Frieda?
Otto hält im Laufen inne und dreht sich zurück:
— Sie sitzt in der Veranda und schreibt einen Brief.
— Bitte sie, mir ein Bier aus dem Keller zu bringen.
Sowie er es gesagt hat, gewahrt er, daß Frieda in der Veranda vom Tisch aufsteht und einen kurzen Blick zu ihm herauswirft. Die Tür und mehrere Fenster klaffen weit auf, damit im Haus für Durchzug gesorgt ist.
— Otto, es hat sich erledigt! ruft er.
Aber der Junge hört es nicht mehr, da er bereits die vier Stufen zur Veranda hochtrampelt. Auch egal. Richard streckt sich der Länge nach aus. Die Hände unter dem Kopf verschränkt, starrt er in das Geäst über sich, in dem Teile des hart gespannten Himmels zu sehen sind und Krähen darin, die schräg durch den Nachmittag ziehen. Während sich der Garten einen Moment lang in fetter und üppiger Ruhe wiegt, brütet Richard darüber, was das Familienleben eigentlich ist, was so ein Familienleben ausmacht. Und vor allem, warum praktische Ehewissenschaften einen nicht besser darauf vorbereiten, vom technischen Standpunkt aus, da man doch ganze Tage mit Familienleben zubringt. Ganze Wochenenden. Es ist ihm unerfindlich. Mißmutig zieht er die Handflächen über die rauhen Armstützen des Liegestuhls. Als von hinter dem Haus Alma mit der weinenden Ingrid am Arm kommt, verstellt er die Lehne um mehrere Kerben nach vorn, so daß er jetzt beinahe sitzt.
— Du wirst sehen, bis zur Hochzeit ist es wieder gut, sagt Alma zu Ingrid. Und zu Richard:
— Sie ist über eine der Weinkisten gefallen, in denen Otto seine Heupferdchen hält.
Sie stellt die Gießkanne zurück zum Brunnen und fährt dem weinenden Kind mit der frei gewordenen Hand über die Wange. In dem Moment tritt Frieda aus der Verandatür, ein Bier in der Hand, über das ein Glas gestülpt ist. Nachdem sie Richard das Bier gereicht hat, hilft sie Alma mit Ingrid, die vor Anstrengung rot angelaufen ist, deren Weinen jetzt aber nachläßt.
— Bis zur Hochzeit ist es wieder gut, verspricht Alma nochmals.
Ingrid versteckt sich im Kittel von Frieda. Frieda ist mittlerweile in die Knie gegangen und murmelt etwas Unverständliches in ihrem Weinviertler Dialekt. Sie klemmt Ingrid zwischen ihre Schenkel, und Ingrid läßt sich mit zwei Handvoll Wasser, die Frieda aus der Gießkanne nimmt, folgsam den Rotz aus dem Gesicht waschen. Frieda trocknet das Gesicht des Mädchens mit dem Ende ihres Kleides ab, und da der Stoff nicht für alles gleichzeitig herhalten kann, bietet sich Richard der Anblick eines nackten Schenkels. Abermals gehen Richard Bilder durch den Kopf, die zarte Haut an den Innenseiten, diese sanft hügelige Landschaft aus Muskeln und Fett, und das rötliche Haar, das sich in einer schmalen Linie bis unmittelbar zu Friedas After zieht. Er hat alles genau vor Augen. Doch die Folge ist keineswegs ein wollüstiges Gefühl, und wenn doch, ist dieses wollüstige Gefühl, Teil des Traurigen an seiner Lage, das ihm in die Kehle steigt. Indem er noch zu Frieda hinüberschaut, läßt er mechanisch den Patentverschluß seines Biers aufschnappen, er bemerkt nicht, daß Ingrid, über Friedas Schenkel hinweg, zurückschaut.
— Bumm! sagt sie.
— Bumm! sagt auch Richard. Das kann einen wirklich in den Irrsinn treiben, stöhnt er bei sich. Er beäugt das Kind, dessen Wangen unter den Augen noch ein wenig glänzen, dort, wo sich die Tränen auf dem faltenlosen Gesicht flächig ausgebreitet haben. Die Tatsache, daß so eine kleine, zu nichts zu gebrauchende Kreatur seine Tochter sein soll, verwundert ihn jeden Tag mehr.
— Gut geschlafen? fragt Alma.
Im ersten Moment, als ihm seine Dienstreise in den Sinn kommt, ist er drauf und dran zu behaupten, daß er sich das Nickerchen redlich verdient habe. Doch rechtzeitig erinnert er sich, daß die Tage mit den Kollegen von der NEWAG für sein nachmittägliches Schlafbedürfnis nur teilweise verantwortlich sind.
— Danke der Nachfrage, murrt er.
Alma gesellt sich zu ihm und nimmt einen kräftigen Schluck vom Bier. Sie sagt:
— Der Schießplatz in Penzing wird neuerdings fast jeden Tag genutzt.
Richard horcht. Hinter dem monotonen Scharren eines nachbarlichen Handrasenmähers vernimmt er die dumpf verhallenden Schläge, die den Himmel zu perforieren scheinen wie nachfedernde Wellpappe.
— Kann sein, sie lernen auf neues Gerät um. Kann auch sein, sie sind einfach froh, daß sie mit der Munition nicht mehr so sparsam wirtschaften müssen wie unter den Unsrigen.
Alma stützt sich am oberen Steg von Richards Lehne ab:
— Die Unsrigen hätten ruhig auch in den Straßen mit der Munition mehr knausern dürfen.
Richard sucht Almas Blick. Seiner Ansicht nach ist sie der Typ, bei dem sich die Falten zuallererst zwischen den Augenbrauen ansiedeln.
Laut sagt er:
— Wenn man gewußt hätte, wie es weitergehen wird, hätte man sich das eine und andere Scharmützel sparen können und besser die Zeit mehr genossen.
— Frau Löwy behauptet, die warten nur den Frühling ab, dann gibt es Krieg.
Er nickt mit sinnender Miene, obwohl er diese Ansicht etwas zu dick aufgetragen findet. Doch erst am Vortag bei der Zusammenkunft in Ratzersdorf hat er sich sagen lassen, was er jetzt wiederholt:
— Es wäre ihnen zuzutrauen.
An Eigenem setzt er hinzu:
— Der Himmel möge es verhüten.
— Löwys gehen nach London zu ihrer älteren Tochter. Sie suchen einen Käufer für das Haus. Dem Vernehmen nach soll ein Verwandter von Paula Wessely Interesse bekunden.
Richard greift unter seinen Liegestuhl nach der Reichspost:
— Ich hoffe, das Milieu bleibt so ruhig, wie es ist. Bin gespannt, wer sich hier alles einnisten wird.
Die Drangsalierung der Sudetendeutschen, heißt es, geht weiter. In Ungarn dürfe die politische Windstille nicht als sorgenfreie Sommerluft gewertet werden. Feierliche Eröffnung der Deutschen Rundfunkausstellung in Berlin durch Goebbels, die größte bisher erlebte Leistungsschau auf dem Gebiet des Rundfunks. Wollen das stärkste Rundfunkland der Welt werden. St. Jean de Luz, angeblich hielt der katalanische Bolschewikenausschuß eine Ministersitzung ab, eingehende Erörterung der militärischen Lage in Katalonien, gelang es den nationalen Fliegern, die Stellungen der spanischen Bolschewiken mit Bomben erfolgreich zu belegen. Vittorio Mussolini, Sohn des Duce, auf Studienreise durch Deutschland. Abflauen der Hitzewelle in Österreich, vielfach wieder 30 Grad, von Westen her rückt langsam ein Störungsgebiet vor, Wien heiter bei 28, die Reihe der verbilligten Bedarfsgegenstände ist durch ein neues wichtiges Glied vermehrt, das Zündhölzchen, Salzburg, Erstaufführung des Figaro, Ezio Pinza bei seinem Trutzlied» Non più andrai«(farfallone amoroso, notte e giorno díntorno girando), da erloschen im Orchester und auf der Bühne …
Weiter dringt Richard in seiner Lektüre nicht vor, weil ein offener Steyr-Wagen in die Auffahrt biegt. Der Wagen rollt aus und kommt kiesknirschend vor Ottos Tretauto zum Stehen. Crobath, ein Studienkollege, den Richard seit Jahren nicht gesehen hat, steigt aus dem Wagen. Er trägt Uniform, dazu eine dieser adrett gescheitelten Frisuren. Und Richard? Mit Haaren, die von der Kapitänsmütze und dem Schlaf hinten kreuzquer verlegen sind, im Hemd und in ausgetretenen Segeltuchschuhen. Auf Crobath zustrebend, vom warmen Grasgeruch in den Kiesstaub, nimmt Richard sich vor, Alma zu bitten, ihm neue Schuhe von derselben Art zu besorgen, am besten gleich zwei Paar.
— Man hat mir gesagt, daß ich Sie zu Hause antreffe.
Crobath redet ein wenig durch die Nase, auf die gut wienerische Art, was Richard dran denken läßt, daß Crobath, als sie gemeinsam beim Alpenverein waren, sich als Eislauflehrer am Heumarkt verdingte, um seine magere Menage aufzubessern. Damals hinkte Crobath in allem nach, ein Mensch mit einem nichtssagenden Gesicht, den Richard immer ein wenig verachtete. Doch wenn Richard ihn sich jetzt ansieht, muß er zugeben, daß sein Gegenüber in seiner Kantigkeit vitaler und um Jahre jünger wirkt als er selbst.
Haben sie einander damals gedutzt?
— Ich hoffe, ich störe nicht, sagt Crobath.
— Ich bitte Sie. Was kann ich für Sie tun?
Er legt Crobath wie prüfend die Hand auf die gepolsterte Uniformschulter. Nach weiteren Höflichkeitsfloskeln für Alma, wendet Crobath sich wieder an Richard mit der Bitte um ein Gespräch unter vier Augen.
— Ist es etwas Wichtiges? fragt Alma, die Arme gekreuzt, eigenwillig noch darin.
— Es ist keine große Sache, sagt Crobath. Aber es klingt wie das Gegenteil.
— Bitte sorg dafür, daß wir nicht gestört werden. Frieda soll Kaffee bringen.
Gleichzeitig rätselt Richard, welchem Anlaß der Besuch zu verdanken ist, ob es mit dem vortägigen Treffen in Ratzersdorf zu tun hat. Er mustert Crobath, was der bloß wollen kann. Das beste wird sein, sich mit Reden zurückzuhalten, wo es geht. Einen ruhigen Eindruck will er erwecken. Bloß keine Unsicherheit zeigen. Doch tritt er voraus in die Pergola, wo verandaseitig der Sommertisch steht, sogar mit Blumen darauf, zu steif, er bewegt sich zu steif, mit zurückgeschmissenen Schultern, als müsse er Haltung demonstrieren. Die Männer setzen sich. Richard rechnet damit, daß Crobath zur Einstimmung an entlegener Stelle beginnen und ein paar Geschichten aus der Studienzeit hervorkramen wird, um sich dann dem eigentlichen Gegenstand zu nähern. Doch nach kurzen Bemerkungen über Otto, den sie aus der Pergola vertrieben haben (wie ähnlich der Bub Richard sehe, das halte die Familie zusammen), und über ein Thema von allgemeinem Interesse (wie grundlegend und vorteilhaft sich die Lage in den vergangenen Wochen verändert habe), steuert Crobath auf den Punkt zu: Die anhängige Klage gegen die Wach- und Schließgesellschaft sei eine lächerliche Sache, wenn man die äußeren Umstände bedenke. Denn, wie Crobath fortfährt:
— Es müssen alle mit ins Rad greifen.
Vor Antritt seiner Dienstreise hat Richard über einen ihm bekannten Rechtsanwalt bei der Wach- und Schließgesellschaft eine Schadensersatzzahlung anmahnen lassen. Für den Fall weiterer Säumigkeit wurde mit Klage gedroht, diese ist aber keineswegs, wie Crobaths Äußerung vermuten ließe, bereits eingereicht.
— Wieso lächerlich? fragt Richard: Die Wach- und Schließgesellschaft hat bisher nur mit Manövern von sich hören lassen, Ausflüchte versucht oder auf Anfragen erst gar nicht reagiert. Laut Vertrag ist ein Schaden, wenn sich keine Einigung erzielen läßt, binnen sechs Monaten gerichtlich einzufordern. Dieser Schritt ist angebahnt. Ich sehe darin einen normalen Vorgang in Anbetracht der Signale, daß die Wach- und Schließgesellschaft alle Möglichkeiten ausschöpfen will, sich vor der Zahlung zu drücken.
Crobath hält Richard einen fünfminütigen Vortrag über erhebliche Veränderungen, vor denen man stehe, anhaltende Hochstimmung in der Stadt und darüber, daß Richards Verhalten ein ungünstiges Licht auf seine politische Einstellung werfe.
Als Crobath in einem Resümee Anzeichen erkennen läßt, wieder von vorne beginnen zu wollen, indem er verkündet, daß von jedermann Opfer verlangt würden, wendet Richard vorsichtig ein:
— Ich hätte nicht angenommen, daß es sich hier um eine politische Angelegenheit handelt.
— Dann denken Sie die falschen Gedanken, entgegnet Crobath in einer Gelassenheit, die bewirkt, daß Richard sich auf eine Erwiderung nicht einlassen mag.
Richard horcht auf dünne Sandalenschritte, die sich hinter ihm über den Rasen nähern. Es ist Frieda, die Kaffee und eine Schale mit Brombeeren bringt. Beim Verrücken der Blumenvase beugt Frieda sich über Richards Schulter. Richard meint den nachgiebigen Druck einer ihrer Brüste zu spüren, er nimmt an, daß Absicht dahintersteckt, vielleicht um an die vergangene Nacht zu erinnern. Den Körper schräg zur Seite geneigt, verteilt Frieda Tassen und Schalen mit etwas sanft Schleppendem in ihren Bewegungen, das Richard ebenfalls auf sich bezieht. Er riecht den vertraut parfümierten Körper, der einen stärkeren Geruch ausströmt als die Brombeeren am Tisch. Auch Crobath heftet seine Augen auf das Mädchen, und Richard fällt ein, daß ein Teil der verschossenen Wäsche, die indirekt Gegenstand des Gesprächs ist, von Frieda getragen wird. Alma hat die passenden Stücke mit nach Hause gebracht aus der Überlegung heraus, daß man diese Stücke im Falle einer juristischen Auseinandersetzung weiterhin als Beweismittel vorlegen könnte.
Während Frieda Kaffee einschenkt, ruft Richard sich die einzelnen Vorgänge ins Gedächtnis zurück: Daß am 12. und 13. März deutsche Truppen in Österreich einmarschierten, Samstag und Sonntag, und daß am Wäschegeschäft von Almas Eltern, dem Alma als Geschäftsführerin vorsteht, die dichtbestückte Auslage von dem reichlichen Sonnenlicht an jenen Tagen verdorben wurde. Ein Mitarbeiter der Wach- und Schließgesellschaft hatte es vorgezogen, an der Westeinfahrt Fahnen zu schwingen und seine neue Staatsangehörigkeit zu feiern, anstatt seiner Arbeit in der gebotenen Weise nachzukommen.
Er sagt:
— Es läßt sich nicht wegreden, daß der Wachmann nicht auf seinem Posten war.
Und Crobath:
— Kann man es ihm vorwerfen, daß er die Bedeutung der historischen Stunde erkannt hat, wie man es im übrigen nicht anders von jedem erwartet?
Richard blickt einen Moment lang hinter der gemächlich sich entfernenden Frieda her, dann schräg zurück auf Crobath. Er ist der Meinung, dessen verdrechselter Logik nicht folgen zu müssen.
— Daraus läßt sich hoffentlich nicht das Recht ableiten, seine Pflichten zu vernachlässigen. Und wenn doch: Dann soll die Wach- und Schließgesellschaft dem Mann seinen Sinn fürs Historische vergelten und den Schaden ausgleichen, dem Anstand zuliebe.
Den Vertrag mit der Wach- und Schließgesellschaft hat Alma im vergangenen Jahr erst nach viel Zögern und langem Hin und Her verlängert. Wiederholt waren Nachlässigkeiten vorgekommen, und dann wurde der Schaden nicht gutgemacht. Den höheren Preis für die Dienste seiner Firma im Verhältnis zu anderen Offerten begründete der zuständige Inspektor damit, daß man im Schadensfall einer Firma gegenüberstehe, die voll hafte und auch praktisch haftbar gehalten werden könne. Besagter Inspektor, ein Herr Boldog, wußte über die Unstimmigkeiten der Vergangenheit Bescheid, er versprach feierlich, daß sich Ähnliches nicht wiederholen werde und daß man sich gegebenenfalls an ihn wenden solle. Man hat sich darauf verlassen.
Die Pflichtvergessenheit des Wächters wurde mitgeteilt, ebenso die Tatsache, daß an den betreffenden Tagen sommerlicher Sonnenschein herrschte, was aufgrund der Zeitungsberichte und Wochenschauen nicht einmal die Wach- und Schließgesellschaft zu bestreiten wagt. Allerdings wurde bereits in der ersten Reaktion behauptet, daß es dem Sonnenlicht Mitte März an der nötigen Kraft fehle, um die angezeigten Schäden anzurichten. Als ob den Herren nicht bekannt ist, daß bei manchen Waren bereits eine Viertelstunde Sonnenlicht genügt, um die Farben zu verderben. Dabei spielt es auch keine Rolle, wie stark die Ware gebleicht ist, im Kassabuch bleibt der Verlust derselbe. All diese Argumente wurden mehrfach vorgebracht, die strittigen Fragen jedoch durch einen Sachverständigen der Wach- und Schließgesellschaft, also der interessierten Partei, zuungunsten Almas beurteilt. Unabhängiges Gutachten wurde keines eingeholt, weil zu teuer, wie man weismachen wollte, und so ist während bald eines halben Jahres nur Zeit vergangen.
Aber wenigstens weiß Richard, daß die Erklärungen, die er anzubieten hat, vor Crobaths politischen Argumenten nichts gelten, ob er auch hundertmal recht hat: Die reine Unvernunft, auf die es nicht ankommt.
Richards Adamsapfel bewegt sich leer. Er sagt:
— Wohin soll man mit dem entstandenen Schaden?
— Darf ich? fragt Crobath nickend. Er zieht mit langem Arm den Messingaschenbecher zu sich hinüber und zündet sich eine Zigarette an.
— Denken Sie an die eigenen Vorteile, an die wegfallende Konkurrenz bei sprunghaft steigender Nachfrage durch das deutliche Mehr an Männern in der Stadt und durch das Geld, das in Umlauf gebracht wird. Sie würden staunen, wenn Sie wüßten, wie vieles möglich geworden ist, von dem man sich noch vor wenigen Wochen nichts hätte träumen lassen. Wie schnell an der Zukunft gearbeitet wird.
— Von der Zukunft wird ja jetzt nur noch voller Begeisterung geredet.
— Zu Recht, wie ich Ihnen sagen kann.
Die beiden Männer fixieren einander. Nach zwei langen Sekunden drückt Richard das Kinn in den Kragen, beklommen horcht er Crobaths Worten hinterher, und dann, er weiß auch nicht warum, muß er daran denken, daß er mit der Gründung einer Familie die Zeit einleiten wollte, in der es kaum mehr Veränderungen geben würde. Eine schnelle Rückschau: Die Bestandsaufnahme fällt nüchtern aus. Unruhe und Umstürze schon sein ganzes unberechenbares Leben lang, alle fünf Jahre eine neue Staats- und Regierungsform, neues Geld, neue Straßennamen, neue Grußformeln. Fortwährendes Chaos. Ruhigere Perioden hat es nach seiner Kindheit eher nie als selten gegeben, und er könnte nicht bestimmen, bis wohin er die Zeit, wenn er dürfte, zurückdrehen würde, so verworren ist alles.
Er hört Crobath sagen:
— Vergessen Sie die Wäsche.
Vergessen Sie die Wäsche, ganz schmerzlos, wie manchmal Wasser vergißt zu gefrieren. Ob auch die Zeit vergessen kann zu vergehen?
Einen Moment lang sieht Richard das Gerüst der Welt wie bei einem mageren Menschen die Knochen. Er spürt, wie sinnlos, wie unmöglich alles ist und daß er irgendwann sterben wird. Ein Gedanke wie ein Spreißel im Kopf.
Am meisten deprimiert ihn, daß er nicht als Österreicher sterben wird.
— Wenn ich Sie richtig verstehe, soll ich angesichts der Zukunft, an der Sie und Ihre Parteikollegen arbeiten, meine eigenen Interessen in die zweite Reihe rücken.
— Sie könnten sich auch dazu entschließen, Ihre Ansichten zu korrigieren. Sie sind ein talentierter Mann. Mit Hinblick auf Ihre Begabung hätten Sie guten Grund dazu.
— Gute Gründe sind momentan leicht zu finden für nahezu alles, sagt Richard.
Crobath räuspert sich, rückt den Stuhl näher zum Tisch heran und bedient sich an den Brombeeren.
— Man wird so schnell kein Haus finden, das mit allen vier Seiten nach Süden liegt.
Das Gras wächst, die Fensterläden bleichen aus, die Dachziegel an der Wetterseite setzen Schorf an.
— Doch sollte Ihre Gattin das Bedürfnis verspüren, mit ihrem Geschäft zumindest in ein Ecklokal umzusiedeln, ließe sich das ohne großen Aufwand bewerkstelligen. Selbst der äußere Anschein bei Arisierungen kümmert niemanden mehr.
Richard sucht in der verlangten Schnelligkeit nach einer Entgegnung, die ihn zu nichts verpflichtet und dennoch ein bißchen interessiert klingt. Er sagt:
— Das würde bedeuten, ein Schaufenster mehr —.
Er kratzt etwas Hartes von der Tischplatte, führt es mechanisch zum Mund. Zu spät besinnt er sich darauf, daß es Fliegendreck sein könnte. Er beißt auf die Zähne, greift ruckhaft nach der Kaffeetasse und spült mit einem kräftigen Schluck. Er kann sich nicht helfen, seine Sorgen wachsen ihm allmählich über den Kopf.
Von drinnen die gemessenen Töne aus Almas Querflöte, die sich einzeln und in dichten Gruppen in dem gelbgrünen Licht ausbreiten. Dazu das Klicken der Schaukelketten und das Knarzen des Birnbaums unter der Last Ottos, der sich durch die Luft schwingt.
Während Crobath wieder von der Zukunft zu reden beginnt und mit hochgeworfenem Kinn davon schwärmt, daß Kraftakte geleistet werden, lehnt Richard sich zurück, als biete sich ihm so der bessere Überblick, um alles noch mal zu überdenken. Er überdenkt seine guten Gründe, er versucht sich darin, Crobaths Argumente mit seinem Dilemma abzugleichen und auf diesem Weg zu einer Lösung zu gelangen: Daß wenig Aussicht bestehe, die tückische Regelmäßigkeit der Umstürze werde auch in Zukunft anhalten und Crobaths Parteigenossen nur einige Wochen bleiben, und daß es insofern angebracht wäre, sich mit den neuen Herren gut zu stellen, das wäre nur natürlich. Er, Dr. Richard Sterk, ist keiner, der sein Zeitalter überragt, er hätte ein bißchen Ruhe verdient, findet er.
Crobath, als halte er mit Richards Gedanken Schritt (wie bei einem Aufmarsch, Schritt für Schritt), appelliert ebenfalls an Richards Einsicht, Richard werde sich andernfalls in etwas hineintheatern.
— Sie täten gut daran, es nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.
— Das tue ich keinesfalls.
— Sie wären gut beraten.
Aber weil er ja nie das richtige Gespür hat, weiß Richard trotzdem nicht. Er würde was drum geben, sich mit Alma besprechen zu können. Wenn man es richtig anfassen würde. Wenn man wüßte, in welche Richtung das alles gehen, was geschehen wird. Es ist nicht ganz einfach, die Wirklichkeit einschätzen und sich festlegen zu müssen, obwohl die Umstände, die man sich wünscht, im Angebot nicht geführt werden.
Crobath warnt:
— Sonst kommt eines Tages die Reue, und nicht vielleicht, sondern bestimmt.
— Gut, ich will es mir zu Herzen nehmen, räumt Richard ein im normalsten Tonfall, zu dem er noch fähig ist. Doch im gleichen Atemzug weiß er, daß er den Teufel tun wird. Die Intimitäten mit dem Kindermädchen haben ihn, was Inkorrektheiten anbelangt, an die Grenze seiner Belastbarkeit geführt. Wenn er jetzt auch dieser Verlockung nachgibt. Wenn ihn der gesteigerte Zulauf, den die Bordelle und somit die Wäschegeschäfte verzeichnen, darüber hinwegtröstet. Da könnte er ebensogut im Garten eine Grube ausheben, Wasser einlassen und sich vor aller Welt im Dreck suhlen. Ihm reicht’s. Er sagt sich, hätte der Einmarsch bloß zwei Wochen früher stattgefunden, wäre er auf das Kindermädchen niemals zugegangen, soviel steht fest. Er hat keine Begabung für die Unordnung, und diese Begabung wächst auch nicht heran, nicht bei ihm, das sieht er ein. Jetzt muß er, was nie hätte beginnen dürfen, so rasch als möglich beenden.
Er hat sogar eine grobgefaßte Idee, wie er vorgehen will: Ganz egal, wozu die Wach- und Schließgesellschaft sich im letzten Moment durchringt (aber durchringen wird sie sich müssen, und sei es, daß der sachverständige Erweis erbracht wird, daß an besagten Tagen die Sonne doch nicht geschienen hat): Er wird sein Geld aus dem Geschäft herausnehmen und so die Löschung der Protokollierung im Handelsregister erzwingen. Dr. Kranz vom Landesgericht für Handelssachen ist ihm einen Gefallen schuldig, so kann Richard mit einer raschen Erledigung rechnen. Seiner Einschätzung nach wird Alma die Neuigkeit nicht gerne hören, aber Almas Mutter ist ständig mit der Pflege ihres Mannes eingespannt, weshalb sich auch die Einteilung von Almas Zeit als andauernde Misere gestaltet. Hingegen, wenn Alma in Zukunft zu Hause bliebe, würde das Kindermädchen verzichtbar. Das wäre Richard sehr recht. Die Hosen sind schnell wieder hochgezogen. Und das Ganze würde ihm eine Lehre sein.
Er holt tief Atem. Die Vorstellung, daß es wenigstens daheim wieder ruhiger werden wird, erscheint ihm bereits wirklicher als nur gedacht und läßt ihn sich einen Moment lang stark fühlen. Crobath trinkt den letzten Schluck seines Kaffees. Richard will nachschenken, doch Crobath, Hand über der Tasse, schlägt das Angebot mit der Begründung aus, daß es Zeit geworden sei. Crobath blickt über den Garten, Richard folgt dem Blick. Der dunkle Kirschbaum, dahinter ein gut tragender Birnbaum, an dem die Schaukel jetzt reglos hängt inmitten gelber Sonnensprenkel. Dann die Mauer zu den Nachbarn, die nach London gehen.
Erst auf den zweiten Blick wird Richard gewahr, daß Crobaths Aufmerksamkeit Otto gilt. Der Bub stolziert über den Mauerkamm, weiß der Himmel, wie er wieder hinaufgekommen ist. Als Otto bemerkt, daß die Männer zu ihm herübersehen, ruft er:
— Sie haben den Rasen mit Teppichen ausgelegt!
Ottos weit auseinanderliegende Augen, die er von seiner Mutter hat, spähen nochmals zu den Nachbarn, dann wendet er sich zurück und ruft:
— Vorhänge und auch ein paar Teppiche hängen in den Bäumen!
Er lächelt zu ihnen herüber.
Richard ruft zurück:
— Paß auf, daß der Teppichklopfer nicht auch an dir Arbeit findet.
Otto läuft mit Trippelschritten weiter über den Mauerkamm, äugt nach beiden Seiten, ein Vorposten dessen, was Crobath Zukunft nennt. Für Otto und Ingrid werden Dinge Normalität sein, die Richard niemals wird annehmen wollen. Ingrid wird gar nichts anderes kennen, für sie wird sich das Verhalten ihres Vaters irgendwann ausnehmen wie das eines alten und enttäuschten Mannes, der die goldenen Zeiten im Jahre Schnee lokalisiert wie Richards beinamputierter Vater die galizischen Schlachtfelder in seinem nicht mehr vorhandenen Fuß.
— Ihr Junge wirkt glücklich, sagt Crobath.
Dann, nach einer Pause, unvermittelt:
— Passen Sie auf ihn auf.
Richard ist unsicher, was er damit anfangen und was er antworten soll. So sagt er halt nichts.
Crobath erhebt sich. Auf dem Weg zum Wagen bedankt er sich für die Zeit, die sich Richard genommen habe, schön, sich wieder einmal gesehen zu haben, die besten Grüße an die Frau Gemahlin, Heil Hitler.
Noch ehe Richard eine passende Verabschiedung einfällt, fährt Crobath davon. Langsam ausatmend wartet Richard, bis der Steyr-Wagen schlagseitig auf die Straße gebogen ist, dann steht er beklommen, unschlüssig da, mit in die Hüften gestemmten Armen, und starrt auf das leere Tor, wo noch für Sekunden Auspuffgrau die Luft trübt. Nach einer Weile wendet Richard sich vom Vorplatz ab, überblickt den ruhig daliegenden Garten, nirgendwo ein Mensch. Offenbar hat Otto die Mauer in weiser Voraussicht verlassen oder spaziert gerade über den Abschnitt hinter dem Haus.
Richard ruft nach dem Buben.
Keine Antwort.
Otto ist und bleibt eine Rotznase, das ist Richards Meinung. Der Frage, ob es den Kindern bekommt, daß Alma die halbe Zeit nicht zu Hause ist, widmet er schon länger ein gewisses Interesse, und je mehr er darüber nachdenkt, desto einleuchtender erscheint ihm die Idee, das Geschäft abzustoßen. Seine Stelle wird er schon nicht verlieren, nein, und wenn doch, nein, wobei zuzutrauen, ach was, klar, denen ist alles zuzutrauen. Zum Glück ist er ein reicher Mann, und sowie diese Geschichte ausgestanden ist, kann er sich unauffällig halten, es wird schon nicht. Ohne sich hervortun zu wollen, aber was er von der Elektrizitätswirtschaft nicht weiß, lohnt das Wissen nicht. Ein talentierter Mann, das sagt sogar Crobath. Sich unauffällig halten. Vor Alma wird er sich mit dem Druck rechtfertigen, unter den man ihn setzt, er glaubt, als Begründung reicht das vollauf. Und dann: Weg mit dem Laden, Schluß mit den Unsicherheiten des Geschäftslebens, keine Streitereien mehr mit den Lieferanten über die Stärke des verwendeten Papiers für die Tragtaschen, die nicht halten, oder mit dem Auslagenarrangeur, der nicht, wie ausgemacht, am frühen Vormittag kommt, sondern die beste Zeit des Tages stört und zusätzlich zu seinem Honorar die Losung drückt.
Die Herbstsaison würde gar nicht mehr eingeleitet (soweit noch möglich), und was nach einem raschen Ausverkauf liegenbliebe, könnte man unauffällig den Vertretern des niederösterreichischen Bauernbundes zukommen lassen, vielleicht statt des in Ratzersdorf versprochenen Geldes, dann hätte Richard gleich auch bei den Familien der verhafteten Kader etwas gut. Das Kindermädchen würde er entlassen (jawohl), Alma müßte er im Gegenzug das Haushaltsgeld und die halbjährlichen Garderobenzuschüsse erhöhen, gleichzeitig würde er sich bei Dr. Löwy erkundigen, ob ein Herauslösen des Bienenhauses aus der Verkaufsmasse möglich ist. Auf diese Weise könnte Alma das Steckenpferd ihres Vaters aufleben lassen und hätte daheim die Insel der Seligen. So stellt es sich Richard jedenfalls vor.
Ingrid wackelt die vier Treppen zur Veranda herunter, von drinnen entlassen, nachdem Crobath weggefahren ist. Mit der Aufmerksamkeit eines Kindes blickt sie den Vater großäugig an, unterdessen kommt die Katze und reibt sich an Ingrids linkem Bein. Nach einiger Zeit bückt sich Ingrid, sie nennt mehrmals den Namen der Katze, dabei will sie die Katze an den Vorderbeinen hochheben, erreicht aber nur, daß die Katze sich streckt, bis sie fast so lang ist wie das Kind, ein magerer, gedehnter Leib, der mit zwei dünnen Hinterbeinen die Berührung zum Boden hält.
Vielleicht wird auch Richard bald wieder Boden unter den Füßen spüren. Vielleicht wird aus dem Wartesaal der Möglichkeiten bald eine Konstellation treten, die Richards Wünschen und Talenten mehr entspricht als das hier. Der Gedanke an die sich ständig ändernden politischen Verhältnisse scheint ihm mit dieser Hoffnung zu tun zu haben (womöglich begeht er gerade den Fehler seines Lebens), aber auch der Gedanke an das Wäschegeschäft und an Frieda. Ihm ist klar, die Welt wird sich weiter wandeln, mehr, weniger. Und obwohl es alles in allem nicht glaubhaft scheint, daß die Umstände, die er für sich wünscht, ausgerechnet in diesem Moment und auf diese Weise ihren Anfang nehmen, wird er selbst so bleiben, wie er ist, und auf eine zufällige Übereinstimmung mit einer jetzt noch ungewissen Zukunft warten.
Müßte, sollte, könnte.
Er horcht über seine Gartenmauer hinaus. Von fern sind die Klänge einer abendlichen Blasmusik zu hören, wie beinah jeden Tag, Hörner, Posaunen und Kontrabässe. Dazu in den Pausen vom Schießplatz die dumpf verhallenden Schläge. Einen Augenblick lang denkt Richard an Frieda und daß das Mädchen in nächster Zeit wieder häufiger allein in ihrem dunklen Zimmer liegen wird, wo sie die Ententeiche ihres Heimatdorfes aus den alten Tapeten riecht. Ein wenig vermißt Richard schon jetzt die nicht mehr ganz weißen, etwas rauhen Bettücher in Friedas Zimmer, in denen er bereits als Kind geschlafen hat. Doch einen Augenblick später sind auch diese Dinge neu eingeordnet: Erinnerungen für spätere Tage, Lebensabschnitte, die von erstaunlicher Unfähigkeit geprägt waren und glücklicherweise schon morgen nicht mehr zu ihm gehören werden.
Mit Indianergeheul kommt Otto um die Ecke gebogen, er strebt auf Ingrid und die Katze zu, tanzt bedrohlich um die beiden herum. Die Katze befreit sich aus Ingrids Händen und springt mit großen Sätzen davon. Ingrid schiebt drohend die Lippen nach vorn und zieht die Augenbrauen zusammen, wie Alma es oft macht. Otto setzt das Heulen und Tanzen fort.
— Otto, hör auf, es reicht, schnauzt Richard.
Er winkt den Buben zu sich her und gibt ihm eine Ohrfeige. Er ist überzeugt, daß es nicht schaden kann, wenn auch Otto sich ein wenig diszipliniert.
— Auf der Mauer hast du nichts verloren, und verräum dein Tretauto dort, wo es hingehört.
Ein paar Bienen fliegen saumselig.
Sonnentupfen wandern.
Schwere Blumen schaukeln.
Der Geruch von Teppichreinigungsmittel erfüllt die Luft.
Der Schutzengel verharrt ohne die geringste Bewegung.
Der Wind bläst langsam die Farbe aus den Dingen heraus.
Auf der Mauer, auf der Mauer sitzt a dicke.
Wie lange wird das irgendwann her sein?
Richard geht davon aus, daß er sich erinnern wird.