Wien ist Frontstadt. Auf klappernden Holzsohlen, eine Panzerfaust über der Schulter, rennt der fünfzehnjährige Peter Erlach über die Straße und verschwindet in einer bizarr aufragenden Eckhaus-Ruine, in der sein Fähnleinführer und vier weitere Hitlerjungen Position bezogen haben. Teils über einen gezackten Mauerkamm hinweg, teils durch eine klaffende Fensteröffnung des Parterres sehen die Buben ihre ersten Bolschewisten, einen Spähtrupp, der von Süden in die Gasse biegt. An der Spitze ein schnauzbärtiger Offizier mit vorgehaltener Maschinenpistole, dahinter ein Soldat, der einen großrädrigen Kinderwagen vor sich herschiebt. Weitere Fußsoldaten, die schußbereiten Gewehre unter den Ellbogen, folgen in losem Abstand. Die meisten dieser Gestalten sind stämmig, die Gesichter schal, abgekämpft und übernächtigt, die Uniformen verdreckt. Allen pludern die Hosen aus den kniehohen Stiefeln, manche haben den offenen Mantel im Wind, ganz so, wie es in einem der Jahrbücher der Hitlerjugend beschrieben ist, in der Hoffnung auf einen Mantelschuß. Kein einziger Stahlhelm ist auszumachen, nur lauter abgeschabte, zerrissene Pelzmützen, deren Ohrenklappen seitwärts abstehen wie die Flügel ausgestopfter Vögel. Zwei der Männer haben Tulpen an der Mütze, die sie vermutlich im schon eroberten Schloßpark geschnitten haben. Etlichen klebt eine zerkaute Machorka im Mundwinkel. Sieht ganz gut aus, denkt Peter, fehlt nur noch das Pferdchen mit mistverklebtem Fell.
— Es geht los, flüstert der Fähnleinführer.
Einer der Buben, ein Freiwilliger, der maximal vierzehn ist, aber darauf beharrt, ebenfalls fünfzehn zu sein, kriecht auf dem Bauch um einen Mauerstorzen herum bis zur ehemaligen Kante zwischen Haus und Gehsteig. Mit seinem französischen Beutekarabiner legt er auf die langsam näher kommenden Männer an. Ein scharfer Knall ertönt, gleichzeitig fällt der Rotarmist, der den Kinderwagen geschoben hat, mit einem Schrei zu Boden. Der Kinderwagen kippt um und verschüttet seinen Inhalt, Brotziegel und Munition, über den Getroffenen. Ohne das Feuer zu erwidern, flüchten die anderen Bolschewisten in offene Haustore, das hat auch mit dem lauten Tackern zu tun, das unmittelbar nach dem Schuß einsetzt. Einer der Hitlerjungen dreht die Kurbel einer aus der Augustinerkirche entwendeten Osterratsche, deren Zinken mit Eisen beschlagen sind, damit das so erzeugte Geräusch nach Maschinengewehr klingt. Tack-tack-tack-tack-tack. Für vier oder fünf Sekunden. Länger hält der Täuschungseffekt nicht an.
Während der auf der Straße liegende Bolschewist Schrei auf Schrei ausstößt, robbt der Schütze zurück zu den anderen Buben. Er schlägt mit dem kantigen Kolbenblech seines Karabiners eine Kerbe in den Verputz der Mauer, wo eine Nachricht für ehemalige Hausbewohner aufgeschrieben steht. Er reibt sich die Schulter, an der das Gewehr angelegt war, und sagt:
— Volltreffer.
Er schnaubt zufrieden durch die verkrusteten Nasenlöcher, ehe er seine Waffe wieder zu laden beginnt. Die Schmerzenslaute des Getroffenen gehen in kaum noch vernehmbares Stöhnen über.
— Hab ich gesagt, du sollst schießen? schnauzt der Fähnleinführer.
Aber es ist dem Fähnleinführer anzumerken, daß er nicht unzufrieden ist, endlich Gefechtsberührung zu bekommen. Er hat mehrfach anklingen lassen, daß er das EK I zu erwirtschaften gedenkt, seiner Meinung nach ein lösbares Unterfangen, denn da der Volkssturm kein regulärer Kampfverband im eigentlichen Sinn ist, macht er sich Hoffnungen, daß auch kleinere Erfolge entsprechend gewürdigt werden.
Um an der Klinge zu bleiben, wie er es ausdrückt, springen der Fähnleinführer und zwei weitere Buben, darunter Peter, durch ein Loch in den Keller des zerbombten Hauses. Die zurückbleibenden Buben reichen drei Panzerfäuste und zwei Haftladungen hinterher. Über die miteinander verbundenen Keller der Nachbarhäuser dringt der kleine Trupp bis auf die Höhe vor, wo die Bolschewisten in Deckung gegangen sind. Die Menschen in den Kellern scheinen sich an den waffenschleppenden Hitlerjungen nicht zu stören. Auch gegen das jetzt von draußen ertönende Tack, Tack, Tack der Maschinenpistole (oder der Ratsche) sind die auf Bänken und Koffern sitzenden Hausbewohner mehrheitlich gleichgültig. Kein Wort fällt, kein Gruß. Krumm sitzen sie, teilnahmslos, dick von mehreren Schichten Kleider. Peter kommt in den Sinn, daß bereits vor zwei Tagen, als sie unter Waffen gestellt wurden, zu seiner ehrlichen Enttäuschung die blumenstreuenden Frauen und Mädchen fehlten.
Beim Hochsteigen aus dem dritten Keller ist von Maschinengewehrfeuer nichts mehr zu hören. Hinter dem Fähnleinführer drückt sich Peter durch den Hausgang Richtung Straße, er tritt möglichst vorsichtig auf, um mit den schiefen Holzsohlen seiner Goiserer nicht allzuviel Lärm zu machen. Doch die Bolschewisten haben sich zurückgezogen. Rotarmist und Kinderwagen liegen nicht mehr an der durch eine Blutlache markierten Stelle, und auch die Brotziegel haben die Bolschewisten mitgenommen, was Peter vor allem anderen bedauert, denn die Verpflegungsration, die er am Vortag gefaßt hat, war dürftig, und er hat den Fehler begangen, alles schon am ersten Tag aufzuessen. Dabei hatte man ihn darauf hingewiesen, daß er mit dem Erhaltenen für mindestens zwei Tage sein Auslangen finden müsse.
(Er hätte sich die 10-Punkte-Listen vergegenwärtigen sollen, die ihm seine vorbildlichen Schwestern ins HJ-Lager mitgaben: Daß er nicht in der ersten Stunde allen Reiseproviant aufessen und immer zeitig aufstehen solle, sonst müsse er ewig auf ein freies Klo warten; daß er sich warm anziehen und sich die Nase putzen und bloß nichts anstellen solle, weil Mama krank sei und man auch an Papa schon sehen könne, was Nerven sind.)
Peter drückt sich an das nach innen geklappte Haustor, äugt um die Ecke und sieht, wie der sowjetische Offizier rückwärts gehend seinen Infanteristen Deckung gibt. Die Soldaten manövrieren den Kinderwagen mit dem quer darüberliegenden Körper des Getroffenen in eine Seitengasse, dort verschwindet wenig später auch der Offizier. Von der Ruine aus wird dem Offizier, als er schon nicht mehr zu sehen ist, hinterhergeschossen. Der Nachhall des Schusses läßt die Straße noch leerer wirken.
Die Buben richten den Hausgang als zweite Beobachtungsstelle ein. Unablässig die Umgebung sondierend, auf Geräusche lauschend, die zu ihnen dringen, warten sie zehn Minuten, ohne daß etwas Nennenswertes vorfällt. Sie haben Angst, aber gleichzeitig sind sie in angeregter Stimmung, die teils mit dem Bewußtsein der Lebensgefahr zu tun hat, teils mit der Überzeugung, daß ihnen ihre Angst nicht anzumerken ist oder, wenn doch, sie wenigstens nicht feige sein werden. Wenn die Buben schon über manches streiten gehört haben, dann bestimmt nicht über Feigheit, die das allerversöhnlichste Thema ist, das sie nennen können, Einigkeit in allen Lagern, das Letzte vom Letzten. Trotzig, mit einem großmäuligen Gestus der Überheblichkeit, unterhalten sie sich darüber, was an ihren Uniformen noch zu verbessern wäre, wo der Schnitt nicht ganz paßt und mit welchen Tricks man die blauen Hosenbeine aufbügeln kann, daß sie einen Schlag bekommen wie die Beinkleider der Matrosen. Sie reden über den Buben, der geschossen hat und der am Vortag in so makellos adjustierter Kleidung auftauchte, als wäre er abkommandiert, dem Führer zum Geburtstag zu gratulieren. Sie beneiden ihn um seine Koppel, die aus frisch gefettetem Leder und nicht, wie ihre, aus Pappmaché gefertigt ist. Und wie schon am Vortag, als sie im Bellaria-Kino übernachteten, kommt die Sprache auf das unklare Alter des Kleinen. Der Fähnleinführer lobt sich den Opfermut und Siegeswillen, er nennt den Buben ein Vorbild, dulce et decorum est pro patria mori. Er muß seinen kleinen Vortrag aber abbrechen, kaum daß dieser begonnen hat, denn stadtseitig, die Ruine passierend, kommt ein Zivilist die Straße herunter.
Der Mann, ein älterer Herr, ist in Unterhosen, seine schwarzen, verwaschenen Drillichhosen hat er dabei, nur sind sie unten verknotet und offenbar mit Mehl gefüllt. Diesen aufgeblasenen, aufgeblähten, wasserleichenähnlichen Torso zerrt der Mann schnaufend und fluchend, aber mit dem Eifer des Glücklichen über den Gehsteig in Richtung der Buben.
— Geht bloß nach Hause, knurrt der Mann kopfschüttelnd, als er die bewaffneten Hitlerjungen in dem offenen Haustor stehen sieht. In gebeugter Haltung verharrt er einen Moment, als bemühe er sich zu begreifen, was das alles zu bedeuten hat und wie es kommen konnte, daß er in löchrigen Unterhosen und mit verrutschten Kniestrümpfen auf der Straße steht.
— Ein Wahnsinn, sagt er.
Er reckt in Gewichthebermanier seine weiß bestäubten Hände aus den Ärmeln der Jacke, um die verbeulte Karikatur seiner selbst besser fassen zu können. Mit einem weiteren leisen Fluch schleppt er die Last davon.
— Da unten sind Russen, ruft Peter dem Mann hinterher.
— Die sollen ihn erschießen, schnauzt der Fähnleinführer: Du siehst doch, was das für einer ist.
Der Fähnleinführer spuckt hinaus auf die Straße, wo sich der Mann auf seinen käsigen, blaugeäderten Heuschreckenbeinen entfernt, kläglich neben der mehlgefüllten Hose, deren Umfang auf Früheres und Künftiges verweist, auf bessere Zeiten, die es gab und hoffentlich auch wieder geben wird.
— Man könnte ihm in die Hosen hineinschießen, schlägt Peter vor zur Wiedergutmachung dafür, daß er den Plünderer vor den Russen warnen wollte.
— Kommt, wir schießen ihm die Hosen entzwei, wiederholt er. Bei dem Gedanken, daß das Mehl dann ausrinnt wie das Korn in Max und Moritz, muß er lachen.
Der andere Bub gluckst mit ihm.
— Dieses Arschloch, sagt der andere Bub, doch ohne sich zu rühren.
Der Fähnleinführer indes findet Peters Vorschlag weniger witzig und haut Peter die Kappe vom Kopf.
— Spar deine Munition, du Pfeife, du wirst jeden Schuß brauchen.
Ohne sich beirren zu lassen (oder mit apathischer Fügsamkeit), klaubt Peter seine Kappe vom Boden auf. Er mag seinen Fähnleinführer nicht, der hat von Anfang an darauf verzichtet, es unter seinen Buben zu besonderer Beliebtheit zu bringen. Anfang Februar hat er auf dem Wehrertüchtigungslager in Judenburg Peters Degradierung durchgesetzt, nachdem Peter in der Nacht beim Pinkeln ins Waschbecken erwischt worden war. Die übliche Geschichte. Aber er: Degradiert. Im Hof vor versammelter Truppe zuerst zusammengestaucht, anschließend die Scharführer-Kordel heruntergerissen. Das war furchtbar. So eine Blamage.
Peter gähnt nervös. Sein Magen knurrt. Gleichzeitig memoriert er einen Essensspruch, den man ihnen auf einem Sommerlager beigebracht hat. Der ging so: Alle Leute sollen leben, die uns was zu essen geben. Alle Leute werden verhauen, die uns was vom Essen klauen. Alle Leute sollen sterben, die das Essen uns verderben.
Drei Wochen lang vor jedem Essen immer derselbe Spruch.
— Verhauen sollte man den Plünderer, sagt er.
Aber die anderen hören ihm bereits nicht mehr zu.
Von Südwesten trommelt der Feind schon den ganzen Tag mit allen Batterien über die Buben hinweg in die Radialstraßen zum ersten Bezirk hinein. Lage auf Lage in verblüffend rascher Folge. Nach der Richtung der Detonationen zu schließen, erhält den meisten Beschuß die Gegend um die Stiftgasse. Peter findet es erstaunlich, wie schnell diese Geräusche vertraut geworden sind; ganz ähnlich war es bei den Zügen, die daheim hinter dem Haus vorbeifuhren. Peter ruft sich ins Gedächtnis, daß seine Mutter die vorbeifahrenden Züge zu mögen anfing, je weiter ihre Krankheit fortschritt, und daß sie sagte, in der Nacht, wenn sie wach liege, denke sie beim Geräusch der Züge an Ausflüge und Besuche von früher. Später, wenn Peter Zeit dazu haben wird (sehr viel später), will er sich diese Dinge nochmals durch den Kopf gehen lassen. Aber im Moment ist für derlei Überlegungen kein Platz. Als ihm einfällt, wie erleichtert er war, dank der Einberufung von der Trübseligkeit daheim wegzudürfen, spürt er kurz ein schlechtes Gewissen. Doch auch diese Empfindung wird von den Anforderungen des Augenblicks fast unverzüglich überlagert. Das Rattern und Quietschen schlechtgeölter Panzerketten mischt sich unter den hartnäckigen Artillerielärm und schwillt rasch an. Ein T-34-Panzer mit vorne aufgemaltem rotem Stern biegt von unten in die Straße. Die Turmkanone schwenkt einige Grad nach rechts, senkt sich und feuert von der linken Straßenseite eine schrill zwitschernde Granate auf die Ruine am rechten Ende des Blocks. Das Geschoß detoniert mit hohlem Klang. Ein verdammter Krach. Eine Staubwolke schießt auf, es steindelt in den aufragenden Mauerresten, und an den umliegenden Häusern zittert, was an Fensterscheiben noch vorhanden ist. Unsichtbar, aber ganz in der Nähe, in einer der Seitengassen, fordert aus einem Lautsprecherwagen eine blecherne Stimme mit wienerischem Akzent zum Niederlegen der Waffen auf.
— Wir kommen als Befreier, ruft die Stimme.
Der Fähnleinführer bekommt einen dicken Hals und sagt:
— Da lachen die Hühner.
Während die Stimme aus dem Lautsprecherwagen der Behauptung mit Hinweis auf die Moskauer Deklaration Glaubwürdigkeit verleihen will, legt der Fähnleinführer eine Panzerfaust auf Peters Schulter, und indem er Peter näher zum Tor schiebt, fügt er den weiter aus der Seitengasse tönenden Parolen hinzu:
— Und dann werden alle deutschen Männer sterilisiert.
Diese Ansicht leuchtet Peter sogar bei oberflächlicher Betrachtung ein, immerhin sind umgekehrt die Russen in der neuen Weltordnung als Latrinenputzer vorgesehen. Da darf man kein Entgegenkommen erwarten.
Aus der Panzerkanone bricht ein zweiter Schuß, wieder auf die Ruine. Peter fällt es schwer zu beurteilen, ob er den Kanonendonner mehr mit den Ohren als mit den Füßen wahrnimmt, so durchzuckt es ihn. Er geht hinter dem Eckstein in die Knie und verbreitert, indem er den Hals nach links beugt, die rechte Schulter, auf der das Blechrohr liegt. Der Fähnleinführer löst den Sicherungsdraht und klappt das Visier hoch, wie es Tage zuvor in der Zeitung schematisiert war zwecks Vertiefung der Blitzausbildung des Volkssturms.
— Die werden ihr blaues Wunder erleben, sagt der Fähnleinführer: Spätestens im Bereich der Ringstraße werden sie in die Falle tappen und alle Selbstmord begehen.
Er peilt den bis auf vierzig Meter herangekommenen Panzer an und zündet die Treibladung. Die Granate, von einem drei Meter langen Feuerstrahl aus dem Rohr geschleudert, schießt auf ihr Ziel zu. Als Peter nach der Detonation die Augen öffnet, sieht er, daß die rechte Raupe des Panzers zerrissen ist. Die Notklappe des Panzers wird von innen geöffnet und ein selbst in dieser Situation pelzbemützter Bolschewist springt mit feuernder Maschinenpistole hervor. Ehe der Mann auf das Haustor zuhalten kann, wird er von einem aus Richtung der Ruine abgegebenen Schuß in den Kopf getroffen. Er fällt ohne einen Laut zu Boden (oder man hört den Laut nicht).
Jetzt dreht sich der T34 quer zur Straße und wühlt sich mühsam, eine ächzend verendende Stahlkröte, über das holprige Kopfsteinpflaster zu einem Haustor auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Das Haustor ist mit LSR, Luftschutzraum, beschriftet. (Lernt schnell Russisch, haben sie zum Ärger des Fähnleinführers beim Übernachten im Bellaria-Kino gescherzt.) Die stählerne Schnauze drückt das Haustor ein, die noch intakte Raupe schremmt auch den Türstock weg und frißt sich, da der Hausgang für den Panzer geringfügig zu schmal ist, über den Eckstein in einer leichten Diagonale knapp zwei Meter tief ins Innere des Hauses. Dann stirbt der Motor ab. Drei- oder viermal kracht der Anlasser, schwarzer Dieselqualm spuckt bis in die Mitte der Straße und verzieht sich nur langsam. Treibstoff fließt unter dem Heck hervor. Der Fähnleinführer wirft eine Handgranate, es kracht und staubt, dann brennt das Heck des Panzers. Schwarzer Rauch, der von den Spitzen der Flammen quillt, verschließt das Haustor wie mit einem dicken Vorhang. Man hört dahinter hektische Stimmen, als sich die restliche Panzerbesatzung in Sicherheit bringt. Zwei oder drei Minuten vergehen, dann entzündet sich die Munition im Inneren des Panzers, das Ungetüm wackelt von den Detonationen, ehe es von einer letzten gewaltigen Explosion zum Bersten gebracht wird. Peter spürt den Luftdruck und das Zittern des Untergrunds. Mauerrisse züngeln in Sekundenschnelle, wie mit rasendem Bleistift gezeichnet, über die Fassade, von unten nach oben und von oben nach unten. Fensterscheiben platzen, Glas splittert auf die Straße. Ein großer Pappendeckel, mit dem eine Fensteröffnung vernagelt war, schaukelt in die Tiefe, ändert dabei drei-, viermal die Richtung. Sehr beeindruckend sieht das aus. Peter ist im höchsten Grad verblüfft, daß das Haus der Erschütterung standgehalten hat.
— Das hat sich gelohnt, sagt er.
— Halt bloß das Maul, faucht der Fähnleinführer.
Peter und der andere Bub müssen trotzdem lachen. Jetzt grinst auch der Fähnleinführer für einen kurzen Moment. Plötzlich schüttelt es ihn vor Nervosität, und er reißt sich zusammen.
Während der T34 ausbrennt, wünscht sich Peter, daß ihn sein Vater sehen könnte, dem würde er so gerne gefallen. In letzter Zeit gab der Vater nie ein Lob und teilte nur aus, obwohl diese Mißbilligung das ist, was Peter am meisten verletzt. Seit es mit der Mutter bergab geht (oder seit die Siegesmeldungen ausbleiben, das ist schwer zu beurteilen), hat sich das Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater rapide verschlechtert. Manchmal kommt es Peter vor, als seien er und sein Vater in der gemeinsamen Unfähigkeit, mit dem Krebs der Mutter umzugehen, zu Gegnern geworden, wo sie sich doch besser zusammengetan hätten, unter Männern, wie seine Schwestern sich mit der Mutter zusammengetan haben, unter Frauen. An allem hat der Vater etwas auszusetzen, und immer ist es Peter, der hart angepackt und verhauen wird, während seine Schwestern mit einem bösen Wort davonkommen. Dazu ein Vollalarm nach dem anderen, kein Gas, kein Licht, die jüngste Schwester oft am Weinen und wieder am Bettnässen, die Sorge um das Heizmaterial, um Kalorien, um Schmerzmedikamente, weil alles Morphium an der Front ist. Wenn jetzt noch der Krieg verlorengeht, wird der Vater nicht mehr auszuhalten sein. Peter fragt sich, wie das bloß enden soll.
Ein zweiter Panzer, amerikanischer Bauart, der den Block umfahren hat, rückt von der Querstraße auf die Ruine zu. Wieder bricht Schuß um Schuß aus der Kanone, flankiert von einem MG-Schützen, der in der linken offenen Frontluke steht und seine Schußgarben in den Halbkreis streut. Dreckfontänen, kleine Staub- und Dampfwölkchen spritzen und kräuseln aus der Ruine und den feuchten Fassaden der Nachbarhäuser. Der Panzer hat die Ruine beinahe erreicht, da läuft der Vierzehnjährige, der Freiwillige (woher eigentlich?) von hinten an den Panzer heran, springt inmitten einer Wolke aus Dieselqualm und der aufgewirbelten Kriegsschlacke der letzten Wochen auf das Heck des Panzers und drückt sich am Turm entlang nach vorne. Der MG-Schütze, von einem Geräusch gewarnt oder mit einem sechsten Sinn begabt, duckt sich geistesgegenwärtig, und ehe der Bub es fertigbringt, seine Handgranate abzuziehen, ist die Luke geschlossen und von innen verriegelt.
Die Besatzung des Panzers hat nun auch die anderen Hitlerjungen wahrgenommen, die dicht an den Hausmauern, hinter dem Fähnleinführer, die Straße hochgerannt kommen, weil man, so der Fähnleinführer, einen Kameraden nicht im Stich läßt. Der Panzer dreht sich, um die Gruppe ins Visier nehmen zu können. Unterdessen gleitet der Vierzehnjährige vom Panzer herab, läuft links neben den im Schrittempo vorwärts mahlenden Antriebsrädern bis unter die Mündung des Turmgeschützes, reckt die Rechte neben dem Stirn-MG zur Mündung der Kanone hoch und wirft die jetzt abgezogene Handgranate in das Rohr des Geschützes, das kurz darauf mit einem satten Knall platzt. Zwar beginnt zwei Sekunden später das Stirn-MG zu feuern, doch sind die heraneilenden Buben außerhalb von dessen Radius. Mit Ausnahme Peters. Der erhält einen Schlag, ihm ist, als würde er ebenerdig stolpern. Seine Panzerfaust rutscht ihm aus der Hand und rumpelt zu Boden. Er strauchelt, fängt sich, er stürzt vorwärts. Dann hat auch er den Panzer links umlaufen und hechtet, ohne darüber nachzudenken, was geschehen ist, durch ein klaffendes Parterrefenster in die Ruine, in der noch zwei der zurückgebliebenen Kameraden versteckt sein müssen.
— Deckung! ruft der Fähnleinführer, der — wie zuvor der Vierzehnjährige — den Panzer erklettert und eine Haftmine auf die Einstiegsklappe des Turms gelegt hat. Der Fähnleinführer zündet die Mine. Wie als Antwort auf ein Klopfen wird die Einstiegsklappe geöffnet, eine Handgranate kullert auf die Straße, ohne jeglichen Schwung, wie herausgetropft, wie herausgespuckt. Gleichzeitig rutscht die Mine, deren Magnet offenbar nichts taugt, von der Einstiegsklappe auf den Kotflügel des Panzers und von dort auf die Straße. Der Panzer macht einen Satz nach vorn. Einen Augenblick später detonieren die Mine und die Handgranate in einem einzigen betäubenden Knall, der zwischen den Häusern widerhallt. Der Motor des Panzers heult auf, das Gefährt wendet sich nach rechts und rattert die Straße hinunter in den schwarzen Qualm des abgeschossenen T34 hinein.
Von dem durch die Explosionen aufgeworfenen Staub rinnen Peter die Augen. Nicht einmal Luftholen kann er ordentlich. Er hustet mehrmals, seine Ohren summen, er lauscht, aber er hört keine Schreie, kein Jammern, nur das ratschende Wirkungsfeuer der feindlichen Artillerie, das für Peter einen Moment lang eins ist mit dem Knistern der Ziegel in den Mörtelfugen. Hoch oben das Rumoren eines Flugzeuges in dem von dünnem Gewölk überzogenen Himmel, auch dieses Geräusch bis zur Irrealität gedämpft (während von dem Panzer nicht einmal mehr das Stöhnen des Motors zu vernehmen ist). Peter rappelt sich hoch, er preßt seinen blutenden rechten Arm mit der Linken an den Oberkörper, Dreck knirscht zwischen seinen Zähnen. Nochmals hustend und ausspuckend, tritt er aus der Ruine in den langsam niedersinkenden, teils noch immer nach oben wölkenden oder gesogenen Staub. Peter sieht den Fähnleinführer bäuchlings auf der Straße liegen, zu Boden gedrückt, ihm fehlt der halbe Kopf, das Gehirn ist größtenteils ausgetreten und von einem rötlichen Firnis aus Ziegelsand und einigen Mauerbrocken seltsam zugedeckt. Von dem zweiten Buben, der mit Peter im Hausgang war, ist weit und breit nichts zu sehen. Der Vierzehnjährige indes lehnt starr an dem zerschossenen Mauerstück, unmittelbar neben der Fensteröffnung, durch die sich Peter in Sicherheit gebracht hat.
Peter ist überrascht, wie der Bub dasteht: Das Bauchfell scheint aufgerissen, zwischen den Fetzen der blutigen Uniform kann man die ebenfalls blutigen Eingeweide sehen, die der Bub mit den Händen am weiteren Austreten hindert. Das rechte Auge, wenn von einem Auge noch die Rede sein kann, ist ohne Glanz, das untere Lid lappt weg, und der Knochen darunter liegt frei. Die rechte Gesichtshälfte ist blutüberströmt, vom Kinn tropfen große Batzen in schneller Folge auf den Ärmel des rechten Arms. Davon nimmt der Bub keine Notiz. Mit dem linken Auge blickt er Peter an, ein Ausdruck in dem weiterhin kindlichen Gesicht, der Peter von seiner Mutter vertraut ist. Nicht so sehr, als ob der Bub Schmerzen hätte, vielmehr in ungläubiger, schreckerfüllter Verstörung, weil er nicht weiß, ob jetzt das Ende kommt. Nach einiger Zeit unternimmt der Bub den Versuch, auf Peter zuzugehen. Er stößt sich mit den Schultern ab, aber der Oberkörper kann sich ohne die Mauer im Rücken nicht halten und schwankt in die vorherige Position zurück. Peter steht wie angewurzelt da. Aber beim Hinschauen berührt es ihn, wie konzentriert der Bub mit einem Mal zu sein scheint. Es erschreckt Peter nicht, es berührt ihn nur. Eigenartig. Schwach die Lippen bewegend, wie fluchend, macht der Bub einen weiteren Versuch zu gehen, als wolle er das bißchen Leben, das er noch vor sich hat, dafür verwenden, einen oder zwei Schritte zu machen. Aber die Kraft reicht nicht. Weiterhin das linke Auge auf Peter gerichtet, sinkt der Bub plötzlich weg in einer unglaublich weichen Bewegung, wie ein fallendes Stoffband. Die Knie berühren den Boden, rutschen nach hinten, das Gesicht schlägt widerstandslos auf das Straßenpflaster, die Schulterblätter brechen seltsam ein. Der Bub zuckt einmal, als wolle er sich, wie zum Salut, stocksteif machen, dann liegt er ganz ruhig, und es sieht so aus, als habe der Krieg für ihn aufgehört (aber der Frieden nicht unbedingt begonnen, gar nichts hat begonnen).
Krieg, ein paar Zahlen, Statistiken, Markennamen, Vorkommnisse (Effekte) und da und dort ein Ereignis, das nicht jeden betrifft.
Obwohl sein verletzter Arm in einer Schlinge liegt, stützt Peter ihn mit der rechten Hand. Seine gelegentlichen Blicke zurück auf die Stadt, von der man nicht viel wiederfinden wird, wenn der Krieg noch eine Weile mit der momentanen Wut voranschreitet, sind ebenso gehetzt wie die Blicke auf die nässende, im Licht schimmernde Stelle an seinem Verband, durch die das Blut sickert. Er fiebert ein wenig, entweder von der Verletzung oder von einer der Injektionen, die man ihm am Verbandsplatz in den gesunden Arm und in die Brust gesetzt hat. Das hat saumäßig weh getan. Aber Schmerzen interessieren niemanden, nicht jetzt. Solange er gehfähig sei, solle er gehen, hat der Sanitäter gesagt, und deshalb geht Peter, schweißgebadet, keuchend, mit schlurfenden, langgezogenen Schritten durch die Kahlenberger Weingärten, nachdem ein Laster der Feldsanitätsabteilung ihn und den Hitlerjungen, der im Keller der Ruine versteckt war, bis nach Nußdorf mitgenommen hat. Peters Beine fühlen sich schwer an. Im Vorwärtsstolpern ist ihm, als klebe der Kriegsdreck der halben Stadt an seinen Schuhen. Doch dem Bedürfnis, sich hinzusetzen und auszuruhen, gibt er nicht nach, angetrieben von dem, was der Sanitäter sonst noch gesagt hat: Daß jeder, der Anspruch auf ein Lazarettbett erhebe, sich genausogut freiwillig in die Gefangenschaft melden könne. Länger als zwei Tage würden die Verteidigungsstellungen dem Druck der Bolschewisten nicht standhalten. Dann sei Feierabend und gute Nacht (schöne Heimat). Mitunter, wenn er nicht mehr weiterwill, schließt Peter im Gehen die Augen, er konzentriert sich ausschließlich aufs Weiterkommen. Dann erscheinen ihm seine mechanischen Schritte wie Klammern, die seine Gedanken zusammenhalten: Daß man mit dem Krieg hätte aufhören sollen, als die Dinge noch besser standen. Daß die Stadt keineswegs deshalb rücksichtsvoll und gebäudeschonend erobert werde, weil Österreich das erste Opfer der Hitlerschen Aggression war, sondern damit man die Bevölkerung von Stalingrad in Wien ansiedeln kann (das hat er ebenfalls am Verbandsplatz aufgeschnappt). Und die Sterilisation aller Männer, von der der Fähnleinführer geredet hat, nachdem sie von der Lautsprecherstimme zum Niederlegen der Waffen aufgefordert worden waren. Und —. Und —. Etwas Unwirkliches hat das alles. Auch die Landschaft, durch die Peter stolpert, scheint einen Angsttraum abbilden zu wollen, die krüppeligen, wie in Agonie verkrampften Weinstöcke, der säuerlich brandige Rauch überall, der von der steten Brise über der Donau den Hügel heraufgedrückt wird. Selbst hier in den Weingärten, wo kaum Schäden zu beklagen sind, ist alles von einem grauen Firnis überzogen und voller Dreck und Material. Herumfliegendes Papier, zertrümmerte Materialkisten und weggeworfene Ausrüstungsteile. Eine Panzerabwehrkanone mit zerfetztem Lauf ist zwischen die Reben gefahren, unmittelbar davor liegen drei Hilfsfreiwillige mit asiatischem Aussehen, die sich bewußtlos getrunken haben. Peter und sein Begleiter, der die Ratsche bei sich trägt, gehen rasch vorbei. Eine Minute später sehen sie vor sich, oberhalb zur Linken, einen mit halboffenen Knospen vor dem Blühen stehenden Kirschbaum, dick und wuchtig, an dem ein Soldat hängt. Ein Schild vor der Brust des Soldaten weist ihn als Feigling und Deserteur aus, die Rebschnur hat sich bereits tief in den gedehnten Hals eingeschnitten. Sie erreichen den Baum überraschend schnell, Baum und Erhängter wachsen plötzlich heran. Wie aufgebläht. Obwohl der Anblick die Buben nicht so erschüttert, wie dies noch vor einigen Jahren der Fall gewesen wäre (als ihre größte Sorge war, wenn sie Mathe nicht verstanden), überfällt die beiden ein Grausen beim bloßen dran Vorbeischauen. So eine flaue Übelkeit. Oder sind es die Spritzen, die man ihm verabreicht hat? Au, hat das weh getan. Der Bub an Peters Seite beschleunigt nochmals den Schritt. Peter läßt es geschehen, obwohl er Mühe hat mitzuhalten. Ihm kommt vor, als würde der Baum mit dem Erhängten viel größer aussehen, als er normalerweise aussehen dürfte. Er wundert sich, daß man sich solche Gedanken machen kann.
Die Buben passieren die Stelle, die Blicke gezwungen geradeaus. Schon vorbei.
— Wär ich bloß nicht mitgegangen, sagt weinerlich der Bub: Wenn wir an einen Posten der Feldgendarmerie kommen, und sie fragen mich nach meinen Papieren, werde ich auch aufgehängt.
Peter hält mit gepreßter Stimme dagegen:
— Ich wüßte nicht warum.
— Als Deserteur. Ich habe keinen Marschbefehl.
— Du marschierst auch nicht.
— Aber ich habe die Fahnen Adolf Hitlers verlassen.
Bei der Vereidigung hat Peter keine Fahnen gesehen, der äußere Rahmen war mehr als nur dürftig, keine Triumphbögen, keine Böllerschüsse, ebenso fehlten tiefsinnige Ansprachen, die Musik und der anschließende Schweinsbraten, den der Nachbarssohn vor zwei Jahren noch bekommen hat. Dann, auf dem Weg zum Barrikadenbau, ist ihm vor vier Tagen wegen seiner HJ-Armbinde in der Straßenbahn ein Wehrmachtsfahrschein verweigert worden. Er kennt noch nicht einmal seine genaue Zugehörigkeit.
Er sagt:
— Vergiß es, wenn du mich fragst, war unsere Vereidigung nicht regulär.
— Versuch das jemandem beizubringen, dann wirst auch du gehängt.
Peter läßt es sich durch den Kopf gehen:
— Am besten, wir berufen uns auf Befehle. Daß der Fähnleinführer uns aufgetragen hat, wir sollen uns zur Donau zurückziehen, wenn er fällt.
— Wieder ein Grund zum Hängen. Wenn sie draufkommen, daß du lügst, enden wir beide am Galgen.
Der Bub wendet jäh den Kopf und wirft ängstliche Blicke um sich. Obwohl über das normal Verdächtige hinaus nichts wahrzunehmen ist, sieht das Gesicht des Buben bleich und düster aus.
— Als hättest du ein Gespenst gesehen, sagt Peter.
— Du etwa nicht? fragt der Bub.
Sie sehen einander betroffen an.
— Weiß nicht.
— Eine passende Gesichtsfarbe, wenn sie dich aufhängen, mußt du dir nicht mehr einfallen lassen.
Peter hat Bilder seiner Mutter vor Augen, ihr vom Krebs entstelltes Gesicht, dem das Abschiednehmen, als alle bis auf Peter sich zu Verwandten nach Vorarlberg auf den Weg machten, eine zusätzliche Härte gab: leichenfahl, die Züge wie für das Kasperltheater geschnitzt, knochig, die Lippen dünn, gelblich blasse Haut und große gelbliche, ganz verhuschte Augen, die — je nach Licht — irgendwie bedrohlich aussahen. Peter fragt sich, ob seine Mutter in diesem Moment noch lebt. Seit der Trennung ist er ohne Nachricht, und zum Sterben, fährt es ihm durch den Kopf, sind acht Tage genug. Vor drei Tagen hat er den Versuch unternommen, seinen Vater telefonisch zu erreichen, und nachdem er zwei Stunden am Postamt auf eine Verbindung gewartet hatte, meldete das Fräulein vom Amt mit Ingenieur Erlach, Feldkirch, ja hier, und er gleichfalls mit Erlach, Wien, Vater? Darauf wurde die Verbindung unterbrochen. Eine Wiederherstellung gelang nicht, das kostete nur, und als er es am Nachmittag nochmals versuchte, wurden keine Gespräche mehr angenommen.
— Wir haben keine Befehle. Wenn uns niemand Befehle gibt, haben wir keine Befehle, sagt Peter.
Die Buben biegen in die Eisernenhandgasse Richtung Kahlenbergerdorf, wo Peter einen Onkel hat, einen Bruder seines Vaters. Zwischen den Weinrieden gehen sie abwärts bei offener Sicht auf den Kuchelauer Hafen, die grünbraun sich streckende Donau und die nördlichen Stadtbezirke auf der anderen Seite des Flusses. Noch in beträchtlicher Entfernung hören sie Gelächtersalven, kurz darauf wird gesungen, Wo Tirol an Salzburg grenzt, zweistimmig, wobei sich diejenigen, die die zweite Stimme beisteuern, in Sachen Lautstärke wie üblich besonders hervortun. Die Buben erreichen den Ort. Sie überqueren den Sankt-Georg-Platz, passieren eine alte Weinpresse, wie Heurigenorte sie sich schuldig sind, die Eisenteile zur Hälfte zerfressen. Von dort aus sieht Peter das weiter unten liegende, zweistöckige Haus, dessen Kellerwohnung Onkel Johann mit seiner Familie bewohnt. Heller Rauch steigt auf, von einigen durch die Wolken brechenden Sonnenstrahlen in der Höhe des Dachfirstes beschienen.
Im Vorgarten des Hauses wird ein Haufen Papier verbrannt. Onkel Johann fährt mit dem Laubrechen zwischen die glimmenden Bücher, Bilder und Dokumente, er steht mit dem Rücken zur Straße. Ein Stück weiter hinten, auf der Vortreppe, spielt Peters sechsjährige Cousine Trude Bügeln mit einem Stein und einem dem Feuer bislang entgangenen Blatt Papier. Auch das Mädchen ist ganz von seiner Beschäftigung in Anspruch genommen, so daß es von den erschöpften Buben, die schmutzig wie Rauchfangkehrer und in den Schlaglöchern stolpernd die geschlungene Gasse herunterkommen, erst Notiz nimmt, als die beiden am Gartenzaun stehenbleiben und grüßen.
— Heil Hitler, Onkel Johann! Servus, Trude!
Im rasenden Kriegstempo fährt hinter ihnen ein in Tarnfarben gehaltener Spähwagen der Wehrmacht hinunter zur Donau. Trude schaut auf, starrt mit einem verstockten Blick auf Peter, dann auf ihren Vater. Erst als ihr Vater sich vom Feuer zur Straße wendet, steht auch Trude von der Vortreppe auf, kommt zunächst aber nicht zum Zaun, sondern bückt sich nach einem Stück Papier, das durch die aufsteigende Hitze von der Feuerstelle weggetragen worden ist. Sie zerknüllt es und wirft es zurück auf den glimmenden Stapel. Das Knäuel verfärbt sich, plustert sich auf, doch Flammen schlagen nicht heraus.
— Dann hast du dein Plansoll erfüllt? fragt Onkel Johann mit Blick auf Peters bandagierten Oberarm.
Peter folgt dem Blick des Onkels, der Verband ist rötlichbraun von Salbe, Zinkleim und Blut, das nicht aufhören will aus der Wunde zu sickern, obwohl die Sanitäter er weiß nicht was in den Schußkanal gestopft haben, vermutlich Watte. Es läuft Peter kalt über den Rücken. Mit der gesunden Hand streicht er über den Ellbogen, als könne er den Schmerz durch die besänftigende Berührung gefügiger machen.
— Durchschuß, meldet er.
— Und der Knochen?
— Soweit man vom Schußkanal darauf schließen kann, gestreift.
— Tut es sehr weh? fragt Trude, die mittlerweile ebenfalls zum Zaun gekommen ist.
— Ja, schon, sagt Peter.
— Bekommst du eine Auszeichnung? fragt Trude.
Doch diesmal läßt Onkel Johann seinen Neffen nicht zum Antworten kommen. Er gibt Trude einen Stoß mit der Hand:
— Geh nach drinnen zur Mutti und sag ihr, sie soll für die beiden eine Wegzehrung einpacken. Aber hurtig, marsch!
Trude zögert einen Moment. Der Hitlerjunge in Peters Begleitung stemmt die Ratsche gegen das rechte Knie und dreht einmal die Kurbel, da ist Trude schon weg.
Onkel Johann fixiert den Buben, verärgert über den Lärm.
Peter sagt:
— Ich hab gehofft, wir können bleiben.
Der Onkel geht zurück zu den Unterlagen, die nicht recht brennen wollen. Er hebt einen Teil des halbverkohlten Papiers an, lockert den Packen und legt ihn sacht auf die Seite, damit Luft hineinfahren kann. Einige hauchdünn ausgeglühte Bruchstücke steigen wie Drachen hoch, gleiten schwebend, unwägbar, am Rand eines Luftwirbels zur Seite und sinken als saurer Dünger, den der nächste Regen ins Erdreich spülen wird, zu Boden.
Onkel Johann wendet sich wieder zum Zaun:
— Als Neffe wärst du willkommen, aber nicht als Soldat. Wo doch die Russen. Du mußt verstehen. Die Familie. Da ist es besser, wir sind ab jetzt neutral.
Peter fühlt sich, als wäre er gerade aufgewacht und sofort windelweich geprügelt worden. Er möchte seine Mutter erwähnen, den Fähnleinführer, er möchte nach seinem Karabiner greifen und abermals bitten. Aber Idiot, der er ist, hat er den Karabiner am Verbandsplatz liegenlassen inmitten all des dortigen Schmerzgeschreis und Kommandogebrülls.
— Onkel Johann, wenn du willst, können wir die Uniformen und das ganze Zeug wegwerfen.
Der Onkel fährt neuerlich mit dem Laubrechen in den Haufen, mit einem gewissen Ingrimm, der dem Feuer bekommt.
— Mit deiner Verletzung würde ich dich notfalls auf die andere Straßenseite tragen. Peter, so leid es mir tut. Es ist wegen der Russen. Damit kein Eindruck entsteht. Wie gesagt, wir sind ab jetzt neutral.
Neutral, denkt Peter, was soll das bloß heißen?
Und im selben Moment begreift er (und das trägt zu seinem Gefühl der Erschöpfung wesentlich mit bei), daß alles kopfsteht, daß alles Gewohnte und Gehabte und was man ihm beigebracht hat von diesem Augenblick an nicht mehr zählt. Er fühlt den langsam erkaltenden Schweiß an seinem Körper, und während er den Aschegeruch des verglimmenden Papiers in der Nase hat, ist ihm, als würden ihn mit einmal alle seine Kräfte verlassen. Noch nie in seinem Leben hat Peter sich so hundsmiserabel gefühlt, er spürt jeden Knochen im Leib, sein Blut pumpt in groben Stößen, läutet ihm in den Ohren. Sein Oberarm schmerzt jetzt, daß es kaum auszuhalten ist. Er möchte sich hinsetzen, er möchte nicht weitergehen, so zum Umfallen müde ist er, so sehr drückt ihn das Gewicht so vieler Dinge: der nutzlosen Toten, der Trauer, daß ihn das Leben, das ihm sein Vater vorgemacht hat, zum Idioten stempelt, sein leerer Magen, der sich, seit Onkel Johann Trude um Essen geschickt hat, immer wieder zusammenkrampft, in rasch kürzer werdenden Abständen. Peter hat Angst, sich übergeben zu müssen.
— Wer singt da unten? fragt er, ganz als rede er ins Leere hinein, mit starrem, abwesendem Blick. Wenn nicht der weiter sich verstärkende Beschuß alles und jedes übertönt, hört man ein weiteres Volkslied, das ins Rumoren des Krieges hineingegrölt wird: Hoch vom Dachstein an.
— Da werden einem die Augen naß, sagt der andere Bub.
— Die haben in den Kellern den Wein aus den Fässern abgelassen, gibt Onkel Johann Auskunft: Ein Sonderkommando der SS. Die trinken jetzt, was bereits in Flaschen abgefüllt war, damit auch die Flaschen nicht in die falschen Hände fallen. Ich denke, sie wollen die Auswirkungen demonstrieren, die der Wein auf die russische Seele haben könnte, sollte jemand das eine oder andere Faß verstecken.
Er kommt nochmals vor zum Zaun:
— Ich habe sagen hören, daß nackte Weiber auf den Tischen tanzen und daß sie stehend in die Gläser der Offiziere pischen. Aber ich will nichts behaupten, was ich nicht mit eigenen Augen gesehen habe.
Er schüttelt den Kopf. Im selben Moment tritt Tante Susanne aus der Tür, einen kleinen Beutel in der rechten Hand. Sie ist in Schwarz gekleidet. Peter fällt ein, daß der Bruder von Tante Susanne Anfang März gefallen ist. Peter hatte es schon wieder vergessen.
Indem die Tante den Beutel über den Zaun reicht, verschwindet der anfänglich besorgte Ausdruck aus ihrem Gesicht. Sie sagt:
— Es fehlt auch bei uns an allem. Ihr solltet besser schauen, daß ihr wegkommt.
Sie legt ihre Hand in Peters Nacken, fährt über seinen Haaransatz und drückt kurz die Finger in seinen rechtsgeneigten Hals, wo eine pulsende Ader in den Kopf mündet. Peter spürt etwas Kaltes ins Gehirn rieseln, das sich dort eine Weile hält. Er hört sich von neuem sagen, ruhig, fast zu ruhig, mit eintöniger, gleichgültiger Stimme:
— Wir können die Uniformen in die Weingärten —.
Tante Susanne zieht ihre Hand zurück. Sie zuckt mit den Schultern, ihr Blick besagt dasselbe.
— Unten liegt ein Schiff, Wlassow-Soldaten, die aus Angst vor Tieffliegern die Nacht abwarten zum Weiterfahren. Geht dorthin. Es heißt, sie wollen sich nach Westen absetzen, dort soll es auch vitaminmäßig besser sein.
— Aber wenn wir die Uniformen und das ganze Zeug in die Weingärten —.
Sie zögert nochmals und sieht Peter einen Augenblick lang an, nicht unschlüssig, mehr als wolle sie sich seiner Hartnäckigkeit vergewissern. Dann sagt sie:
— Heil Hitler!
— Heil Hitler! sagt auch der Onkel.
Einen Moment lang stehen die Buben zögernd am Zaun. Schließlich entfernen sie sich mit geradeaus vor sich hinstarrenden Blicken, um einander nicht ansehen zu müssen. Die bezechten SS-Männer krakeelen Auf der Lüneburger Heide. Am Himmel schreitet die Eintrübung fort. Das tiefe Licht markiert die Kanten und Krümmungen der Landschaft mit dunklen Rändern. Unterstützt von dem mit Kohlenstaub gesättigten Rauch, in dessen Schutz sich Teile der Finsternis schon eingeschlichen haben, wird die Nacht leichtes Spiel haben.
Krieg, ein paar Zahlen, Statistiken, Markennamen, Vorkommnisse (Effekte) und da und dort ein Ereignis, das nicht jeden betrifft.
Dann liegt die Dunkelheit dichtgepackt auf der träge dahinrollenden Donau, auf den kaum noch zu erkennenden Ufern und Weinbergen, die sich über den verschrammten Frachter beugen. An manchen Stellen sind Himmel und Landschaft eine fest verklumpte Masse, es wirkt, als hätte der Krieg auch den Hügeln und dem Fluß eine Essenz entzogen, etwas Phosphoreszierendes, das ihnen in friedlichen Nächten Glanz verlieh. Wenn kurz das Mündungsfeuer eines Sturmgeschützes stiebt oder ein Leuchtspurgeschoß eine farbige Kerbe in den schweren Himmel reißt, geschieht dies offenbar in erster Linie zu dem Zweck, den Unterschied zwischen Hell und Dunkel zu definieren und das Dunkel hinterher desto kompakter zurückzulassen. Peter, der rücklings auf einem dünnen Strohsack an Deck der Alba Julia liegt, kommt es vor, als seien die über den Himmel schwenkenden Lichtsäulen einer fernen Scheinwerferbatterie nichts als überdimensionierte Scheibenwischer, die alles entfernen, was Licht speichern oder reflektieren könnte, jedes noch so kleine Partikel.
Die Alba Julia ist ein rumänischer Frachter, der unter der Reichskriegsflagge stromaufwärts stampft. Die Besatzung besteht aus ukrainischen Soldaten, die auf seiten der Wehrmacht zuletzt in Budapest gekämpft haben. Die meisten Soldaten liegen wie Peter an Deck. Sie schnarchen, stöhnen und husten in so dichten Intervallen, daß die Laute zu einem regelrechten Chor zusammenfinden. Auch der andere Hitlerjunge schläft schnarchend, unmittelbar neben Peter. Wie lange schon? Peter könnte es nicht sagen. Inmitten dieser Schwärze läßt nur die Erfahrung darauf schließen, daß es irgendwann wieder Tag werden wird.
Mit weitoffenen Augen starrt Peter in die kalte Finsternis. Bilder ziehen in regelmäßiger Wiederholung an ihm vorüber, drehen sich in seinem Kopf wie ein Brummkreisel, wie auf einer Walze. Er denkt: Wie in einem Wunderzylinder, diesen Dingern, von denen er vor Jahren eins im Foyer des Apollo-Kinos gesehen hat. Das Gerät bestand aus einem etwa einen Meter weiten, hohlen, sehr leicht drehbaren Blechzylinder, der in gleichen Abständen schmale Schlitze aufwies. An der Innenseite des Mantels waren gezeichnete Figuren so eingelegt, daß man sie bei mäßig rascher Rotation durch die Spalten der Zylinderwand hindurch in einer zusammenhängenden Bewegung erblickte. Peter erinnert sich an eine dieser Bilderfolgen, einen Mohren, der, seines Kopfes überdrüssig, diesen abnahm und ihn nach einigem Zögern seinem Nachbarn lieh.
Ähnlich (mißmutiges Betasten des Kopfes, das Anzeigen von Interesse an dem Kopf durch den Nachbarn, das Abnehmen des Kopfes und die Übergabe desselben) folgen einander die Bilder in Peters Erinnerung.
Flüchtig, dunstig-verschwommen wie am Waschtag: die ebenerdige Wohnküche in der Blechturmgasse. Das war Mitte der dreißiger Jahre, noch vor Peters Einschulung, als sie jeweils zu zweit und für kurze Zeit auch zu dritt in einem Bett schliefen.
Die erste Verhaftung des Vaters, 1936, wegen der Sprengung eines Telefonhütterls, die man dem Vater aber nicht nachweisen konnte.
Bald darauf die zweite Verhaftung, 1937, wegen eines Hakenkreuzwimpels.
(Peter entsinnt sich genau, oder er entsinnt sich, was der Vater später hundertmal erzählte: daß der Ständestaat den Vater in einem Verwaltungsstrafverfahren mit drei Wochen Arrest belegte, obwohl nach den damaligen Vorschriften der Besitz eines Hakenkreuzwimpels oder eines ähnlichen Abzeichens nicht verboten war, nur das öffentliche Zeigen. Diese Öffentlichkeit wurde durch die Aussage eines Nachbarn hergestellt, eines Sozialisten, der behauptete (schwor), daß man bei besonders heller Beleuchtung, wenn der gewöhnlich vorhandene Vorhang nicht, und zwar ganz ausnahmsweise nicht zugezogen war, den an der Wand über dem Radio hängenden Wimpel sehen könne; und auch dies nur, wenn man in einem bestimmten Winkel die Straße herunterkam).
Dann: Wie Peter sich als Achtjähriger durch eine dichte Menge jubelnder Menschen hindurchtunnelte und plötzlich den Führer sah, der aus seiner Limousine heraus die Wiener Bevölkerung grüßte.
Die glückliche Zeit nach dem Anschluß, als der Vater plötzlich wieder in Arbeit und Brot stand und die Anspannung von ihm abfiel und es plötzlich eine größere Wohnung gab im gleichen Haus weiter oben, mit dem Klo nicht mehr am Gang, und manchmal sogar Blumen für den Küchentisch und für die Kinder die besten Aussichten.
Wie er vor sieben Jahren, fast auf den Tag genau, so gelegen ist, im Augarten neben seinem Vater, sonntags, an dessen rechter Seite. Und wie der Vater ihn ins Vertrauen zog, daß selbstverständlich er und seine Kollegen es gewesen seien, die das Telefonhütterl gesprengt und die Hakenkreuze hinterlassen hatten, und wie glücklich er über die Ankunft der Genossen aus dem Altreich sei und daß der Tisch in Zukunft reicher gedeckt sein werde.
Die lautstarke Verhaftung des Nachbarn, der im Jahr davor die Verurteilung des Vaters ermöglicht hatte, und die weinende Frau des Nachbarn, die an die Wohnungstür kam und den Vater um Fürsprache bat (dem Nachbar wurde vorgeworfen, er habe einem Nazi im Nebenhaus die Kaninchenställe gesprengt, was aber sicher nicht stimmte).
Das Einbinden der Schulbücher mit der Mutter.
Eine Polsterschlacht mit Ilse, der jüngeren Schwester, die bis vor zwei Jahren das Zimmer mit ihm geteilt hat.
Die Betten, die aus den Fenstern der jüdischen Wohnungen vis-à-vis geworfen wurden.
Das Besprechen des Frontverlaufs mit dem Vater und der Stolz darüber, daß der Lebensraum im Osten für die nächsten tausend Jahre gesichert sei.
Wie Ilse sich die Finger verbrannte, als sie einen sengenden Bombensplitter aus dem Küchenkasten ziehen wollte.
Ein paar ungerechte Watschen.
Der Heimabend, den sie im Vorjahr mit anderen Wiener Gruppen verbrachten. Da hieß es heilig: Präsentiert die Flaggen! Worauf der Fähnleinführer in seinem Übereifer die Spitze der Flaggenstange so fest in einen Holzbalken der Decke rammte, daß er die Flagge nur mit Not wieder freibekam.
(Das sah so lustig aus, daß Peter lachen mußte. Er war nicht der einzige, der lachte, aber er lachte offenbar am lautesten, und der Fähnleinführer erkannte ihn an der Stimme. Am nächsten Tag wurde Peter drei Stunden lang geschliffen. Exerzieren, stillgestanden, kehrt, marsch, marsch, linksum, rechtsum, Gewehrpacken, stillgestanden, habt acht, Präsentiergriff, Augen geradeaus, zackzack, marsch, links, zwo, drei, vier, links, zwo, drei, vier, dann den Hang hinauf und wieder hinunter, da blieb Peter bereits die Luft weg, und gleich noch mal, zackzack, weil der Fähnleinführer schwören wollte, einen bolschewistischen Spion ausgemacht zu haben, ich will tot umfallen, Haaaltuuungg!!! wenn da oben nicht —. Peter keuchend: Melde gehorsamst, keinen bolschewistischen Spion angetroffen! Fähnleinführer süffisant: Ich will Meier heißen, wenn da nicht, marsch, marsch —. Und zwischendurch immer wieder lautes Singen … Die roten Fahnen brennen im Wind … unsre Fahne ist mehr als der Tod, bis Peter sich übergeben mußte.)
Der Schokoladenpudding mit Kanarienmilch zu seinem vierzehnten Geburtstag im Frühling des Vorjahres.
Und die ungeheizten Schlafzimmer im zurückliegenden Winter, als das Wasser die Wände hinabrann. Der Weihnachtsbaum im Wohnzimmer. Auch dort war nicht geheizt, und die wenigen Kekse am Baum lösten sich am zweiten Feiertag in der Feuchtigkeit auf. Sie tropften buchstäblich vom Baum.
Und die Weigerung der kranken Mutter, sich bei jedem Alarm in den Keller tragen zu lassen.
(Sie hatte am ganzen Körper Hautblutungen, blaue, fast schwarze Flecken, obwohl man die Mutter nur mit größter Vorsicht anfaßte. Sie argumentierte, indem man sie in den Keller trage, könne man sie nicht retten, aber umbringen. Und zwischen Rettungslosigkeit und Quälerei wählte sie die Angst. Während es pfiff und krachte, blieb sie in der Wohnung liegen und schrie aus Leibeskräften. Endlich der Mühe enthoben, Rücksicht auf die Kinder nehmen zu müssen, schrie sie gegen ihre nicht enden wollende Angst, gegen die drohende Vernichtung an: Eine Sirene, die den minderjährigen Meldeläufern, die in der Straße unterwegs waren, einen Schrecken fürs Leben einjagte und die hinterher erholt wirkte; wenn man von Erschöpfung erholt wirken kann. Nach den Angriffen schlief die Mutter meistens rasch ein.)
Noch ein Bild: Wie ihm die Mutter zum Abschied mit ihrem Kamm die Haare sauber scheitelte (das mochte er nicht) und wie er dabei in ihrem Lächeln die Gesichtszüge von einst wiedererkannte (das mochte er sehr; wer wünscht sich nicht, daß seine Mutter so bleibt, wie sie ist?).
Und noch eins, das sich ganz ans Ende flickt: Wie dieser Hitlerjunge, der sich ihnen am ersten Tag der Schlacht angeschlossen hatte, versuchte, auf ihn zuzugehen, während er seine Eingeweide mit den Händen am Austreten hinderte. Mit diesem einäugigen Blick, der sagen wollte: Das könntest auch du sein.
Und dann die Reihe wieder von vorn: Achtzehn oder vierundzwanzig oder sechsunddreißig Bilder, die im Kreis herum eine Geschichte erzählen, manchmal in falscher Anordnung (so daß nicht ganz klar ist, ob der Mohr seinen Kopf tatsächlich hergeben will), aber immer dieselben Bilder, die sich zu Peters fünfzehnjährigem Leben zusammenfügen, als wäre es eine runde Sache.
Das Bild, das er am liebsten mag, zeigt etwas Harmloses: Er und seine um zwei Jahre ältere Schwester Hedi am Ziegelteich, wo sie im Sommer Lehmrutschen bauten. Wie er mit viel Anlauf und in hohem Bogen, von den vorangegangenen Rutschpartien bereits mit Striemen am Rücken, in die Lehmrinne springt, in die Hedi gerade einen Eimer Wasser geschüttet hat.
Und das Bild, das er am wenigsten mag, etwas ebenfalls Harmloses, nichts jedenfalls, von dem man sagen könnte, wie hinterhältig, gemein oder brutal: Wie er neben der kranken Mutter von einer Ecke in die andere und schließlich an den Rand der Familie geschoben wird, weil er nur Arbeit macht und niemandem eine Hilfe ist, selbst wenn er sich nützlich machen will.
(Als die einzige Männersache, nämlich die Mutter in den Keller zu tragen, gestrichen war, stand Peter überall im Weg, vor allem seit die Schule geschlossen hatte. Oft beneidete er seine Schwestern, die durch hauswirtschaftliche Ertüchtigung im Rahmen des BDM im Vorteil waren, die geschickter und entschlossener vorgingen und zweckmäßiger dachten: Wenn sie der Mutter Niveacreme auf die trockenen Lippen streichen durften und ihr nebenher, als wäre es nichts, wie zufällig das strähnige Haar aus der Stirn schoben, um die Stirn zu befühlen. Oder wenn die Mutter eines der Mädchen bat, ihr ein Kissen in den Rücken zu schieben, damit ihr das Atmen leichter falle, oder wenn sie jemanden brauchte, der ihr die kalten Füße rieb: Da blühten die Mädchen auf, waren wie ausgewechselt, weil sie nicht länger dastehen und ihre Verlegenheit verbergen mußten. Ihn aber, der gleichfalls einbezogen werden wollte, bat man um nichts. Er wurde allenfalls als kompetent für Gänge außerhalb angesehen. Und dann erwartete die Mutter, daß er, von diesen Gängen zurück, ihre Hand hielt und erzählte. Aber er hatte nichts zu erzählen angesichts dessen, daß die Mutter starb.
— Erzähl, wie ist es draußen, Peter.
— Da ist nichts Besonderes, alles wie immer.
Kaum schaute die Mutter weg, machte er sich unsichtbar oder schlich wieder aus der Wohnung. Als er seine Einberufung zum Volkssturm erhielt, war das der Befehl, auf den er seit Wochen gewartet hatte.)
Mit einem Mal vergißt er das alles und freut sich, daß er noch am Leben ist. Er sucht eine bequemere Stellung. So gut es mit dem verletzten Arm geht, wickelt er sich gleichzeitig enger in die Wehrmachtsdecke, die er vor Ablegen des Schiffes von einem der ukrainischen Soldaten erhalten hat. Er schaut in den Himmel, wohin die Toten gehen und an dem nach wie vor kein Lichtschimmer ist. Nur noch Geräusche nimmt er wahr, die scheinen ebenfalls ein Teil dieses schier unerschöpflichen Dunkels zu sein: das Tuckern der gegen die Strömung ankämpfenden Maschine, dem der Oberarm einen Resonanzraum bietet, und in den Nieten und Nähten der Spanten ein geheimnisvolles Knacken, das sich ebenso unregelmäßig wiederholt wie der gurgelnde Wellenschlag des vom Bug zerteilten Wassers. Manchmal das tönende Hallen von Schritten der in schmutzsteife Mäntel gehüllten Soldaten, die Wache halten und mit rastlosen Augen ins Nichts spähen. Dann und wann Kolbenschläge, wenn dieselben Soldaten ihre Gewehre absetzen, nicht minder hallend, ganz nah an Peters Ohr, als wäre die Welt hohl wie eine Teedose.
Auf der Donau, die gerade eine weite Biegung macht, beginnen die Spuren (des Krieges) sich bereits wieder zu verwischen.
Das Kielwasser glättet sich.
Die Orientierungstafeln, die aus den Straßen Niederösterreichs entfernt werden, damit sich die Rotarmisten in diesem heillosen Land verirren, sinken auf den kiesigen Grund.
Die zaundürren, mit gestreiften Pyjamas bekleideten Häftlinge, die in tagelangen Märschen das Donauufer entlang nach Westen getrieben und, wenn sie erschöpft niedersinken, von Mitgliedern der Ortsgruppen erschossen werden, läßt man ebenfalls verschwinden.
Die Donau rauscht vorüber, das Meer wird nicht voller.
Letzten Endes.