Donnerstag, 14. Juni 2001

Philipp repariert Johannas Fahrrad. Er stellt es auf den Kopf, dort, wo der große Abfallcontainer gestanden ist und jetzt nicht mehr steht, weil sogar bei ihm nichts Großartiges mehr wegzuwerfen ist. Während er sich denkt und sagt, was er Johanna alles fragen müßte und wie wenig er in der kurzen Zeit, wenn sie einander sehen, tatsächlich dazu kommt, ihr Fragen zu stellen, repariert er die Schäden am Fahrrad sehr gewissenhaft. Er wechselt die Bremsklötze, die Glühbirne des Rücklichts, verbessert die Position des Dynamos, fixiert die Lenkstange, zieht ein paar Schrauben an und ölt alles, was zu ölen ist. Er arbeitet sehr konzentriert, so daß er bereits nach anderthalb Stunden fertig ist. Zu früh für sein Empfinden, weshalb er das Fahrrad auch wäscht, wozu er den Gartenschlauch benutzt, den Steinwald und Atamanov schon mehrmals verwendet haben. Er wäscht auch sein eigenes Fahrrad. Er bewässert den Gemüsegarten. Wer weiß, was alles das Bedürfnis hat, aus der Erde zu schießen. Die Erde ist schon ganz rissig von der ständig herrschenden Hitze. Er stellt fest, der Sommer macht Ernst. Das Wetter ist so: Heulen möchte man.

— Wie töricht, geglaubt zu haben, es hätte anders kommen können, sagte der alte Stanislaus, als es mit dem Glanz vorbei war.

Philipp setzt sich wieder (wieder) auf die Vortreppe, in den Geruch des Schotters, und lebt sein Leben trübsinnig Richtung Abend, er wartet, das aktuelle Notizbuch neben sich, am hinteren Ende des Bleistifts saugend, auf Steinwalds und Atamanovs Rückkehr. Mit Johanna ist ohnehin nicht zu rechnen.

Doch was kommt, das ist ein Licht, als trüge Philipp eine grünlich getönte Plastiksonnenbrille. Wenig später setzt Hagel ein, für gut fünf Minuten, das ist um halb sechs. Philipp schaut auf die Uhr. Es hagelt Schloßen von gut einem Zentimeter Durchmesser. Den größten springt er hinterher, und während sie in seiner Hand schmelzen, machen sie ihn stolz, als ob sie nur über seiner Herrschaft niedergegangen wären, auf seine Länderei. Das ist nicht wahrscheinlich, auch nicht logisch, aber das wenigste ist da, um logisch zu sein, und der Gedanke, daß der Hagel diesmal nur für ihn gefallen ist, ist ihm sympathisch, obwohl er sich gleichzeitig einsam fühlt wie seit Monaten nicht. Weil kein Schwein neben ihm steht. Weil die Liebe den Hunden preisgegeben ist. Weil am Himmel die düsteren Fische mit den Schwanzflossen schlagen. Undsoweiter, undsoweiter.

Irgendwie gehört seine Mutter in diesen Zusammenhang. Es ist, als wäre sie nur kurz zum Einkaufen weggegangen und er zu Hause geblieben. Aber er kann nicht genau bestimmen, woher dieser Eindruck stammt, diese vage Kontur einer Erinnerung, die er schon so gut wie aus dem Gedächtnis verloren hat und die in ihren präzisen Umrissen nicht wiederherzustellen sein wird.

Am Abend brät er für Steinwald und Atamanov Schnitzel, das haben die beiden sich gewünscht, nachdem Philipp sie hat regelrecht bedrängen müssen, ihr Lieblingsessen zu nennen. Philipp hat den Verdacht, seine Schwarzarbeiter wollen weiterhin keine Umstände machen oder sich möglichst unauffällig verhalten, indem sie das Allerbanalste fordern, das Allereinfachste. Im Taktschlag des Fleischhammers singt Philipp Schöner fremder Mann, was ihn fröhlich stimmt wie überhaupt die ganze Kocherei, die etwas ist, das er tun kann, ohne gleich in Verzweiflung zu geraten. Er paniert das Fleisch, setzt den Reis auf, wäscht, schneidet, raspelt, hackt und stückelt für den Salat. Er läßt zwei Schnitzel ins Fett gleiten, aber das führt augenblicklich zu einer so starken Lärm- und Rauchentwicklung, daß er die Pfanne vom Herd reißt und das zu heiße Fett in den Ausguß schüttet. Was ein Fehler ist. Denn das Fett kühlt ab und verklumpt im Abflußrohr. Philipp merkt es, als er die Pfanne reinigt, um mit den abgeschabten Schnitzeln einen zweiten Anlauf zu nehmen. Das Wasser bleibt in der Abwasch stehen. Selbst ein Kessel voll kochend heißem Wasser, das er dem Fett hinterherschüttet, ändert an dieser Situation nichts. Das Rohr bleibt zugepfropft. Steinwald könnte ein zweites Mal zum besten geben, womit er schon Philipps Auskunft, Schriftsteller zu sein, kommentiert hat:

— Der Finger in der Nase dichtet auch.

Während Philipp sich damals vor Lachen verschluckt hat, schämt er sich jetzt, als müßten seine Schwarzarbeiter unweigerlich denken, daß er eine Niete von höchster Konzentration ist, einer von der Sorte, die zu nichts anderem taugt, als Schaden in der Welt anzurichten: Du Blasengel! Du halbgarer Surrealist! Philipp wird ganz klein vor sich selbst und findet sich richtig zuwider, was letztlich der Hauptgrund ist, weshalb er das Mißgeschick Steinwald und Atamanov gegenüber verschweigt.

Auch den Versuch seiner Gehilfen, nach dem Abendessen den Abwasch zu erledigen, wehrt er erfolgreich ab, indem er Steinwald daran erinnert, daß dieser ihm die Angebote vorlegen wollte, die in puncto undichtes Dach eingegangen sind. Drei Kostenvoranschläge, preislich kein nennenswerter Unterschied. Steinwald rät, sich für das Angebot mit dem frühesten Termin zu entscheiden, weil der frühe Termin den Vorteil habe, daß Steinwald die Arbeiten beaufsichtigen und die Rechnung kontrollieren könne, während er sich zu den anderen Terminen als Atamanovs Trauzeuge in der Ukraine aufhalte.

Was zum Teufel?! schießt es Philipp in den Kopf, und für eine Weile hat er Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen, so sehr fühlt er sich zurückgesetzt, an den Rand gedrängt, übergangen und ausgeschlossen. Ausgerechnet Steinwald! Trauzeuge! Philipp zögert. Am liebsten würde er aufstehen und den Raum verlassen. Aber in einem plötzlichen Anfall von Zuversicht packt ihn die feste Überzeugung, daß Atamanov auch ihn (Philipp, wär das schön) zu der Hochzeit einladen wird und daß die Argumente für den ehesten Termin lediglich die Einleitung sind.

Philipp sagt:

— Okay, damit es zu keiner Kollision mit Jewgenijs Hochzeit kommt.

Steinwald nickt. Philipp wartet, er schenkt Mandarinenlikör ein. Auch Atamanov nickt. Philipp bekennt, wie sehr ihn der Gedanke erleichtere, daß er bald wieder sein eigener Herr sein werde, noch ehe sie (Steinwald und Atamanov, die Glücklichen) zu der Hochzeit fahren. Die beiden freuen sich mit ihm. Philipp glaubt schon, Atamanov wolle ihm auf die Schulter klopfen und die Einladung aussprechen. Aber nein. Atamanov kratzt sich, das ist wohl ein Tick von ihm, wie andere immer umarmen müssen, hinter seinen wirklich arg abstehenden Ohren und sitzt ansonsten nur so da.

Im stillen sagt sich Philipp (vielerlei und etwa in dieser Reihenfolge), es sei ohnehin nicht vorstellbar, mit diesen Blindgängern der christlichen Seefahrt in die Ukraine zu fahren. Er sagt sich, daß die Straßen in der Ukraine nicht tragfähig seien, zu viele Unsicherheiten. Er sagt sich, daß eine Ortsveränderung nichts anderes sei als ein schlechter Scherz. Und er sagt sich (geradeaus ins Gesicht), daß derlei Ausreden nichts kosten und daß Johanna schon recht hat, wenn sie alles an ihm und seinem Verhalten bis ins Detail hinein bezeichnend nennt. Er hat weniger daran Interesse, etwas zu tun oder nicht zu tun, etwas zu sein oder nicht zu sein, sondern vielmehr Interesse an der Möglichkeit, mit gewissen konventionellen Worten an allerlei Möglichkeiten zu denken.

In Betrachtung von Atamanovs Ohren sagt er sich, daß es Atamanov ganz recht geschieht, wenn er sich keinen Bleistift hinters Ohr stecken kann, ein Bleistift findet dort nämlich keinen Halt, garantiert nicht, und das gönnt er dem baldigen Hochzeiter von Herzen.

Sie spielen bis in die Nacht hinein Tip-kick, nicht das erste Mal, das spart anstrengendes Reden. Obwohl Atamanovs Deutsch nicht hoffnungslos ist, bringt jede Unterhaltung mit ihm alle anderen in Schweiß, und ein befriedigendes Gespräch kommt trotzdem nicht zustande. Philipp ist brillant in der Verteidigung und ein hervorragender Weitschütze, aber vor dem Tor ein Versager, was den Ausschlag gibt, daß er die meisten Partien knapp verliert. Er lacht viel, voll ehrgeiziger Anspannung, und droht seinen Kontrahenten schreckliche Niederlagen an. Atamanov geht ins Bett. Steinwald und Philipp spielen eine letzte Partie, und als sich abzeichnet, daß Philipp auch dieses Spiel verlieren wird, erzählt Steinwald, daß er den Mercedes ausgesprochen billig erstanden habe, weil darin ein Selbstmörder gelegen sei, zwei Sommermonate lang.

Obwohl Steinwald das Thema ganz von sich aus angeschlagen hat, weckt es spürbare Scheu in ihm. Er schwitzt die Einzelheiten regelrecht aus, und zwar brockenweise. Philipp setzt den Ball vor Steinwalds Tor. Aber der Ball kommt mit der gegnerischen Farbe nach oben zu liegen.

— Deshalb die Dufttannenbäume, sagt Philipp.

Steinwald nickt, und nachdem er den Ball in Philipps Richtung gekickt hat, mit nicht mehr Glück als Philipp zuvor, erklärt er, weiterhin widerstrebend, daß er nicht über ausreichend Geld verfüge, den Wagen innen komplett zu erneuern. Bisher habe er lediglich die Vordersitze und Bodenbeläge ausgetauscht und die Türverkleidungen ersetzt. Er macht eine Pause. Philipp schießt den Ball knapp an Steinwalds Tor vorbei. Trotzdem reagiert Steinwalds Torwart nicht. Steinwald richtet sich auf. Der Wagen sei verläßlich, außerdem könne man mit offenen Fenstern fahren. Er macht seinen Abstoß direkt auf Philipps Tor. Philipp lenkt den Schuß zur Ecke ab. In der Erleichterung, noch nicht verloren zu haben, fragt er, wer der Tote gewesen sei. Er wisse es nicht, erwidert Steinwald. In dem Wagen seien persönliche Gegenstände zurückgeblieben, die ihn stutzig gemacht hätten. Aber sonst keine Ahnung.

— Schöne Geschichte, fügt Steinwald seufzend hinzu, läßt sich auf den nächstbesten Stuhl fallen und bleibt dort sitzen. Anstalten, die ihm zustehende Ecke noch auszuführen, macht sein Flügelstürmer nicht.

Philipp kann nicht schlafen. Ihm brennen die Augen, und die Müdigkeit ist zwar da, aber nur in den Gliedern. Versehen mit einer Schachtel Zigaretten, der fast leeren Flasche Kirschrum und der halbvollen Flasche Mandarinenlikör, die mindestens zwanzig Jahre alt ist, aber erst von ihm angebrochen wurde, liegt er auf dem Flachdach der Garage, bläst große Rauchwolken in die kühle Nachtluft und wartet auf das Nordlicht. Nach einer ungewöhnlich starken Sonneneruption sollen in dieser Nacht große Felder elektrisch geladener Teilchen die Erdatmosphäre erreichen.

Philipp sieht sie gegen halb zwei, kleine, nervös zuckende Schleier und Bänder aus grünem, manchmal violettem Licht. Er nimmt drei, vier Schlucke vom Mandarinenlikör. Ausgerechnet Steinwald! Trauzeuge! In der Ukraine! denkt er. Das ist doch alles Irrsinn und Lüge, eine einzige infame Lüge, Schwindel, Betrug, Impertinenz und Makulatur. Es gibt sie nicht, die Inseln im Süden. Bestimmt nicht. Wetten. Ich will tot umfallen. Es hat sie nie gegeben. Es gibt nur schlechte Straßen, Moraste, Abgründe, heulende Wölfe und Diebe, die alles nehmen, selbst den Mond, den sie untereinander in Phasen teilen. Ich spucke dem Mond ins Gesicht und — eine allerletzte Anstrengung: Ich wische das Nordlicht mit der Hand vom Himmel.

Wir mögen die Ukraine nicht, sagen die jungen Füchse und legen sich schlafen.

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