Die Arbeiter, die Johanna ihm vermittelt hat, kommen in einem neuen, knallroten Mercedes, tragen aber Kleider, die von Farb-, Mörtel- und Ölflecken imprägniert sind, so daß sich die Frage, ob die beiden sich in der Einfahrt geirrt haben, erübrigt. Philipp stellt sich ein paar Fragen der naheliegenden, nicht vorurteilsfreien Art, bleibt nach außen hin aber gelassen und auf der Vortreppe sitzen, bis die Männer zu ihm getreten sind.
Die beiden sehen aus wie eine verspätete Illustration zum Tag der Arbeit: Der Ältere mittelgroß, pickelnarbig und kräftig, mit einem zu kleinen, braunen Hut. Der andere ebenfalls mittelgroß, aber schmal gebaut, ein bißchen blaß, mit hängenden Schultern.
— Steinwald, sagt der mit dem Hut.
— Atamanov, sagt der Blasse.
Nach einem kieferverrenkenden Gähnen nebst unverhohlenem Blick auf die verdellten, betonverkrusteten Halbschuhe, die die Männer tragen, nennt auch Philipp seinen Namen. Dann erkundigt er sich, ob es wegen des Dachbodens sei.
— Ja, erwidert der mit dem Hut.
— Habt ihr Gummistiefel? fragt Philipp.
Wie nicht anders zu erwarten.
— Mundschutz? will Philipp wissen und erhält abermals ein Kopfschütteln.
— Wollt ihr behaupten, daß ihr die Folge, in der James Onedin eine Ladung Guano aufnimmt, versäumt habt? In Südamerika, auf den Galapagosinseln, im Freien, am Meer! Was glaubt ihr, wie das erst auf meinem Dachboden —?
Aber der Schwarzarbeiter mit dem Hut, Steinwald, drückt sich an Philipp vorbei ins Haus.
— Werden das Kind schon schaukeln, gestatten.
Der andere, Atamanov, folgt wie aufgezogen.
Philipp ist überzeugt, das war die erste Anweisung von Johanna.
Die Gesichter der Arbeiter, nachdem sie die Tür zum Dachboden wieder geschlossen haben, kommentiert Philipp nicht, aber die Treppe hinunter geht wieder er voran, und dabei ist eins klar: Die Männer haben nichts dagegen, die Initiative wieder abzutreten, die sie kurzfristig ergriffen haben im fälschlichen Glauben, mit allem und jedem fertig zu werden. Philipp dirigiert die beiden zum Küchentisch, und während in der gluckernden Kaffeemaschine Wasser zu Dampf wird und sich wieder verflüssigt, sticht Steinwald, der Ältere, den rechten Zeigefinger gegen die Tischplatte und zählt auf, was zusätzlich zu den Gummistiefeln und Atemmasken unerläßlich sei:
— Handschuhe, Schutzbrillen und — und — ein Hochdruckreinigungsgerät.
Philipp schneidet Brot, öffnet den Kühlschrank, inspiziert seine Bestände. Er trägt auf, was da ist, Brot, Butter, Honig (Jg. ’96), frische Milch. Er setzt sich ebenfalls zu Tisch. Dort, kauend, kaffeeschlürfend, einigt er sich mit den Arbeitern, daß sie einkaufen fahren, während er, Philipp, zu Hause bleibt, Anrufe entgegennimmt und auf die Postbotin wartet, so seine Behauptung.
Auf die Frage, ob er ebenfalls Gummistiefel brauche, antwortet er:
— Gelbe, Größe 42.
— Also 41, verbessert ihn Steinwald, dies, wie alles, in einem sehr nüchternen, aber entschiedenen Ton, so daß Philipp beschließt, nicht zu widersprechen. Er besteht lediglich darauf, daß die Stiefel gelb sein müssen, wie er als Kind welche besessen hat. Gelb mit innen Rot.
Er händigt Steinwald, der anscheinend der Boß ist, alles Geld aus, das er bei sich hat, und noch mal etwa einen gleich hohen Betrag aus der Teekanne, in der die Großmutter trotz Vorhandenseins eines Safes ihren Notgroschen deponiert hatte. Steinwald und Atamanov verlassen das Haus. Philipp schaut ihnen noch eine ganze Weile vom Fenster aus zu, wie sie vom Vorplatz zum Dachboden hochstarren. Er weiß, das Geräusch, das die Krallen erzeugen, wenn die Tauben über das Fensterbrett tappen, ist von allen vorstellbaren Geräuschen das unangenehmste. Und das Geräusch des Flügelschlags, wenn die Tauben zur Landung ansetzen, das allerhäßlichste Geräusch, das Flügel erzeugen können. Auch Philipp hat noch nie häßlicheres Flügelschlagen gehört.
Es ist fast Mittag, als der rote Mercedes wieder in die Einfahrt biegt. Vor der Garage stellt sich der Wagen in eine Staubwolke. Die Arbeiter steigen aus, und Steinwald beklagt sich in offen vorwurfsvollem Ton, daß sie im ersten Baumarkt keine gelben Gummistiefel erhalten und so über eine Stunde verloren hätten, was die Stiefel für ihn (Philipp) unnötig teuer mache. Ohne sich zu dem Thema zu äußern, ist Philipp doch zufrieden mit diesem ersten Beweis von Zuverlässigkeit, und er hätte gern ein Foto von sich und seinen Gehilfen, weil sich das bestimmt gut macht: Von Steinwald und Atamanov in ihren dunkelgrauen Stiefeln flankiert, würde er anhand der gelben Stiefel leicht als hochstehende Persönlichkeit erkennbar sein. Er stünde einen Schritt tiefer im Bild als die Arbeiter, sehr breitbeinig, hätte die Fäuste in die Seiten gestemmt und das Becken vorgestreckt, er würde lächeln, aber fast unmerklich, und alles in allem sähe er aus wie Hans im Glück. Diese Vorstellung gefällt ihm um so besser, je länger er sich Steinwald und Atamanov ansieht. Der eine mit seinem niedrigen, zu kleinen Hut, der andere mit dem wächsernen Gesicht und einer Frisur wie Fernandel, in der das brünette Haar, obwohl der Mann noch keine dreißig ist, bereits ergraut. Während die Arbeiter wieder in der Küche sitzen und Philipp ein Mittagessen kocht, nimmt er sich vor, am Nachmittag Johanna anzurufen und seinen Fotoapparat zurückzufordern.
— Liebe Johanna, wird er sagen, den Apparat hast du vor anderthalb Jahren ausgeliehen, als der Apparat von Franz zur Reparatur war. Ich möchte wissen, wer sein Leben nicht in Ordnung hat. Du oder ich?
Es gibt Spaghetti. Philipp hat seinen Teller noch nicht geleert, da haben Steinwald und Atamanov schon die doppelte Menge verschlungen, im stillen erbost, daß Philipp sie zu der Mahlzeit überredet hat mit dem Argument, daß sie hinterher keinen Appetit mehr haben werden. Die Signale der Ungeduld, endlich mit der Arbeit beginnen zu können, nehmen zu. Trotzdem versucht Philipp, die beiden in ein Gespräch zu verwickeln. Steinwald, mit einer Falte zwischen den zottigen Brauen, antwortet auf alles kurz angebunden, und Atamanov, wie schon die ganze Zeit, sagt gar nichts. Atamanov ist still, ruhig, zurückgezogen, Philipp kennt kaum seine Stimme. Also redet er ihn zweimal direkt an, und als Atamanov begreift, daß er gemeint ist, drückt er ein verlegenes» Nix viel Deutsch «heraus. Philipp schaut Steinwald an. Der, genervt, berichtet, daß auch er Atamanov erst seit sechs Wochen kenne. Atamanov sei nur kurzfristig in Wien, weil er das Geld verdienen wolle, das er brauche, um Ende Juni zu heiraten. Steinwald knurrt, gleichzeitig kratzt er mit Daumen und Zeigefinger Speisereste zusammen. Die Falte steht ihm nach wie vor zwischen den Brauen. Philipp hingegen, ehrlich erfreut über die Auskunft, gratuliert Atamanov zu dessen Heiratsabsichten. Im nächsten Moment steht Steinwald auf und verschwindet in die Diele, wohin ihm Atamanov folgt. Man hört Nylon reißen, Knistern und Stampfen. Als Philipp ebenfalls in die Diele tritt, tragen Steinwald und Atamanov ihre dunkelgrauen Gummistiefel, und die Masken haben sie umgehängt.
— Keine Staubmasken, sondern Gasmasken, wie Steinwald grimmig erklärt.
Die Schutzbrillen tragen die Arbeiter auf der Stirn.
Bei flüchtiger Betrachtung sehen die beiden sehr beherzt aus, aber auf den zweiten Blick erwecken sie nicht den Eindruck, als ob sie die Entschlossenheit von zehn Teufeln besäßen. Philipp bietet Zigaretten an. Doch ohne diesem Offert Beachtung zu schenken, oder vielmehr, ohne sich neuerlich anstiften zu lassen, den Gang in den Dachboden aufzuschieben, schultern die Arbeiter ihre Schaufeln und poltern die Treppe hinauf.
Philipp bleibt in der Diele. Er begutachtet die restlichen Einkäufe. Vor allem seine Gummistiefel gefallen ihm, mit einem roten oberen Rand, innen grün gefüttert, die Sohlen ebenfalls grün, passend zu seinem Lieblingshemd. Er zwängt seine Füße in die Stiefel, sie sitzen so lala. Eine Nummer größer hätte es auch getan. Gasmaske und Schutzbrille bringt er an den dafür vorgesehenen Stellen an, auch in die schweren Arbeitshandschuhe schlüpft er noch im Erdgeschoß. Derart ausstaffiert und La Paloma trällernd, nimmt er die Treppe in Angriff. Doch bereits im ersten Stock biegt er ab, weil sich der größte Spiegel des Hauses im früheren Schlafzimmer der Großmutter befindet. Um mehr Licht hereinzulassen, öffnet Philipp die Fensterläden. Er betrachtet sich eine Weile im Spiegel. Dann geht er dazu über, sich vor die Reihen der Fotos zu stellen, die in dem Zimmer an den Wänden hängen: teilweise über dem Bett, teilweise über dem Toilettentisch, alle vor demselben Hintergrund des grünen, auf die Wände gewalzten Kartoffeldruckmusters. In ovalen, runden, viereckigen und hufeisenförmigen Rahmen, von Porzellanefeu und Metallrosen umschlossen, all die vertrauten und weniger vertrauten Gesichter, die ganze zerstreute, versprengte und verstorbene Familie. Philipp erkennt sie alle, in allen Altern.
Er fragt sich, ob seine Angehörigen auch ihn erkennen würden, Philipp Erlach, sechsunddreißig Jahre alt, ledig.
Mit Maske und Schutzbrille sieht er nicht wie ein Enkel, Sohn oder Bruder aus. Eher wie eine Erscheinung, wie einer, der sich keimgeschützt und unbetroffen nach Jahrzehnten in eine längst verlassene Landschaft wagt und Materialproben nimmt. Zur Dokumentation einer untergegangenen Kultur.
Ist ja alles schon ewig her, redet er sich zu, und für einen Augenblick glaubt er, in seiner Verkleidung niemandem Rechenschaft schuldig zu sein. Er findet sogar den Mut, die Nachtkommode der Großmutter zu öffnen, die vollgestopft ist mit Papierkram. Er zieht die Schubfächer mit einer gewissen Gleichgültigkeit heraus, in einem fast neutralen Raum, eher flüchtig und doch im Bewußtsein, daß er hier einer Möglichkeit gegenübersteht, vom Fleck zu kommen (wie Johanna es ausdrücken würde). Er hingegen würde es nicht so ausdrücken. Aber den Weg in den Dachboden setzt er trotzdem mit einem Gefühl der Unruhe fort.
Sowie er die Tür des Dachbodens geöffnet hat, verdoppelt sich sein Puls. Steinwald schreit ihm durch das Knattern der Flügel und das akustisch zu einem einzigen, anhaltenden Ton verfestigte Fiepen entgegen, er solle verschwinden. In Steinwalds von der Maske verzerrter Stimme klingt das schiere Entsetzen. Philipp sieht, daß Atamanov beim Fenster steht, Steinwald in der Mitte des Raums, beide umflattert von Tauben, die weißen Staub aus ihren Flügeln schlagen. Beide in den spiralenen Strudeln dieses Staubs versinkend und wieder daraus hervortauchend. Dreckig, als ob sie sich beide schon mindestens einmal der Länge nach auf die frischen Kotschichten geworfen hätten. Der ganze Raum ist von einem kreidigen Weiß überzogen. Nicht vom Weiß verwunschener Schneelandschaften, sondern dem gruseligen Puder von Zombies. Die ständig vor Steinwald und Atamanov kreuzenden Vögel erzeugen die Wirkung harter Filmschnitte. Die beiden sehen aus wie hilflose Automaten, glubschäugig und stumm. Lichtreflexe zucken auf dem Blatt von Atamanovs Schaufel. Philipp denkt noch, daß die zwei Männer trotz des Grauens, in dem sie sich bewegen, weniger verblüfft scheinen, hier zu sein, als er, der ihnen zusieht. Dann hat Steinwald, schaufelschwingend, die Tür erreicht, versetzt ihr einen Tritt, daß Philipp Mühe hat, den Kopf rechtzeitig zurückzuziehen. Die Tür kracht vor seiner Nase ins Schloß.
Er bläst erleichtert Luft aus, atmet tief ein, und während er für mehrere Sekunden auf die Geräusche lauscht, die dumpf und traurig durch die Tür dringen, hält er sich dazu an, sich bei nächster Gelegenheit beeindruckt zu zeigen.
— Na also, du Sauvieh, warum nicht gleich! hört er Steinwald aus voller Kehle schreien.
Philipp verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. Dann geht er Stufe für Stufe die Stiege runter und schlägt mit den Händen nach dem Staub, der ihm, so befürchtet er, in Hemd und Hose gekrochen ist. Philipp geht raus, über den Kies des Vorplatzes, in den Garten, an die frische Luft. Nachdem eine herumstreunende Katze bei seinem Anblick in Jahrmarktsgeschrei ausgebrochen und ins Unterholz bei der Mauer geflüchtet ist, setzt er sich auf das ehemalige Postament des Schutzengels und zwar so, daß sich ihm ein ungehinderter Blick auf das Dachbodenfenster bietet.
Mittlerweile hat Atamanov mit seiner Schaufel auch das Glas des zweiten Fensterflügels zertrümmert. In loser Reihenfolge stürzen sich Vögel, denen Atamanov mit der Schaufel die Richtung weist, ins Freie. Atamanov verwehrt nach derselben Methode rückkehrwilligen Tauben die Landung auf dem Fensterbrett. So geht es dahin, gut eine halbe Stunde lang, bis etwa vierzig Tauben den Dachboden verlassen haben. Dann folgen die, die noch nicht flügge waren. Sie fallen tot von Atamanovs Schaufel und landen zwischen einem an der Hauswand lehnenden Stapel aus furchigem Brennholz und dem von Rost überwucherten Zaun des Gemüsegartens. Dead and gone. Die Katze stürzt aus dem Gestrüpp heraus und schafft sich mit einem zerfledderten Kadaver im Maul wieder davon. Philipp, der den Standpunkt vertritt, diesem Teil der Arbeit nicht beiwohnen zu müssen, seufzt leise und bahnt sich ebenfalls einen Weg durch den Garten, aber Richtung Mauer.
Es kann doch sein, sinniert er, daß ihm die Zeit mit Johanna irgendwann als unerheblicher Teil seines Lebens erscheint oder daß er sich endgültig damit abfindet, daß die Wolken vorüberziehen, ohne etwas zu versprechen oder zu halten, eine Schicht um die andere, den Himmel immer wieder entblößend, um begreiflich zu machen, wie es wirklich ist, Johannas Stimme wirklich ist, ihre Bewegungen wirklich sind, und daß er keine Wahlmöglichkeit hat, wenn er sich einbildet, Johanna zu lieben. Johanna hingegen nutzt die Tatsache, sich im gleichen Moment und seit knapp zehn Jahren abwechselnd nicht viel oder nicht genug aus ihm zu machen, um sich alle Optionen offenzuhalten. Die Wetterseite ihrer gemeinsamen Beziehung, ihres Beziehungsdramas, sozusagen. Und (denkt Philipp): Ich habe meinen Stolz, der mir etwas bewahrt, das mit Unschuld zu tun hat.
Das ist ein Gedanke, den er eigentlich noch weiterdenken will und sollte. Doch hat er mittlerweile den ersten Stuhl erstiegen und sich dank der schweren Handschuhe, die er trägt, an den Ziegeln des Mauerfirsts so weit hochgezogen, daß er in einen Teil des Gartens sieht, der bisher immer im toten Winkel gelegen ist und in dem ein Mann auf Knien und mit einer Drahtbürste Moos entfernt, das sich in den Fugen einer Reihe von Waschbetonplatten eingewuchert hat.
— Hallo! ruft Philipp.
Sogleich bringt ihm der Klang seiner Stimme in Erinnerung, daß er Gasmaske und Schutzbrille im Gesicht trägt. Der Mann schaut hoch unter erhobenen, buschig weißen Augenbrauen, stutzt auch, aber nur sehr kurz, verblüffend kurz. Philipp ist der Ansicht, er hätte etwas mehr Verwunderung verdient. Dann brüllt der Mann, indem er seine Faust in Philipps Richtung schwingt, er solle sich zum Teufel scheren, und zwar hurtig. Philipp schaut auf den Tobsüchtigen, gleichzeitig spürt er, daß sein Hemd hochgerutscht und unter dem Hemd der Bauchnabel hervorgekommen ist und daß von der Mauer Kälte abstrahlt. Er ist hin- und hergerissen zwischen den drohenden Gebärden des Mannes und dem angenehmen Gefühl an seinem entblößten Bauch. Eigentlich würde er gerne noch einen Moment so bleiben, die Beine in der Luft, die Armmuskeln gespannt. Doch der Mann ist bereits aufgesprungen und macht Anstalten, die Drahtbürste nach Philipp zu werfen, so daß Philipp lieber in Deckung geht. Verdutzt trottet er zum nächsten Stuhl. Nachdem er dort ein im Schlafzimmer der Großmutter eingestecktes Foto aus der Hosentasche geholt hat, setzt er sich nieder, denn von hinter der Mauer hört er Stimmen.
Das Foto zeigt einen Buben in einer gestrickten roten und zu großen Badehose. Das ist Philipp, vierjährig und blond. Er steht im kniehohen Gras. Der ganze Hintergrund ist Gras und geht in einen weißen, unregelmäßig gezahnten Rand über. Der Bub auf dem Foto umklammert mit beiden Händen eine große Gartenschere mit gelben Griffen. Sein Blick ist aufwärts zum Objektiv gerichtet, mit einem mißtrauischen Gesichtsausdruck, als hätte man ihn soeben aufgefordert, etwas zu tun, was er nicht tun will, zum Beispiel, die Gartenschere herausrücken, damit er kein Blutbad anrichtet. Aus dem Gesichtsausdruck des Buben ist unschwer zu erkennen, daß gleich etwas geschehen wird. Gleich wird er anfangen zu weinen.
Die Stimmen, die Philipp hinter der Mauer hört, sind Kinderstimmen, und er stellt sich vor, daß sie alten und vernachlässigten Freunden gehören, die immer noch Kinder sind und auf ihn warten, seit achtundzwanzigeinhalb Jahren, beharrlich, geduldig und zuversichtlich. Vielleicht hat man ihnen als Volksschüler aufgetragen, in das Schönschreibheft zu schreiben, daß das Glück zu denen kommt, die warten können. Zehn, zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig Mal immer dasselbe schreiben bis zur völligen Abstumpfung, in eine Unverbindlichkeit hinein, in der alles nichts mehr bedeutet. Während die Stimmen in Philipps Rücken immer konturloser werden, weil er sich Mühe gibt, möglichst wenig von dem, was gesprochen wird, zu verstehen, denkt er, daß alles immer ist, als versuche man denselben Satz diesmal noch schöner in sein Heft zu schreiben. Vielleicht ist es das, was uns zu armen Teufeln macht.
Als Philipp zum Haus zurückkehrt, sind die Flügel des Dachbodenfensters aus den Angeln gehoben, die Öffnung ist mit Schachtelkarton ausgeschlagen. Immer wieder fliegen Tauben gegen diesen Karton, immer wieder mit den Krallen voran, das Papier aufreißend, immer wieder ganz jämmerlich fiepend. Andere Tauben kratzen an den Ziegeln des Firsts, an der Regenrinne, überall wo sie sich niedergelassen haben. Steinwald und Atamanov sitzen auf der Vortreppe, auf Philipps angestammtem Platz. Sie trinken lustlos Bier, das sie, wie Philipp annimmt, aus dem Kühlschrank genommen haben. Sie sehen auf sehr beeindruckende Weise elend aus oder wenigstens, als wäre nicht mehr die Kraft in ihnen, auf die geleistete Arbeit auch noch stolz zu sein. Ganz offensichtlich ist ihnen nicht nach Reden zumute; sie erwidern nicht einmal Philipps Gruß. Maske und Brille haben sie abgelegt, sie tragen aber deren präzise gezogene Konturen in den Gesichtern. Über die ungeschützte Haut hat sich derselbe weiße Staub wie auf die Haare gelegt, die von staubgestocktem Fett in die Höhe stehen. Philipp hingegen, obwohl er schwitzt und obwohl seine Sichtscheibe an den Rändern beschlagen ist, hat Maske und Brille nach wie vor auf, als wäre die Schlacht gegen die Mächte der Finsternis noch nicht geschlagen und er gewillt, weiterhin mit geschlossenem Visier zu kämpfen. Durch das beschlagene Plexiglas hindurch sieht er die traurigen, auf seine gelben Gummistiefel gerichteten Blicke. Seine Gummistiefel tragen ein wenig Erde an den Sohlen, während die Stiefel von Steinwald und Atamanov mit Taubendreck vollgesaut und mit Daunen verklebt sind.
— Wie ihr euch ins Zeug legt, alle Achtung. Ihr seid wahre Helden der Arbeit, sagt Philipp verlegen.
Kein Kommentar. Man kann es den beiden nicht zum Vorwurf machen.
— Verwendet doch bitte das Badezimmer im oberen Stockwerk. Dort gibt es sogar einen Erste-Hilfe-Kasten, wenn auch fraglichen Inhalts.
Blut sickert aus mehreren Kratzern an Atamanovs Hals. Steinwald nickt, spuckt gekonnt einen Batzen krachend hochgeräusperten Schleims in den Container, doch ohne Anstalten, sich zu erheben. Bei aller Geduld, mit der er die Plackerei auf dem Dachboden verrichtet: diesen Gefallen erweist er dem frischgebackenen Hausbesitzer nicht.
— Jedenfalls danke, sagt Philipp.
Ihm ist die Situation peinlich. Er preßt die Lippen aufeinander. In einem Anflug gelinder Verzweiflung greift er nach den Fensterflügeln, die neben der Haustür lehnen. Er entfernt sorgfältig die von blasigen Einschlüssen gespickten Glasreste und schleppt die Rahmen zu seinem Fahrrad, in der Absicht, wie er verkündet, sie zum Glaser zu bringen.
Auf dem Weg dorthin denkt er sich weitere Fotografien aus, alle sehr grobkörnig und die Farben ein wenig verblaßt. Er ermahnt sich, auf keinen Fall zu vergessen, Johanna wegen des Fotoapparats anzurufen, aus diesem und nur aus diesem Grund. Das muß er unbedingt anbringen, damit sie nicht glaubt, er wolle ihr auf die Nerven fallen.