Philipp sitzt auf der Vortreppe, streichelt eine aus der Nachbarschaft zugelaufene Katze, mit der er sich angefreundet hat, reibt mit dem Zeigefinger der Rechten an ihren Wangenknochen und kratzt sich selbst den Bauch. Er sieht den Autos, die vorne die Einfahrt passieren, beim Fahren zu, den Frauen mit Kind, die nicht einmal den Kopf nach ihm drehen, obwohl der Anblick, der sich ihnen bieten würde, nicht schlechter wäre als andere Anblicke. Aber nein. Die Frauen und Kinder interessieren sich nicht für ihn. Kein Hahn kräht. Kein Hund bellt. Die Tauben gurren. Der Kaffee wird kalt. Das Erkalten des Kaffees und das langsame Verbrennen der Sonne sind in etwa dasselbe. Aber er schwadroniert ja nur und verduselt und verschreibt seine Notizbücher mit nichts als Andeutungen und Widersprüchen.
Selbst seine Geschicklichkeit im Fliegenfangen macht ihn nicht mehr froh. Er gibt die Fliegen der Katze zu fressen.
— Was soll ich denn jetzt deiner Meinung nach tun? fragt er die Katze. Sie miaut gnädig. Und mit einmal sieht auch Philipp sich an einem Punkt angelangt, an dem er nicht mehr bestreiten will, daß er etwas falsch macht. Er weiß nicht was, es geht über seinen Horizont, aber zweifellos macht er Fehler.
Auch Nichtstun kann die Dinge zum Eskalieren bringen.
Prompt, als sei sie es gewesen, die ihm diesen Gedanken eingegeben hat, biegt Johanna um die Ecke. Sie fährt mit dem Fahrrad bis vor seine Füße, und derweil er sich ärgert, daß er den Kopfverband vor zwei Stunden abgenommen und anschließend geduscht hat, sagt sie, sie habe ihm etwas zum Lesen mitgebracht. Sie greift in den Korb an ihrer Lenkstange und überreicht ihm mit strahlendem Gesicht einen Quartband, der außen grün marmoriert ist, keinerlei Prägungen aufweist und mindestens drei Kilo wiegt. Philipp öffnet den Band behutsam und liest laut:
— Denkschriften der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Mathemathisch-naturwissenschaftliche Classe. Dreiundsiebzigster Band. Jubelband zur Feier des fünfzigjährigen Bestandes der k.u.k. Centralanstalt für Meteorologie und Erdmagnetismus. Wien 1901.
Während Johanna stolz darauf hinweist, daß das Buch hundert Jahre alt ist, fragt sich Philipp, ob er in Zukunft über die Liebe nachdenken soll, wenn er über das Wetter nachdenkt (wer will es verstehen?). Er spricht Johanna darauf an. Sie winkt ab. Aber wenig später sagt sie, doch, ja, sie glaube schon, daß es sie erregen würde, wenn er ihr, während sie miteinander schlafen, den Artikel über den Wassergehalt von Wolken vorlesen würde. Sie nickt mehrmals mit zusammengepreßten, leicht vorgestülpten Lippen. Dann, nach einer Pause, nickt sie nochmals und lacht.
Wie sie lacht!
— Also: Über den Wassergehalt der Wolken, Absatz, von Doktor Victor Conrad, Absatz, Klammer, aus dem Physikalisch-chemischen Institute der Wiener Universität, Klammer zu, Absatz. Mit fünf Textfiguren, Absatz, Strich, Absatz, Klammer, vorgelegt in der Sitzung am siebzehnten Mai neunzehnhunderteins, Klammer zu, Absatz, Strich, Absatz. Die erste Untersuchung über den Wassergehalt von Wolken und Nebeln hat Schlagintweit im Jahre achtzehnhunderteinundfünfzig angestellt. Er hatte auf der Vincenthütte, Klammer, dreitausendeinhundertzweiundfünfzig Meter, Klammer zu, die an den Hängen des Monte Rosa liegt, längeren Aufenthalt genommen, um den Kohlensäuregehalt der Luft in diesen Höhenschichten zu bestimmen —.
Kichern Johannas, die sich auf dem Weg zu Philipps Zimmer T-Shirt und BH auszieht.
— Da Schlagintweit hiebei –
Neuerliches Kichern Johannas.
— die zu untersuchende Luft durch Kohlensäure absorbierendes Material leitete und den CO2-Gehalt aus der Gewichtzunahme der absorbierenden Substanzen erschloß, mag ihm der Gedanke gekommen sein, Nebelluft durch Wasser absorbierende Substanz, Klammer, Chlorcalcium, Klammer zu, zu leiten und wieder aus der Gewichtzunahme den Gesamtwassergehalt des aspirierten Luftquantums zu bestimmen, dann die in der Luft enthaltene Feuchtigkeit, Klammer, das gasförmige Wasser, Klammer zu, zu subtrahieren und so den Gehalt an flüssigem Wasser zu erhalten, das in Tröpfchenform in der Luft suspendiert ist. Auf diese Weise findet Schlagintweit im Cubikmeter Wolke cirka zwei Punkt neunundsiebzig Gramm flüssiges Wasser.
Philipp unterbricht den Vortrag und fragt die schon zur Gänze entkleidete und auf dem Rücken liegende Johanna, was sie meine, ob die Wolken mehr dem Regen oder mehr dem Himmel ähneln?
Ohne ihm eine Antwort zu geben, dreht sie sich herum, nimmt ihm das Buch aus der Hand und wirft es neben die Matratze. Es landet mit einem Knall auf dem Dielenboden.
Philipp protestiert:
— Johanna! sagt er: Der Artikel über den Wassergehalt von Wolken soll dich erregen, während wir miteinander schlafen, nicht davor.
Aber sie hört ihm bereits nicht mehr zu. Er überlegt, was er tun soll, vielleicht die Frage wiederholen, ob sie glaube, daß die Wolken dem Himmel näher sind oder dem Regen, und wer dem Sommer verwandter, der Frühling oder der Herbst. Aber dann sagt er sich, daß das im Augenblick gleichgültig ist und ihn vielleicht nie wieder interessieren wird, ihn bedrücken ganz andere Fragen, und selbst die können warten, bis Johanna und er erschöpft nebeneinanderliegen.
Diesmal versucht sogar Johanna den Punkt des Ankommens und die Zeit bis zum Weitermüssen so lange wie möglich hinauszuzögern, als wäre sie jetzt, da die Bettwäsche weiß ist, daraus nicht mehr wegzudenken. Philipp findet sie in dem Moment sehr schön, und er würde sie gerne fragen (Johanna, du, sag mal), ob sie auch Momente kenne, in denen die Wände und Böden und selbst die Augenblicke abwesend sind. Ob sie dann auch bereit sei, jede gemeine Logik und so die Lächerlichkeit, die einen bedrängt, zu leugnen und zu sagen, ich bin und bleibe, wer und wo ich bin, solange es mir paßt.
Er fragt sie nicht, nein. Aber hinterher, hinterher, als es vorbei ist, ob sie —.
— Nein, das ist einfach nicht möglich, Philipp, du willst die Gesetze des Lebens über den Haufen rennen.
Johanna streicht Philipp eine schweißfeuchte Strähne aus dem Gesicht. Ihr Blick sagt ihm, es ist hoffnungslos.
— Weil nur Idioten sich nicht ändern. Jeder vernünftige Mensch schaut vorwärts, und um vorwärts schauen zu können, muß man wissen, was hinter einem ist. Du kannst dir nicht das Gegenteil in die Tasche lügen.
Er denkt: Es ist so wenig, ich muß mir gar nicht viel in die Tasche lügen, es paßt auf einen Daumennagel, alles, was ich lügen muß, kann ich auf einen Daumennagel notieren, und der Rest ist so einfach wie das Wetter.
Johanna sitzt über ihm, betrachtet ihn lange, schaut zwischendurch zur Decke oder zum Fenster. Schließlich, als sei alles Denkbare und Mögliche nebensächlich, erinnert sie ihn an sein vor mehreren Wochen geäußertes Vorhaben, in dem Zimmer, in dem sie gerade miteinander geschlafen haben, die Tapeten herunterzureißen. Sie nickt. Philipp stellt sich vor, wie schön es in dem Zimmer sein würde, wenn unter den Tapeten hervorkäme, was er sich wünscht. Verschiedene Anzeichen, wo sich kleine, im Laufe der Zeit schmutzig gewordene Zungen von selbst gelöst haben, lassen einen von Kleister verwischten roten Anstrich erhoffen, der ihn an Marokko erinnert, wo er noch nie war und wohin er nicht gehen will.
— Johanna, sagt er.
Aber nein, das bringt nichts, das ist sinnlos. Er hätte mit dem Satz besser gar nicht erst angefangen.
Johanna fällt das Reden leichter.
— Schau, sagt sie, alles, was du machst, verspricht nicht den geringsten Erfolg. Und was mich am meisten ärgert, ist, daß ich ein Teil deiner Pleite bin. Weil du nichts anpacken willst, bloß mich, aber nicht fest genug.
Geflüster beim Einsickern der Nacht. Er denkt über Johannas Vorwürfe nach, eine ganze Weile lang: Darüber, daß sein letztes Buch nichts eingebracht hat. Die fünf Jahre mit Ella. Ein paar andere Begebenheiten, die teilweise Jahre zurückliegen. Seine Familie, seine Mutter, sein Vater, daß Sissi viel zu jung nach New York geheiratet hat. Und daß auch Johanna in ihrer Ehe stagniert und auf den Schubser wartet, der sie in ein anderes Leben befördert. Er verliert völlig den Überblick. So viel schwirrt ihm im Kopf, und alles zusammen verstört ihn derart, daß er den Faden verliert und nichts erwidert. Er berührt Johannas Busen, flüchtig, und für einen Moment denkt er, daß diese Berührung etwas Dauerhaftes ist, ein ins Endlose wiederholter Augenblick, der sich seine Flüchtigkeit durch die Wiederholung bewahrt und sie zugleich verewigt. Philipp schlingt die Arme enger um Johannas Taille und drückt sein Gesicht in ihre Seite.
In dieser Stellung gerät er über einer Sache ins Grübeln, die er irgendwo gelesen hat: daß sich manche Empfindungen für immer auf der Haut festsetzen, die Kälte der Pistole zum Beispiel, die man im Urlaub an die Schläfe gesetzt bekommt. Er wünscht sich, daß seine Hand ein Erinnerungsvermögen besitzt und sich die Rundungen von Johannas Busen und das Gefühl, das die Rundungen erzeugen, merkt. Als Kind hat Philipp mehrere Wochen lang versucht, seine Zehen zu füttern. Er hat auch die Füße abwechselnd in die Höhe gehalten, damit sie die Welt besser sehen konnten. Sissi hat ihn deswegen noch Jahre später gehänselt, was wohl der Grund ist, weshalb er sich daran erinnern kann oder wenigstens weiß, daß es diese Phase gegeben hat.
Als Philipp wieder aufwacht, ist es dunkel geworden. Johanna liegt nicht neben ihm, er spürt die Abwesenheit ihres Körpers sehr deutlich, aber er riecht und fühlt auch, daß sie noch nicht lange fort ist. Überhaupt hat das Laken etwas sehr Vertrautes. Er sagt sich, wenn Johanna ihre Ankündigung, Franz zu verlassen, jemals wahr macht und dann bestimmt auch ihn verläßt, weil es dann keinen Reiz mehr für sie hat, ihn zu treffen, würde er den Geruch vermissen, den sie bei ihren wenigen Besuchen in den Laken zurückläßt. Der Gedanke, daß dieser Geruch irgendwann nicht mehr zu riechen sein wird, quält ihn, solange er wach liegt, und er begreift, wie leicht es Johanna eines Tages fallen wird, nicht mehr dazusein. Und sei es nur, um ihm seinen Grundfehler zu verdeutlichen und ihm zu beweisen, daß sie recht hat und ihr Recht durchzusetzen weiß. Johanna will weiter. Er will bleiben. Er will in diesem Bett bleiben. Er will auf der Vortreppe bleiben. Er will den Schotter des Vorplatzes und Johanna riechen. Er will nicht weg, nein, er will nicht. Herr, der du die Herzen der Könige wenden kannst: Meines, bitte, wende nicht.
Philipp streckt die Arme über die ganze Breite der Matratze aus und ist dabei seltsam erleichtert und verängstigt zugleich, weil Johanna noch hier ist. Nicht neben ihm, aber in der Küche. Von dort hört er Rudimente ihrer Stimme und ihr gedämpftes Lachen, ab und zu unterbrochen vom Gurgeln der Spülmaschine und dem Rhabarber-Rhabarber einer tieffrequenten Stimme (Steinwald?), die von der Spülmaschine teilweise nicht zu unterscheiden ist. Das dauert ein paar Minuten. Dann schläft Philipp wieder ein.
Kurz vor sieben verlassen Steinwald und Atamanov das Haus, gut eine Stunde später folgt ihnen Johanna. Philipp begleitet sie bis zum Tor. Da ihre Haare naß sind und er sich bereiterklärt hat, ihr Fahrrad zu reparieren — froh, weil wenigstens dieser Morgen davon verschont bleibt, daß zehn Minuten lang ein Fön auf höchster Stufe kreischt —, hat Johanna sich ein Taxi bestellt. Sie ist gut gelaunt und vermeidet die Themen der hinter ihnen liegenden Nacht oder redet wenigstens geschickt drumherum. Während sie auf das Taxi warten, während der Seifenschaum in Philipps Ohren knistert, sagt sie, daß Steinwald einen sehr ordentlichen Charakter habe, er (Philipp?) im Prinzip auch, aber nur manchmal. Ob er (Philipp!) den tieferen Sinn kapiere. Fraglich. Steinwald sei in eine Friseuse verliebt. Die Friseuse singe in einer Frauenband, die ausschließlich Seemannslieder spielt, und die Lieder heißen Ahoi und Das Meer und Captain Ahab und —. Philipp fällt ihr ins Wort:
— La Paloma, Fährt ein weißes Schiff nach Hongkong, Die Gitarre und das Meer, Das ist die Liebe der Matrosen.
Er will anfangen zu singen: A-hoi! Die Welt ist schön und muß sich immer dreh’n. Aber Johanna kommt ihm zuvor, küßt ihn und sagt, daß es nett gewesen sei. Philipp besteht weder auf der Gegenwartsform noch auf einer näheren Erläuterung des Begriffs nett.
Johanna steigt in das Taxi. Das Taxi fährt davon.
Philipp bleibt auf dem Vorplatz stehen und hört widerwillig den Tauben zu.
Ein paar Tauben gehen weiter ihren sinnlosen Beschäftigungen nach: Gurren und mit den Krallen Blech Bearbeiten. Philipp schaut zur Dachrinne hinauf. Er zählt sieben Vögel, die sich lieber bei ihm als woanders aufhalten. Er fragt sich, warum warum warum. Es gibt doch nichts, was sie hier halten kann. Sie sollen einfach verschwinden. Die Welt ist schließlich groß, so heißt es, nach allem, was man hört. Er klatscht in die Hände:
— Sucht eine andere Unterkunft! Die Welt ist groß! So heißt es jedenfalls! Schleichts euch! Versteht ihr? Habt ihr verstanden?
Er ruft sehr laut und macht weitausholende Gesten in Richtung Stadt und Lainzer Tiergarten, wo die Wälder mit ihren halbzahmen Wildschweinen im dunstigen Morgenlicht stehen.
Aber er kann schreien und gestikulieren, soviel er will. Die Tauben unterbrechen nicht einmal ihr Gurren.