Dienstag, 25. Mai 1982

Im Halbschlaf registriert sie das Aussickern der Finsternis und gleichzeitige Zunehmen des Lichts, das in das große Zimmer voller dunkler Möbel schlüpft. Es wäre praktisch, über eine Automatik zu verfügen, mittels deren sich, vom Bett aus, ein Fenster öffnen ließe: Raus mit der schalen Luft, dem Gemisch aus Atem, Roßhaarmatratze und gründlich verbrannter Milch. Ihr Mann hat vor drei Tagen, als sie mit dem Kulturkreis in Kalkwang war, einen halben Liter Milch acht Stunden lang gekocht. Die Milch war bei Almas Heimkehr in schwarzen Klastern an Topf und Herd sedimentiert, und abgesehen von der Mühe und der Zeit, die es kostete, den Herd mit Stahlwolle und Scheuermittel sauber zu bekommen (der Topf wanderte geradeaus in den Müll), vermutet Alma, daß der Geruch so rasch aus dem frisch gestrichenen Haus nicht hinausgehen wird. Sie selbst wird den Geruch heute vielleicht nicht mehr wahrnehmen, kann sein. Aus Gewohnheit. Aber jeder, der ins Haus tritt, hat dieses Alte-Leute-Aroma in der Nase. Befürchtet sie. Gut, mag sein, sie sieht das zu pessimistisch, mag sein, sie ist überempfindlich, weil ihr diese Dinge zu Bewußtsein bringen, daß es irgendwann nicht mehr weitergehen wird. Der Nagelzwicker im Kühlschrank, das schmutzige Unterleibchen, das Richard ausziehen sollte, unter dem übergestreiften frischen. Die Pizza mitsamt der Plastikhülle im Backrohr. Eigentlich harmlos. Und trotzdem: beängstigend, grauenvoll kommt ihr das vor, weil anzunehmen ist, daß es schlimmer werden wird. Irgendwann wird Richard fragen, ob Der Wolf und die sieben Geißlein eine Geschichte von Kindsmord ist. So Sachen hat sein Vater gegen Ende gefaselt. Oder er wird, wie Alma es beim Besuch im Seniorenheim erlebt hat, anfangen zu krähen, wenn ein Gockel im Fernsehen es vormacht. Abwarten, das wird gewiß noch geboten. Früh genug. Unruhig dreht sie sich im Bett. Nach mehreren unbefriedigenden Versuchen, eine bequemere Lage zu finden, bleibt sie halb auf dem Bauch liegen, den rechten Arm abgewinkelt oberhalb des Kopfes, den linken quer über der Brust, die Finger rechts an Hals und Ohr, die Decke zwischen den Beinen, damit die Schenkel einander nicht berühren. Almas Kopf liegt wangenseitig am Bettrand, zur Hälfte über der Bettkante, damit das Gesicht etwas von der kühlen Luft abbekommt, die unter dem Bett steht. Einige Minuten noch. Abwarten.

Dies.

Es ist der Hochzeitstag von Ingrid, ihrer Tochter, und zugleich der Sterbetag ihrer Mutter. Erst als Alma beim Begräbnis Geburts- und Sterbejahr auf dem provisorischen Holzkreuz eingebrannt sah, begriff sie, daß ihre Mutter fast hundert Jahre gelebt hatte. Hundert Jahre. Muß man sich durchs Gehirn laufen lassen. Almas Mutter sah als Kind, wie ihr Vater, Almas Großvater, neben einer Glaskugel arbeitete, um das Licht zu verstärken, das kann sich heute keiner mehr vorstellen. Sie spielte am unregulierten Wienfluß im Bereich, wo jetzt die U-Bahn fährt, und nahe beim Karlsplatz ging sie auf dem Weg zur Arbeit über die Elisabethbrücke, die mit den Statuen geschmückt war, die mittlerweile im Arkadenhof des Rathauses stehen. Manchmal erzählte sie von einer Nähmaschine mit Fußantrieb, auf der sie als Mädchen lernen durfte. Damals ein halbes Wunderding. Bis zuletzt holte Almas Mutter voller Stolz ein auf dieser Maschine genähtes Unterkleid hervor, das war, als die Menschen bereits Atombomben geworfen und vom Weltraum aus die Erde gesehen hatten.

— Es ist arg, seufzt Alma halblaut, als würde es nicht genügen, das zu denken.

Alma selbst sah, wie der Mistbauer kam. Er läutete mit einer großen Messingglocke, und ihre Mutter lief mit dem stinkenden Mistkübel hinunter und stimmte den Mistbauern, einen primitiven Menschen, mit zwei Zigaretten gnädig, damit er von der Höhe des Wagens den Mistkübel wieder herunterreichte und ihn nicht aufs Pflaster warf. Bong! Sieben Jahrzehnte liegt das zurück oder besser, sieben Jahrzehnte sind seither vergangen, denn liegen klingt, als könne man hingehen und es abholen. Alma wird in diesem Jahr fünfundsiebzig, und Richard feiert demnächst seinen Zweiundachtzigsten. Sie weiß, das kann man unterschiedlich deuten, denn viele würden sich beglückwünschen bei der Aussicht, in diesem Alter noch am Leben zu sein. Aber wenn man es erst einmal bis hierher geschafft und den Achtziger, den andere sich lediglich wünschen, überschritten hat, ist der Gedanke an die, die es schlechter treffen, ein schwacher Trost, denn das eigene Leben wird dadurch nicht leichter.

Seit Richards Kopf nicht mehr mitmacht, merkt man ihm den Verfall auch körperlich an. Seine Vergeßlichkeit hat den weniger unangenehmen Alterserscheinungen, die längst sichtbar waren, das Charmante genommen und sie in etwas Schrundiges und Krummes verwandelt. Richards Gang ist knieweich und absatzschleifend, und jeder Schritt bedarf einer genauen Beobachtung durch die Augen, als könnte jeder Schritt mittendrin abreißen. Für Richard bezeichnet der Tod keinen Endpunkt mehr, auf den man nach und nach zustrebt, sondern eine Bedrohung in unmittelbarer Nähe, mit der er rechnet, wenn er Pläne schmiedet, die über einen absehbaren Zeitraum hinausreichen. Richard, so er nicht auch das gerade vergessen hat (bei dem vielen, das von seiner Vergeßlichkeit betroffen ist), besitzt ein neu gewonnenes Zeitgefühl für das, was ihm an Zukunft bevorsteht. Als würde für das Errechnen der Jahre, die einem bleiben, eine kindliche Richtlinie gelten: Was sich an einer Hand nicht abzählen läßt, ist eine unbestimmbare Größe und lohnt das Nachdenken nicht. Eins zwo drei vier fünf, wenn es gutgeht, oder zurück, vier drei. Schon nicht mehr ganz so weit weg.

Alma weiß gefühlsmäßig, daß Richard in dieser Größenordnung denkt. Und obwohl er das Thema beharrlich ausklammert, weiß sie in mindestens gleichem Maß, daß für Richard die verbleibende Spanne weder hinsichtlich ihrer Länge noch ihrer Qualität Anlaß gibt, in Jubel auszubrechen — wohl einer der Gründe, weshalb ihm das Aufstehen so schwerfällt. Man sieht ihn selten vor zehn. Alma würde gerne dahinterkommen, was Richard in seinem Zimmer mit der vielen Zeit anfängt, ob ihn ähnliche Überlegungen umtreiben wie sie. Aber nach aller Wahrscheinlichkeit reicht die Kraft nicht zu mehr, als an die Decke zu starren und sich zu wünschen, daß alles auf einen Schlag besser wird: Es kommt zurück. Wenn ich nur fest daran glaube, kommt alles zurück. Alma, die nie eine Langschläferin war, zieht es bei weitem vor, den Tag sehr zeitig zu beginnen. Sie mag es, wenn sie das Haus und den Garten vier Stunden für sich hat. Mit all den Geräuschen, Gerüchen, Erinnerungen — an die Jahre, als sie in die Volksschule ging, wo auch den Kleinsten die Klassiker vorgelesen wurden: Die Menschen treiben aneinander vorbei, einer sieht nicht den Schmerz des anderen. Oder so ähnlich. Derlei Dinge kommen ihr morgens in den Sinn. Die Gedanken in der Früh tragen ziemlich weit, findet sie. Weiter als am Abend. Sie muß zugeben, daß dies eine der Ursachen ist, die sie davon abhält, Richard morgens aus dem Bett zu helfen, so schäbig ihr das manchmal vorkommt.

Sie setzt sich auf, schiebt die Beine unter der Decke hervor. Mit beiden Händen greift sie an die Bettkante, dort hockt sie, gekrümmt, den Kopf tief zwischen den Schultern, den Blick zum Schoß hin, über dem sich das Nachthemd spannt mit kleinen blauen Blumen. Nach einer Weile, während der sie sich die grauen Haare aus dem Gesicht gestrichen hat, nimmt sie den Morgenmantel vom Sessel, schlüpft hinein und tritt zum Fenster, das sie öffnet. Zwei Vögel queren den wie mit Rauch verhangenen Himmel nach Westen, dem Tag voran. Alma schaut ihnen hinterher. Dann senkt sie den Blick in einem Bogen hinunter in den Garten zum Bienenhaus, dorthin, wo sie in einer Stunde mit der Arbeit beginnen will. Die Wettervorhersage hat Besserung versprochen an allen Fronten. Die Helligkeit nimmt langsam zu. Die stellenweise von der Sonne fast schwarzen Bretter, aus denen das Bienenhaus gefertigt ist, haben sich während der Nacht zusätzlich mit Dunkelheit vollgesogen. Doch der blaßtürkise Fensterladen neben der Tür und die Flechten auf den Dachziegeln schimmern bereits in einem wasserhellen Licht, das im Bereich der Baumkronen weiter an Farbe verliert. Dann wieder das Bienenhaus, ganz plump, starr unter dem Rascheln des ausgreifenden Astes, die Seitenansicht in Pi-Form gezimmert, ein wenig irrational wie die Zahl. Alma denkt, daß dieser kleine Schuppen mit den sechs Völkern eine stets sich erneuernde Arbeit für Wochen und Monate bereithält: Schon erstaunlich.

Gestern in der Imkerzeitung der neueste Stand zum Thema Schwärmverhinderung.

Aber die verdeckelten Weiselzellen an den betroffenen Stöcken sind bereits ausgebrochen, das hat nicht viel gebracht. Weiters werden nur Gewaltmethoden empfohlen. Die Königin töten. Die Königin einsperren, entweder im Stock oder durch ein Absperrgitter vor dem Flugloch. Lauter Vorschläge, die seit Jahren jeder macht, die aber zu der Zeit, als Alma die Bienenzucht erlernte, nie erwähnt wurden. Damals hatte Alma auch jahrelang kaum einen Schwarm, und es hieß, es gebe Bienen, deren Schwarmtrieb gering ist, weil ihnen die Veranlagung fehlt.

Diese Bienen hätte Alma gerne zurück.

Sie steht jetzt im Bad und bürstet die Zähne, wäscht sich Hände und Gesicht mit kaltem Wasser, frisiert sich. In Betrachtung der dünnen Morgenfarben auf ihren Lippen muß sie daran denken, daß die Art, wie sie sich als junge Frau fühlte, bei der Arbeit mit den Bienen erhalten geblieben ist. Wenn sie dagegen im Spiegel ihr Gesicht ansieht, läßt sie innerlich immer ein wenig den Kopf hängen, und kein Gedanke kann sich dann gegen das Erstaunen behaupten, daß von der jungen Frau, die Alma einmal war, zwischen den Furchen und Runzeln kaum etwas zu erkennen ist. Auf Fotos schon, interessanterweise. Wenn sie ganz bestimmte Fotos zu einer Strecke nebeneinanderlegt, wirkt es wie die Dokumentation einer allmählich fortschreitenden Baustelle. Abends 17 Uhr: Klick, klick, klick. Aber vor dem Spiegel? Nichts. Vor dem Spiegel? Das soll ich sein? Aber ja. Ja ja ja. Schau sich das einer an. Also schön: Vor dem Spiegel, da muß sie klein beigeben. Da beschleicht sie ein tristes Gefühl, um etwas betrogen worden zu sein, das sie einmal war und jetzt nicht mehr findet. Schon abenteuerlich, wie diese Dinge nicht aufhören einen zu beschäftigen. Wenn es nach ihr ginge, sollte irgendwann eine Phase kommen, in der man resigniert und darauf verzichtet, Kompromisse mit den permanenten Verschlechterungen zu suchen. Sich anmalen ist ja doch nichts Stabiles und macht die Wahrheit nicht erträglicher, es bewirkt allenfalls, daß sich keine Gewöhnung einstellt und der Schrecken in der Früh sich ständig erneuert. Vor einigen Jahren machte Richard eine Bemerkung, die Alma nicht von ungefähr in den Ohren geblieben ist: Daß es, um glücklich zu sein, notwendig ist, die Dinge schöner zu sehen, als sie in Wirklichkeit sind, und daß diese Fähigkeit mit den Jahren nicht nur verlorengeht, sondern sich allmählich in ihr Gegenteil wendet.

So einfach.

Sie wünscht sich all diese Momente zurück, in denen sie Richard bewundert hat. Viele werden nicht mehr hinzukommen. In letzter Zeit geht es Schlag auf Schlag. Oft kann sie schon gar nicht mehr glauben, daß der Mann, mit dem sie unter einem Dach lebt, derselbe sein soll, der sie mit seiner Klugheit beeindruckte, als er jung war. Der Römer, wie ihn seine Kommilitonen nannten. Damals schien das Leben unendlich lang. Sie freuten sich auf spätere Tage und erwarteten. Aber was genau? Was sie erwarteten? Weiß sie gar nicht mehr. Und jetzt? Oft war und ist es, als ob es nicht gewesen wäre.

Anfang vergangener Woche, als Alma mit der Zubereitung eines Milchrahmstrudels beschäftigt war (Richard ißt mittlerweile so süß, daß er sauer gar nicht mehr kennt), kam er zu ihr in die Küche und beklagte sich, daß seine dritten Zähne gebrochen seien.

— Zeig her, sagte sie.

Richard nahm die obere Hälfte bereitwillig heraus und reichte sie ihr.

Wegen eines eitrigen Backenzahns waren 1955 die Feiern zur Unterzeichnung des Staatsvertrags für Richard ins Wasser gefallen. Er fehlt auf sämtlichen offiziellen Fotos und in allen Filmen. Im großen Knirschen über diese optische Absenz, mit der ihm sein Anteil an dem historischen Erfolg genommen wurde, und weil nach dem Reißen auch zwei weitere Zähne zu eitern begannen, kam Richard zu dem Entschluß, daß eine Prothese ihn vor weiterer Unbill dieser Art bewahren werde. Obwohl Alma diese Reaktion in vielerlei Hinsicht (eigentlich in jeder Hinsicht) für dumm hielt, vermochte sie ihrem Mann den einmal gefaßten Entschluß nicht auszureden. In einer Sitzung, die bis weit nach Mitternacht dauerte, ließ Richard sich beide Kiefer ausräumen. Dem Vernehmen nach schlief er trotz der Schmerzhaftigkeit der Extraktionen wiederholt ein. Die Assistentin von Dr. Adametz habe sich mehrmals darum bemühen müssen, den Herrn Minister mit Wasser aus einem Sprüher, wie man ihn zum Fensterputzen verwendet, munter zu machen. Ohne anhaltenden Erfolg, wie es hieß. Das eigentlich Komische war, wenn etwas komisch war (damals, nicht heute, heute ist manches komisch), daß Richard diese Episode bereits unmittelbar darauf hoch angerechnet bekam. Echos seines Schnarchens in der Ordination von Dr. Adametz fanden ihren Weg bis in die Zeitungen, dort brachte man sein Schlafbedürfnis (der Begriff Ohnmachten hätte diese Zustände allerdings besser bezeichnet) mit dem aufopferungsvollen Einsatz fürs Vaterland in Verbindung. Bei einer Festrede anläßlich von Richards Ausscheiden aus dem Amt wurden seine Zähne sogar mit Außenminister Figls Leber verglichen, die dieser sich bei den Verhandlungen mit den Russen ruiniert habe. Ein gewisses Maß an Ironie wird schon dabeigewesen sein, Alma geht davon aus.

— So ein Krempelwerk, schimpfte Richard in der vergangenen Woche. Er schien ziemlich geladen.

— Jetzt beruhig dich doch, sagte Alma. Sie drehte die obere Hälfte der Zähne behutsam zwischen den Fingern.

Es war noch immer dieselbe Prothese, in den fünfziger Jahren teuer wie ein Moped, österreichisches Handwerk, gestützt auf Erkenntnisse aus der noch jungen sowjetischen Weltraumtechnik. Das befremdliche Elaborat war trotzdem nicht für die Ewigkeit geschaffen, und ab Mitte der siebziger Jahre unternahm Alma verschiedentlich dezente und weniger dezente Versuche, Richard zu einem neuen Modell zu überreden. Aber er stellte sich taub. Dabei tat er sich mit den Zähnen oft schwer, und anfallsartig behauptete er, sie paßten nicht aufeinander. Häufig trug er sie statt im Mund in der Hosentasche, hie und da setzte er sich drauf, aber leider fiel nie etwas Ärgeres vor.

Als er diesmal kam, hoffte Alma, daß die Epoche der Staatsvertrags-Zähne endlich vorbei sei. Doch die verlangte Begutachtung führte lediglich zu der Feststellung, daß die von Richard beargwöhnten Sprünge nichts weiter waren als die dem Gaumen entsprechenden Erhöhungen und Vertiefungen.

— Von kaputt kann keine Rede sein. Abgenutzt und schlecht gepflegt, das allerdings.

— Was willst du damit sagen? fragte Richard. In seinen Augen ein Ausdruck unsäglicher Verwunderung und das zur Gewohnheit gewordene Mißtrauen, als gebe er sich inmitten der Disteln und Dornen dieser Welt redlich Mühe zu begreifen, was Alma im Schilde führt.

— Na, daß du dich ehrlich freuen kannst. Was das Mechanische anlangt, sind deine Zähne nach nahezu dreißig Jahren noch immer tadellos. Wir könnten uns glücklich schätzen, wären wir nur halb so unsterblich.

— So ein Quatsch. Ich finde, ich hätte mir wünschen dürfen, daß sie noch ein paar Jahre halten.

Alma versuchte ihm nüchtern und in kurzen Worten beizubringen, einerseits was es mit den Furchen, andererseits was es mit den diversen Belägen auf sich habe, bräunlichen Ablagerungen in allen Schattierungen, die vorne wie Korrosionsflecken aussahen und sich in den hinteren Regionen mit den Stockzähnen zu einer einzigen Masse verklumpt hatten. Ihren Widerwillen hielt sie aus dem, was sie sagte, heraus. Trotzdem trugen ihr ihre Deutungen mitleidige Blicke, abschätzige Handbewegungen und gönnerhafte Repliken ein, die alle auf dasselbe hinausliefen, daß in ihrem Kopf nicht allzuviel los sein könne.

Das ist überhaupt so eine fixe Idee von ihm. Alles, was sie sagt, ist am Ende lächerlich oder banal oder überdreht. Davon verstehst du nichts, hört sie dann meistens. Und dazu dieses siebengescheite Minister-Getue. Immer das gleiche. Wie oft schon. Sie reagiert gar nicht mehr darauf, denn jede Widerrede wird mit dem unweigerlichen Standardargument quittiert, daß sie (Alma) an Verfolgungswahn leide. Was soll’s. Es lohnt sich nicht. In so eine Rolle wächst man mit der Zeit hinein. Sie begnügt sich damit, es sich selbst zu erklären, daß Richards Haltung eine Spezialität der Männer ist, die noch vor dem ersten Krieg geboren sind, nicht nur von denen, aber von denen ganz besonders. Es hat mit dem zu tun, was diese Männer als Buben in den sogenannten guten Häusern und in der Schule gelernt haben: Daß Frauen haushalten sollen, ab und zu im Bett funktionieren (aber nicht zu oft und wenn, dann im Schweinsgalopp) und daß zum Kinderkriegen und — großziehen Intelligenz nicht erforderlich ist, weil das nötige Hirnschmalz durch die sporadische Anwesenheit des Haushaltsvorstandes eingebracht wird. Oder durch reine Gedankenübertragung, da der Mann mit den Kindern ja ohnehin nicht redet. Was aber Entscheidungen, Finanzen und technische Dinge anbelangt, haben Frauen das Maul zu halten, ja. Klappe. Daß Alma das viel zu oft getan und damit mehr als nur einen Fehler begangen hat, merkte sie erst, als es zu spät war. Das erste Mal 1938, kurz nach dem Anschluß, als Richard aus nie ganz klargewordenen Gründen das Wäschegeschäft ihrer Mutter an eine Handelskette abgab und den Namen Arthofer aus dem Register streichen ließ, obwohl zur selben Zeit auch die vielen jüdischen Geschäfte zur Übernahme gestellt wurden und das Gerangel um die besseren Lagen begann. Daß Richard weder zu den neuen Herren noch zur reichsdeutschen Strumpfindustrie wechseln wollte, hat Alma ihm nicht so recht abgenommen. Hinter eventuelle andere Gründe ist sie allerdings auch nie gekommen. Was da bloß dahintersteckte? Irgendein verschwiegener Ausdruck von Eigensinn, der sich mit einer beeindruckenden Zeitverzögerung von fast zehn Jahren wenigstens für Richard bezahlt gemacht hat. Spät, aber doch. Richard mußte nie für die Jahre vor 1945 Rechenschaft ablegen, als es um seine Karriere ging. Lediglich Almas Interessen blieben auf der Strecke, wenn auch der Verkauf des Wäschegeschäfts durch den fast gleichzeitigen Erwerb von Dr. Löwys Bienenhaus teilweise kompensiert wurde, eine neue Beschäftigung für die Gattin, ohne besondere Ansprüche und noch dazu im eigenen Garten.

— Diese Zähne sind gebrochen, das ist schade, sie sind erledigt, sagte Richard mit wichtiger Miene.

— Sind sie nicht. Aber von mir aus kannst du sie trotzdem gerne der Mission vermachen.

— Dein Spott ist genau das, was mir fehlt. Gib sie mir zurück. Ich werde mich selbst drum kümmern.

— Warum kommst du zu mir, wenn dich meine Meinung nicht interessiert?

— Weil ich, wie die Dinge liegen, keine guten Ratschläge, sondern einen Termin beim Zahnarzt brauche.

— Der wird dir auch keinen anderen Bescheid geben als ich. Es gibt keine Sprünge. Zeig mir, wo sind sie?

— Sprünge halt.

Richard streckte weit die offene Hand aus, während er die andere, wie schon die ganze Zeit, vor den karpfenhaft eingefallenen Mund hielt.

— Gib sie mir zurück, du verstehst nichts davon.

Alma war eigenartig berührt, wie sie Richard dastehen und aufrichtige Zweifel äußern sah, daß ausgerechnet seine Frau ihm bei seinen Problemen behilflich sein werde. Da er sich so stur und unfreundlich gebärdete, hatte auch sie wenig Grund, netter zu sein. Er soll sich gefälligst zusammenreißen. Aber gleichzeitig erinnerte sie sich daran, was für ein armer Kerl er war und daß er die Dinge niemals mehr so sehen würde wie sie. Die Zeit des Begreifens war für ihn vorbei, statt dessen gab es jetzt Verunsicherung und, was schwerer wog, Zorn über diese Verunsicherung. Alma hatte schon oft die Beobachtung gemacht, daß in Situationen, in denen Richard Schwäche zeigen mußte oder wenigstens nicht auftrumpfen konnte, es meist nicht lange dauerte, bis er innerlich die Fäuste ballte. Die allerersten Postkarten, die Peter an Ingrid geschickt hatte und die in Morsezeichen abgefaßt waren, ein arabisch anmutendes Gewimmel aus Strichen und Punkten, kurz lang kurz, kurz kurz, lang kurz kurz, lang kurz lang, lang lang kurz. Viel konnte nicht draufgestanden haben, liebe Grüße aus Soundso das Wetter hier ist soundso, aber es hatte komischer ausgesehen als nur liebe Grüße aus Soundso das Wetter hier ist soundso.

(Und das in einem Land, in dem Postkartengrüße aus höchstens fünf Worten jahrzehntelang mit einer Portoermäßigung belohnt wurden, als ob die Wörter auch für den Postboten Gewicht hätten, als ob man an Staatsbürgern interessiert sein müsse, die für eine Ersparnis von zwei Schillingen darauf verzichten, mehr mitzuteilen als nur Mama, mir geht es gut!)

Richard hatte sich bei den für ihn kryptischen Zeichen weiß der Kuckuck was gedacht: Jemand, der eine solche Idee hat, kommt auch auf andere Ideen. Mal angenommen. Heimlichkeiten. Schlurfige Späße. Was kann so einer wollen? Noch ehe Peter sich persönlich vorstellen kam, war er bei Richard unten durch. Ingrid, ganz Tochter des Vaters, stellte ebenfalls auf stur. Der Rest war dann Draufgabe.

Alma reichte Richard seine Zähne in die ausgestreckte Hand. Während er sich diese in einer kruden Mischung aus Skepsis und Gier klappernd in den Mund schob, winkte sie ab, ruhig:

— Laß gut sein. Ich werde Dr. Wenzel anrufen.

Sie sagte nichts weiter, sah Richard noch einen Moment lang an, ohne Groll, sie wusch sich die Hände sehr gründlich mit einem kleinen Stück zitronenduftender Hirschseife. Sie dachte an gelbe Seerosen, die auf dem Wasser eines Zahnglases schwimmen, als kleine Idee für einen Roman, wie sie es um Ostern herum gelesen hatte, ganz nett, wirklich recht nett. Da war ein Glas mit dritten Zähnen von Wasserpflanzen überwachsen worden. Doch schon beim Lesen hatte Alma an Richard denken müssen, und auch während des Händewaschens sah sie einen Augenblick lang schleimige Algen, Muschelbewuchs und langsam sich setzenden Fischkot. Sie schüttelte vor sich selbst den Kopf. Brr! Alles, was recht ist. Befand nach kurzem Überlegen aber, entschuldigt zu sein, einerseits wegen Richards Ahnungslosigkeit, daß die Zähne gereinigt gehören, andererseits weil auch sie selbst sich nach solchen Gesprächen immer fühlte, als hätte sie sich das Gehirn verstaucht.

— Ich kann mit einem Termin rechnen? fragte Richard.

Alma nickte. Sie trocknete sich zögernd die Hände an einem Geschirrtuch ab, und ehe sie die Zubereitung des Mittagessens wiederaufnahm, blickte sie Richard hinterher. In seiner knieweichen Manier schlurfte er aus der Küche. Es schien ihr, der Ausgang der Diskussion befriedige ihn und er schöpfe daraus eine gewisse Genugtuung. Soll er. Dabei hatte sie ihm den Namen des Hausarztes statt den des Zahnarztes genannt, es schien ihn nicht zu stören.

Am darauffolgenden Tag war Richard um halb zehn noch immer nicht aufgestanden. Alma erinnerte ihn mit Klopfen an seine Tür an den Arzttermin, da sagte er, er empfinde für Ärzte keine Anhänglichkeit, die würden ihm ja doch nur bescheinigen, daß er zum alten Eisen zählt. Auf Almas Nachfragen rückte er damit heraus, daß er im Bett bleiben wolle, er fühle sich nicht besonders. Nähere Angaben zur Art dieses Unwohlseins machte er nicht, und er ließ sich auch nicht dazu bewegen, seine Tür zu öffnen.

Es war nicht das erste Mal, daß Richard seine Pläne wegen eines plötzlichen Anflugs von Willensschwäche unter dubiosen Vorwänden aufschob. Doch da Richard sich seit einigen Jahren immer einsperrte, bekam es Alma mit der Angst zu tun. Sie dachte, womöglich ist er ernsthaft krank und spielt es herunter, weil Krankheit für einen Mann wie ihn eine schwer zu ertragende Schande ist, vergleichbar mit mutwilliger Sachbeschädigung. Dem Tonfall nach, fand sie, grantelte er auch überraschend wenig. Das schien ihr ein weiteres schlechtes Zeichen. So war es nur konsequent, daß sie Dr. Wenzel anrief und ihn bat vorbeizukommen.

Dr. Wenzel traf zwanzig Minuten später ein, klopfte einmal kräftig an Richards Tür und nannte nach einer wohlkalkulierten Pause mit lauter Stimme Beruf und Namen, was Richard beeindruckte. Er öffnete die Tür bereitwillig (beflissen, diensteifrig) und sagte:

— Besten Dank, daß Sie gekommen sind.

Er war im offenen Schlafrock und sah erschöpft aus. An seinem Pyjama zeichneten sich große Schweißflecken ab, als bedeute Schlafen und Im-Zimmer-Sitzen für ihn eine anstrengende Arbeit. Alma tat es weh, ihn so zu sehen, so abgezehrt und mitgenommen. Richtig versackt sah er aus. Ein Bild des Jammers. Deshalb und um ihm die Sache ein bißchen leichter zu machen, verzog sie sich nach unten.

Dr. Wenzel blieb eine ganze Weile bei Richard. Das Gespräch dauerte gut fünfzehn Minuten, in der Zwischenzeit flickte Alma ihre Regenhaut, die linke Ärmelnaht war gerissen. Als Dr. Wenzel wieder herunten war, berichtete er, das Gespräch habe vor allem die eine Aussage gebracht, daß Richard sich den Kopf zerbreche, wie er zu Geld kommen könne. Richard wisse nicht mehr, daß er nur auf die Bank gehen und von seinem Konto abheben müsse, soviel er wolle.

Dr. Wenzel sagte:

— Es ist ein Jammer. Irgendwann verläßt einen die Kraft. Man möchte es nicht für möglich halten. Ein Minister a.D.

— Adé, wie’s die Sieben Schwaben sagen. Auf Wiedersehen, servus.

Zum Beispiel, wenn er auf Dienstreise gefahren war: Auf Wiedersehen, Richard. Auf Wiedersehen, Alma, baba.

Dr. Wenzel erläuterte, daß Richard sehr wohl wisse, wie sehr er momentan mental im Eck sei (Richards eigene Worte). Richard befinde sich in einer Grauzone zwischen dem Ist-Zustand, den er verständlicherweise ablehne, und der Leistungsfähigkeit von früher, an die er sich in Schreckmomenten erinnere, von der er auch eine Vorstellung besitze, doch ohne daß daraus abzuleiten wäre, wie eine Besserung der Situation herbeigeführt werden kann. Er verfüge noch über die theoretische Kenntnis seiner einstigen Möglichkeiten, das bringe ihm die gegenwärtigen Mängel um so stärker zu Bewußtsein. Vermutlich deshalb habe er in erster Linie von den glorreichen alten Zeiten erzählt und sich über die Gegenwart nur beiläufig und voller Zorn und Verbitterung geäußert.

— Am besten, Sie schaffen sich schön langsam ein dickes Fell an, riet Dr. Wenzel.

— Das ist leicht gesagt, aber auf Dauer nicht immer möglich. Mit der Zeit greift das entschieden die Nerven an.

— Sie dürfen es nicht allzu ernst nehmen.

— Na, man wird sehen. Ich gebe mir jedenfalls Mühe.

Dr. Wenzel verabschiedete sich. Sowie er das Haus verlassen hatte, kam Richard herunter, zum Weggehen gekleidet, mit zwei Anzugjacken übereinander. Die Jacken waren farblich aufeinander abgestimmt und machten Richard in den Schultern recht imposant. Er telefonierte mit Frau Ziehrer, seiner langjährigen Sekretärin, wann er sie besuchen dürfe.

— Das ist hervorragend. Dann komme ich bis in einer Stunde.

Alma, die mittlerweile mit allem rechnete, befürchtete, daß Richard Frau Ziehrer bitten werde, mit ihm eine Bank aufzusuchen. Also fragte sie ihn:

— Wohin willst du?

— Einen Besuch machen.

— Aber dafür brauchst du keine zwei Anzugjacken.

Es gelang ihr nach einigem Hin und Her, ihm die zweite Anzugjacke abzujagen. Da sagte er mürrisch:

— Da du mich jetzt so lange aufgehalten hast, muß ich den Wagen nehmen.

— Vergiß bitte nicht, daß auf deiner Kraftfahrzeugssteuerkarte die Steuermarken für den letzten und diesen Monat noch nicht geklebt sind.

Seine Augen wurden wieder groß.

— Auf deiner KFZ-Karte! Die Steuermarken! wiederholte Alma.

— Bei mir verstärkt sich der Eindruck, du erfindest das nur, um mich zu ärgern und weil ich im Moment knapp bei Kasse bin.

Sie zeigte ihm ihre eigene Karte:

— Die gleiche gibt es für deinen Wagen.

Der Groschen fiel wieder nicht, und als Richard in doppelter Lautstärke seinen Verdacht erneuerte, das sei alles nur, um ihn zu ärgern, ließ Alma das Thema fallen, eingedenk des sachdienlichen Rates, den Dr. Wenzel ihr vor wenigen Minuten gegeben hatte, sie solle Richard im Zweifelsfall nicht allzu ernst nehmen. Na gut. Des Lebens Abendröte. Sie sagte sich: Ich muß schön langsam anfangen umzudenken. Am besten, ich schicke ihm eine Streife hinterher. Er gibt ja selbst zu, daß er Abstände nicht mehr richtig einschätzen kann. Außerdem habe ich vor einigen Wochen beobachtet, wie er beim Salatessen mehrmals Anstalten machte, eine auf den Teller gemalte Blattverzierung auf die Gabel zu laden. Erst nach dem dritten oder vierten Versuch begriff er, daß der Teller leer war.

Alma ließ Richard gewähren, sie tat so, als würde sein Weggehen ihr schon nichts mehr ausmachen.

— Wo ist mein Hut? wollte er wissen.

— Am Garderobenhaken, sagte sie mit Nachsicht.

Und wenig später, wohlwollend:

— Paß auf dich auf.

Aber noch während sie den Wagen die Auffahrt hinunterrollen hörte, rief sie bei der Polizei an mit der Bitte, man möge Richard den Führerschein wegnehmen. Dann Anruf bei der Kammer, wo man ihr mitteilte, daß Frau Ziehrer frei habe. Sie probierte es bei Frau Ziehrer zu Hause. Erfolgreich. Alma sagte, daß sie — bevor sie ihre Bitte ausspreche — einiges erzählen wolle, so, daß Richard überall behaupte, sie (Alma) nenne ihn Mörder. Und daß er beim Weggehen zwei Anzugröcke übereinander anziehen wollte mit der Begründung, daß er nichts anderes habe. Zuletzt kam sie zum Eigentlichen und bat Frau Ziehrer, sie solle ihr die Demütigung ersparen, mit Richard auf die Bank zu gehen, falls er sie darum ersuchen sollte.

— Sie wollen damit sagen, der Herr Doktor ist deppert.

— Ich habe dieses Wort nicht gebraucht.

— Nein, gebraucht nicht, aber Sie haben mir den Herrn Doktor so beschrieben, daß ich es bei mir nicht anders als mit deppert zusammenfassen kann. Und wie ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war nichts zu merken, das auf einen Zustand schließen ließe, wie Sie ihn schildern. Sie haben nicht immer recht, Frau Doktor Sterk. Schon vor Jahren war ich schockiert, als Sie dem Herrn Kommerzialrat Lonardelli sagten, Ihr Mann wisse nicht mehr, was er rede.

Frau Ziehrer hielt Alma eine minutenlange Predigt mit Vorwürfen, daß Alma die Spucke wegblieb. Als auch Ingrid darin vorkam, Alma hätte seinerzeit das Briefgeheimnis verletzt, als sie Richards Brief an Peter gelesen habe, legte Alma auf. Sie fand, solche Anschuldigungen müsse sie sich nicht gefallen lassen. Immerhin (sollte man annehmen) wird auch Frau Ziehrer Richards Gedächtnislücken bemerkt haben. Die sind groß genug, so was kann man nicht übersehen. Oder doch? Nein. Alma schüttelte wiederholt den Kopf, schockiert über soviel Haß und Verdrehung. Sie bereute das Gespräch aber nicht. So sah sie immerhin, wie richtig Richards Ausspruch war, der bei ihr seinerzeit mehr Verwunderung als Zustimmung ausgelöst hatte: Daß man die Fehler, die man selbst begeht, den Leidtragenden nicht verzeiht.

Stimmt: Richard verzeiht ihr nicht, daß er sich ihr nie anvertraut hat und jetzt krampfhaft seine Vergeßlichkeit vor ihr verbergen muß. Frau Ziehrer verzeiht ihr nicht, daß sie fortwährend Almas Vertrauen mißbraucht mit ihrem hinterfotzigen Getue. Und Richards Schwester Nessi verzeiht ihr nicht, daß sie (Nessi) eine Erbschleicherin ist und ständig zugunsten ihrer Kinder Richards Konten plündert, obwohl es längst kein Geheimnis mehr ist, daß sie Richard über die Höhe ihrer Witwenpension belogen hat.

Was gibt es dazu noch groß zu sagen?

Unterm Strich, weiß Gott: Von gut ist das alles weit entfernt.

Alma unterbricht die Arbeit an den Absperrgittern, weil sie gerade von einer zweiten Biene gestochen wurde. Auch dieser Stich nahezu an derselben Stelle des Schienbeins, wo es nicht gerade angenehm ist, vor allem, da die Stiche, so kommt es Alma vor, bis auf die Beinhaut gegangen sind. Alma hat eine handtellergroße Rötung, die stark geschwollen ist, und es tut auch weh. Mit einem Futterballon in jeder Hand hinkt sie Richtung Werkstatt, wo sie die Stiche mit Salbe versorgt. Nachdem sie fünf Minuten auf dem Sessel verschnauft hat, schleudert sie das halbe Dutzend Waben, das seit fast einer Woche in der Werkstatt liegt. Richard hat Alma während dieser Zeit so sehr in Atem gehalten, daß sie zu nichts gekommen ist. Nach dem Schleudern begutachtet Alma noch einmal ihren Unterschenkel. Die Geschwulst hat sich weiter vergrößert. Alma nimmt an, daß mindestens einer der Stiche in ein empfindliches Gefäß gegangen ist. Jetzt schmerzt auch das Knie und ein wenig alle anderen Gelenke, entweder durch die Vergiftung selbst oder, was Alma eher glaubt, weil das Gift Hand in Hand mit der Wetterlage den Blutdruck so gesenkt hat, daß die Abfallstoffe aus den Gelenken nicht mehr abtransportiert werden. Da es schon auf halb elf zugeht, verordnet Alma sich eine Stunde Ruhe. Zwar wollte sie vor dem Mittagessen noch die Fuchsien und Usambaraveilchen spritzen beziehungsweise abpinseln, sie hat diese bereits gestern in die Pergola getragen, damit sie die Blumen bis in einigen Tagen nicht von Blattläusen zugrunde gerichtet findet. Aber wie die Dinge liegen, wird sie sich diese Aufgabe und auch die Behandlung der Ameisen, die die Blattläuse verteilen, für den frühen Nachmittag aufsparen müssen. An eine Fortsetzung der Arbeit an den Bienenstöcken ist sowieso nicht zu denken, denn die steigenden Temperaturen werden die Biester nicht friedlicher machen.

Im unteren Stockwerk ist von Richard nichts zu sehen. Als Alma die Küche betritt, um sich einen Dunstumschlag mit Essigwasser zu machen, bemerkt sie immerhin, daß Richard schon aufgestanden ist. Am Küchentisch liegt der Stellkalender von der Sparkasse mit einem auf der Rückseite des Vorwochenblattes aufgesetzten halbfertigen Telegramm. Darin bittet Richard seinen Freund Loisl um eine Familienhelferin.

Lieber Loisl stop habe die große Bitte stop um Bereitstellung einer Familien

Dann stockt der Text, weil Richard offenbar nicht mehr wußte, wie man helferin schreibt. Er hat ein halbes Dutzend Varianten probiert, muß über diese Versuche aber selbst dermaßen entsetzt gewesen sein, daß er das Geschriebene immer wieder mit einer solchen Gründlichkeit durchgestrichen hat, daß das Papier von der Mine des Kugelschreibers an mehreren Stellen aufgerissen wurde. Tiefe, kreuz und quer laufende Kerben haben sich in die darunterliegenden Blätter eingefurcht. Irgendwann hat Richard die Versuche aufgegeben. Alma hofft, daß damit das ganze Vorhaben eingeschlafen ist (wozu eine Familienhelferin? und was, bitte, hat Loisl damit zu tun?). Aber sie hält es nicht eigentlich für wichtig, eher für etwas Zufälliges, aus dem sich (vermutlich) nichts ableiten läßt. Alma hat schon länger keine Lust mehr, sich über derlei Dinge den Kopf zu zerbrechen.

Sie reißt das Blatt vom Kalender herunter und zerknüllt es. Aus den Augen, aus dem Sinn; was in erster Linie für Richard gelten soll. Sie nimmt ein Aspirin und zur Sicherheit auch ein Pyramidon. Dann streckt sie sich im Wohnzimmer auf der ledernen Ottomane aus, die schon ganz ausgedorrt ist und staubig riecht. Unter den sich im Wind wellenden Vorhängen und trotz des Tickens der Uhr und des sausenden Geräuschs, das der Perpendikel beim Hin- und Herschwingen erzeugt, schläft Alma augenblicklich ein. Dabei träumt sie von Ingrid, und zwar so plastisch, daß sie nach dem Wachwerden noch eine Weile liegenbleibt, um den Traum nachwirken zu lassen. Sie befürchtet, daß die Bilder, wenn sie aufsteht, schneller verblassen, und daß auch das Glück rascher abklingt, das sie empfindet, weil sie ihre Tochter gesehen hat ohne das Gefühl, Ingrid lebe nicht mehr.

In dem Traum ging Alma mit Richard und Ingrid, die etwa fünfzehn war, durch Moos bei einer bestimmten Brücke am Mauerbach, die es leider nicht mehr gibt. Man hatte von dort einen Blick auf den Tulbinger Kogel, und im tiefen Wasser unmittelbar unter der Brücke standen immer Forellen. In dem Wasser schwamm plötzlich auch Ingrid. Alma freute sich an den kräftigen Bewegungen und an dem schön gebauten Körper und dachte (wie schon öfters): Da gibt es Leute, die behaupten, dieses wunderbare Mädchen sei tot. Ingrid sprang aus dem Wasser und stand wieder auf der Brücke mit ihrem zurückhaltenden Lächeln, das sie hatte, wenn sie sich über etwas besonders freute. Sie schien Alma größer und schlanker als zuletzt, nur im Gesicht war sie vielleicht ein bißchen voller. Sie trug ihren Roßschwanz und eine Bluse, die an ein Modell erinnerte, das Alma ihr einmal zu Weihnachten geschickt hatte, mit Blumenmuster und in dem Baumwollkrepp, der jetzt wieder modern ist. Alma betrachtete Ingrid und war glücklich, wie innerlich strahlend das Mädchen aussah. Sie sprach Ingrid an: Wie schön, daß du auch wieder einmal gekommen bist, wir haben uns seit deiner Hochzeit nicht gesehen.

Was dann weiter war, weiß Alma nicht mehr, jedenfalls ist sie nicht gleich aufgewacht. Aber danach war nicht das traurige Gefühl vorherrschend, ach, sie ist ja tot, sie ist ertrunken, deshalb hast du sie schwimmen gesehen. Sie empfand vielmehr das Glück, einem Menschen, dem man schon sehr lange nicht mehr begegnet ist, plötzlich gegenübergestanden zu sein und dabei das tröstliche Gefühl zu haben: Sie hat mich nicht vergessen, es liegt ihr also doch noch etwas an mir.

Eigenartig ist, daß Alma erst ein halbes Jahr nach Ingrids Tod angefangen hat, von ihr zu träumen, und daß diese Träume seither anhalten. Auch von Otto hat sie früher oft geträumt, meistens, daß er aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, wo er nie war, weil er mit seinen vierzehn Jahren für die Gefangenschaft viel zu jung gewesen wäre. Diese Träume gingen bis ins Jahr 1957, dann hörten sie plötzlich auf.

Einmal, sie sieht es noch heute, kam Otto über Ungarn, es war der letzte Traum, den sie von ihm hatte, der stand mit dem ungarischen Aufstand in Verbindung. Sie hörte Schritte. Wer kann jetzt kommen? Es war Otto, er trug seine blonden Haare wieder wie damals, bevor sie ihm beim Jungvolk auf Zündholzlänge geschnitten worden waren. Unter seinen Bubenaugen hatte er blauschwarze Schatten, wie man es von den Heimkehrern aus der Austria-Wochenschau kannte. Alma fragte ihn: Bub, und bist du jetzt wirklich zurückgekommen, und ist es kein Traum wie schon so oft? Da sagte er: Mama, ich bin über Ungarn hergekommen, ich bin erleichtert, daß ich da bin bei euch, es ist wirklich kein Traum. Ich bleibe zu Hause.

Jetzt hingegen lebt Alma in einem Zustand, als ob all das, was gerade vorfällt, sich nur im Schlaf zutragen könne. Immer wieder glaubt sie, aufwachen zu müssen, aber es ist umsonst, denn ihre Träume spiegeln immer Wünsche wider und nicht Ängste. Daran erkennt sie im Zusammenleben mit Richard auch leicht, daß sie wach ist. Zwicken hilft nichts, davon würde sie nur noch wacher.

Sie setzt sich auf. Seit einigen Minuten dreht Richard krisenhaft am Radio in der Küche, ohne länger als eine Sekunde in einen Sender hineinzuhorchen. Er muß die Ortsnamen am betreffenden Band schon mindestens drei- oder viermal auf ihr Repertoire an atmosphärischen Störungen geprüft haben, vermutlich um auf diese Weise darauf aufmerksam zu machen, daß er es von Kind auf gewohnt ist, um Schlag zwölf sein Mittagessen serviert zu bekommen. Alma beugt sich über ihr Bein, das wesentlich besser aussieht als noch vor einer Stunde. Sie stemmt sich hoch, geht langsam Richtung Küche. Immerhin, nach der Begegnung mit dem jüngeren ihrer Geisterkinder fühlt sie sich auch innerlich hinreichend wiederhergestellt, den Alltag mit Richard durchzustehen.

— Wonach suchst du? fragt sie ihn.

— Nach nichts. Vielleicht nach einem schönen Platzkonzert. Nach Marschmusik.

Aber gleichzeitig dreht Richard das Radio ab, und anstatt die Küche zu verlassen, wie er es sonst immer macht, wenn Alma kommt, setzt er sich an den Tisch zu einem Kaffee, den er sich selbst gekocht hat.

Alma merkt, wie ihre Anspannung steigt. Allein Richards Gegenwart beschleunigt ihren Puls, daran ändert auch nichts, daß Richard im Moment einigermaßen auf der Höhe zu sein scheint. Damit er kein Gespräch anfängt, macht sie viel Lärm mit den Töpfen. Das hat den Nachteil, daß die Bilder von Ingrid sich weiter zurückziehen, viel zu schnell, wie auch die Jahre damals zu schnell verstrichen sind. Alma hatte den Kontakt zu Ingrid wieder anschubsen wollen und immer gedacht, daß noch ausreichend Zeit bleibt. Aber in Wahrheit, wenn sie zurückschaut, muß sie sich eingestehen, daß es mehr Mut oder wenigstens mehr Antrieb verlangt hätte, als sie seinerzeit besaß. Dann war plötzlich auch Ingrid tot.

Die Briefe fallen ihr wieder ein, die sie von Ingrid in ihren letzten Jahren erhalten hat. Das gute Gefühl bricht endgültig weg. Alma fragt sich, wo sie die Briefe hingetan hat. Seit einigen Jahren findet sie sie nicht mehr, trotz mehrfachen Suchens, sie hat sie zu gut versteckt.

— Wie geht es dir? fragt Richard in eine Pause der Küchengeräusche hinein.

— So weit, so gut.

— Als ob das eine Aussage ist.

Alma dreht sich zu ihrem Mann hin. Sie würde ihm gerne von ihrem Traum erzählen, aber solche Ereignisse unterschlägt sie normalerweise, ohne daß sie einen konkreten Grund dafür angeben könnte. Vielleicht, weil es irgendwie ausgemacht ist, daß über die Kinder nicht viel geredet wird. Wo sind die beiden jetzt? Kann das jemand sagen, wenn er sein ganzes Wissen zusammennimmt? Vermutlich nicht. Vor allem ist Almas Bereitschaft, Dinge vor allem deshalb zu glauben, weil sich darin Trost finden läßt, eher gering. Wäre ja auch blödsinnig. Wenn in der Abwasch ein Glas verrutscht oder wenn es für Schritte im oberen Stockwerk keine einfache Erklärung gibt: Ist Otto jetzt doch noch zurückgekehrt? Nein. Sucht Ingrid nach ihren Lieblingshaarspangen, die sie bei ihrem überstürzten Weggang vergessen hat und die noch immer mit anderem Krimskrams in einer der Schubladen im Bad liegen? Nein. Und noch mal nein. Nein.

— Wie wird es mir schon gehen? sagt Alma.

Mit einer Handgeste bittet Richard sie, sich zu ihm an den Tisch zu setzen. Er läßt die Hand ausgestreckt, bis er sicher ist, daß Alma seiner Bitte nachkommt. Sie schenkt sich ebenfalls eine Tasse Kaffee ein. Als Richard sich eine Zigarette anzündet, schließt sie sich auch darin an, weil es selten genug vorkommt, daß sie gemeinsam am Tisch sitzen und sich unterhalten.

— Ich glaube, ich bin schon halb hinüber, sagt Richard.

— Wir werden beide alt, und das Alter ist zu keinem freundlich. Also mach dir nicht allzuviel draus.

(Aber sie hat bestimmt leichter reden als er.)

— Meines ist besonders unfreundlich. Das Leben hat es in diesem Punkt wirklich nicht sonderlich gut mit mir gemeint.

(Alma ist immer wieder erstaunt, wie wenig Mühe es Richard zwischendurch bereitet, über allgemeine Dinge zu reden, während er gleichzeitig weder Monat noch Tag nennen könnte. Sie hat keine Erklärung, warum das so ist.)

— Aber wir werden trotzdem nicht darüber streiten, ob du’s besonders schlimm getroffen hast. Vielleicht sind das gar keine so schlechten Erfahrungen, schlecht schon, natürlich, aber hoffentlich nicht unnütz.

(Weisheiten, die zu keinen Weisheiten führen, die man trotzdem mit Gleichaltrigen wechselt, um einander zu beruhigen.)

— Ich wüßte nicht, wozu es gut sein sollte. Vom Kranksein wird man alt, und vom Altsein krank, und von beidem zusammen stirbt man. Am schlimmsten ist, daß man mich daheim und in der Schule nicht darauf vorbereitet hat. Aufs Sterben schon. Aber vor dem davor hat mich keiner gewarnt, obwohl das Sterben das wenigste sein dürfte.

(Es ist seit langem das erste Mal, daß er das Wort Sterben ohne Angst benutzt.)

— Ich hab es mir auch anders vorgestellt, bevor ich erwachsen war.

(Sie lacht, aber nur kurz, unsicher.)

— Sehr richtig, so ist es. Ich habe es mir auch anders vorgestellt.

(Sie denkt: Ich hätte mich gerne mal mit ihm über seine Jugend im Verhältnis zu meiner unterhalten. In Meidling führte ich ein fast ebenso freies Leben wie die Halbwüchsigen heute, jedenfalls im Vergleich zu ihm. In seiner oberklerikalen, reichen Familie hatte er ja so gut wie keine Spielräume.)

— Darf ich dich etwas fragen? sagt er.

— Was liegt dir auf der Seele?

(Sie beobachtet Richard, der dem Tabak seiner Zigarette beim Verglühen zusieht, als empfange er von dort seine augenblickliche Inspiration. Er redet, ohne aufzusehen:)

— Ich würde gerne wissen, wann das beginnt, daß man den Kopf nicht mehr rechts und nicht mehr links wenden kann. Beginnt das plötzlich, oder schlittert man da hinein, ohne es zu merken?

— Der Beginn ist schleichend, nehme ich an. Links geht es vielleicht noch bergauf, während es rechts schon bergab geht.

(Sie legt einen Moment lang ihre Hand auf seine und drückt sie. Botschaften, die von den Fingerspitzen ausstrahlen.)

— Es ist, sagt er, als hätte ein Magnet den Kompaß ruiniert. Es gibt doch diese Stellen im Ozean, an denen die Kompaßnadeln zu rotieren beginnen.

(Weshalb dann die Schiffe, an deren Kurs sich irgendwann niemand mehr erinnert, den Launen des Wetters überlassen bleiben. Aber das traut Alma sich nicht zu sagen. Wie sie auch nicht erwähnen will — obwohl es ihr in den Sinn kommt —, daß es einen Teil des atlantischen Ozeans gibt, den tropischen Teil, den die Spanier el Golfo de las Damas nannten, weil dort die Schiffahrt so leicht war, daß selbst die zartesten Hände das Steuer führen konnten. Gibt es das auch im Leben? Das müßte schön sein. Ein Damenmeer. Und wann wäre das bei Richard und ihr gewesen? Wo fing es an und wo hörte es auf? Und wie gestalteten sich die Übergänge? Abrupt oder mit einer langsam aufkommenden Brise? Sie versucht sich in die fraglichen Zeiten zurückzuversetzen. Sie schließt die Augen, und es tauchen Kindheitserinnerungen auf. Kindheit gilt nicht, überlegt sie, Kindheit ist ohnehin immer viel zu schnell bei der Hand, es müßte später gewesen sein. Müßte. Denn glücklich war sie auch später oft, nehmen wir nur, als Ingrid ihre erste Regel bekam. Aber unbeschwert?)

— Weißt du noch, sagt sie, wie vor dem Ersten Krieg im Sommer immer der Spritzwagen in die Gassen kam? Daran könntest du dich erinnern.

(Ein ganz gewöhnliches Ereignis: ein von zwei starken Pferden gezogenes riesiges Faß auf vier Rädern mit reichlich an der Hinterseite ausströmendem Wasser. Mit diesem Wasser wurde an heißen Sommertagen die staubige Straße genetzt. Der Spritzwagen war immer von einer Menge Buben begleitet, die sich die Hosen ganz hoch hinaufsteckten, um möglichst weit in den Strahl laufen zu können. Die Mädchen, wenn Mädchen überhaupt mitgingen, liefen ganz weit außen, damit nur die Füße naß wurden, denn sie durften die Röcke nicht hochheben. Eigentlich wäre Alma auch gerne mitgelaufen, aber sie wußte, daß das nur Gassenkinder tun, solche, deren Väter auf den Fingern pfeifen. Ihre Mutter, die oft für einen Augenblick aus dem Fenster schaute, hätte es bestimmt nicht gern gesehen, wenn ihre Tochter mit von der Partie gewesen wäre. Daran fand Alma damals noch nicht einmal etwas Besonderes.)

— Bei uns in Meidling im Bereich der Tivoligasse gab es viele Gassenkinder, für die war der Spritzwagen eine willkommene Abwechslung vom Diabolo und Tempelhupfen.

(Die Namen dieser Kinder, die Alma einmal wußte, sind vergessen. Ihre Vorstadtakzente haben sich abgeschliffen wie Steine in einem Gletscher. Das Knarren der längst verfaulten Fässer, das Wiehern der Pferde und der Nachhall der nackten Kinderfüße auf dem Boden geistern noch, jedes Geräusch isoliert in einem eigenen Gedanken, durch die allmählich austrocknenden Gehirne, Erinnerungsstaub, der sich zurück in die Substanz der Ereignisse setzt, weil weder Luft noch Zeit ihn allzulange tragen.)

— Bei uns in Hietzing gab es keine Gassenkinder, mutmaßt Richard.

(Peter war bestimmt so ein Gassenkind, ein Gassenläufer, wenn auch späteren Jahrgangs, denkt Alma.)

— Und auch Bloßfüßige bekommt man seit Jahren nicht mehr zu sehen.

(Er schaut kurz in sich hinein, schließt einen Moment lang erschöpft die Augen, fügt dann hinzu:)

— Wie sind wir jetzt eigentlich auf das gekommen?

(Ende des Gesprächs.)

Bereits ein Viertel der argentinischen Luftwaffe soll zerstört sein. Die eiserne Maggie treibt ihre Jungs zur Eile an. Von britischer Kommandoseite wird in Aussicht gestellt, daß die Rückeroberung der Inseln eher in Tagen als in Wochen beendet sein werde. Argentinien verkündet indessen die unmittelbar bevorstehende Niederlage der britischen Landetruppen. Bisher mehr als 450 Tote. Queen zittert um Prinz Andrew. Bundespräsident Kirchschläger beginnt seinen Staatsbesuch in Moskau. Kirchschläger in einem Interview gegenüber der» Prawda«: Zwischen Moskau und Wien herrscht Vertrauen. Der seit 1955 eingeschlagene Weg ist der richtige. Die Politik der Neutralität muß sich gerade in einer Zeit internationaler Spannungen bewähren. Mit Sprengstoff vollgepacktes Bombenauto zerreißt in Beirut 14 Menschen. Zitat des Tages: Heldentod ist der traurige Zufall eines Granatsplitters. Hat Karl Kraus im 1. Weltkrieg geschrieben. Neuer Sieg für Khomeinis Truppen. Saddam Hussein würde Kriegseintritt Ägyptens auf seiten des Iraks begrüßen. Personalwechsel im ZK. Juri Andropow wurde Montag zum ZK-Sekretär gewählt. In der mehrheitlich von Albanern bewohnten jugoslawischen Provinz ist es — wie erst jetzt bekannt wird — wieder zu Unruhen gekommen. Es wurde für eine eigene Republik Kosovo demonstriert. Bund schießt für Pensionen 18,4 Mrd. Schilling zu. Spitalskosten die große Belastung für 1982. Tragisches Ende der österreichischen Himalaja-Expedition am Cho-Oyo. Vorschau: Allgemein sonniges Wetter. Ab Wochenmitte im Westen und Südwesten lokale Gewitter. Winde zunächst aus Nordwest, später auf Südwest drehend. Höchsttemperaturen bis 21 Grad.

Nachdem sie sich beide richtig vollgegessen haben, zieht Richard sich in den Keller zurück, um sinn- und zwecklos die dort eingelagerten Vorräte mit neuen Etiketten zu versehen. Nebenher nascht er für gewöhnlich löffelweise Honig, aber das macht nichts (es heißt, Gelee Royal sei gut fürs Gehirn). Alma räumt das schmutzige Geschirr in den Spüler. Ehe sie die Arbeiten wiederaufnimmt, die sie am Vormittag nicht beenden konnte, spielt sie ein wenig auf der Querflöte. Sie ist gerade bei einem Stück von Bach, eine in F-dur gesetzte Triosonate, als Richard im Garten laut ihren Namen ruft.

Es klingt nicht nach schwerem Alarm. Alma glaubt die sonderbare Freude herauszuhören, die man empfindet, wenn es eine spannende und doch harmlose Neuigkeit mitzuteilen gibt. Sie unterbricht das Stück, wischt das Mundstück der Querflöte mit der Handinnenfläche ab, legt die Flöte auf den Steg des Notenständers und beugt sich aus dem offenstehenden Fenster.

— Was gibt es? fragt sie.

Aber da sieht sie bereits, daß einer der Stöcke beim Bienenhaus zu schwärmen begonnen hat.

— Sie ziehen aus, ruft Richard.

In einem Sicherheitsabstand von zehn Metern ist er unter dem Kirschbaum postiert. In der rechten Hand hält er eine Zigarette, deren Glut zum Körper zeigt. Er blickt kopfnickend, zufrieden zwischen dem sich bildenden Schwarm und Alma hin und her. Alma stößt sich ungestüm vom Fenster weg, läuft in Hausschuhen über die Veranda nach draußen und stolpert beinahe über die vier Stufen hinunter in den Garten. Sie bleibt stehen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Sie sieht, daß sich der Schwarm im Wipfel des alten Zwetschgenbaums niederlassen will, wo sie ihn nur schwer einfangen könnte, mit der langen Leiter vielleicht, mit etwas Glück.

Sie ruft:

— Bleib weg, Richard, du kannst mir ja doch nicht helfen.

Gleichzeitig wendet sie sich zum Wasserhahn unter der Veranda. So schnell sie kann, koppelt sie den Gartenschlauch an in der Absicht, die Bienen anzuspritzen, das hat sich schon einige Male bewährt. Diesmal wird sie selbst naß. Beim Aufdrehen des Wassers vergißt sie, daß sie nur drehen, aber nicht ziehen darf, weshalb der Verschlußhahn aus dem Gewinde geschleudert wird. Das Wasser schießt in senkrechtem Schwall aus dem Rohr in die Höhe und auf Almas Oberkleid. Rasch hält sie das Rohr mit der rechten Hand zu, und der größte Schwall zischt abermals auf ihren Körper. Doch mit der Linken kann sie durch Zusammendrücken des Schlauchs ausreichend Druck erzeugen, daß das Wasser im abfallenden Bogen die Krone des Zwetschgenbaums erreicht. Der Schwarm schwenkt irritiert in einer fahnenartigen Wellenbewegung zur Seite, unentschlossen nach rechts zwischen die Bäume. Richard macht einige Schritte in Almas Richtung, vielleicht, um ihr mit dem Hahn behilflich zu sein.

— Bleib weg, ruft sie wieder.

Da verzieht er sich zu der Schutzengelskulptur beim Gemüsegarten und schneuzt in ein Stofftaschentuch, daß es durch den ganzen Garten schallt. Über das Taschentuch hinweg beäugt er den weiteren Fortgang der Ereignisse.

Alma nimmt sich Zeit, zu schauen, wohin der Hahn geschleudert wurde. Er liegt zu ihren Füßen. Sie schnappt ihn sich, und beim Einsenken ins Rohr folgt das dritte Bad. Sie blickt nach den Bienen, die gedrängt in den Wipfel des Kirschbaums strömen. Dort könnte Alma sie noch weniger erwischen als im Zwetschgenbaum. Sie setzt die Bienen einem neuerlichen Platzregen aus. Die Bienen vollführen eine abrupte Auf- und Ab-Bewegung, verharren für einen Moment in wütendem Gewimmel, ehe sie über die Gartenmauer flüchten, die das Grundstück gegen alle Seiten abschließt, ins mildere Klima bei den Wessely-Nachbarn. Atemlos vor Erregung folgt Alma dem Schwarm. Von einem der ausrangierten Verandastühle, die zu diesem Zweck entlang der Mauer aufgestellt sind, sieht sie zu, wie der Schwarm sich in einem alten Quittenbaum niederläßt, in gut erreichbarer Höhe.

Alma ruft:

— Fritz! Susanne!

Sie wiederholt ihr Rufen, bis Fritz sich an einem der Fenster zeigt mit blitzender Nickelbrille. Alma gibt Bescheid. Sie holt die Schwarmkiste aus der Werkstatt, sie eilt zur Straße vor, wo Fritz bereits beim Gartentor wartet. Wie meistens um diese Tageszeit ist er schon leicht illuminiert. Er bringt seinen unverzichtbaren Handkuß an.

— Wenn du nicht hinken würdest, könnte man dich mit Bo Derek verwechseln.

Alma kennt keine Bo Derek. Vermutlich eine Halbprominente. Aber sie kann sich vorstellen, daß die Anspielung mit ihren triefenden Haaren zu tun hat und ein Kompliment sein soll, wenn auch bestimmt keines, das den Gepflogenheiten des diplomatischen Dienstes entspricht.

— Mach mir jetzt nicht den Hof, das Leben ist auch so anstrengend genug.

— Ich sehe da keinen Zusammenhang. In welcher Welt lebst du?

— Ich?

— Du. Du hast schon richtig gehört.

Er blickt ihr vergnügt und offen in die Augen.

Vor zwanzig Jahren hätte sie das noch nervös gemacht, heute macht es sie nach wie vor nervös, aber es ist eine andere Nervosität, eher so, wie man auf die Uhr schaut, eher wie die Kameraführung dieser neuen Franzosen, die nicht mehr neu sind, es für Alma aber bleiben werden. Sie denkt, ich sollte Fritz und Susanne mal wieder zum Essen einladen, ist auch schon Monate her seit dem letzten Mal, keine Ahnung, ob das an Richard liegt, daß mir die Lust vergangen ist, und Kienasts lassen sich auch immer seltener blicken, seit die Gespräche so quer gehen, dito mit Grubers, dasselbe in Grün, auf Dauer ist das allen zu blöd. Recht haben sie.

Sie tritt durch das Gartentor, das Fritz ihr aufhält. Ein betonierter Plattenweg, die Platten in Dreierreihen, Gras und Moos in den Fugen, weil das besser aussieht. Alma steuert auf den Quittenbaum zu. Fritz folgt ihr. Vom Übergewicht, dem Rauchen und Trinken ist er kurzatmig, er redet in ihrem Rücken, schnauft, abwechselnd, stoßweise:

— Es gefällt mir, daß du mit einer Königin zu tun hast, die ihren Hochzeitsflug absolviert.

Alma stellt die Schwarmkiste in den Rasen, ganz froh über die kleine Aufregung:

— Du verstehst nichts von Bienen.

— Da ist was dran, räumt er ein: Verzeihung.

— Das ist die alte Königin. Ihr Hochzeitsflug war im vergangenen Frühling. Die Vorräte in ihren Samenschläuchen reichen noch für mindestens drei Jahre.

— Welche Vorräte?

— Zum Eierlegen. Die Königin wird in ihrem Leben nur einmal begattet.

Fritz runzelt die Stirn:

— Warum züchtet man eine so freudlose Spezies? Das schlägt am Ende auf einen selbst.

Alma gibt ihm einen Klaps auf die Baskenmütze. Statt sich die Mütze zurück in die gewohnte Position zu korrigieren, mimt Fritz den Beleidigten und schiebt sich die Mütze tiefer in die Stirn.

Er ist der Sproß eines Nebenzweiges einer österreichischen Schauspielerfamilie und zur Einsicht in die Uneinheitlichkeit seines Charakters erzogen worden, in die Vielfalt von Wünschen, Antrieben und Inkonsequenzen. Alma mag ihn. Zwar hat er sich mit den Jahren ein bißchen zu sehr auf die Rolle des charmanten Schwerenöters abonniert, der weiß, daß seine Zeit abgelaufen ist. Dennoch ist er ein Mensch mit einem beträchtlichen Repertoire an Unbeständigkeit. Ganz im Gegensatz zu Richard. Bei dem muß immer alles stabil und berechenbar sein, und er hat ein Leben lang Form und Förmlichkeit verwechselt, wie es ihm daheim am Mittagstisch vorgelebt wurde: Die Ellbogen müssen an den Körper gedrückt und die Zeigefinger in Längsrichtung des Stiels an das Besteck angelegt sein, wobei die Spitzen des Bestecks nicht in die Höhe zeigen dürfen.

Fritz sagt:

— Als Entschädigung für die Tätlichkeit bekomme ich ein halbes Kilo Honig.

Alma, die ihrerseits etwas murmelt, schenkt ihm keine Beachtung mehr. Sie inspiziert die Traube, die sich in Kopfhöhe, leicht erreichbar, im Blattwerk der Quitte gebildet hat, eine ausgefranste, zähflüssige, laut summende Masse ohne scharf gezogene Grenzen, aber innerhalb bestimmter Radien, so daß dieses gespenstisch schwebende Wimmeln dem Stillstand trotzdem näher scheint als der Bewegung. Ein ungewöhnlich kräftiger Geruch strahlt von dem Schwarm ab, malzig, muffig, weil die Bienen reichlich Wasser abbekommen haben. Alma schöpft mit dem Löffel einen Teil der Masse ab, dort, wo sie am dichtesten ist. Das Gebilde dehnt sich, wie zur Illustrierung der japanischen Weisheit, daß man dem Feind, der als Berg angreift, als Meer begegnen soll. Breiig quellen Bienen über den Rand der Kelle, fliegen teilweise von selbst in die Schwarmkiste, was vermuten läßt, daß Alma die Königin auf Anhieb erwischt hat. Sie hat die Königin im vergangenen Jahr nicht finden können, als sie die anderen Königinnen markierte, sie heuer nur einmal gesehen, doch während sie den Pinsel holte, war ihr das Biest ausgekommen. Diesmal hat Alma mehr Glück. Vorsichtig, weil sie keine der anderen Bienen zerquetschen will, schließt sie den Deckel der Schwarmkiste. Der Rest der Traube fällt auseinander und beginnt mit dem Abzug, heimwärts über die Mauer. Alma bedankt sich bei Fritz, der als behaglicher Zuschauer Abstand gehalten hat, an die Mauer gelehnt. Ein Schwätzchen (in extenso) vertagen sie auf die nächste Woche.

— Dann bekommst du auch den Honig.

Er breitet die Arme aus und lacht:

— Was du verschenkst, ist dein, was du behältst, auf ewig verloren.

Als Alma in den Garten zurückkehrt, noch immer naß, zieht der Schwarm bereits wieder in den Stock ein. Richard bemerkt davon nichts, er befreit gerade den Gemüsegarten von Unkraut. Im sanften Nachmittagslicht pfeift er etwas aus der Fledermaus vor sich hin, als wäre nichts vorgefallen. Auch Vogelgezwitscher ist zu hören und gelegentlich, wenn Wind heranfährt, das Laub. Auf der Terrasse marschieren die Ameisen an den Fuchsien auf und ab und melken unbehelligt die von ihnen bewirtschafteten Lausherden. Eine Libelle umkreist die Schutzengelfigur, sie hinterläßt einen Ton, als lasse jemand die Seiten eines dürren Buches über den Daumen laufen. Das Dreiervolk schafft seine Toten vom Flugbrett weg, gleich haben die Lebenden das Leben wieder für sich. Ruhe. Sieht ganz wie ein kleines Idyll in der Vorstadt aus.

Alma durchquert den Garten zur Werkstatt. Sie stellt die Schwarmkiste, in der es die Königin und ihre Vasallen noch eine Weile aushalten müssen, auf eine der alten Beuten hinter der Tür. Als nächstes wird sie duschen. Und der Rest des Nachmittags wird damit draufgehen, daß sie Mittelwände einlötet und dann die anderen Stöcke ansieht, damit die Schwärmerei nicht woanders weitergeht. Dieser Flohzirkus, denkt sie.

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