Dienstag, 12. Mai 1955

Im Flur sind Schritte zu hören. Sie läßt das Nachthemd fallen, dessen vorderen Saum sie zwischen den Zähnen hatte, und sperrt die Tür auf, damit ihr Vater sich nicht beklagen kann, sie würde sich in letzter Zeit ständig verbarrikadieren. Er soll ihr was. Kaum ist die Verriegelung gelöst, tritt er ein, im rotsamtenen Schlafrock, mit gedunsenem Gesicht und schweren Augenlidern, die ergrauenden Haare stehen ihm an der Schlafseite waagrecht vom Kopf, das verleiht seinem Aussehen etwas Unbeholfenes und Harmloses; aber da läßt Ingrid sich nicht täuschen. Höflich, wie es sich für eine brave Tochter gehört, wünscht sie einen guten Morgen.

— Guten Morgen, sagt auch Richard. Doch allein die Art, wie er den Gruß zurückgibt, genügt als weitere Kostprobe der schlechten Laune, die er seit Tagen mit sich herumträgt. Von den stockenden Verhandlungen um den Staatsvertrag, die sich ausgerechnet an Artikel 35 und den Schürfrechten auf den Erdölfeldern entlang der March spießen, ist er hochgradig nervös. Zusätzlich macht ihm ein eitriger Zahn zu schaffen.

Er dreht den Wasserhahn auf und wäscht sich die Hände. Nach einer Weile sucht er mit strenger Brauenfalte Ingrids Blick. Er sagt:

— Willst du dich für gestern entschuldigen? Es wäre ein gutes Zeichen und spräche für dich, wenn du Fehler einsehen und dich entschuldigen könntest.

Noch vor wenigen Wochen hätte sich Ingrid zur Gegenfrage hinreißen lassen, wofür (bitte?) sie sich entschuldigen soll. Oder sie hätte den Gegenvorschlag gemacht, er selbst solle sich entschuldigen, nämlich dafür, daß das Glück seiner Tochter auf sein stures Gemüt keinen Eindruck macht. In der Nacht hat sie sich dutzendweise Sätze zurechtgelegt, die mit Liebe zu tun hatten und von denen sie glaubte, daß sie ihren Vater zur Einsicht bringen müßten. Nun verharrt sie in fast schon zur Routine gewordenem Schweigen, steckt sich die Zahnbürste tief in den Mund und beginnt mit dem Bürsten, damit ihr Vater nicht länger auf eine Antwort wartet und sich erst recht keine Hoffnungen über die Aussichten macht, die einem zweiten Anlauf beschieden wären. Sie ist freundlich. Sie hat nett guten Morgen gesagt. Damit vergibt sie sich nichts. Alles andere wäre in ihren Augen übertrieben und würde nur den Anschein erwecken, auch diesmal ginge wieder alles so, wie ihr Vater es bestimmen will. Er nimmt für sich in Anspruch, in allem recht zu haben. Papa omnipotens. Was aus seinem Mund kommt, ist Diktat. Aber auf solche Gespräche legt Ingrid keinen Wert mehr. Aus dem Alter ist sie heraus. Die ewig gleiche Sackgasse. Da hat sie Besseres zu tun.

— Nicht Muh und nicht Mäh, sagt Richard.

Er wäscht sich prustend und stöhnend das Gesicht, dieses Gesicht, in dem Ingrid nichts von sich entdecken kann. Er spült den Mund mit Odol, weil ihm der eitrige Zahn das Zähneputzen verleidet hat. Er gurgelt ausgiebig. Anschließend hält er seinen Kamm unters Wasser und bringt die Haare in Ordnung. Zwischendurch ein Mustern und Abschätzen, das Ingrid gilt, via Spiegel. Ingrid mustert sich ebenfalls im Spiegel. Sie stellt fest, daß die letzten Wochen und Monate ihre Spuren hinterlassen haben, das viele Lernen und das viele Lügen sind ziemlich anstrengend. Sie hat schon besser ausgesehen. Geduckt, unter dem hochgehobenen Arm ihres Vaters, spült sie die Zahnpasta mit zwei Mundvoll Wasser aus. Als sie unmittelbar darauf Anstalten macht, das Badezimmer zu verlassen, sagt ihr Vater:

— Ich muß mich sehr über dich wundern. Einer Fünfzehnjährigen würde dein Verhalten besser anstehen als einer Neunzehnjährigen. Daß du dich nicht schämst.

Ingrid nimmt auch dies kommentarlos zur Kenntnis. Sie verkündet Unwohlsein, das fühlt sich wie vorgeschützt an, obwohl ihr wirklich und wahrhaftig (sind das die Nerven?) im Magen flau ist.

— Mir ist nicht gut, sagt sie.

Daraufhin zieht sie sich zurück in ihr Zimmer. Während sie sich dort ankleidet, setzt sie sich mit der Tatsache auseinander, daß sie von niemandem außer Peter für voll genommen wird. Allein beim Gedanken an den vergangenen Fasching steigt eine solche Bitterkeit in ihr auf, daß sie sich am liebsten wieder ins Bett legen würde. Nicht, daß sie ihrem Vater einen Vorwurf macht, weil er von Peter wenig begeistert ist oder weil die Woche am Arlberg an seinem Njet gescheitert ist. Das ist Geschmackssache. Aber daß er sie in ihrer Liebe, die bestimmt nicht nur Oberfläche ist, in keiner Weise ernst nimmt und ihre Gefühle als Getue bezeichnet, dagegen lehnt sie sich auf. Ihr Vater behandelt sie wie ein Kind, dem man sein Spielzeug wegnehmen will, und jetzt, wo die Nachricht von der Verlobung durchgesickert ist, legt er eine Schaufel drauf, weil ihm diese Dummheit als ausreichender Beweis erscheint, zu welchen Unüberlegtheiten seine Tochter fähig ist. Präziser: daß sie in ihrer Vernarrtheit so weit überschnappt, daß sie mit Peter ins Bett geht. Etwas, was natürlich längst geschehen ist, für ihren Vater bislang aber nicht im Bereich des Vorstellbaren lag. Für ihn ist das sechste Gebot das erste Gebot. Es gibt nichts anderes, was eine ähnlich starke Bedrohung seiner Wertvorstellungen darstellt und eine ähnliche Beleidigung seines sozialen Ordnungssinns. Baum, Schlange, Apfel, Höllenhund, ewiges Feuer der Verdammnis und Garen bei lebendigem Leib. Lauter Synonyme für Liebe. Wenn ihr Vater wüßte, daß sie längst eine Frau ist, würde er sie vermutlich einsperren. Die Hühner sollen gefälligst im Stall bleiben.

— Ich will nur hoffen, daß die Vernunft bald wieder die Oberhand gewinnt.

Sie sitzen zu dritt beim Frühstück, Richard in einem seiner offiziellen Anzüge, er trinkt den Kaffee, indem er jeden Schluck mit einer ruckartigen Kopfbewegung nach hinten wirft. Als ihm Alma eine Semmel anbietet, lehnt er mit Rücksicht auf seinen Zahn ab. Reden hingegen scheint seine Schmerzen zu lindern; kann auch sein, es ist das Gesagte, was die Linderung herbeiführt, während die Schmerztabletten, die er im Bad eingeworfen hat, noch eine Viertelstunde brauchen, bis sie wirken.

— Denn eins will ich nicht unerwähnt lassen: Ich verhandle nicht jahrelang mit den Sowjets, damit meine Tochter in der Zwischenzeit den Verstand verliert. Siebzehn Jahre lang haben jetzt andere über uns bestimmt. Siebzehn Jahre nichts als Wortbruch, Lügen und Enttäuschungen. Ein halbes Leben lang habe ich eine katastrophale Störung um die andere über mich ergehen lassen. Und jetzt, wo sich die Verhältnisse ein wenig klären und man endlich wieder Herr im eigenen Haus wird, lasse ich mir den Unfrieden nicht von der eigenen Tochter hereintragen.

Er führt die Kaffeetasse zum Mund und nimmt mit bitterer Grimasse einen weiteren Schluck.

— Haben wir uns verstanden?

Nein.

Wenn Ingrid es sich überlegt, hält sie es für wahrscheinlich, daß auch Außenminister Figl Zahnweh hat und deshalb mehr trinkt, als ihm guttut. Überhaupt geht ihr die Großmannssucht ihres Vaters und der ganzen Komitatschibande, die mit den Verhandlungen betraut ist, auf den Wecker. Die mit ihrer Trinkfestigkeit. Als ob das etwas mit dem Staatsvertrag zu tun hätte. Als ob man die Russen mit Trinken beeindrucken könnte. Das weiß sie nun ganz bestimmt, den Russen fällt es gar nicht auf, wenn einer etwas verträgt, das sind sie gewohnt. Und schon gar nicht gewähren sie als Anerkennung für versiertes Trinken einen Staatsvertrag. Wenn das so einfach wäre, würden die Ungarn weniger Fußball spielen und statt dessen das Saufen üben. Wahrscheinlicher ist, daß vor fünf Jahren im Zentralkomitee des Obersten Sowjets, noch unter Stalin, beschlossen wurde, Österreich im Mai 1955 einen Staatsvertrag zu geben, und so wird’s gemacht, streng nach Plan, unabhängig vom Wodkawetter. Trotzdem lassen sich die Herrschaften in der Bundesregierung für ihre Ausdauer und ihr Verhandlungsgeschick feiern, fehlt nur, daß es in der Zeitung heißt, der Staatsvertrag wäre schon früher zustande gekommen, wenn man während der ersten Jahre besser genährt gewesen wäre. Die Erbsenlieferungen der Sowjets werden regelrecht zu einem nationalen Woyzeck-Schicksal umgedeutet. Echt kurios. Hat er schon seine Erbsen gegessen? Er ist ein interessanter Kasus, Subjekt Österreicher. Und die salbungsvollen Reden, die demnächst wieder am Mittagstisch einstudiert werden, ziehen ihr schon im voraus den Nerv. Wenn aber ihr Vater wissen will, was wahrhaft harte Positionen sind, dann soll er, sowie er mit den Moskauer Unterhändlern zu einer Einigung gelangt ist, vom Gebäude des Aliierten Rates schnurstracks nach Hause kommen und versuchen, in die Tat umzusetzen, womit er gerade droht: Daß er den Kontakt zwischen ihr und Peter unterbinden wird. Nur zu, das wollen wir mal sehen, dann wird sich zeigen, wofür die Erfahrungen, die er beim homo sovieticus gesammelt hat, zu gebrauchen sind, da wird er nämlich gegen eine Wand laufen, weil er nicht mit dieser wunderbaren Liebe rechnet. Dann schaltet Ingrid ebenfalls auf stur, ihr geht nichts ab, es kann ruhig bleiben, wie es ist, nach dem Motto, magst du mich nicht, mag ich dich nicht. Sie holt es sich woanders. Sollte ihr Vater aber an der Beziehung zu seiner Tochter interessiert sein und ihr zuliebe auf seine Machtausübung verzichten, so wäre das eine echte Liebesbezeugung, die Ingrid von ihrem harten Kurs abbringen könnte. Klar, wie es sich aus ihrer Sicht darstellt, ist das höchst unwahrscheinlich, ein paar Kompromisse wird ihr Vater vielleicht eingehen, aber nur die allermindesten, das ist die Art, wie er denkt, und es ist auch die Art, wie sie selbst denkt. Das Leben wird aus Kompromissen bestehen, mit den Eltern, mit den Sowjets, mit Peter, mit den Kindern, die sie irgendwann mit Peter haben wird.

Sie greift sich an den Bauch, eine fast schon reflexartige Bewegung. Das sind jetzt mehr als fünf Wochen. Dann streicht sie Honig auf ihre Semmel, und während ihr Vater weiterredet, über Flegel und Rotzlöffel (gemeint ist Peter) und über Strafe muß sein (das gilt ihr), stellt sie sich die Gewissensfrage, ob sie ihren Vater liebt. Und wenn ja, wie sehr? Gute Frage. Aber wie soll sie jemanden lieben, der sich ihrem Glück in den Weg stellt? Jemanden, der kein Argument gelten läßt, das mit Empfindungen zu tun hat? Weil Empfindungen unzuverlässig sind. Weil die Liebe eine Landplage ist. Einen Analphabeten des Gefühls? (Das hat sie in einem Roman gelesen.) Nichts als Vernunftgründe. Grauenhaft. Grauenhaft. Also Antwort: Nein. Respektieren: Ja. Aber lieben: Nein. Und weiter: Ob dann wenigstens ihre Mutter ihn liebt? Nicht weniger gute Frage. Antwort: Vielleicht. (Es ist also nicht unbedingt auszuschließen.)

Ingrid mustert ihre Eltern (verstohlen?): Einerseits die Verkörperung des vorbildlichen Patrioten, dem böse Mächte das Leben schwermachen und der fürchten muß, daß durch Risse und aufgeplatzte Nähte unreiner Geist in die österreichische Seele eindringt. Andererseits die im Mahlwerk der Ehe schon etwas rundgeschliffene Hausfrau, Flötenspielerin und Bienenzüchterin, die sich aus allen Konflikten heraushält, Moment, nein, die nur so tut, als würde sie sich heraushalten, die gleichzeitig im Hintergrund zu glätten versucht, was zu glätten geht, und von der man fairerweise sagen muß, daß sie beiläufig bei ihrem Mann mehr ausrichtet als Ingrid mit offenem Revoltieren. Manchmal hat Ingrid den Eindruck, daß (wenn es auch gewiß nicht die ideale Liebe ist) hinter dem, was ihre Eltern verbindet, nach wie vor mehr steckt als nur Gewohnheit.

Ingrid würde ihre Mutter gerne darauf ansprechen, was sie für ihren Mann empfindet. Aber so naheliegend die Frage ist, so abwegig ist sie auch, weil Ingrid diese Frage als jemand stellen müßte, der außerhalb steht. Doch als Kind (und diese Vertracktheit erfaßt Ingrid intuitiv) ist sie die greifbare Folge der Liebe ihrer Eltern, selbst wenn diese de facto keinen Bestand mehr hat. Ingrid verkörpert — so oder so — die Zukunft dessen, was sich ihre Eltern einmal bedeutet haben. In diesem Punkt ist sie sogar bereit, das Erbe anzutreten. Aber ihre Eltern hätten auch Otto durch den Krieg bringen sollen, findet sie. Es wird ihr langsam zuviel, alle Erwartungen von Jugend und Aufschwung und besseren Zeiten in ihrer Person konzentriert zu sehen. Sie ist nicht die Zukunft ihrer Eltern. Sie ist ihre eigene Zukunft. Am liebsten würde sie sagen: Papa, gib die Hoffnung auf, daß sich die Ordnung deiner Eltern nochmals wiederholt. Die Welt verändert sich, sie verändert sich an Stellen, von denen man es nicht erwartet: In der Gestalt von Töchtern zum Beispiel.

Richard läßt sich gerade über die Ungeklärtheit von Peters wirtschaftlichen Verhältnissen aus, und daß es viele junge Männer gebe, die durch die Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse in ihrer Berufsentwicklung zurückgeworfen wurden. Für um so unverantwortlicher halte er es, einem Mädchen, das sechs Jahre jünger ist, mit Heiratsgedanken das Herz schwer zu machen, wenn man sein Studium seit Jahren nicht weiterbringe und auch sonst nichts vorzuweisen habe außer Schulden.

Ingrid würde gerne dahinterkommen, woher ihrem Vater diese Informationen zufliegen, und weil ihr Vater nicht aufhört, auf Peters geschäftlicher Malaise herumzuhacken, stellt sie sich schützend vor ihren Liebsten (der und kein anderer, sie wird ihn immer):

— Papa, ich weiß wie niemand, daß Peter rackert und sich plagt, um vorwärtszukommen. Es ist ehrliche Arbeit.

— Aber daß ehrliche Arbeit erst dort anfängt, wo sie auch etwas einbringt und nicht nur das Geld anderer kostet, hat sich nicht bis zu euch durchgesprochen, was? Da geht auch dir deine rasche Auffassungsgabe plötzlich ab. Solange diese Spiele nichts einbringen, sind sie windige Unternehmungen, nichts weiter.

— Ja, weil für dich einer geerbt haben muß, damit er etwas anfangen darf. Alle anderen sind Gauner und Nullen.

Alma sagt erinnernd:

— Ingrid —.

— Mama, es ist so ungerecht, daß er sich zwischen zwei Menschen stellt, die sich lieben. Es ist ja nicht Peters Schuld, daß sein Vater mit Berufsverbot belegt war und ihn auch jetzt bei seinem Studium nicht unterstützen kann. In Papas Augen soll Peter die Sünden seines Vaters abbüßen. Das ist ungerecht. Papas Abneigung ist total mutwillig. Und dann erwartet er auch noch meinen Beifall.

— Ich bin mit Sicherheit nicht mutwilliger als du, nur daß bei dir hinzukommt, daß du in keiner Sekunde dein Gehirn einschaltest.

Man hört von draußen den Dienstwagen ihres Vaters in die Einfahrt biegen, und weil Ingrid jetzt sicher ist, daß das Gespräch nicht mehr lange dauern kann, sagt sie, was ihr als erstes in den Sinn kommt:

— So kannst du Mama in die Tasche stecken. Bei mir funktioniert der Trick nicht.

Richards Hals hinauf schwillt eine Ader und pumpt Blut in seinen schmerzenden Zahn. Er blickt vom Tisch auf, während Ingrids Augen den umgekehrten Weg nehmen, hinunter zu der bestrichenen Honigsemmel; als würde sie sich unter den donnernden Worten ihres Vaters ducken.

— Das ist der Gipfel! So lasse ich nicht mit mir reden! Ich erwarte von dir, daß du dich ins familiäre Regelwerk einfügst, sonst setzt es Konsequenzen! Ist das klar?

Dann erst einmal Schweigen. Es sieht so aus, als legten sich alle ihre Meinung zurecht. Auch Alma sucht nun sichtlich nach etwas, was sie sagen könnte. Offenbar ohne Erfolg. Nach einigen Sekunden, als habe er das Ausmaß der Unverschämtheit von Ingrids letzter Bemerkung erst mit Verzögerung begriffen, als seien ihre Worte mit einem besonders trägen Gewicht in seinen Verstand hineingefallen, haut Richard mit der Hand auf den Tisch, daß die Tassen springen.

— Und jetzt ist Schluß! Ich stelle mich nicht länger zur Verfügung, damit du deine Launen befriedigen kannst. Solange du die Beine unter meinem Tisch hast, tust du gefälligst, was ich sage. Haben wir uns verstanden?

Ingrid starrt ihn an, die Zähne fest aufeinandergebissen. Viel fehlt nicht, und sie würde die Blumenvase an die Wand werfen oder vom Tisch aufstehen und einfach weggehen. Fliehkräfte, vergleichbar mit denen am Kettenkarussell im Prater, wirken auf sie ein. Aber noch für mindestens zwei Jahre wird Ingrid von ihrem Vater abhängig sein, den Trumpf kann ihm keiner nehmen, sie weiß, sie sollte es nicht auf die Spitze treiben.

Doch ob ihr Vater besser dran ist als sie? Ob er jemals so geliebt hat wie sie? Sie kann es sich nicht vorstellen, obwohl ihr das leid tut für ihre Mutter.

— Ob wir uns verstanden haben?

— Ja, sagt sie kleinlaut, nicht, weil sie eingeschüchtert ist, sondern in der Erkenntnis, daß ihr Vater alles andere nicht hören würde und daß sie es erst recht nicht zuwege bringt, ihn zu einer anderen Meinung zu bekehren. Somit sieht sie auch keine Möglichkeit, ehrlich und glücklich zugleich zu sein.

— Dann kann ich mich darauf verlassen, daß du mir keine weiteren Dummheiten machst?

Sie findet, daß es Ansichtssache ist, was man unter Dummheiten versteht, und so nickt sie, betrachtet dabei das Fensterglas und die dahinter aufragenden Obstbäume, in denen sie in ihrer Kindheit geklettert ist. Auch Otto ist dort geklettert. Sie möchte wissen, was für Erinnerungen in ihren Eltern herumgeistern, wenn sie aus dem Fenster sehen.

Dummheiten, Dummheiten.

— Nun, das ist ja beruhigend.

Richard, gedunsen, rot (seine Backe ist seit gestern noch dicker geworden), zugleich auch erleichtert, daß Ingrid schweigend aus dem Fenster sieht, als wäre da draußen etwas, von dem sie sich ablenken läßt.

— Es ist nur zu deinem Besten.

Versöhnlich, vielleicht in der Hoffnung, er könnte verstanden werden.

— Ich halte es genauso.

Und obwohl sich nicht mit Bestimmtheit sagen läßt, was Ingrid damit meint, ist es Antwort genug.

Richard steht auf, murmelt etwas von Verhandlungen bis zur Verblödung und Kompromisse erzielen. Alma drückt ihren Mund auf die gesunde Wange, die ihr Richard hinhält. Ingrid folgt dem Beispiel ihrer Mutter. Die gute Tat für heute. Richard holt sich seinen Hut, vergewissert sich vor dem Spiegel, daß der Hut gerade sitzt. Er schreitet zügig, ein wenig ächzend, erschöpft bereits in der Früh, aus dem Haus. Die Wagentür schlägt zu. Als der Wagen abfährt, sagt Alma ohne Zorn und Vorwurf:

— Ingrid. Ingrid.

Ingrid beginnt das schmutzige Geschirr wegzuräumen.

— Ich glaube, ich bekomme meine Tage.

Und Alma, abermals ruhig, so, als bringe sie für Ingrids Menses ein gewisses Interesse auf:

— Ich sollte einmal anfangen, deinen Zyklus mitzuschreiben, wäre neugierig, was dabei herauskommt.

— Hack du nur auch auf mir herum.

— Ich hack nicht auf dir herum. Mich beschäftigt, wie es dir geht. Aber du mußt auch ein Minimum an Verständnis für deine Eltern aufbringen.

Ingrid stellt das Geschirr in die Abwasch, dabei verspricht sie dem lieben Gott, daß sie sich bessern wird, wenn sie nur bald ihre Tage bekommt, dann will sie auch wieder einmal beichten gehen, ich habe die Gebete oft nicht, ich habe geflucht und gelästert, ich habe mein Gott gemachtes Gelübde, ich war gegen meine Eltern lieblos, ungehorsam, eigensinnig, frech, ich habe ihnen den Tod, ich war unkeusch in Gedanken, Blicken und, allein und mit, ich hab gelogen, geheuchelt, fremde Fehler verbreitet und fremde Fehler vergrößert, ich war stolz, schadenfroh, unmäßig im Reden, zornig und nachlässig. Am meisten habe ich mit der Sünde der Unkeuschheit.

Zu ihrer Mutter sagt sie:

— Ich habe für euch genausoviel Verständnis wie ihr für mich. Also sind wir quitt.

Eine halbe Stunde später verabschiedet sie sich Richtung Universität. Doch statt mit dem Fahrrad zur Hietzinger Brücke und von dort mit der Stadtbahn zu fahren, schlägt sie den Weg via Lainz und die Fasangartengasse nach Meidling ein. Als das schlechte Mädchen, das sie ist, braucht sie auf niemanden Rücksicht zu nehmen, und je weiter sie sich von ihrem Elternhaus entfernt und je mehr sie sich Peters Magazin nähert, desto spürbarer fallen Demütigung und Traurigkeit von ihr ab, desto freundlicher wird dieser wolkenverhangene Tag, werden die Straßen, die Postautos, die von Blütenstaub gelben Rinnsteine, die gekämmten und rotgewaschenen Leute. Die Schaufenster, die Häuser. Alles kommt ihr so unbeschwert vor, selbst die Pfiffe, die ihr das rasante Fahren einbringt. Ich fahr so schnell, wie’s mir paßt. Die Häuserzeilen fliegen an ihr vorbei. Da und dort, wo ein Haus nicht wieder aufgebaut wurde, riecht es noch nach den Schrecken der Zeit. Ansonsten ist es, als existiere hier die freie Welt bereits, als sei die Stadt hier aus der Vergangenheit bereits entlassen. Besser: als sei die Vergangenheit hierorts schon ausgespuckt.

Sie hört noch ihr ehemaliges Handarbeitsfräulein sagen:

— Unsere Vergangenheit ist zu groß, um von einem so kleinen Land bewältigt zu werden. Es ist, wie wenn man einen zu großen Bissen nimmt, dann kann man nicht mehr schlucken.

Sie biegt in den Schotterweg ein, der zu Peters Magazin führt, dem Sitz seiner kleinen Firma Fröhliches Wohnzimmer (warum auch nicht?). Peter hat sich in einer ehemaligen Zweirad-Werkstatt eingemietet, zwischen anderen wenig benutzten Garagen, die auf einen jenseits der Straße fließenden Bach und auf die Wiesen dahinter ausgerichtet sind. An der Torkette und dem Vorhängeschloß erkennt Ingrid schon von weitem, daß Peter noch nicht hier ist. Sie fährt am Magazin vorbei, in einer Mischung aus Enttäuschung und der gleichzeitigen Erleichterung darüber, zumindest selbst eingetroffen zu sein. Sie rollt hundert Meter weiter zu einem Wirtshaus, einer Apachenspelunke, wie ihr Vater es nennen würde, die Fenster seit Monaten nicht geputzt, Parolen an den Wänden noch aus den letzten Kriegstagen, Ein Hoch auf das siegreiche Land der Wunder! Nadeschda umerajet poslednoj. Das Fahrrad scheppert in den verrosteten Ständer. Durch den Windfang, Tür. Im Schankraum brütet ein Mann mit nur einem Arm allein am Stammtisch. An einem zweiten Tisch schaukelt ein Schlurf auf dem Stuhl, mit aufgekrempelten Ärmeln. Er addiert Zahlen auf einem Rechnungsblock. Auch der Schlurf bedenkt Ingrid mit einem Pfiff.

— Pfeifen bringt Regen.

— Wohl heute mit dem linken Bein zuerst aufgestanden.

Ingrid kehrt dem Kerl den Rücken, ohne ein weiteres Wort, die Arme verschränkt. Sie stellt sich an den noch vom Vortag dreckigen Tresen mit Blick auf die Nußschnitten in der Auslage, als hätte sie schon lange keine mehr bekommen. Durch die offenstehende Küchentür ist das blubbernde Kochen des Mittagessens zu hören, vom Hinterhof das Stapeln von Getränkekästen, dazu angestrengtes Stöhnen der Wirtin. Ingrid kennt die Frau, seit sie Peter kennt. Peter ißt hier, wenn er im Magazin zu tun hat, er erledigt für die Wirtin kleinere Arbeiten, lackiert die rostigen Eisenstühle im Garten und harkt den geschotterten Vorplatz. Im Gegenzug wird ihm die Benutzung von Toilette und Fernsprechstelle zugestanden und manchmal im Winter (aber so genau will Ingrid das gar nicht wissen) eine Nacht auf der Ofenbank.

— Hat Peter angerufen? fragt Ingrid, als die Wirtin zurück in den Schankraum tritt.

— Der braucht gar nicht anrufen, solange ich nicht mindestens hundert Schilling von ihm bekommen habe.

Die Wirtin zapft für den Schlurf, der das leere Glas hochgehoben hat, ein Bier.

— Er hat also nicht angerufen? Ich meine, weil er immer noch nicht da ist.

— Wie schon gesagt.

— Und gestern? fragt sie.

— Der wird sich hüten.

Ingrid weiß, Peter steht auf den meisten Schiefertafeln, wo angeschrieben wird, ganz oben. Doch daß er für sein Minus keinen anderen Ort mehr findet als die Nachbarn, ist ihr neu und unangenehm. Das wird sie ihm sagen. Auch das barsche Verhalten der Wirtin ärgert sie, so was Blödes, was bildet die sich überhaupt ein, der Trampel? Doch da Ingrid am Vortag bei Oma Sterk war, die den Überblick verloren hat, was das Geld wert ist, zieht sie ihre Börse aus der Schultasche, schirmt die Börse mit dem Körper ab, solange sie darin kramt. Dann hält sie der Wirtin am ausgestreckten Arm eine 100-Schilling-Note hin.

— Ist das ein Zustand, daß das Mädel dem Burschen Geld gibt, damit er durchkommt?

— Das geht Sie einen Dreck an, sagt Ingrid.

Sie wird rot vor Scham und Zorn. Sie wirft den Schein auf die Theke, ohne darauf zu achten, ob der Schein dort liegenbleibt. Dann dampft sie grußlos zur Tür, raus ins Freie, sie packt ihr Fahrrad an den Lenkergriffen und schiebt es zum Magazin, weiterhin zornig, jetzt aber vor allem über sich selbst. Das habe ich notwendig gehabt. Ist das eine Art, ständig so überdreht herumzulaufen? Sie muß zugeben, die Wirtin hat nicht unbedingt unrecht, und auch ihr Vater kritisiert sie nicht immer ganz ohne Grund. Aber als Reaktion möchte sie die Blumenvase an die Wand werfen oder der Wirtin in die Haare gehen. Sie kann überhaupt in letzter Zeit zornig sein, daß sie dabei fast erbrechen muß. In der Inneren Stadt, am Hohen Markt, hat vor ein paar Tagen ein älterer Herr sie beschuldigt, sein Fahrrad umgeworfen zu haben. Ingrid holte im Nu aus ihrer Einkaufstasche als Wurfgeschoß eine Kohlrübe, die der Mann an den Kopf bekommen hätte, wären nicht rundherum Leute gestanden. So schnauzte Ingrid den Mann nur an, er solle besser auf sein Zeug aufpassen. Und obgleich sie wirklich nichts dafür konnte, daß das Fahrrad umgefallen war, erschien ihr das eigene Verhalten selber nicht normal, und beim nach Hause Fahren hat sie sich für ihren Wutanfall geschämt.

Die Geschichte der Ingrid Sterk, überlegt sie. Was wäre das für eine Geschichte? Vermutlich wäre es ein Melodram. Melodramen erkennt man allein schon daran, daß sie Frauennamen im Titel tragen.

Sie lehnt das Fahrrad an das hellblaue Tor, hellblau gefleckt, wo die Farbe großflächig abgeplatzt ist. Dann setzt sie sich auf eine kniehohe Mauer, die den unkrautbewachsenen Vorplatz zur Nachbargarage abgrenzt. Gerade wird die Gegend durch ein Loch in den Wolken von der Sonne beschienen. Ingrid tastet ihren Bauch ab, dem sie zutraut, daß er die Lage bald weiter dramatisiert — der ist seit zwei Wochen so komisch dick, das geht und geht nicht weg, obwohl sie ganz wenig ißt. Auf diesen Zustand kann sie sich gar keinen Reim machen, denn das würde nicht mit rechten Dingen zugehen. Trotzdem wird sie den Eindruck nicht los, daß sie wieder schwanger ist. Beim ersten Mal hätte sie auch nicht gedacht, daß Peter unvorsichtig war, und dann war er’s doch, und die Folgen wären längst sichtbar, wenn nicht, ja, wenn nicht, da hatte sie Glück oder Pech (das kommt auf die Ansprüche an), denn die Schwangerschaft endete mit einer Fehlgeburt. Das war schrecklich. Sie hat den Vorfall noch immer nicht ganz verdaut, obwohl seither ein halbes Jahr vergangen ist. Dieses embryonale Würmchen in der Klomuschel liegen zu sehen und es hinunterspülen zu müssen, weil ihr Vater gegen die Tür klopfte, wie lange sie noch gedenke, das Bad zu blockieren. Ihr erstes Kind. Im Badezimmer hat sie es verloren. Wenn sie nur daran denkt, läuft es ihr kalt über den Rücken. Sie drückt mit den Fingern beider Hände oberhalb der Leiste die Eingeweide nach innen; sehr seltsam. Sie sagt sich, wenn der Bauch so bleibt wie jetzt, werde ich in den nächsten Tagen einen Arzt aufsuchen, damit er der Sache auf den Grund geht. Ist was los, um so besser, je eher ich es weiß. Ist es nichts, dann mache ich mir nicht länger einen Kopf. Und bis dahin, das schwört sie sich, sagt sie zu niemandem ein Wort, auch nicht zu Peter, der würde sich über eine Schwangerschaft am Ende noch freuen, das hat er nicht nur einmal gesagt und es in seinem letzten Brief auch geschrieben mit der eindringlichen Aufforderung, sie solle sich Röteln impfen lassen. Dieser Depp, er ist halt ein Riesendepp. Er muß doch einsehen, daß auch sie sich besser auf eigene Beine stellt, damit sie in der Ehe geistig nicht unterernährt zurückbleibt wie ihre Mutter. Und nochmals ein argwöhnisches Drücken mit den Fingern oberhalb der Leiste und dabei ein unangenehmes Gefühl, das ihr nichts mitteilt, nichts jedenfalls, auf das sie etwas geben würde.

Manchmal als Kind hatte sie einen runden Bauch, prall wie eine Trommel. Otto machte sich einen Spaß daraus, nach dem Essen die Bespannung zu prüfen. Sie legten sich auf das Sofa im Wohnzimmer oder in den Garten, der Himmel über ihnen und die Glücksempfindung, weil dort keine Feindbomber rumorten. Otto trommelte auf ihrem Bauchfell. Sie erinnert sich, daß Otto (einmal) sagte (da war er noch beim Jungvolk und brachte von den Heimabenden diesen abenteuerlichen Dialekt mit nach Hause, zum Mißfallen der Eltern: plötzlich hat Ingrid Ottos stimmbrüchige Stimme im Ohr), da verkündete er, trommelnd, und der Satz ist ihr geblieben:

— Ich werde mich als Freiwilliger zum Reichskolonialbund melden, Kisuaheli lernen und zehn Negerfrauen heiraten.

Das war lustig, sie haben viel gelacht.

Trotzdem kann Ingrid sich nicht daran erinnern, daß sie Otto besonders nachgeweint hätte. Sie waren alle niedergeschlagen, auch die Nachbarn, keiner wußte, wieviel Anteil an der Niedergeschlagenheit von welchem Anlaß herrührte. Anlässe gab es immer mehr als nur einen. Und dann scharenweise Rotarmisten im Garten, sie kletterten auf die Bäume, um in den Vogelhäusern nach deutschem Eigentum zu suchen. Die Vogelhäuser, die nicht erreichbar waren, schossen die Soldaten herunter. Ingrid weiß noch, es muß wenige Tage nach Ottos Tod gewesen sein, Mitte April, da blickte von einem der Apfelbäume, die kurz vor dem Blühen standen, einer der gefürchteten Mongolen in ihre Kammer, eines der stärksten Bilder aus jenen Tagen. Ingrid stand am Fenster, ihr Blick traf für einen kurzen Moment die fremd über breiten Backenknochen liegenden Augen des jungen Soldaten. Dann wandte sich der Mann ab. Er stemmte sich ein Stück höher, rüttelte an dem Vogelhäuschen, und eine Amsel flog heraus.

Ihr Mitleid mit der Amsel ist Ingrid stärker in Erinnerung als ihre Trauer um Otto. Vielleicht, weil Otto auch davor oft weg war, auf Lagern und mit den Kanuten. Vielleicht, weil in besagtem Frühjahr die Ereignisse einander überstürzten und überlagerten und weil die Trauer um Otto ständig präsent war und der Schmerz in der Rückschau von anderen Begebenheiten nicht zu trennen ist. Rotarmisten zogen in geschlossener Formation durch die Straße, schwermütige Lieder singend, dahinter Panjewagen, über und über mit Teppichen und Polstern ausgelegt, darauf östliche Frauen in Armeeblusen. Eine größere Gruppe Soldaten campierte für mehrere Wochen in den unteren Räumen. Dann wurden britische Offiziere einquartiert, da gab es erst recht keinen Platz zum Weinen. Die Ernährungsengpässe, das Baden in den Löschwasserteichen, die Schuttaktion, das Eingesprühtwerden mit DDT. Hin und wieder rannte Ingrid zur Ankunft von Kriegsgefangenentransporten, um zu sehen, ob ein Familienmitglied dabei war. Lebt der noch? Lebt der noch? Die Weihnachtsrede von Figl, daß er keine Kerzen geben könne und kein Glas zum Einschneiden, nur den Glauben an dieses Land. Zwei Grippewellen. Ein karger Fasching. Und ehe man sich versah, war Otto ein Jahr tot. Ingrid wechselte aufs Gymnasium. Die Leute vom Film gingen bei den Nachbarn aus und ein. Ihr Vater wurde ins Ministerium berufen, später wurde er Minister. Die Besatzungssoldaten zogen sich in die Kasernen zurück. Der erste Urlaub im Ausland. Das erste Ballkleid und neue Freundinnen. Der Besuch im Tiergarten, wo sie sich von einem Studenten fotografieren ließ. Der hieß Peter. Der verdiente sich mit einer Kamera, die er vom Schwarzmarkt hatte, ein Zubrot vorm Bärenkäfig. Erinnerungsbilder für Soldaten der Roten Armee und für sowjetische Beamte, ein grüngestrichenes Gitter, dahinter ein wie hospitalisiert im Kreis gehender Kragenbär als Symbol für den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg.

Und Peter. Und Peter. Und Peter.

Herzwaswillstdumehr.

Jetzt, das Mäuerchen bequem zwischen den Beinen, etwas, das in Hietzing undenkbar wäre — so hat Ingrid eine Auflagefläche für ihr Anatomie-Buch, in dem sie nicht vorankommt —, wartet sie auf ihren Liebsten. Sie sitzt im trüben Mittagslicht, ihr dunkelblaues Strickjäckchen hat sie ausgezogen, es ist ein Stück hinter ihr plaziert, wo ihr Kopf zu liegen käme, wenn sie sich zurückfallen ließe wie schon zuvor. Lesen und Luft machen sie schläfrig, gähnend kämpft sie dagegen an, gegen die Schläfrigkeit und gegen das zunehmende Gefühl von Verlassenheit, das an ihrer Stimmung nagt. Der Vormittag verstreicht, der Nachmittag bricht an und bekommt eine langwierige Drehung. Als Ingrid obendrein Folgetonhorn hört, kommen ihr Ausritte in den Straßengraben in den Sinn, Kollisionen und Scherbenklirren und die Bilder aus ihrem Anatomie-Atlas. Da ist es endgültig aus mit ihrer Geduld, da ist auch der Schwung ihres Ärgers, daß Peter nicht daherkommt, gebrochen, und sie würde ihm alles verzeihen, wenn er nur gesund und ganz heimkäme.

Um zwei vernimmt sie endlich das charakteristische Tuckern. Sie wendet den Kopf. Der Wagen, ein alter Morris aus Beständen der britischen Armee, schiebt sich in ihr Blickfeld, ein kleiner Kombi mit Farmerkarosserie und am Heck Flügeltüren, die man anheben muß, damit sie schließen. Bemüht, den vielen Schlaglöchern auszuweichen, schaukelt der Wagen die Straße herunter. Als er scharrend und knirschend zum Tor setzt, deckt ein Glücksgefühl Ingrids Sorgen zu.

Sie sagt zum offenen Seitenfenster hinein:

— Wo warst du denn so lange? Wenn du wüßtest, wie froh ich bin, daß du wieder da bist.

Peter steigt aus, sie umarmen sich. Ingrid ist nur wenig kleiner als er. Die Becken der beiden drängen aneinander, Peter drückt ihren Hintern mit beiden Händen zu sich heran. Er löst sich nach einiger Zeit, streichelt ihre Wangen, legt seinen Zeigefinger unter ihr Kinn und hebt es an, damit er ihr Gesicht betrachten kann. Sie riecht das Öl an seinen Händen. Das kommt daher, daß er immer an der Tankstelle mit dem Öllumpen seine Schuhe putzt.

— Uhh, du stinkst, ich muß mir die Nase zuhalten.

Noch mal ein Kuß (da bleibt ihr eh beinah die Luft weg). Dann drückt Peter mit der rechten Hand Ingrids linke Brust unter dem glatten Stoff ihres Kleides, mit diesem (da überläuft einen das Zittern) verschmitzten Lächeln um den Mund. Er sagt:

— Kann es sein, daß dein Busen in meiner Abwesenheit ein wenig gewachsen ist.

— Vor lauter Langeweile wahrscheinlich.

Und im Gegensatz zur Vergrößerung ihres Bauchumfangs wäre dieser Zuwachs positiv zu werten.

Sie lachen. Peter reibt sich die Knie nach der langen Fahrt. Er geht zum Tor. Auf dem Weg dorthin zieht er seinen Schlüsselbund aus der Hosentasche, der Schlüssel quietscht in dem rostigen Vorhängeschloß zweimal herum. Ingrid erkundigt sich, wie die Fahrt war. Während Peter die Kette rasselnd aus den Torgriffen zieht und die Flügel des Tors zur Seite klappt, berichtet er erschöpft, glücklich, daß er sich verspätet habe, weil er am Vorabend im Gebiet von Vöcklamarkt einen Reifenplatzer hatte.

— Soll noch einer so ein Pech haben. Für Arsch und Friedrich. Ein Knall und Pfft! Ich glaube, ich habe den Luftzug bis herein ins Auto gespürt.

Er zieht die Schultern hoch.

Er hat anmutige und trotzdem sehr männliche Züge, ein eigensinniges, stilles Gesicht, doch blickt er wach unter seinem dichten, dunklen Haar hervor. Ingrid gefällt, daß er, was Enttäuschungen anbelangt, eine robuste Verdauung besitzt, darauf beruht ein Gutteil seiner Anziehungskraft. Und: Weil sie sich mehr nach Vitalität sehnt als nach jener Sicherheit, die jahrelang und keineswegs nur unter dem Eindruck ihres Vaters auf dem Wunschzettel ganz oben stand, als Belohnung für eine verdorbene Kindheit.

Er sagt:

— Ersatzreifen hatte ich. Aber die Felge ist in einen Frostaufbruch geknallt, drum mußte ich die Fahrt im Schneckentempo fortsetzen. Immer noch besser, als die Aufhängung in Oberösterreich reparieren zu lassen. Das soll Erich machen, der ist mir einen Gefallen schuldig.

Er hakt die Flügel des Tors an den Seitenwänden des Magazins ein, anschließend leert er den überquellenden Postkasten. Ingrid, die nicht wenig erstaunt ist, daß nach einer Firma, die nichts als Verluste einfährt, eine solche Nachfrage besteht, schiebt ihr Fahrrad in den lichtdurchfluteten Raum. Zwei Werkbänke gibt es hier, eine Drehbank und eine Korrekturabziehpresse, an der Peter nicht mehr arbeitet, seit er in Ottakring drucken läßt. Munitionskisten dienen als Sitzgelegenheiten und zugleich als Stauraum für kaputtes Werkzeug. Ein ausgestopfter Dachs, der aus einem zerbombten Gymnasium gestohlen ist, schnüffelt im rückwärtigen Regal oberhalb der Korrekturabziehpresse an einigen Schachteln der allerersten Version von Wer kennt Österreich? Das Spiel? Ja. Wer kennt Österreich? Ein Reise- und Geographiespiel, das die kleine, besetzte (und bald die Unabhängigkeit wiedererlangende?) Republik in ihrer Schönheit und Harmlosigkeit in den Mittelpunkt stellt.

Mehrere Schachteln dieses Spiels räumt Peter aus dem Laderaum des Morris, zwei Dutzend Reklamationsexemplare, die er auf seiner Vertreterfahrt durch die südlichen Bundesländer und durch Teile von Salzburg zurückbekommen hat. Er seufzt:

— Es fehlt wieder einmal an allem, nur nicht an Arbeit.

— Jetzt vergiß einmal die Arbeit.

Ingrid folgt Peter nach drinnen. Es riecht nach Papier, feuchtem Sägemehl, Rost und Maschinenöl. Es ist ein wenig kühl. Sie setzen sich nebeneinander auf eine der Munitionskisten, pressen ihre Handflächen gegeneinander, verschränken die Finger und drücken zu, bis die Gelenke weiß werden.

— Bestimmt bist du von der langen Fahrt hungrig.

— Und wie.

Peter bläst Luft aus. Nach einer Pause fügt er hinzu:

— Aber in den letzten Tagen war ich so oft im Wirtshaus, daß ich nicht schon wieder ins Wirtshaus will.

— Du willst nur nicht, weil Frau Stöhr Geld von dir bekommt.

Ihm steht das Lächeln schief, ein Blick wie (wie soll man das sagen?): niedergeschlagen im doppelten Sinn, schuldbewußt und —: Ob der sich schämt? Genieren auf jeden Fall.

— Mein Freund, darüber reden wir noch.

Aber vorerst läßt Ingrid ihn in Ruhe. Sie nimmt ihr Rad und fährt zum Greißler. Wieder zurück, ist für die Gemütlichkeit nichts hergerichtet, und Peter, mit weiterhin verrutschter Miene, steckt in Alltagskleidern, in durchhängenden Jeans (wie er an die bloß rangekommen ist?) und in dem unansehnlichen grauen Arbeitskittel, den er von seiner ältesten Schwester zum letzten Weihnachten geschenkt bekommen hat. Er bastelt an den aus dem Leim gegangenen Spielen. Auch Ingrid wechselt die Garnitur, wie meistens, wenn sie im Magazin ist und fürchten muß, sich schmutzig zu machen. Sie hat alte Lieblingskleider hierhergeschafft, Kleider, die sie daheim nicht einmal mehr im Garten tragen dürfte, Kleider als Unabhängigkeitserklärung, so kommt es ihr vor, passend zur Junggesellenatmosphäre im Magazin, passend zu all dem Unfertigen hier, zum Fehlen von Annehmlichkeiten, passend zu dem verschrammten, verbogenen, aber gute Dienste leistenden Elektrokocher, auf dem sie für Peter eine Mahlzeit zubereitet. Krautfleckerl, dazu Salat, Brot, Bier.

— Hände waschen, Mittagessen ist fertig!

Peter hängt den grauen Arbeitskittel an einen Handtuchhaken neben dem Waschbecken. Er schrubbt sich die Hände gründlich bis zu den Ellbogen hinauf. Dann setzt er sich an den kleinen, von Messern zerkerbten Tisch, den Ingrid leer geräumt und mit zwei Munitionskisten in die Mitte des Raumes gerückt hat. Mit unverkennbarem Heißhunger zieht er den Teller, den Ingrid ihm aufgeladen hat, zu sich heran. Er nimmt die Gabel, beugt sich dem Essen entgegen. Ingrid beobachtet ihn beim Zulangen, bei seinen Schluckbewegungen. Manchmal drückt sie seinen Arm oder seinen Oberschenkel, als müsse sie sich vergewissern, daß er hier ist. Seine Augen, sein Mund, jeder Zoll an ihm. Und seine Finger. Es ist schön, ihm zuzusehen, wenn er etwas angreift. Das Brot. Wie er sich das Brot in den Mund schiebt. Er schaut Ingrid über seine Hand hinweg an. Er blinzelt ihr zu. Das freut sie. Er greift sich zufrieden an den Bauch. Ingrid greift sich ebenfalls an den Bauch (die Hoffnung, wie schon seit Tagen, daß das flaue Gefühl auf eine Verstopfung zurückzuführen ist, bittebitte, lieber Gott). Peter streckt das Glas zu einer weiteren Füllung aus, schiebt den letzten Rest des Krauts mit dem letzten Stück Brot zusammen. Er spült mit großen Schlucken, ein behagliches Seufzen, er sinkt nach hinten, in die auf die Munitionskiste gestützten Arme. Einen Moment lang hat es den Anschein, als werde er gleich lächeln. Er sagt:

— Ich liebe dich.

Und Ingrid, die sich ans Abwaschen macht:

— Das will ich dir auch geraten haben. Aber was mir im Moment wichtiger ist als Liebeserklärungen, die dir keine Mühe machen, das sind Antworten auf ein paar Fragen.

Ingrid will von Peter wissen, bei wem er Schulden hat und wieviel. Was an Außenständen vorhanden und noch zu aktivieren ist, also nicht nur illusorischen Wert besitzt. Wo man ihn übers Haxl gehauen hat. Wieviel das Warenlager wert ist, abzüglich der Spielpläne, die er wird wegwerfen müssen, weil — ein weiterer Fehlschlag im Leben des Peter Erlach, ein weiterer Hieb unter die wirtschaftliche Gürtellinie — der Staatsvertrag kommt und die Zonengrenzen fallen. Dann: Mit wieviel er monatlich an Einnahmen rechnet, überschlagsmäßig, inklusive dem, was das Geben von Nachhilfe einbringt. Was an laufenden Kosten anfällt, die Reparaturen am Morris eingerechnet, bei dem mit betrüblicher Regelmäßigkeit der Seilzug der Bremse reißt oder — siehe Vortag — ein Reifen platzt.

Und:

— Wieviel fehlt dir eigentlich von deinem Studium? Es wär zu schön, wenn du das Studium in den Griff bekämst, dann wäre ich restlos glücklich.

Sie trocknet sich die Hände mit einem schmutzigen Handtuch ab, dann holt sie Zettel und Bleistift in der Absicht, Peters Leben in eine mathematische Ordnung zu bringen, daraus ein Zahlenwerk zu machen, ohne einen anderen Wertmesser für Peters Anstrengungen gelten zu lassen als den errechenbaren Erfolg; dazu zählen weder Bekanntschaften, die man auf Reisen macht, noch die Möglichkeit, sich die kleinere Welt anzuschauen, womit doch alles seinen Nutzen habe, so Peter. Er solle endlich, fleht Ingrid, anfangen, wirtschaftlich zu denken, ihr Vater habe ganz recht, wenn er sage, daß man das Glück nicht zwischen Daumen und Zeigefinger nehmen kann.

— Das wäre ja noch schöner.

— Umsonst ist der Tod.

Ingrid rückt energisch näher zum Tisch, schlägt ein Bein unter den Hintern, um höher zu sitzen. Mit ausgefahrenen Ellbogen zieht sie mit einem klobigen Tischlerbleistift Spalten auf Abfallpapier.

— Also los, raus mit der Sprache, nun sag schon, ich will das alles wissen.

Addition und Subtraktion und zwischendurch, damit die Summe rund bleibt, gelegentliche Auf- und Abschläge zu Peters Ungunsten, was unwidersprochen bleibt, ein ums andere Mal, Ingrid könnte wetten, die Zahlen sind nach wie vor geschönt. Acht und sieben und eins und eins und neun und zwei, achtundzwanzig, acht an, zwei weiter, zwei und acht und drei und zwei und neun und sieben und eins, zweiunddreißig, zwei an, drei weiter, drei und vier und neun und drei und fünf und sieben und sechs, siebenunddreißig. Gerundet:

— 40000 Schilling Schulden, 20000 Schilling Außenstände. Peter, dir steht das Wasser bis zum Hals.

Peter verdrückt sich verlegen zu seiner Arbeit, und Ingrid sieht ihm zu, wie er eingegangene und eingeholte Bestellungen mit einer ihr finster anmutenden Ausdauer für den Versand vorbereitet; von dieser Tätigkeit wie anästhesiert. Nach einiger Zeit kritzelt Ingrid ZUR DRINGENDEN KENNTNISNAHME! auf Kopf und Fuß des Rechnungsblattes, sie steht auf, heftet das Blatt an das Anschlagbrett vorne links beim Eingang. Dann, zurück auf der Munitionskiste, redet sie sich ihren Frust von der Seele, das will ich dir mal klipp und klar sagen, und sie muß zugeben, es fühlt sich gut an, mit jemand Erwachsenem auf gleicher Augenhöhe zu reden, sich nicht wie ein Kind vorzukommen, diese verfluchten sechs Jahre Altersunterschied, die sieht man ihnen ja gar nicht an.

Also, Atemholen:

— Weil deine ewige Pleite liegt mir bleischwer im Magen, das geht nun schon so, seit ich dich kenne, und ich frage mich manchmal, ob überhaupt Hoffnung besteht, daß es einmal besser wird. Jedesmal, wenn man glaubt, jetzt geht es aufwärts, kommen wieder neue Schwierigkeiten, es ist wirklich wie ein Verhängnis über deiner Arbeit. Wenn Papa erfährt, daß du sogar fürs Essen anschreiben läßt, dann bist du der Blamierte, dann heißt es von anderer Seite mit Recht, na ja, wir können die Eltern von der Ingrid verstehen, denn der Peter kommt nicht auf die eigenen Beine, der macht sich nur zum Clown mit den lausigen Kröten, denen er hinterherrennt. Liebling, ich weiß, daß du dich redlich rackerst und tust, was du kannst, und daß es so vieles gibt, was dir in die Quere kommt, wofür du nichts kannst. Deswegen mache ich dir auch keine Vorwürfe. Aber einen Erfolg hättest du trotzdem bitter nötig. Ich bin schon ganz verzweifelt, daß es mit deiner Existenzgrundlage so eine Niete ist. Alle oder sagen wir viele junge Menschen, die ans Heiraten denken, jedenfalls die, die mit den Füßen am Boden bleiben, haben einen angemessenen Verdienst, aber bei uns, das kann ich dir flüstern, sehe ich die Felle in unerreichbarer Ferne, irgendwo auf dem weiten Meer bei der roten Schultasche von Hansguckindieluft. Schau nicht so, wenn’s doch wahr ist. Mir ist, als würdest du noch Jahre vertun wollen, bevor du zu was kommst, dann bleiben wir ein ewiges Brautpaar. Dieses Scheißauto, entschuldige bitte, bringt dich noch um deine letzten Knöpfe, gib’s doch zu, es geht auch bei dieser Fahrt wieder mehr drauf, als hereinkommt, und selbst wenn es sich die Waage hält, sollten deine Fahrten doch mehr einbringen, als daß du mit dem Wagen die Gegend verpestest. Von dem Reifen wäre schon wieder was bezahlt. And according to this: Sobald es irgendwie geht, weg mit der Kraxn, der mußt du nicht nachweinen, und dann schaff dir so einen kleinen Steyr-Lieferwagen an, auch wenn du fluchst, daß er klein ist, und was von einem Opel, Ford oder DKW faselst, das wäre ja Größenwahn, weil es kann wohl nicht sein, daß du den Wagen danach kaufst, ob man im Fond miteinander schlafen kann. Allerdings echt Peter. Hat man so was schon gehört. Du, ich denke mir manchmal alles so schön, aber gleich darauf verliere ich wieder den Mut zu glauben, daß es mit der Zeit besser wird, wenigstens daß die Schulden gezahlt sind, ein wenig Betriebskapital da ist und eine Wohnung, in der man sich rühren kann, ohne das Kind auf dem Kasten und daß man die Nachbarn hört, wenn sie sich im Bett umdrehen. Bis wann glaubst du das erreichen zu können, irgendwann so bis in fünf oder zehn Jahren, und auch dann noch fraglich, du, ich werd das schön langsam müde, das geht jetzt so, seit ich dich kenne, und bleibt ewig gleich, weil das Geschäft das Studium an die Wand drückt. Für nichts und wieder nichts. Schatz, ich denke da an einen Spruch von Papa, daß man immer bestrebt sein soll, sich über dem Durchschnitt zu halten, und das nicht nur in moralischer Hinsicht, er hat es, glaube ich, auch während des Krieges so gehalten, und wie weit man damit kommt, kann man an seiner jetzigen Position sehen. Überleg doch mal, was sind deine Bekannten, Leute, sehr nette zumeist, die irgendwie mit dem Wandervogel verbunden sind, die haben sicher ihre moralischen Qualitäten, aber das ist dann auch alles. Das sind die, die dich für einen reichen Mann halten und nicht begreifen, daß es dabei keine Existenz ist, weil sie selbst in einem solchen Schlamassel stecken und sich und ihren Kindern nichts leisten können. Da kann ich dir auch Namen nennen. Aber das soll nicht unsere Welt sein, wir müssen es besser haben, du vor allem, du kennst es ja gar nicht wie ich, und du sollst das keineswegs allein ermöglichen müssen, ich will gerne mitverdienen, wenigstens zeitweise. Du willst doch sicher nicht, daß die Frau am End mehr verdient als der Mann, das würde im jetzigen Zustand aber unweigerlich eintreten, willst du das vielleicht, na also, und es geht auch nicht nur um den Verdienst, auch der Titel spielt eine Rolle. Die Klatschsucht der Leute ist enorm. Wenn du mich kennst, weißt du, daß ich das nicht sage, um dich zu kränken. Aber ich kann nicht jedem deine Leidensgeschichte als Entschuldigung mitliefern, ich will meine Ehe unter guten Voraussetzungen beginnen und stolz sagen können, er ist Architekt, ein Diplomingenieur, wir haben das Recht dazu, uns steht ein leichtes, wunderbares Leben bevor, auch wenn wir nicht auf Rosen gebettet sind, aber zum Glücklichsein reicht’s. Kapierst du, worauf es mir ankommt? Halt mich bloß nicht für die hochnäsige Ministertochter, die in Geld gewickelt ist, und daß du nicht gut genug bist für mich, bitte nicht, mir ist nichts zu Kopf gestiegen als die pure Vernunft und die Einsicht, daß es Dinge gibt, um die man nicht herumkommt. Du mußt doch einsehen, wenn wir heiraten, will die Verwandtschaft wissen, wie und was mit dir ist, und da würden sie ja reihenweise auf den Rücken fallen, wenn sie erfahren, daß du ein Nachhilfelehrer bist, der mit dem Vertrieb von Brettspielen Schulden macht. Glaub mir, ich sage das wirklich nicht, um dich zu kränken oder zum Zeitvertreib, ich mache mir halt solche Sorgen. Papa darf auf keinen Fall recht behalten, das würde ich ihm niemals gönnen. Es ist arg, herrjemine, wenn wir uns nicht so gern hätten, wäre alles halb so schlimm, aber ein Leben ohne dich, das kann ich mir nicht denken, wir bleiben zusammen, egal, was kommt, so eine Enttäuschung wie mit der Hertha wirst du kein zweites Mal erleben. Aber bitte, bitte, geh im Wintersemester zurück über deine Bücher, wirst sehen, das kommt dich auch billiger, als wenn du dich wie im Vorjahr mit dem Wagen aufs Eis begibst und auf verwehte Straßen. Diese heillosen Fahrten. Du kannst dich aufs Wetter genausowenig verlassen wie auf so vieles, und mir würden diverse schlaflose Nächte erspart bleiben. Überleg dir das doch. Vielleicht kannst du am Ende mit einer Prüfung abschließen, das wär das allerhöchste, weil du bist jetzt fünfundzwanzig, Peter, und es darf einfach nicht sein, daß du noch so eine Verlegenheitsarbeit hast, bloß um Geld zu verjuxen. Dir muß doch selbst klar sein, daß du nicht mehr lange durchhalten kannst. Letzte Woche habe ich Frau Hastreiter Geld gegeben, damit sie was zum Bettwäsche Ausbessern hat, derweil müßte sie es zum Logisgeld nehmen, sie hat für dich schon soviel vorgestreckt. Und Frau Stöhr habe ich heute vormittag Geld gegeben, es ist kein Vorwurf, aber ist das ein Zustand, daß das Mädel dem Burschen Geld gibt, damit er durchkommt. Ich kann doch nicht ewig die beiden Omas aussackeln für meine Schandtaten. Dir Geld geben ist wie Wasser in ein Schaff ohne Boden schütten, du weißt, Papa hat einmal daran gedacht, dir finanziell unter die Arme zu greifen, aber als er gesehen hat, daß von Studieren keine Rede ist, war es nur konsequent, daß er davon wieder abgekommen ist. Sag mal, hörst du mir eigentlich zu oder denkst du dir, ach, laß sie reden, ich tu doch, was ich für richtig halte, den Verdacht hab ich nämlich, weil du überhaupt auf nichts reagierst. Nur weil du sechs Jahre älter bist, brauchst du noch lange nicht denken, die Ingrid. Gut, na um so besser, also noch mal: Steig herunter von deinem Irgendwie und Irgendwann und denk dran, was du deiner zukünftigen Familie schuldig bist, der ganze Aufwand mit Platz und Kleidung und Essen, wenn ich zu Hause bin, wer soll das finanzieren, wo alles immer teurer wird? Soviel Nachhilfe kannst du gar nicht geben. Die Studiererei bringt dich ja nicht um, wirst sehen, und du bekommst am Ende als Belohnung mich. Ich mache dir dein Leben so großartig, daß du zehnmal für alles entschädigt wirst. Was sind schon zwei Jahre für unser Leben, das uns bevorsteht, die vergehen wie im Flug, und wenn wir erst unabhängig sind und uns niemand mehr dreinredet, wir unsere eigenen vier Wände haben, Babies bekommen, dann wissen wir, daß sich die Plage gelohnt hat, bis dahin nehme ich alle Annehmlichkeiten wahr, die mir zu Hause geboten werden, ich sammle meine Aussteuer zusammen, laß mich von dir nicht abbringen und tu auf der Uni mein möglichstes, um in der Zeit zu bleiben. Wenn auch du wieder auf der Uni gesehen wirst, ist bestimmt auch Papa zugänglicher, es wäre ein Fortschritt für alle. Unter uns, zum Heiraten ist es ja eh viel zu früh, am Ende würden wir nur selbst dabei draufzahlen, neunzehn ist halt ein bisserl jung, und auch für dich ist Warten besser, damit die Voraussetzungen stimmen, wenn es soweit ist. Was den nötigen Grips betrifft, den hast du ohnehin für drei, halt vor Gebrauch einschalten, und die anderen Fehler, Liebling, da muß jetzt wirklich was passieren, das zieht einem die Schuhe aus, deine Schlamperei und Unverläßlichkeit, meine Meinung kennst du ja, halt was wir auf der Hohen Wand besprochen haben und was du immer entschuldigst mit keine Zeit haben. Aber keine Zeit gibt es nicht. Ich glaube viel eher, du hast es von zu Hause nicht besser gelernt, und dann warst du zu lange allein oder in Untermiete. So verschwitzte Wäsche und Kleider, das ist wirklich etwas Häßliches und kann sehr abstoßend und geschäftsschädigend sein, selber merkt man es nicht, aber die andern denken sich, ein schöner Schlamperdatsch, von dem ist keine ordentliche Arbeit zu erwarten, und dieses fesche Mädel, wo die sich den bloß aufgegabelt hat, so Sachen, wo du dir selbst Steine in den Weg legst, das mußt du um Himmels willen abstellen, sonst bist immer du derjenige, der draufzahlt. Deine Fußsohlen sehen ja manchmal aus, als ob du durch den Schornstein gekommen wärst. Also denk drüber nach und erfinde keine Ausreden, dafür gibt’s nämlich keine, sieh das bitte ein, wegen daß du jetzt durchbeißen mußt, vor allem bei dir selbst, und später, wenn auch ich über mich selbst bestimmen darf, was ja absehbar ist, dann denken wir nicht mehr an die Probleme vom Anfang. Hab du nur auch ein bißchen Geduld und mach es mir dadurch leichter, Peter, schau mich an, versteh mich doch bitte richtig, es sieht nur auf den ersten Blick aus, als würde das unser gemeinsames Ziel erschweren, aber du mußt jetzt mit eiserner Energie arbeiten und wirklich versuchen, Papa einen Beweis deiner Tüchtigkeit zu liefern. Ich erwarte bestimmt keine Großtaten, aber wenn ich mich für dich stark mache, und das mache ich, da kannst du sicher sein, brauche ich die Gewißheit, daß ich nicht mit Luftargumenten hausiere, du hast schon richtig gehört, es ist leider ein Zug, den ich an dir vermisse und von dem Papa einiges zuviel hat, die Nüchternheit.

Und jetzt tief Luft holen, ausatmen, gut, zufrieden, sie ist zufrieden, wie geübt sie sich anhört mit ihrem Realitätssinn, schließlich, irgendwer muß kühlen Kopf bewahren, und warum ein Blatt vor den Mund nehmen, das fängt sie gar nicht erst an. Und Peter? Sieht aus, als hätte die Predigt gewirkt. Er hat gar nicht versucht, sie zu unterbrechen, hat nur dann und wann mit Duldermiene aufgeblickt, versonnen oder verunsichert(?), aber offenbar geduldig (wie ein Pferd im Gewitter), bereit, auch dies noch einzustecken: Er hantiert weiterhin stumm, steif im Gesicht, den Blick stier auf die Arbeit gerichtet. Ingrid sieht, wie er vor Verwirrung einer Spielfigur den Kopf abbricht.

— Du tust mir wirklich schon leid, ich bin aber noch immer nicht fertig. Stell dir vor, Papa weiß von unserer Verlobung.

Und schwanger bin ich auch, wenn’s blöd kommt. Sie ist drauf und dran, es zu sagen, sagt es aber nicht, denn Peter läßt auch so von seiner Arbeit ab. Erschrocken blickt er in Ingrids Gesicht, und seltsam, für einen kurzen Moment hat sie ein Glücksgefühl, das nur mit der ungebrochenen Kraft ihrer Liebe zu tun haben kann.

Und der Mai drängt mit einem lichten Moment durch die offene Front und sickert durch die Glasziegel am Dach. Eigentlich ist es warm und friedlich wie in der Wüste.

Ingrid sagt:

— Es ist mir ein Rätsel wie, aber die Post funktioniert schnell.

Peters Schläfen glitzern vom Schweiß, er rollt sich das halbvolle Bierglas über die Stirn, zweimal hin und her.

— Wie hat er es aufgenommen?

Weniger als Frage denn in der Gewißheit, daß nicht viel Gutes dabei herausgekommen sein wird.

— Na ja, er hat nicht direkt einen Krach gemacht, jedenfalls am Anfang. Nur, daß er sich nicht vor vollendete Tatsachen stellen läßt und die Verlobung einfach nicht anerkennt. Da hätte ich gleich spuren sollen, seine Verhandlungen sind ja viel wichtiger. Aber ich habe ihm gesagt, daß ich meine Wahl getroffen habe.

— Damit wird er sich abfinden müssen.

— Daran glaubst du? Am Ende hat er wie immer darauf gepocht, daß er der Herr im Haus ist, seine Prinzipien blabla, und daß ich noch nicht volljährig bin. Er sagt, wir hätten ihn hintergangen, womit er nicht ganz unrecht hat. Es falle ihm nicht ein, sich ständig für dumm verkaufen zu lassen. Aber der Gipfel ist, daß er schon wieder versucht hat, meine Gefühle herunterzuspielen. Diesmal hat er behauptet, Romeo und Julia sei kein Stück über die Kraft der Liebe, sondern über den Unsegen der Pubertät. Das reicht ihm als Rechtfertigung, mir mit allem möglichen zu drohen, vor allem aber damit, daß ich dich nicht mehr sehen soll.

— Damit aus dem verhinderten Ehepaar ein verhindertes Liebespaar wird.

— Liebling, daß ich das Verbot nicht schlucke, siehst du daran, daß ich hier bin. Ob er mir die Alpenvereinstouren verbieten kann, wage ich auch zu bezweifeln. Trotzdem müssen wir zusehen, daß es mit ihm nicht noch schwieriger wird. Glaub mir, ich kenn ihn, wir müssen ihn ein wenig bei Laune halten. Solange er der Machthaber ist, läßt er mich nicht los.

Pause.

— Vorerst hast du Hausverbot.

Peter, blaß um die Mundwinkel, mit schlaff herabhängenden Armen, das zu große Hemd lose am Körper. Er betrachtet Ingrid starr (ohnmächtig?), nichts an ihm bewegt sich, stockstill, er kommt ihr so zerbrechlich vor in diesem Moment. Bestimmt hat er die letzten vier Tage nichts gegessen, um das Geld zu sparen, ja klar, ist auch ganz rippig auf den Rippen, nichts dran, daß ihr das nicht früher eingefallen ist.

Er sagt mit bitterem Lachen:

— Soso. Hausverbot. Nur weil ich —. Zum Teufel, ich reg mich nicht auf. So leicht paßt ihm ja doch keiner.

— Läßt er es eben.

Dann zum zehnten Mal, was Richard gegen Peter hat, der ganze Parcours: Daß er ein Windbeutel ist, in Richards Augen, damit fängt es an, und daß Peter diesen Ruf mit der heimlichen Verlobung vollends gefestigt hat (man kann es Papa nicht gänzlich verdenken, denn es ist das genaue Gegenteil von dem, worum er uns gebeten hat). Daß Peter sechs Jahre älter ist als Ingrid, daß er nichts ist und nichts hat und daß man ihm nicht beigebracht hat, wie man etwas darstellt. Weiters: Daß sich Peters Vater zweimal vor einem Volksgerichtshof zu verantworten hatte und daß er nach mehreren Monaten Ziegelschupfen zur Zwangsarbeit war für anderthalb Jahre in St. Martin am Grimming zur Verbesserung der Gesinnung, was nicht viel gebracht hat. Wie Richard behauptet. Was der alles weiß. In so was heiratet man besser nicht rein.

— Und mich, seine Tochter, hält er für naiv wie aus dem Krähwinkel, simple Dummheit will er als Antriebsmotor aber auch nicht ausschließen.

— Alles was recht ist. Da. Da könnte einem —.

Ingrid sitzt nach wie vor auf der Munitionskiste, mit dem Tisch im Rücken. Peter geht in der Werkstatt auf und ab, dort, wo Platz ist. Er schüttelt beharrlich den Kopf und verpackt die Flüche, die er gerne loswerden würde, die aber nicht erwünscht sind, in die leise Kritik, daß man von einem Minister sollte mehr erwarten dürfen.

— Die ganze Regierung ist ein Trauerfall, sagt er: Aber gut, wohin Politik führt, habe ich schon vor zehn Jahren begriffen.

— Peter, wenn der Koreakrieg nicht gewesen wäre, hätte ich nicht mit dir geschlafen. Nicht gleich.

— Schön für uns, schlecht für Korea. Dein Vater sieht es vermutlich genau umgekehrt.

Peter schneidet eine Grimasse:

— Was sagt eigentlich deine Mutter?

— Mama? Die übt sich in Neutralität. Ich muß ihr halt immer versprechen, brav zu sein.

— Hoffentlich ein wunder Punkt auch an diesem Treffen.

— Schatz, es wird nichts zugegeben. Heute beim Weggehen hat sie gesagt: Daß mir keine Klagen kommen. Und ich habe ihr versprochen, daß von mir keine Klagen kommen werden, da könne sie sicher sein.

Ingrid steht auf, umarmt Peter und küßt ihn mit der Zunge. Sie fährt mit den Händen in die Gesäßtaschen von Peters Jeans. In dem Moment wird die Umarmung unterbrochen von einem unbeholfenen Hüsteln. Auch egal. Nach Küssen war Ingrid sowieso nicht wirklich, ihr war nur, als müßte es grad sein.

Es ist einer von Peters ehrenamtlichen Gehilfen, der sich da bemerkbar macht, ein etwa sechsjähriges Bürschlein, blondschopfig, schieläugig, mit einem zugeklebten Auge: vier überkreuz gezogene hautfarbene Pflaster, rechts. Der Bub trägt seine kurzen Hosen über einer wollenen Strumpfhose. Obwohl beide Tore offenstehen, traut er sich mit seinem Tretroller nicht herein.

— Na, wie läuft’s? fragt Peter.

— Geht so.

— Paß auf, ich hab was für dich.

Peter sucht nach seiner Jacke, die er bei den Sachen findet, die Ingrid vom Tisch geräumt hat. Seine Hände tauchen in die Taschen, außen, innen, Schlüssel klirren, Papier raschelt. Er geht zum Tor. Dort überreicht er dem Buben ein Abziehbild der Großglockner-Hochalpenstraße. Für das hintere Schutzblech des Tretrollers, wie Peter sagt. Der Knirps kann sich vor Begeisterung kaum halten, er bedankt sich mehrfach mit kleinen Verbeugungen, es ist, als hätte er für seinen Roller eine Nummerntafel erhalten.

— Da wird Papa schauen.

Der Bub will das Abziehbild gleich aufkleben. Doch als auch Ingrid zum Tor tritt, weil es sie nach draußen zieht, fährt er davon. Er ruft, bereits auf der Straße (dem Schotterweg), das Schubbein geknickt in der Luft, als friere das Rufen den Ablauf der Bewegung ein: daß seine Mutter auf ihn warte. Die Stimme verklingt, das Bein schiebt wieder an, rutschend im Schotter mit dem flachen Schuh.

Obwohl es leicht tröpfelt, bleibt Ingrid draußen. Sie schaut dem Buben hinterher, bis dieser beim Gasthaus verschwunden ist. Ihr Blick schweift im Bogen zurück über die mit Blumen überkrustete Wiese jenseits des Baches, zu einem Pappelstand, vor dem eine Kleinhäuslersiedlung gebaut wird, in gestaffelten Baustadien. Eine Mischmaschine schnarrt seit einiger Zeit in die friedliche Stille herüber. Zwei Schwalben fliegen. Stimmt, ist in der Zeitung gestanden, daß sie eingetroffen sind. Ingrid beobachtet eine Weile die jähen Richtungswechsel der Vögel, das Gleiten und wieder Beschleunigen mit schnellen Flügelschnitten, ein Anblick, der Ingrid bewußtmacht, daß jetzt, wo die Tage wärmer werden, für das Magazin die schönste Zeit beginnt. Sommers staut sich darin eine Hitze zum Ersticken, im Winter friert man, weil es unmöglich ist, den Raum vernünftig zu beheizen, da ist es meist auch um Peters Gesundheit schlecht bestellt.

Im vergangenen Jahr, Ende November, zog sich Peters Verkaufsfahrt in die Länge. Er arbeitete sich bis in die hintersten Wintersportorte vor, um Bestellungen einzubringen. Er hängte mehrfach den einen und anderen Tag an, bis es allerhöchste Zeit war, nach Wien zurückzukehren. Aber in Wien fror es Stein und Bein. Obwohl Peter sich den Atemwärmer, den Ingrid aus Wollresten gestrickt hatte, vor Mund und Nase spannte, holte er sich beim Arbeiten im Magazin eine schwere Verkühlung, die sich erbarmungslos ins Geschäft fraß. Peter lag eine Woche mit Fieber im Bett, eine weitere Woche war er nahezu taub. Ingrid kann es noch vor sich sehen, wie er versuchte, ihr die Worte vom Mund abzulesen. Kein Arzt konnte ihm helfen, alle sagten, da müsse man warten, bis der Schnupfen vorbei ist. Und sie (Ingrid), die mit Problemen an der Universität und zu Hause ausgelastet war, ließ sich in das Desaster hineinziehen, pendelte zwischen Hysterie und Verzweiflung, weil sie einerseits Mühe hatte, Peter vom Magazin fernzuhalten, ihm andererseits nicht einmal die Hälfte der liegengebliebenen Arbeit abnehmen konnte. Zwei Wochen hetzte sie herum, war mit den Nerven runter, und alles ohne nennenswerten Erfolg. Als Peter am zweiten Adventsonntag in der Früh das Ticken der Weckuhr hörte, war das Weihnachtsgeschäft für ihn gelaufen. Wieder eine Chance zum Geldverdienen dahin. Anfang des Jahres füllte er das Lager trotzig bis unter die Decke, um künftig für solche Eventualitäten gewappnet zu sein. Aber auch diese Vorsorge wird, wie es aussieht, torpediert vom drohenden Zustandekommen des Staatsvertrags (Peters Ausdruck). Sowie die Unterschriften geleistet sind, wird Peter die Spielpläne, auf denen die Zonengrenzen eingezeichnet sind, austauschen müssen. Wenn ihr Vater davon Kenntnis bekäme (nimmt Ingrid an), würde das seinen ohnehin fast heiligen Verhandlungseifer nochmals verdoppeln.

Sie wirft ein paar Steine in den Bach, ein wenig traurig über die neuerlich bevorstehende Vergeudung von Peters Kräften. Das Geräusch der Mischmaschine wird von einem Moped übertönt, das sich über den geschotterten Weg müht. Zu Ingrids Erleichterung biegt das Moped noch vor den Garagen schnatternd zwischen einige Wohnhäuser und verliert sich dort mit seinem Lärm.

Inzwischen hat Peter den Tisch und die Munitionskisten an ihre alten Plätze gerückt und den Morris ächzend in die Werkstatt geschoben. Er klappt das linke Garagentor mit einem Quietschen der Scharniere auf und hebelt die vertikal verlaufende Stange in den Metallring am Boden. Er hält einen Moment inne, um die Baustelle über dem Feld zu betrachten. Ein Mann, eine Frau und zwei Kinder stehen vor einem Rohbau. Der Mann und die Kinder mit den Händen am Rücken, herausgeputzt in Sonntagssachen, geschniegelt, mit Zöpfen, mit Scheiteln wie zu Fronleichnam.

Ingrid schaut Peters Blick hinterher. Die Kinder lassen sie an ihren Bauch denken. Einen Augenblick später hat sie den lustigen Einfall, daß sie all das tut, damit ihre Kinder einmal eine schöne Vergangenheit haben werden. Die Idee gefällt ihr, sie überlegt, ob sie Peter davon erzählen soll. Aber der würde sich am Ende noch was drauf einbilden. Sie nimmt ihre Strickjacke und das von einigen Regentropfen angepatzte Anatomie-Buch vom Mäuerchen und geht nach drinnen. Peter schließt hinter ihr das zweite Tor. Jetzt dringt Licht nur mehr durch die Glassteine am Dach, in Kegeln, die eine ruhige, gedämpfte Helligkeit verbreiten. Gemeinsam entfernen Ingrid und Peter alles Geschäftliche aus dem Fond des Morris. Peter fegt die Holzrippen der Ladefläche mit einem Besen aus, und Ingrid pumpt mit einem Fußbalg beide Luftmatratzen auf. Sie denkt, ein schönes Ehebett wäre ein Lichtblick, das Herumschustern auf Luftmatratzen verliert mit der Zeit gehörig von seinem Reiz. Wenn Peter sie an sich zieht wie in der Pension an der Straße zwischen Wiener Neustadt und dem Semmering, diese Nacht ist ihr unvergeßlich. Wie Peter über ihr war und sie sich ganz in ihm vergraben konnte, das hat sie dermaßen glücklich gemacht, daß sie gerne bereit war, die Konsequenzen zu tragen. Allein die frisch gewaschene und gestärkte Tuchent, während sie hier nur zwei Wehrmachtsdecken haben, einen verpinkelten Schlafsack und einen Bärenpelz vom Dachboden (sie kann von Glück sagen, daß der Pelz bisher niemandem abgegangen ist, sie befürchtet nämlich, man könnte aus seinem Fehlen Schlüsse ziehen, und zwar die richtigen). Sie schiebt die Luftmatratzen in den Wagen, breitet eine der Wehrmachtsdecken darüber. Dann beginnt sie sich auszukleiden, langsam, unbefangen. Peter, der wieder etwas Mut gefaßt hat, tut es ihr gleich. Er setzt sich in den offenen Laderaum, öffnet die Schnürsenkel seiner Schuhe, dabei betrachtet er Ingrid, die ihren BH aufhakt und ihn über eine der offenen Türen des Morris hängt. Ingrid mag es, sich von Peter beim Ausziehen zuschauen zu lassen, sie genießt es, es ist eins, sich in kleinen Räumen auszuziehen, in Badezimmern, Umkleidekabinen, Schlafzimmern, beim Arzt, und ein anderes, sich in großen Räumen auszuziehen, hier im Magazin, das ihr vorkommt, als dehne es sich und dehne sich weiter, als sie nackt zu der quer durch den Raum gezogenen Stange geht, die vor dem Krieg zum Aufhängen der Zweiräder diente. Sie legt ihre Kleider darüber. Anschließend geht sie zurück zu Peter, der weiterhin an der Kante der Ladefläche sitzt, jetzt ebenfalls nackt. Er legt seine vom Arbeiten mit Papier trockenen Hände auf ihre Hüften, er berührt ihre Hinterbacken, drückt, betastet, streichelt ihren Rücken, wo die Nieren sind. Seine Hände legen sich um ihre Brüste, kreisen dort. Nach einiger Zeit läßt er sich zurückfallen, öffnet die Arme, und Ingrid kriecht über ihn, in den schalen Gummigeruch der Luftmatratzen, ins Gestaube der Wehrmachtsdecken hinein. Sie küßt Peters Brustwarzen, leckt das Salz aus den Vertiefungen seiner Narbe am Oberarm, auf der Rückseite, wo die Narbe größer und zerfurchter ist als vorne an der Einschußstelle. Sie fährt mit der Linken durch Peters ungekämmtes Haar und küßt ihn spielerisch, kleine Knallküsse auf die Stirn und auf die Wange. Wenn es nach ihr ginge, würde sie zuerst noch eine Weile schmusen und sich umarmen lassen. Aber Peter löst sich von ihr und gibt ihr zu verstehen, daß sie sich auf den Rücken legen soll. Mal wieder nicht grad die Zärtlichkeit in Person. Doch weil Peter an diesem Tag schon genug Kritik hat einstecken müssen, fügt Ingrid sich in seine Anweisungen und läßt ihn in sich eindringen. Nicht so ungestüm, würde sie gerne sagen, du und deine überschießende Sexualität, klar, daß sie zumindest in Betracht zieht, ihn einzubremsen, mal halblang, wir haben doch alle Zeit der Welt. Aber sie waren mehrere Tage getrennt, da hat es ihn meistens, da kann er nicht mehr warten. Diese dumme Fahrt über den Karst des südlichen Alpenvorlandes, wofür eigentlich, fünf verlorene Tage, wenn sie sich vorstellt, daß Peter bald die Last mit dem Geschäft nicht mehr hat, diesen Wirbel aus kleinen und großen Plagen, zwischen denen es ihm immer schwerer fällt, sich zu bewegen. Das Geschäft hat schon genug Kummer gebracht, sie wäre so glücklich, wenn Peter die Lizenzen verkaufen oder wenigstens jemand anderen für sich fahren ließe, sonst gibt es auch in Zukunft dauernd Sorgen und Aufregungen und Arbeit bis in die Nacht. Und was für ein Segen, wenn Peter wieder studieren ginge, sie könnten gemeinsam lernen, gemeinsam auf die Bibliothek, gemeinsam in die Mensa, müßte doch möglich sein, auch ohne den Bettel, den er mit dem Spiel verdient. Denkt sie. Und der Morris schaukelt, Ingrid kann die Federung hören, das Ding knarrt und scheppert wie ein alter Kinderwagen, wie beim Dosenschießen. Wenn bloß nicht wieder ein Stoppel aus der Luftmatraze fliegt. Ingrid drückt Peter fest an sich, er vergräbt keuchend sein Gesicht in ihrer Halsbeuge. Er fährt mit den Händen unter ihren Hintern und zieht, während er heftiger in sie hineinstößt, wie gefällt dir das? na ja, ihre Hinterbacken auseinander, streichelt mit einem Finger ihren After. Sie spreizt die Beine so weit sie kann, streckt die Füße in die Höhe und ermahnt sich dabei aufzupassen, daß sie sich an den von Eisentraversen zusammengehaltenen Holzrippen der Seitenverkleidung nicht wieder einen Span einzieht. Ja, das ist Liebe, Gottes höchst eigener Wille. Ihr entschlüpfen mehrere gepreßte Stöhnlaute, und als ihr einfällt, daß sie nicht im elterlichen Garten liegt, sondern im Magazin, werden die Stöhnlaute zu kleinen Schreien, die aber rasch ausklingen, als Peter kommt.

Die horizontale Himmelfahrt? Für Ingrid? Diesmal am Fleck. Sie preßt die Schenkel aneinander, vielleicht, daß sie so, na ja, oder wenn sie sich an Peters Schenkel reibt. Doch das funktioniert nicht. Also kuschelt sie sich an Peters Schulter und schließt die Augen, hört, wie sein Herz pocht, ganz heftig, wie von einem, der schnell gerannt ist, ein Bub, der mit nachlassendem Puls über die Wiesen nach Hause geht.

Sie sagt:

— Eines schönen Tages werden wir heiraten.

Ihr ist für einen Moment, als könnte sie sich in ihre eigenen Worte wickeln, aber dann zieht sie doch lieber den Bärenpelz über ihren nackten Körper. Sie ist ziemlich feucht zwischen den Beinen, es zieht dort und wird ein wenig kühl. Lediglich ihre rechte Hand bleibt drüben bei Peter und umfaßt sein abschwellendes, klebriges Glied.

— Das nennt man atrophiert, sagt sie nach einer Weile, und es ist noch ein Nachhall von Stöhnen in ihrer Stimme: Habe ich Anfang der Woche gelernt. Wenn etwas schwindet, sagt man in der Medizin atrophiert.

Peter gähnt so ausgiebig, daß es im Kiefergelenk knackt.

Sie sagt:

— Bei dir schwinden jetzt auch die Geister, was?

Peter gähnt nochmals, ohne nur im mindesten dagegen anzukämpfen oder wenigstens die Hand vorzuhalten. Er entschuldigt sich, er habe vergangene Nacht wegen der Reifenpanne fast nichts geschlafen. Kurz darauf ist er weg, von einem eindeutig mehr geschäftsbedingten als postkoitalen Schlafbedürfnis überwältigt, wie ein Murmeltier, mein Gott, den würde auch ein Trompetenstoß nicht mehr wecken. Und sie? Ingrid? Sie starrt zur Wagendecke, einen Arm unter Peters Nacken, die andere Hand zwischen ihren aufgestellten Beinen, Zeige- und Mittelfinger an den Schaft ihrer Klitoris gedrückt, in Erkundung, was sich da noch machen läßt. Während sie den linken Arm unter Peters Nacken hervorzieht, erzeugt sie mit der rechten Hand sachte Vibrationen, sie legt die linke Hand auf den Unterbauch mit leichtem Zug nach oben, das stimuliert zusätzlich, hat sie unlängst herausgefunden, dann die Linke auf die rechte Brust, auch schön, dann runter zwischen die Beine, nicht von oben, weil dort die rechte Hand den Zugang versperrt, also von unten beziehungsweise von hinten, unter dem linken Oberschenkel durch, besser, sie legt sich mit dem Hintern drauf, aber blöderweise schläft ihr die Hand dann rasch ein, das weiß sie aus Erfahrung. Mit dem linken Zeige- und auch dem Mittelfinger stimuliert sie sich drinnen, was ziemlich gut ist, und dabei denkt sie an Geschlechtsverkehr, das kommt wie automatisch, wo sie doch vorher noch an Peters Schulden gedacht hat. Sie sieht rasch aufeinanderfolgende, zusammenhanglose Bilder mit Körperteilen darin und raschen Bewegungen. Die Augen hat sie geschlossen, sie ist ganz auf sich konzentriert und insgesamt sehr ruhig, keine angespannte Muskulatur, weil das kann einem glatt den O. verhauen oder wie man das nennen will. Sie atmet langsam und tief in den Bauch (unruhig Atmen kann einem ebenfalls glatt den O. verhauen). Sie spürt dann genau, wann es ihr kommt, und sowie es losgeht, atmet sie tief aus und streichelt sich währenddessen weiter und hört dann auf, sehr schön, sehr intensiv am Beginn, Kontrakturen, die an Frequenz rasch abnehmen und nach vielleicht einer Minute verebben. Für eine weitere Minute ist ihr flau und schwindlig im Kopf, sie nimmt an, das hat mit der Abnahme der cerebralen Durchblutung zu tun. Aber auch das vergeht. Sie wischt sich die Finger an der Wehrmachtsdecke ab und rollt sich neben Peter ein, den Kopf an seiner Schulter. Sie fühlt sich wohl und doch irgendwie gedemütigt von der ganzen Heimlichkeit. Und nervös. Jawohl, nervös. Weil sie schön langsam dran denken sollte, nach Hause zu fahren. Aber zu Hause erwartet sie erst recht nichts, deshalb bleibt sie noch eine Weile liegen und hängt ihren Gedanken nach — wie sie ihr Leben besser ordnen könnte. Erstens, zweitens, drittens. Aber das verbeulte Weltbild ihrer Eltern ist, wie sie findet, für sie nicht anwendbar, und da Peter in einer Übergangsphase steckt, die ebenfalls keine zuverlässigen Anhaltspunkte bietet, ist ihre Welt schwierig auszurechnen. Die Gedanken gleiten an allem Wesentlichen ab und vorbei, sie salutieren vor den Fakten, traumhaft, mechanisch. Und ähnlich ihren verschwommenen Wertmaßstäben dehnen sich nach und nach auch ihre Pupillen. Zehn Minuten nach Peter ist auch Ingrid eingeschlafen. Als sie wieder aufwacht, weil sie Regelschmerzen hat, weiß sie, noch bevor sie die Augen öffnet, daß es dunkel ist und regnet. Die Luft ist erfüllt von einem singenden, echohaften Geräusch, das von den Tropfen erzeugt wird, die der Wind in Stößen gegen das Tor weht.

Vorsichtig, um sich den Kopf nicht anzuhauen, kriecht Ingrid aus dem Wagen. Der bröselige Estrich unter ihren Füßen fühlt sich kalt an. Mit weit ausgestreckten Armen tappt sie zur Front, an dessen Mittelpfeiler der am leichtesten zu findende Schalter angebracht ist. Sie knipst das Licht an. Noch während ihre Augen sich daran gewöhnen, sucht sie im Schimmer zweier 40-Watt-Birnen ihre Schultasche mit der Binde darin, dann ihre Kleider, wovon Peters Schlaf nicht sonderlich gestört wird. Er zieht den Kopf unter die Decke und knirscht weiter mit den Zähnen. Ingrid schlüpft hastig in ihre Kleider, dann kriecht sie nochmals zu Peter in den Wagen, in die aus den Decken aufsteigende Wärme. Sie küßt Peter hinter das oben liegende Ohr und auf die Schläfe, umarmt ihn, so gut es geht, fährt mit der einen Hand in seinen Nacken und berührt das Haar, dicht und stachelig vom Haarschnitt (wann zuletzt?) und feucht, das fühlt sich gut an und vertraut. Er murmelt schlafend oder im Halbschlaf (sie weiß es nicht), zweimal:

— Es reicht.

— Es reicht.

Sehr charmant.

Ingrid überprüft, ob die Knopfleisten von Kleid und Strickjacke geradesitzen, dann ist das Licht schon wieder gelöscht und sie draußen im Regen und auf dem Fahrrad. Sie fährt den gleichen Weg zurück, den sie gekommen ist, diesmal ohne sich zu beeilen. Wegen der menstrualen Krämpfe ist ihr nicht besonders nach Bewegung zumute, sie wird auch nicht weniger naß, wenn sie sich müde strampelt. Auch der Krach, den es daheim setzt, wird nicht milder ausfallen, ob sie jetzt um fünf vor oder fünf nach Irgendwann eintrudelt. Ihr Sündenkonto ist überzogen, so oder so, und sie kann nur hoffen, daß ihr Ausbleiben niemandem auffällt. Alles schon dagewesen.

Kurz vor der Stranzenberggasse fragt sie einen alten Mann nach der Uhrzeit.

— Zwanzig vor zehn, sagt der Mann.

Ingrid bedankt sich, sie wünscht eine gute Nacht. Der Mann hat bereits seinen regenglänzenden Hut gelupft, da sagt er noch:

— Ich gehe und zünde ein paar Kerzen auf den Gräbern an, damit meine Toten auch eine Freude haben, wenn sie schon tot sein müssen.

Der Himmel ist niedrig zugezogen, die leichten Tropfen fallen durch graues Gaslicht in einen Wasserfilm, der das Licht stark genug reflektiert, daß sich die Vorüberfahrende darin als Vorüberfahrende spiegelt. Die Reifen sind von Wasser umwickelt, sie zischen leise am unruhigen Grund. Radios schallen in Wellen mit emphatischen Stimmen durch offene Fensterquadrate. Die Stimmen bleiben für sich, jenseits der mit Gemüse bepflanzten Vorgärten. Beim Treten im Regen fühlt sich der Rock auf den Schenkeln hart an. Zwei Autos stürzen in dichter Folge vorbei, hupend wie zu einer Hochzeit.

Wenn ich Glück habe, sind heute andere Dinge wichtiger als ich.

Unterwegs in den Straßen, die nach Hause führen und von dort weg und an zu Hause vorbei.

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