Freitag, 1. Juni 2001

Am Morgen ist Philipp müde und zerschlagen, sein Kopf dröhnt wie ein Glockenturm. Er bringt sich die längste Zeit nicht aus dem Bett, so steif fühlt er sich, so elend. Ohne wieder einschlafen zu können, bleibt er unter der Decke liegen, bis alles still geworden und der Mercedes weggefahren ist. Dann sitzt er ungewaschen, unrasiert, mit ausgebranntem Kopf, irgendwie weggetreten, obwohl er Kaffee für zwei trinkt, augenreibend und gähnend auf der Vortreppe und fühlt sich vom heißen Wetter geohrfeigt. Das notiert er in sein aktuelles Heft, dann schaut er einigen Schülern zu, die vorne an der Straße vorbeigehen. Er denkt an die unverwechselbaren Gerüche von Spitzabfällen und verschütteter Tinte, die immer vom Grund seiner Schultasche hochgestiegen und ihm deutlich im Gedächtnis geblieben sind. Er denkt an das Schönschreibheft, das er in der Schule hatte. Er schaut auf die Tauben, auf ihr schnörkelloses, geschäftsmäßiges Fliegen in dem Segment aus Garten und Himmel, das er von seinem Platz aus überblickt. Er gähnt. Er wartet, ob etwas geschieht. Er wartet, ob die Postbotin auch heute wieder mit ihm schlafen wird.

Die Postbotin kommt. Auch eine Postbotin sagt Bedeutsames:

— Zu mehr reicht die Zeit nicht.

Sie lacht verängstigt und zieht rasch ihre Hosen hoch.

Als Philipp sie nach draußen begleitet, stellt er fest, daß sich eine Taube ins Stiegenhaus verirrt hat. Der zerzauste Vogel sitzt geduckt, die korallroten, schuppigen Füße in den Handlauf des Geländers gekrallt, einen halben Meter über der Kanonenkugel, und schaut Philipp mit seinen kleinen, schmutzig-orangen Augen an. Einen Moment lang ist Philipp unschlüssig, was er zuerst tun soll. Schließlich entscheidet er sich dafür, zunächst die Postbotin zum Tor zu geleiten. Sie sind beide benommen und mutlos, ein wenig verlegen. Ihrer beider Abenteuerlust hat Sprünge bekommen. Zur Ablenkung erzählt Philipp von dem Tag zwei Jahre nach dem Tod seiner Mutter, als ihn sein Vater dazu überredete, dem Briefträger zu helfen, die Telefonbücher auszutragen. Das war bei knietiefem Schnee und aus Gründen der Familienräson. Philipp sollte am Abend hundemüde sein, damit sein Vater zu einer Nachbarin gehen konnte, ohne fürchten zu müssen, daß der Sohn mitten in der Nacht aufwacht. Philipp lacht und hebt die Schultern, eine Geste, die gleichermaßen seinem Vater und der Postbotin gilt. Sie küssen einander zum Abschied, wie schon an den vergangenen Tagen im Schatten der Mauer. Dann kehrt Philipp ohne Eile ins Haus zurück und scheucht die Taube durch die Eingangstür ins Freie.

Die Taube fliegt aufs Dach. Der Kaffee wird kalt. Die Sonne verglüht. Philipp sitzt mit einem Butterbrot auf seinem gewohnten Platz, wo es um diese Tageszeit eigentlich schon nicht mehr auszuhalten ist. Er kann sich zu nichts entscheiden. Er studiert das Wandern der Mittagsschatten. Er kratzt an einem Insektenstich unterhalb des linken Knies. Kratzt ihn langsam weg. Geh in Steinwalds Zimmer, das so tadellos in Ordnung gehalten ist, schau dort aus dem Fenster oder aus dem hinteren Fenster im Schlafzimmer der Großmutter, deinem Lieblingsfenster. Geh in die Lainzer Straße und hol die Fotos ab, die längst fertig sein müssen.

Philipp redet sich zu.

Und bleibt auf der Vortreppe sitzen.

Er überlegt, was Steinwald und Atamanov gerade machen, wo sie sich herumtreiben. Und wo Johanna bleibt. Er würde Johanna gerne anrufen, aber er traut sich nicht, weil er Angst hat, sie zu stören oder einzuengen oder den Anschein zu erwecken, etwas zu wollen oder gar zu erwarten. Er weiß aus Erfahrung, wie es normalerweise endet, wenn er Johanna anruft, ohne eine klare Vorstellung zu besitzen, was er damit bezweckt (etwa Anspruch auf ihre Gefühle erheben). Deshalb reißt er sich zusammen, obwohl er es nicht mag, wenn er sich zusammenreißen muß.

— Das ist auch so ein Weg zur Verlogenheit, wenn man sich zusammenreißt, sagt er zu sich und stemmt sich von der Vortreppe hoch.

Seine Runde entlang der Gartenmauer beginnt er neuerdings im Norden, denn seit bei diesen Nachbarn der Swimmingpool gefüllt ist, macht er sich Hoffnung, dort endlich einmal jemanden anzutreffen. Sonnenschirme sind aufgespannt. Weiße Gummischlapfen liegen herum. Diesmal treibt sogar ein aufblasbarer Plastikdampfer im Wasser, dessen Schaukeln darauf hindeuten könnte, daß unmittelbar vor Philipps Erscheinen ein Schulmädchen oder ein Bankdirektor in dem Wasser geschwommen ist. Aber die Bewohner sind weiterhin unsichtbar oder verstorben oder hinterhältig, oder sie haben viel zu tun oder beaufsichtigen die Putzfrau oder fluchen auf ihre Ehepartner oder rechnen und verrühren Dinge in Töpfen oder stöhnen und keuchen, weil das Wochenende vor der Tür steht, übereinander oder hintereinander, und kleben von Schweiß oder epilieren die Beine oder schreiben Naturlyrik oder üben Tonleitern hinter schalldichten Fenstern, mit der Trompete zum Beispiel.

Im nächsten Garten hat Philipp mehr Glück. Dort, wo er vor Wochen mit einer Drahtbürste bedroht worden ist, sitzt an diesem Nachmittag eine junge Frau auf einer Wolldecke im Rasen und liest. Eine Rothaarige mit Sommersprossen. Sie bemerkt Philipp nicht, entweder weil er kaum Geräusche macht oder weil sie so in ihre Lektüre vertieft ist, daß sie ihre Umgebung nicht wahrnimmt. Philipp schaut ihr eine Weile zu. Irgendwann ruft er sie an und fragt, was das für ein Buch sei.

Sie sieht auf, ohne sonderlich überrascht zu sein, hält das Buch hoch, aber aufgrund der zu großen Entfernung kann Philipp nicht erkennen, was es ist.

— Ist es gut? fragt er.

Die Frau macht eine vage Handbewegung, die entweder nicht viel besagt oder dem Buch kein allzu gutes Zeugnis ausstellt.

Also bietet Philipp Lektüre aus seinem Fundus an, die Frau könne über die Mauer klettern und sich ein Buch aussuchen.

— Geht nicht, ruft sie, froh um ein gutes Argument: Ich bin schwanger.

Diese Auskunft trifft Philipp unvermittelt. Er denkt, da ist mir schon wieder einer zuvorgekommen, du versäumst alles, sie ist schwanger, und bei dir ist gar nichts.

Die Frau sagt:

— Zwillinge.

— Bitte?

— Ich bekomme Zwillinge, ruft sie und freut sich, als ob sie eben erst davon erfahren hätte.

Philipp freut sich ebenfalls, denn daß eine Frau mit Zwillingen schwanger ist, hat er bisher noch nie erzählt bekommen.

— Ja großartig, ruft er: Und weiß man, wer der Vater ist?

Die Frau lacht, wird ein wenig rot. Sie schüttelt den Kopf, aber so, daß klar ist, daß sie damit Philipps Frage nicht beantworten, sondern lediglich kommentieren will. Philipp lacht zurück. Das Lachen schmerzt ihn an den Ellbogen, und er muß sich ein wenig hochstrampeln, damit er in eine bequemere Position kommt. Dabei verliert er den rechten Gummistiefel. Dann liegt er mit dem Bauch auf den Dachziegeln, mit denen die Mauer, zum Haus hin schräg abfallend, gedeckt ist, und zwar so, daß der Oberkörper über die Mauer ragt, als stecke der unsichtbare Rest in einer himmelwärts gerichteten Kanone. Philipp weiß nicht, was er mit seinen Händen anfangen soll, und fühlt sich seltsam abseitig oder kommt sich sehr dumm vor oder einem Traum entsprungen und sagt, um von seiner mißlichen Situation abzulenken:

— Könnte ja sein, daß ich der Glückliche bin.

Die Frau schaut ihn durch eine Locke hindurch neugierig an, als sei der Gedanke eine Überlegung wert, dann sagt sie:

— Sie sind es nicht.

Aber es wäre möglich gewesen, denkt er. Freilich, das Mögliche in der Vergangenheitsform ist das Vergebliche. Trotzdem ist Philipp zufrieden mit der Antwort.

Sie unterhalten sich eine Weile über Zwillinge, wie das sein wird, wenn beide Kinder krabbeln können, gleichzeitig in verschiedene Richtungen. Aber der mangelnde Komfort auf der Mauer raubt Philipp nach einiger Zeit die Luft, er bekommt starke Schmerzen an den Rippen, so daß er das Gespräch beenden muß. Die Frau nickt, als er seinen Abgang ankündigt. Sie greift mechanisch nach ihrem Buch, läßt Philipp aber nicht aus den Augen, bis er hinter der Mauer verschwunden ist.

Eigentlich ist Philipp auf allen Mauern seines Lebens eine Randfigur, eigentlich besteht alles, was er macht, aus Fußnoten, und der Text dazu fehlt. Etwas in der Art, etwas in dieser jämmerlichen Schönschreibart, sagt er zu sich, und er sagt es in einer Mischung aus Stolz und Trotz, denn der Gedanke, daß er Nähe nur dort sucht, wo er keine Gefahr läuft, vereinnahmt zu werden, kommt ihm für einen Moment wie der Beweis seiner Souveränität vor — wenn ihm auch gleichzeitig klar ist, daß er sich etwas vormacht. Trotzdem (trotzdem, trotzdem) fühlt er sich durch diesen Gedanken gestärkt (auch die Begegnung mit der Schwangeren hat seine Laune ein wenig gebessert), und so beschließt er, den günstigen Wind zu nutzen und in seinem Zimmer, dem ehemaligen Nähzimmer, die Tapeten herunterzureißen.

Загрузка...