Montag, 9. Oktober 1989

Als Alma am Vorabend die ersten vier Waben schleuderte, gab es einen dumpfen Knall. Sie schaltete die Schleuder vorsichtshalber ab, und hinterher war das Gerät nicht mehr in Gang zu bringen. Nach einer Weile betätigte sie den Schalter erneut, da lief die Schleuder mit einmal wieder an. Nach dem vierten Abschalten in den Leerlauf, wobei Alma achtgab, die Schleuder nicht mehr auf Aus zu schalten, weil dabei beim letzten Mal ein Funken geknistert hatte, funktionierte der Schalter wieder nicht. Daraufhin holte Alma Schraubenzieher und Isolierband und versuchte, den Fehler auf eigene Faust zu beheben. Mit einer nicht ganz einwandfreien Methode: Sie überbrückte den Schalter mit Bienendraht. Es krachte ganz schön. Sie baute, so gut sie es zusammenbrachte, alles wieder zurück und probierte es nochmals. Da schaltete der Schalter zu ihrer Überraschung auf der Aus-Stellung ein. Von da an berührte sie den Schalter nicht mehr und bediente das Gerät von der Steckdose aus. So ging es gut, bis sie mit der Arbeit fertig war. Auf den elektrischen Entdeckler verzichtete sie, sie machte es wie früher mit der Gabel. Es war auch nicht soviel zu entdeckeln wie beim letzten Mal.

Jetzt ist der Elektriker bei ihr, und es stellt sich heraus, daß der Schleuder nichts fehlt und daß Alma mit ihrer Bienendraht-Methode vom Vortag auch nichts kaputtgemacht hat. Zuerst war der Schalter defekt, hervorgerufen durch den Staub, der sich im Laufe der Jahre eingelagert hatte. Dann war Alma beim Montieren des Schalters ein Fehler unterlaufen, deshalb funktionierte der Schalter plötzlich verkehrt.

— Alles staubt ein, sagt der Elektriker sentenziös. Er bläst mit Druckluft über die offenliegenden Anschlüsse, sprüht aus einer Dose eine feine, schimmernde Gischt Kontaktöl darüber. Er montiert den Schalter zurück an seinen Platz. Hinterher schaut er sich die Waschmaschine an, die seit einer Woche gefährlich rattert. Der Bügel eines BHs hat sich in der Trommel verfangen. Der Elektriker holt den Bügel binnen Sekunden per Zangengriff heraus. Das hätte Alma auch selber machen können. Sie bezahlt die Reparaturen bar und bringt den Elektriker nach draußen. Anschließend kehrt sie in die Werkstatt zurück und reinigt die Schleuder, aus der über Nacht aller Honig abgeronnen ist. Sie füllt den letzten Rest in Gläser. Dann räumt sie die Werkstatt für den Winter auf. Unter anderem, was sie schon viel früher hätte tun sollen, entfernt sie die alten Beuten von ihrem angestammten Platz neben dem Schrank und stellt sie an die Wand, die zum Heizraum grenzt, damit bei der Tür zum Garten der Durchgang nicht mehr so beengt ist.

Als Alma sich das Ergebnis ansieht, befällt sie die Furcht, etwas Falsches getan zu haben. Ihr ist, als hätte sie einen Verrat an Richard begangen, weil sie gemeinsam mit ihm die Beuten neben den Schrank gestellt hat, und einen Verrat an Ingrid, weil die Beuten neben dem Schrank standen, als Ingrid während ihres letzten Besuchs bei der Bienenarbeit half. Alma schimpft sich ein verrücktes Huhn. Aber obwohl ihr der Verstand sagt, es ist viel besser so, du hättest viel früher drauf kommen sollen, empfindet sie eine leise Wehmut, und ein wenig spielt auch ein Anflug von schlechtem Gewissen herein, daß sie mit den Veränderungen nicht wartet, bis auch Richard tot ist.

Auf Anraten von Dr. Wenzel hat Alma Richard vor drei Jahren in ein Pflegeheim gegeben, im Sommer 1986, als die Gärten radioaktiv waren. Die damalige Entscheidung kam nicht unvorbereitet, es war schon länger klar, daß es irgendwann nicht mehr gehen wird. Trotzdem kann Alma diesen Schritt noch immer nicht ganz verwinden. Wieder und wieder sieht sie Richards große angstvolle Augen, und sie möchte seine Hand nehmen und ihm sagen, so, Schluß, du kommst mit nach Hause. Oft, speziell in letzter Zeit, wünscht sie sich diesen Moment herbei. Sie weiß selbst nicht, wie ihr geschieht, aber seit Richards Geist gänzlich zerrüttet ist (nicht dieses zermürbende Halb-halb von Sinn und Unsinn, das etwas Gespenstisches hatte), hängt sie wieder sehr an ihm. Anfangs hat sie ihn öfters tagweise mit nach Hause genommen, manchmal auf sein inständiges Bitten hin. Aber selbst zu Hause findet er sich nicht mehr zurecht, so stark hat er abgebaut. Es ist, als würde ein selbstvernichtender Stachanov, unterstützt von mehreren kräftigen Gehilfen, in Richards Gedankengängen den Geist wegschaffen, Tag für Tag, bis nichts mehr zu holen ist und nur mehr ein feuchter Wind durch die tauben Systeme dieser armen Psyche weht.

Weihnachten vergangenen Jahres wollte Alma, daß Richard die Feiertage in der vertrauten Umgebung verleben kann. Aber er war ganz abwesend, und die meiste Zeit glaubte er sich in einer Kapelle, vermutlich wegen der Kerzen. Er sang mehrmals unangekündigt Großer Gott wir loben dich, und als Alma ihn soweit hatte, daß er begriff, welche Bewandtnis es mit dem Weihnachtsbaum und den Geschenken hat (Richard, das ist für dich, schau, das sind Weihnachtsgeschenke für dich, Richard, Weihnachtsgeschenke, es ist Weihnachten), traten ihm Tränen in die Augen, weil echte Kerzen am Baum leuchteten und er fürchtete, daß das Haus abbrennt. Alma holte den Feuerlöscher aus dem Keller und stellte ihn Richard in den Schoß, das beruhigte ihn ein wenig. Er umarmte den Feuerlöscher, stimmte die erste Strophe von Oh Tannenbaum an. Aber mittendrin brach er ab und wünschte sich, dies möge sein letztes Weihnachten sein. Anschließend sagte er:

— Komm, wir gehen weg von hier, das ist kein Ort für uns.

Kaum hatte Alma ihm gezeigt, wo er sich befindet, hier ist deine Küche, dein Wohnzimmer, das du gemeinsam mit mir eingerichtet hast, die hartnäckigen Möbel, hier ist dein Arbeitszimmer, dein Aktenschrank, das ist der Schreibtisch, an dem du deine Reden geschrieben hast. Kaum schien es, als habe er erfaßt, daß er die Zimmer des eigenen Hauses abgeht, sagte er wieder:

— Und wo werden wir schlafen? Sie werden jemand anderen ins Bett legen, und wir werden kein Bett haben. Schau, daß du mit diesen Leuten sprichst und einen Schein löst und wir hinausgehen können. Wir werden zu Fuß in den nächsten Ort marschieren, dort ein Zimmer beziehen und dann sehen, was sich für die Zukunft machen läßt.

Über beide Feiertage hinweg ließ die Sorge um einen Schlafplatz Richard nicht los. Ständig brütete er über Alternativen, wo er mit Alma hingehen könnte. Es war unmöglich, ihn von diesem Wahn für länger als eine Stunde abzubringen.

Und jetzt: Jetzt sieht es aus, als ob ausgerechnet ein Streit ums Bett dazu führt, daß ein nächstes Weihnachten für ihn tatsächlich nicht mehr stattfinden wird.

Donnerstag vor vier Tagen wurde Hofrat Dr. Sindelka, Richards Zimmernachbar im Pflegeheim, in Richards Bett angetroffen. Richard lag mit einem Oberschenkelbruch und mehreren Platzwunden am Fußboden davor. Was passiert war? Das läßt sich nur vermuten, da es keine Zeugen gibt und Richard, als man ihn fand, bereits wieder vergessen hatte, wie er in diese mißliche Situation geraten war. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat sich Dr. Sindelka, der ebenfalls ein hoffnungsloser Sklerotiker ist, im Zimmer geirrt und gedacht, sein Bett sei widerrechtlich von Richard okkupiert. Die beiden haben sich von Anfang an nicht vertragen, teils aus politischen Gründen, teils aus Eifersucht, wer sich in physisch besserer Verfassung befindet. Sindelka muß mit einem hölzernen Kleiderbügel auf Richard losgegangen sein, auf diese Weise gelang es ihm, Richard aus dem Bett zu werfen und es für sich in Beschlag zu nehmen. Richard wird seither in Meidling behandelt, wo man ihn umgehend operieren wollte. Doch bei den Vorbereitungen auf die Operation stellte sich eine ausgeprägte Anämie heraus — Ursache unbekannt —, weshalb die Operation auf unbestimmte Zeit verschoben werden mußte. Richard bekommt Blutkonserven und seit dem Vortag Sauerstoff, weil das Herz nicht mehr das kräftigste ist, wie Alma sich hat sagen lassen. Aufgrund der ganzen Strapazen und der schweren Verletzung hat Richard erstmals Wasser in der Lunge. Er nimmt fast keine Nahrung zu sich, und die meiste Zeit redet er mit der Deckenlampe und phantasiert über Dinge und Personen, die nur mehr der Vergangenheit angehören. Lediglich sein Wortschatz war, zumindest am Vortag, merklich besser als in der Zeit vor dem Unfall. Immerhin. Während Almas Besuch, als Richard von einer Krankenschwester eine Spritze zwecks Blutverdünnung verabreicht bekam, drohte er wie in alten Tagen mit dem Rechtsanwalt.

Er murmelte schwach, aber verständlich:

— Der Rechtsanwalt wird Unterlassung anmahnen. Für den Fall von Säumigkeit erfolgt binnen sechs Wochen —.

Dann eines dieser Phantasiewörter, mit denen Richard sich oft behilft. Es klang weder nach Anzeige noch nach Klage, etwas in dieser Richtung wird aber bestimmt gemeint gewesen sein.

— Bis in sechs Wochen haben wir das ausgestanden, Herr Doktor, beruhigte ihn die Krankenschwester.

Und Richard beinah gütig:

— Das will ich allen Mitgliedern des Hohen Hauses empfehlen.

Was bitte spielt es da noch für eine Rolle, wo in der Werkstatt die alten Beuten stehen?

Keine. Es spielt keine Rolle. Ja, ich verstehe. Von welcher Seite man es auch betrachtet, es macht keinen Unterschied. Es wäre nur, um alles so zu erhalten, wie es war, als es noch eine Familie gab. Es wäre nur, um sich einen kleinen Ersatzaltar zu bauen gegen die Bürde, im Haus völlig frei schalten und walten zu können, und um sich selbst eine kleine Beschränkung aufzuerlegen, in eigener Sache, nicht in Sachen Ingrids oder Richards. Ingrid (sie vor allem) würde sich über die Skrupel ihrer Mutter bestimmt amüsieren.

Für ihren Seelenfrieden möchte Alma die Umstellung trotzdem rückgängig machen, würde es auch tun, wenn sie sich der körperlichen Anstrengung, die mit dem Zurücktragen verbunden wäre, noch gewachsen fühlte. Fühlt sie sich aber nicht. Deshalb vertagt sie das Projekt auf später. Sie schlüpft in die schiefgelaufenen Gartenschuhe und geht nach draußen, um in aller Gemächlichkeit das Bienenhaus auszukehren, ihre emotionale Aufwärmstube. Vor einem halben Jahrhundert, als Richard das Bienenhaus im Herbst nach dem Anschluß einem ins Exil gehenden Nachbarn abkaufte und als Ganzes über die Mauer hieven ließ, hätte Alma niemals vermutet, daß die Art, wie sie sich damals fühlte, bei der Arbeit mit den Bienen erhalten bleiben würde, egal ob während des Krieges oder nach dem Tod der Kinder oder jetzt, da Richard immer weniger wird.

Richard liegt auf Klasse, in einem Zweibettzimmer, an dessen Tür Alma leise klopft, ehe sie die Klinke nach unten drückt. Der kleine Raum wirkt größer als am Vortag, weil der Platz für das zweite Bett leer ist. Richard liegt ausgestreckt in seinem Bett wie die Maus in der Falle. Die Decke liegt eng an seinem Körper, die Arme oben drauf. Im rechten Handrücken zwischen den knotigen Sehnen steckt eine Kanüle, über die Richard Blut erhält. Sein Kopf liegt wie zur Präsentation in der Mitte des Kissens. Zwei Schläuche sind in die Nase gestoppelt, die Kinnladen sind hart und die dünnen Lippen wie zusammengelötet. Die Augen hingegen hat Richard weit geöffnet. Ohne auf Almas Begrüßung zu reagieren, schaut er mit bestürzter Miene an die Decke, als sähe er dort Dinge, zu denen Alma keinen Zugang hat. Woran er in diesem Augenblick denkt, in welcher Welt er ist. Alma würde es gerne wissen.

— Ich bin’s, pünktlich wie eine Engländerin.

Aber Richard scheint sie wieder nicht zu erkennen, nicht einmal an der Stimme.

— Ich, Alma. Willst du mich nicht ansehen?

Sie zieht ihre Jacke aus, hängt sie an einen der Haken innen an der Tür. Sie legt das mitgebrachte Obst auf den kleinen Tisch unter dem Fenster und zieht einen Stuhl zu Richards Bett. Ehe sie sich setzt, beugt sie sich über ihren Mann und gibt ihm einen Kuß auf die gelblich blasse Stirn, dort, wo diese nicht von Sindelkas Schlägen mitgenommen ist. Richards Haut fühlt sich heiß an. In den Augen hat er geplatzte Adern. Von seiner strohig trockenen Handinnenfläche blättert Schorf ab. Darunter erkennt man die grün schimmernden Adern.

— Nessi? fragt er und meint seine Anfang des Jahres verstorbene Schwester, die ihn ohnehin nur besuchte, solange die Möglichkeit bestand, etwas beiseite zu schaffen.

— Ich bin’s, Alma, deine Frau.

Er wendet sich ihr zu und schaut sie an, als wäre sie aus dem Zoo entsprungen. Nach einer Weile lächelt er und sagt mühsam:

— Obacht.

Eine Wendung, die Alma von früher kennt. Sie nimmt an, daß er damit ausdrücken will, sie gefalle ihm.

— Bin ich hübsch? fragt sie.

Er nickt. Wenig später sagt er deutlich gut und ja, dann formuliert er noch warum und etwas im Zusammenhang mit weiß, was Alma aber nicht versteht. Bei warum glaubt sie, daß Richard fragen will, warum er hier ist oder warum sie erst jetzt kommt. Aber eigentlich könnte so vieles gemeint sein. Warum Otto nicht auf ihn gehört hat. Warum Ingrid mit dem Strohhalm in ihre Limonade bläst. Der Sauerstoff, den Richard über die Nasenbrille erhält, quillt zur Befeuchtung durch einen an der Wand befestigten Wasserbehälter. Große Blasen steigen auf in dem bauchigen Glas. Es gurgelt sehr laut.

— Das muß halt sein, sagt Alma. Eine ihrer Standardantworten, die leider nicht auf alles passen. (Variante: Da kannst du ganz unbesorgt sein.) Auch diesmal gelingt es ihr nicht zu vertuschen, wie wenig von dem, was Richard gesagt hat, bei ihr angekommen ist. Richard wird unwirsch. Sie nimmt alle Schuld auf sich und bittet ihn, er solle es ihr noch einmal sagen, weil in letzter Zeit ihre Ohren so schlecht seien, daß sie aufs erste Mal nicht alles hört. Bei wiederhäusel statt wiederholen weiß sie, was gemeint ist, doch die Lautansammlungen drumherum bleiben ihr ein Rätsel, und so sagt sie halt irgendwas (wenn ich dich recht verstehe), und zur Sicherheit fügt sie hinzu:

— Manchmal bin ich ganz meschugge.

Das verärgert Richard ebenfalls.

— Ja, ja, sagt er mit stirnrunzelnder Miene, als habe er Alma im Verdacht, sie lasse sich gehen oder strenge sich zuwenig an oder wähle den falschen Zeitpunkt, um ihm vorzuführen, daß sie nur Stroh im Kopf hat. Dumm geboren, dumm geblieben. Doch als er wenig später mit den Händen Zeichen in die Luft macht, ahnt Alma nach einiger Zeit, daß er um die Augengläser bittet, die er seit mehreren Monaten nicht mehr benutzt hat. Alma findet die Brille auf dem Bord in der Waschnische, neben dem Glas für die dritten Zähne, die sie unlängst hat generalüberholen lassen. Sie schiebt Richard die Bügel hinter die großen, knorpeligen Ohren, dabei gibt sie acht, daß sie keine der Wunden berührt. Richard strahlt, weil er wieder besser sieht. Jetzt hat Alma den Eindruck, Richard nehme von ihrer Anwesenheit richtig Kenntnis und freue sich, daß sie bei ihm ist. Er blickt sie an. Sie glaubt sehen zu können, daß in seinen Augen eine deutlich wahrnehmbare Schärfe liegt, als gebe es dahinter noch zusammenhängende Gedanken.

Also beginnt sie zu erzählen, von den Umstürzen bei den Nachbarn im Osten, von Ungarn, wo die Diktatur des Proletariats dieser Tage zu Ende gegangen ist, von der Entwicklung in der DDR, wo der 40. Jahrestag des Arbeiter- und Bauernstaates mit Massenverhaftungen gefeiert wurde. Michail Gorbatschow war in Berlin und hat zu weiteren Reformen gemahnt. Das hat Eindruck gemacht. Sie erzählt von den Wahlen in Vorarlberg, wo die ÖVP ihre absolute Mehrheit gehalten hat. Vom Specht, der bei Wesselys das neue Fallrohr der Dachrinne bearbeitet. Ja, den gibt es noch, am Vormittag war er wieder da. Die halbwüchsige Tochter des Wessely-Sohnes, der das Haus jetzt bewohnt, verhindert, daß der Schießprügel aus dem Schrank geholt wird, das Mädchen ist ebenso rührselig wie ich. Stell dir vor, das Mähen des Gartens schiebe ich trotz vieler Vorsätze seit Wochen auf, weil ich beim letzten Mal eine Blindschleiche und einen Frosch umgebracht habe. Kurz vor Mittag haben zwei Straßenarbeiter hereingeschaut und sich fürs Laubrechen angeboten. Unter den Bäumen riecht es schon säuerlich, vor allem die Steinobstblätter fallen, aber das Gras ist fürs Zusammenrechen einfach zu hoch, und dazu der Gedanke an den Frosch und die Blindschleiche, da habe ich die Arbeiter wieder weggeschickt. Mir kommt vor, ich bin in letzter Zeit ein wenig seltsam geworden. Das macht bestimmt die splendid isolation, in der ich lebe, das Alleinsein ist manchmal nicht ganz leicht. Wie ich im Frühling das drohnenbrütige Vierer-Volk auflösen mußte, hat mich das so merkwürdig getroffen, es war ein ganz ähnliches Gefühl wie nach dem letzten Rasenmähen, als ob ich ganz kläglich versagt hätte. Statt daß ich mir denke: Ja, was ist denn eigentlich los, wenn’s nicht klappt, habe ich eben statt fünf nur vier Stöcke oder statt vier nur drei, das ist doch kein Unglück. Aber ich werde ganz deprimiert darüber und bringe es nicht einmal mehr fertig, eine Königin zu töten, wenn sie überzählig ist. Ich glaube, es hat mit den Kindern zu tun, daß sie gestorben sind. Es ist schon abenteuerlich, nach so vielen Jahren, daß diese Schmerzen noch immer nicht verschmerzt sind. Ich denke, daran wird sich nicht mehr viel ändern. Weißt du, wenn eine Königin beim Hochzeitsflug zugrunde geht, und das Volk kriecht so suchend beim Flugloch herum, dann stelle ich mir die Frage, geht jetzt auch dieser Stock kaputt, warum passe ich nicht besser auf, warum sterben sie mir, kaum daß ich ihnen den Rücken zuwende. Ich kann dir nicht sagen, wie froh ich bin, daß bald der Winter kommt. Am Vormittag habe ich im Bienenhaus Kehraus gemacht, Schluß für heuer, das Wetter war genau richtig, ganz wie meine Laune, mittelmäßig, aber nicht von der lästigen Art. Viel Wind. In der Früh, ist dir das aufgefallen, war der Himmel wie aufgebläht, in der Nacht hat es einen kräftigen Pumperer gegeben, ich wollte schon die Polizei rufen, weil ich mir die Sache zunächst nicht erklären konnte, habe dann aber festgestellt, daß vom Wind ein Buch aus dem Regal gefallen ist. Eins von dir. Es muß ganz außen gestanden sein, nomen est omen, es heißt The Outsider. Woher hast du es? Es ist mir bisher nie aufgefallen. Ich denke, das beste wird sein, ich lese es, vielleicht fange ich noch heute damit an, weil eigentlich warst auch du ein Außenseiter. Ich glaube, das ist das, was mich am meisten an dir angezogen hat. Ich weiß noch genau, wie wir uns kennengelernt haben, da waren wir noch ein bißchen jünger als heute, so jung wie das Jahrhundert damals, das war, als wir mit der akademischen Gruppe des Alpenvereins auf die Rax gefahren und den Danielsteig hinaufgegangen sind, du mit deinen Wanderabzeichen am Revers, du hast gesagt, daß das Leben ein Jammertal und sinnlos sei, und ich habe geantwortet, schau dir dieses sonnenbeschienene Kar an, die Latschen, die Felsabbrüche und daß ich all das genießen kann und meine Kraft im Klettern spüre und mich freue, das ist es wert, daß ich lebe. Das war im Jahr 1929, erinnerst du dich. Ich habe immer gehofft, dir deinen Pessimismus nehmen zu können, deshalb habe ich dir regelmäßig von meinen Broten gegeben. Weil du Geld hattest, hast du nie eigene Brote mitgenommen, aber uns anderen fehlte das Geld, um ins Gasthaus zu gehen, deshalb hatten wir Brote und aßen sie im Gehen. Du, es war eine schöne Zeit, die zwanziger und dreißiger Jahre, ich glaube, das war bei mir, was man die Blüte des Lebens nennt. Ich war glücklich, ich meine, insofern glücklich, als ich damals nicht ahnte, daß das Leben ein großes Hindernislaufen sein wird, das auf Dauer müde macht. Für dich waren die fünfziger Jahre die Blüte des Lebens, wir haben einmal darüber geredet, du hast sie ein spätes Geschenk genannt, obwohl den Gedanken, daß der Krieg der Vater aller Dinge ist, darf man gar nicht denken, es stimmt auch nicht, der Krieg ist der Vater von gar nichts außer von weiteren Kriegen. Ich glaube, in den fünfziger Jahren hast du die Zeit wiedergefunden, in die du hineingeboren wurdest, die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, kein entscheidender Unterschied zwischen dem greisen Renner und dem greisen Franz Joseph, und auch sonst traten nur alte Männer auf den Plan, abgesehen von Figl, aber der hatte auf ausnahmslos jedem Geschirr Hirschen und Auerhähne, also im Grunde auch ein alter Mann. Und all diese Herrschaften, ich könnte sie dir aufzählen, die ganze Galerie, das sind die, die die fünfziger Jahre gemacht haben. Für die Jungen war kein Platz, Richard, das hat dir gefallen, stimmt doch, du warst dabei, wie die alten Männer losgelegt und an ihrem besseren Österreich herumgebastelt haben. Vergangenheit, nur als Beispiel, war für die jungen Leute ein irreführender Begriff, denn plötzlich hatten wir eine eigene Zeitrechnung, wie es seinerzeit auch zwei Wetterberichte gab, einen für die Touristen und einen für die Bauern. Du mußt entschuldigen, Richard, es kommt mir heute so absurd vor, was anderswo eben erst passiert war, war in Österreich bereits lange her, und was anderswo schon lange her war, war in Österreich gepflegte Gegenwart. Ist es dir nicht auch so ergangen, daß du manchmal nicht mehr wußtest, hat Kaiser Franz Joseph jetzt vor oder nach Hitler regiert? Ich glaube, darauf lief es hinaus, wie bei einem Brettspiel hat eine Figur die andere übersprungen, die einträgliche Figur ist über die kostspielige hinweg, und plötzlich war Hitler länger her als Franz Joseph, das hat den fünfziger Jahren den Weg geebnet, das hat Österreich zu dem gemacht, was es ist, nur erinnert sich niemand mehr daran oder nur sehr schwach. Ich kann dir sagen, ich war heilfroh, daß wir in der Nachbarschaft die schwedischen Diplomaten und später die Holländer von der Unilever hatten, die lachten, als ihr Bub vom ersten Schultag nach Hause kam und am Klo an die Wand pinkelte, da gab es kein Strafknien oder daß der Krampus nur Kartoffeln und Kohlen bringt, damit das Kind nicht übermütig wird, da hieß es, die Kinder haben eine geschäftige Phantasie, die soll sich ausleben, damit später etwas aus ihnen wird, da wurde eher das Kindermädchen zurechtgestutzt wegen unnötiger Strenge. So Begriffe hatten die, für mich war das anfangs ein kleiner Kulturschock, aber dann habe ich schnell verstanden, in welche Richtung es weitergehen muß, ist ja kein Erfolg, genau besehen, wenn die Kinder eine Alarmanlage gegen den Krampus bauen, die hat sogar funktioniert. So Dinge tun mir heute leid, ich meine, das hätte man früher einsehen können. Mir tut auch leid, daß ich dich damals nicht nach Schweden begleiten durfte, als sie dieses Kraftwerk einweihten, erinnerst du dich, damals warst du Minister, war das nicht eben noch, und jetzt sind schon wieder bald zwanzig Jahre die Sozialisten am Ruder, so ein Jahr ist gar nichts mehr, Richard, wir hätten auch später mehr wegfahren sollen, aber jetzt ist das vorbei, ich will selber nicht mehr, denn wenn ich weg bin, denke ich den ganzen Tag an zu Hause, dort ist es halt doch am schönsten, von Schlafen als Gast kann eh nicht die Rede sein, arbeiten kann man nichts und Konversation machen, das weißt du, ist ebenfalls nicht meine Stärke, mit der fremden Verpflegung, so gut sie sein mag, habe ich auch immer meine Schwierigkeiten, ich brauche keinen zusätzlichen Schmiß, der mir den Bauch verschandelt, dann lieber wochenlang Milch und Haferflocken. Weil’s mir grad einfällt, Gretel Puwein ist zur Zeit in Florenz, du weißt doch, Gretel Puwein aus der Beckgasse, ich hab gehört, so ganz allein, wie sie behauptet, soll sie nicht gefahren sein, und wenn schon, sie ist Witwe, groß getrauert hat sie von Anfang an nicht, soll sie’s genießen. Nach Italien hätte ich auch noch einmal gewollt, erinnerst du dich, wie wir mit den Fahrrädern in Italien waren, 1929, noch vor der Hochzeit, streng dich an, Richard, dein oberkatholischer Vater hätte dich ums Haar erschlagen, weil es noch vor der Heirat war, wenigstens daran könntest du dich erinnern, mir kommt es vor, als wenn es gestern gewesen wäre, wir sind den Po entlang hinunter nach Venedig, in der Nähe von Mestre, nachdem wir das Schiff verpaßt hatten, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Esel schreien gehört, in der Früh, als es dämmerte, weißt du noch, wir übernachteten in der Scheune eines Melonenbauern, das Geschrei riß uns aus dem Tiefschlaf, ich war zutiefst erschreckt über diese unheimlichen Laute in der Dämmerung, von denen ich nie und nimmer gedacht hätte, daß ein Esel dahinterstecken könnte, ich muß lachen, wenn ich nur daran denke, mit dem melodischen I-a in unseren Kinderliedern hatte das wirklich sehr wenig Verwandtschaft, auf mich wirkte es eher, als würde mit einer rostigen Säge die Dämmerung in Scheiben geschnitten, so ein heiseres A-i, a-i, ich weiß noch, ich war sehr aufgeregt, du hast mich in den Arm genommen, du hast gesagt, ein Esel, es ist ein Esel, Richard, woher wußtest du, daß es ein Esel war, nicht einmal in Meidling gab es Esel, also auch bestimmt nicht in Hietzing, deshalb glaubte ich dir die Erklärung auch nicht, obwohl ich dir damals alles glaubte, meistens blind, das darfst du mir glauben, du hast nicht die entfernteste Vorstellung, wie sehr ich dich damals bewunderte, das vergess’ ich nicht, als wir in den Kaltenleutgebner Bergen bei einer Wanderung vom Parapluieberg auf der Hochstraße zum Sparbacher Tiergarten dieser Dame begegneten, einer wirklichen Dame dem Aussehen nach, erinnerst du dich, es war in der Nähe der Kugelwiese, die Frau trug einen Arm, buchstäblich einen Arm voll Türkenbund, daran fand ich damals auch gar nichts Besonderes, du hast sie zur Rede gestellt, und als sie die Nase hochwarf, hast du sie ins Gesicht hinein als dumm beschimpft, so unverfroren warst du, wenn du glaubtest im Recht zu sein, mir war das peinlich, und gleichzeitig war ich stolz auf dich, weil man mir zu Hause nur eingeimpft hatte, Höflichkeit mit Höflichkeit zu überbieten, hingegen, daß es noch etwas anderes gibt als nur Höflichkeit, habe ich von dir gelernt, das ist einer der Gründe, weshalb ich dich jetzt so behandle, als wärst du mir all die Jahre ein treufürsorgender Ehemann gewesen, das erklärt auch, warum mir die Vorstellung, mein Leben mit einem anderen Mann verbracht zu haben, ganz fremd ist, sich das zu wünschen, hieße, sich zu wünschen, ein anderer Mensch zu sein und andere Kinder gehabt zu haben und andere Dinge erlebt zu haben, andere Dinge zu wissen als die, die ich weiß, du, Richard, all diese Dinge und Momente, die ich möglichst lange bewahren will und die es noch immer gibt, wenn ich sie dir erzähle, ich bin so froh, daß ich mit meinen zweiundachtzig Jahren noch halbwegs klar denken kann, sei bloß nicht neidisch, der Zahn der Zeit findet auch an mir genug zu nagen, mehr als mir recht ist, all diese Wehwehchen, und speziell die ewige Müdigkeit, die macht mir am meisten zu schaffen, weißt du, daß immer alles viel mehr Zeit in Anspruch nimmt, als ich dafür veranschlage, was ich früher im Vorbeigehen erledigt habe, ist mittlerweile zu einer Prozedur geworden, als müßte ein ständiger Ausgleich stattfinden, je weniger es zu tun gibt, desto länger muß es dauern, damit meine Vollbeschäftigung erhalten bleibt, ein fleißiger Gaul wird nicht fett, kann sein, aber müde, ich sag’s dir, kaum je, daß ich das Plansoll, das ich mir am Morgen setze, erfülle, ich hab immer alle Hände voll zu tun, und trotzdem wird die Arbeit nicht weniger, der ganze Strauß von morgens bis abends, da fällt mir ein, daß auch die Kinder einmal Türkenbund abgerupft haben, es war während des Krieges bei der Josefswarte, also ganz in der Nähe vom Parapluieberg, ich hatte dort mit den Kindern Farn ausgegraben, und Otto, der hatte oft solche Ideen, puderte mit den Staubgefäßen des Türkenbunds Ingrids Nase ganz dunkel, Otto war damals so zwölf, und Ingrid entsprechend jünger, sieben, wenn ich daran denke, mein Gott, dann stauben die Stempel der Blumen wie im Traum, damals hatte die Sache aber einen Haken, stell dir vor, zu meiner Überraschung war die Farbe kaum wegzubringen, als Ingrid am nächsten Tag in die Schule gehen wollte, du hast sie geschimpft, sie sähe aus wie ein Ameisenbär, sie solle sich schämen, das hast du gesagt, zu Ingrid, deiner Tochter, sie hieß Ingrid, wenn du dich anstrengst, erinnerst du dich, es ist nicht schwer, du hattest vor Jahren eine Tochter, sie hieß Ingrid, und deine Tochter hat wieder eine Tochter, Sissi, das ist deine Enkelin, streng dich an, du hast Enkel, Sissi und Philipp, deine aufgeweckte Nachkommenschaft, Sissi und Philipp, Sissi hat sich vor etlichen Jahren blicken lassen und Fragen über ihre Mutter gestellt auf der Suche nach ihren Wurzeln, damit sie sich in New York wohler fühlt, von sich selbst hat sie nicht viel preisgegeben, und die obligate Geburtstagskarte von ihr habe ich in diesem Jahr auch nicht erhalten und auch keine Urlaubskarte, ich weiß nicht, welchen Schluß ich daraus ziehen soll, vielleicht, daß sie nicht auf Urlaub war, oder, was wahrscheinlicher ist, daß es die erste von weiteren Karten ist, die nicht kommen werden, was das Mädchen, nein, sie ist eine junge Frau, laß mich nachrechnen, Richard, sie ist bereits siebenundzwanzig, Moment, achtundzwanzig, sie wird ihre ersten Stürze auch hinter sich haben, man könnte die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, was sie nur so lange in New York macht mit der halben Erdkugel zwischen sich und Wien, sie ist in New York, Richard, sie ist Journalistin, Soziologin, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, sie hat eine Tochter, die heißt, wunder dich nicht, Parsley Sage Rosemary and Thyme, such dir einen aus, Parsley Sage Rosemary and Thyme, nicht Thyme, das wäre ein sehr komischer Name selbst in dieser Familie, deinen Enkel, Philipp, ob er noch weiß, wie gerne er als Kind ein Stück der geschleuderten Bienenwaben auskaute, ich habe ihn unlängst im Fernsehen gesehen, ich bin mir fast sicher, daß er es war, er hat Ähnlichkeit mit dir, er ähnelt dir, du hast die dominanteren Gene als ich, der Mund, die Augenpartie, die Kopfform, das kommt aus deiner Linie, auch das politische Engagement, stell dir vor, er hat gegen Spekulanten und für mehr Wohnraum demonstriert, ganz vorne, mit aufgestellten orangen Haaren, als wäre er an eine Steckdose angeschlossen, ich habe mir überlegt, ob ich ihm ein Zimmer bei uns in Hietzing anbieten soll, er kann auch zwei haben oder drei, da besteht kein Mangel, was hältst du davon, daß er irgendwann zur Strafe das Haus kriegt und Sissi das Geld, möchte wissen, wie das ankäme, und wie es ihm geht, dem armen Kerl, weißt du noch, daß er zwei- oder dreimal klammheimlich zu uns nach Hietzing kam, um für sein Zeugnis Geld einzuheimsen, notenmäßig war das noch nicht einmal aufsehenerregend, ich habe zu ihm gesagt, er solle mehr Gebrauch von seinem Hosenboden machen, so ein hübscher kleiner Kerl, der hätte mir alles versprochen, daß er im nächsten Jahr Klassenbester sein wird, kein Problem, na, wir wollen’s mal nicht übertreiben, der hatte die Ferien vor Augen, die dauern bei uns ja lange genug, um jeden Ehrgeiz rechtzeitig wieder einzuschläfern, dann hat er mir ganz gewissenhaft die Hand geschüttelt, früh übt sich, hab ich mir gedacht, das war noch vor Ingrids Tod, und jetzt mit den roten Haaren, wie eine Leuchtboje, und so dürr wie damals, da hat sich nicht viel verändert, und wie er sich freuen konnte so über das ganze Gesicht, ich kann mir nicht helfen, das war später wie weggewischt, die wenigen Male, als er sich noch bei uns blicken ließ, ein Jammer, ich glaube, es hat beiden nicht gutgetan, unseren Enkeln, daß ihre Mutter so früh gestorben ist, ich meine Ingrid, deine Tochter, du hattest eine Tochter, denk nach, dann fällt es dir ein, deine Tochter hieß Ingrid, das ist kein Test oder eine Fangfrage, bitte schau mich nicht so mißtrauisch an, Ingrid haben wir sie genannt, auch Eva war in der engeren Wahl, weißt du noch, damals war das wichtig, na, ob man am Vergessen sterben kann, so wie man erstickt, du wolltest Eva, ich wollte Ingrid, nein, Richard, deine Enkelin heißt Sissi, nein, Ingrid war deine Tochter, Sissi ist deine Enkelin, und Sissi hat wieder eine Tochter, Rosemary, aber das wird jetzt zuviel, ich will nicht noch mehr Verwirrung stiften, Richard, übrigens, die alte Uhr im Wohnzimmer geht wieder besser, vor ein paar Wochen hat sie mehr Zeit verloren, sie geht jetzt wieder fast genau, verstehst du das, Richard, verstehst du das, ich verstehe es nicht.

— Was? fragt er.

— Verstehst du das?

— Was?

— Es ist nicht wichtig, Richard.

— Was?

— Sei froh, Richard, wichtig und unwichtig, ja und nein, das gibt es alles nicht mehr.

— Was?

— Ja, mein Gott, was? Was? Ich habe auch viele Was?

Zum Beispiel, das würde ich gerne zur Sprache bringen.

Sie tut es aber nicht, schon seit Jahren: Weshalb er seiner Schwester den Garten in Schottwien überschrieben hat, das hat sich ihr nie erhellt. Und weshalb er 1938 ohne Angabe plausibler Gründe sein Geld aus dem Geschäft ihrer Mutter gezogen hat, das hat sich ihr ebenfalls nie erhellt. Und warum die Lüge mit Gastein, 1970, das schwärt am heftigsten, wenn es ihr in den Kopf kommt, und es kommt ihr sehr oft in den Kopf. Aus der Korrespondenz zwischen Richard und Nessi, die sich in Richards Schreibtisch gefunden hat, geht hervor, daß er 1970 nicht nur mit seiner Verwandtschaft, sondern auch mit Christl Ziehrer in Gastein war. Alma würde seit Monaten gerne fragen, was? was? das würde sie doch gerne wissen, was ihn dazu bewogen hat, sie zu hintergehen und dabei seine Verwandtschaft ins Vertrauen zu ziehen, dieses scheinheilige Pack. Sie würde gerne sagen, wie schäbig sie das findet und daß dies während seiner ersten Monate im Pflegeheim der wichtigste Grund war, weshalb sie, Alma, die doch eigentlich nicht nachtragend ist, viele der avisierten Besuche im letzten Moment schwänzte. Es war ihr irgendwie egal.

— Weißt du noch, als ihr damals in Gastein wart, du und Nessi und Hermann? 1970? Du hast nie viel von diesem Urlaub erzählt.

— Aha?

Geheimnisse, die er gut gehütet hat. Und wofür? Für wen? Für niemanden. Um sich die Geheimnisse irgendwann selbst nicht mehr verraten zu können. Schätze, von denen er vergessen hat, wo sie vergraben sind. Bäume, die als Merkhilfe dienen sollten. Richard, die Bäume sind umgefallen. Bäche, die als Merkhilfen dienen sollten. Die Bäche, ich glaube, Richard, die haben sich ein neues Bett gegraben. Flüsse. Die sind angeschwollen. Seen. Die sind ausgetrocknet. Was ein Fluß war, ist ein See. Wie Fischkot sinken die Ereignisse zum Grund, zum Grund, das heißt zum Meer. Aber lassen wir das.

Alma steht auf. Sie hat einen trockenen Mund. Da kein sauberes Glas zu finden ist, trinkt sie das Wasser mit gebeugtem Rücken vom Hahn. Es tut ihr leid, daß sie versucht hat, Richard über die Gastein-Episode auszufragen. Sie möchte es wiedergutmachen. Sie setzt sich zurück ans Bett, und weil sie in dem Zimmer weiterhin allein sind, singt sie für Richard das Lied Der Winter ist vergangen, das sie gerne miteinander gesungen haben vor mehr als vierzig Jahren. Sie singt mit leiser Stimme, da muß es in Richards Gehirn einen hellen Fleck geben, denn er beginnt, ihre Hand zu streicheln, und tut es während des ganzen Liedes. Als Alma zu Ende gesungen hat, unternimmt er einige Male den Versuch, sich aufzurichten. Aber sein Körper gehorcht ihm nicht, wie vor Jahren sein Gehirn aufgehört hat zu gehorchen, wie vor Jahren seine Kinder aufgehört haben zu gehorchen. Sein welkes Gesicht spannt sich ärgerlich, sein Blick ist grimmig, seine Mundwinkel gehen in bitterem Schwung nach unten, als wolle er sagen, es war harte Arbeit, bis hierher zu kommen, und das ist der Lohn, ich fasse es nicht, das ist der Lohn. Er formuliert mühsam mehrere zu bloßen Lauten eingesiedete Begriffe, ehe er unter dem leisen Druck von Almas Hand zurück in sein Kissen sinkt.

— Ist schon gut, Richard. Laß gut sein. Mach dir keine Sorgen. Kümmer dich nicht mehr darum.

Er läßt ein unzufriedenes Knurren hören, nimmt aber keinerlei weiteren Anlauf.

— Mach dir keine Sorgen, wiederholt Alma sanft.

Einen Augenblick später klopft es. Eine Krankenschwester betritt den Raum, ein junges Mädchen mit ganz kurz geschnittenen dunklen Haaren und einer heiseren Stimme und der Frage, ob der Herr Doktor einen Saft möchte.

Die Schwester reicht Alma ein Glas mit gelber Flüssigkeit, die nach Orangensirup riecht, einen Strohhalm dazu. Alma führt den Strohhalm behutsam zu Richards Mund. Richard nimmt langsame, kleine Schlucke, bei denen die Sehnen an seinem Hals stark hervortreten. Der Knorpel an seiner Kehle hüpft heftig auf und nieder.

— Ich schicke jemanden, der die Blutkonserve abhängt, sagt die Schwester.

Alma wirft einen Blick auf den Blutsack, der mit kopfstehender Beschriftung an einem Galgen neben dem Bett baumelt. Bei Almas Eintreten sind noch dicke Tropfen langsam aus dem Gummibeutel in einen kleinen Zylinder gefallen und von dort in den Schlauch geflossen, der zu Richards rechtem Handrücken führt. Jetzt ist der Beutel leer.

Die Krankenschwester geht nach draußen. Eine Minute später kommt eine Ärztin, die den blutgefüllten Schlauch mit geübten Handbewegungen unterhalb des Sackes abklemmt. Die junge Frau schraubt den Schlauch aus der Kanüle, die in Richards Handrücken steckt. Sie hält das offene Ende des Schlauchs mit der einen Hand nach oben, und mit der anderen Hand spritzt sie eine klare Flüssigkeit in die Kanüle, zum Ausspülen, wie sie sagt. Sie verschließt die Kanüle mit einem kleinen roten Deckel. Dann schenkt sie Alma ein aufmunterndes Lächeln und sagt:

— Vor der Operation tun ihm die Konserven gut, das päppelt ihn ein wenig auf.

Die Ärztin wirft einen Blick auf den Inhalt des Urinals, das seitlich am Bett hängt, sie geht mit dem leeren Blutbeutel hinaus. Bereits in der Tür beginnt sie sich die rohweißen Handschuhe von den Fingern zu zupfen.

— Ingrid war ebenfalls Ärztin, sagt Alma.

Aber Richard, der die Augen geschlossen hat, reagiert auf die Ansprache nicht. Er erweckt den Eindruck, als sei er erschöpft und nahe dem Einschlafen. Vorsichtig nimmt Alma ihm die Augengläser ab. Es scheint ihm nichts auszumachen, sich wieder von ihnen zu trennen. Alma legt die Brille auf das Nachtkästchen neben das Saftglas. Sie steht auf. Eine Weile schaut sie mit verschränkten Armen zu dem großen Fenster hinaus, durch das ein mattes Nachmittagslicht auf den mit Resopal beschichteten Tisch fällt, eine Vase mit Blumen darauf, die Alma am Vortag gebracht hat, daneben das frische Obst. Das Grün der Bäume (draußen) und das Weiß der Einrichtung (herinnen) haben etwas Ermüdendes. Alma hofft, daß Richard in einen freundlichen Schlaf fällt, ohne die Last der drohenden Vernichtung, ohne Geister, ohne den Unterschied zwischen den Lebenden und den Toten, die man so leicht verwechselt. Ob Richard im Traum noch alle Begriffe hat und alles weiß und kennt wie früher. Fraglich. Und wer in den Träumen alles drin ist, die Kinder, Otto, Ingrid, und in welchem Alter, und sie selbst, in welchem Alter, mit welcher Frisur, noch mit den kurzen Haaren, und wo, im Garten, zu Hause, in der Badewanne. Richard stöhnt leise, ein feuchter Rachenton. Alma geht zu ihm zurück. Sie streichelt seine Stirn, die eingesunkenen Schläfen, das flaumige Haar über dem Ohr, die Farbe von den Wundmedikamenten. Hofrat Doktor Sindelka. Auch das. Richards Hand, seine Fingernägel, vor allem die Fingernägel — sie sehen aus wie von den Leichenhänden im» Handkurs «zu Beginn des Studiums. Das Studium. Das sie nie beendet hat. Sie lupft das untere Ende der Bettdecke, betrachtet Richards gebrochenes Bein, das bandagiert und nach außen gedreht in einer gelblichen Schaumstoffschiene liegt. Richards Körper wirkt in seiner Schlaffheit mickrig, fast gewichtslos, die Haut des gesunden Beines mit dem schimmernden Spinnengeflecht der feinen, bläulichen Adern darunter (wie Seidenpapier in Fotoalben), die Knochen ganz lose und hohl und leer. Einmal reißt Richard kurz die Augen auf, dann übermannt ihn der Schlaf, erschöpft vom Alter, gesättigt von den Blutkonserven, er grunzt (zufrieden? hoffentlich zufrieden), das Grunzen mischt sich unter das Gurgeln des vom Sauerstoff aufgeworfenen Wassers. Alma deckt Richard sorgfältig wieder zu. Anschließend betrachtet sie ihren Mann noch eine Weile, dabei denkt sie (traurig? ja, traurig), daß er jetzt zu denen gehört, denen die Geschichte nichts mehr anhaben kann.

Wieder zu Hause, wird Alma von Minka empfangen, der Katze. Sie kommt zu Alma heran und läßt sich streicheln. Zwischendurch miaut sie fragend, sie springt auf das Sandsteinpodest, das ihr Lieblingsplatz ist, seit vandalierende Jugendliche die Schutzengelskulptur heruntergestoßen und ihr zum Gaudium beide Flügel abgebrochen haben. Die Katze richtet den Schwanz in die Höhe, dreht sich auf dem Podest im Kreis, die Beine eng, während Alma mit der tastenden Hand über den dunklen, knisternden Aalstrich entlang des Rückgrats fährt, hinunter, hinauf, zurück. Ein kurzer Ruck geht durch den kräftigen Körper, die Katze springt vom Podest herab und folgt Alma nach drinnen, eilt ihr maunzend von der Tür an voraus. Alma gibt dem Tier zu fressen. Auch Alma fühlt sich ausgelaugt, hungrig. Sie verschlingt ein großes Wurstbrot, sitzt dann für eine Weile mit abwesendem Blick da, die Ellbogen gegen den Tisch gestemmt, und horcht auf das Krachen der Futterkekse zwischen den Katzenzähnen, auf das Geräusch der geläpperten Milch.

Bis du kommst, Mama, bin ich zu saurer Milch geworden in einem zersprungenen Glas.

Als die Katze zu Ende gefressen hat, gähnt sie zufrieden, rülpst, leckt sich das Maul, fährt mit den Vorderpfoten über die Barthaare, es klingt, als würde sie seufzen.

— Soso. Was ist denn mit dir?

Nach einem weiteren Gähnen schaut die Katze Alma leer an. Einen Augenblick später trottet sie gemächlich Richtung Veranda, wo sie sich zum Schlafen unter einem der Sessel ausstreckt, als fehle die Kraft zum Hinaufspringen. Alma wechselt ebenfalls den Raum, Richtung Wohnzimmer. Sie läßt sich zum Lesen auf die Ottomane fallen. Aber ihre Konzentration reicht lediglich für zwei Seiten, dann schläft auch sie ein, für eine Stunde, Gott sei Dank und leider: Leider, weil sie die Zeit lieber für etwas verwendet hätte, was ihr Freude macht. Gott sei Dank, weil sie sich nach dem Aufwachen ausgeruht und nicht mehr so zerschlagen fühlt.

Alma rappelt sich hoch, streckt sich. Nachdem sie die Gardinen vom Fenster weggezogen hat, nimmt sie nochmals das Buch zur Hand, kommt auch gut voran, dreißig, vierzig Seiten, bis sie auf eine Stelle stößt, in der es ums Verzeihen geht (ich trage keinem was nach, Verzeihen ist das Waschmittel des Universums, gegen das Verzeihen ist alles andere machtlos, na ja). Richards Besuch in Gastein drängt sich hartnäckig zwischen die Zeilen, und obwohl Alma, während sie weiterliest, erhebliche Gegenwehr leistet, kann sie den Faden der Handlung nicht mehr festhalten. Nach einer Weile wird es ihr zu bunt, und sie beschließt, der Gastein-Angelegenheit symbolisch ein Ende zu bereiten, indem sie Richards Korrespondenz mit Nessi in den Dachboden trägt. Sie sagt sich, warum sich mit diesen Dingen belasten, das bringt nichts, es ist vorbei. 1952 haben Richard und sie gemeinsam befunden, daß Frau Ziehrer von allen Bewerberinnen die beste Sekretärin abgeben werde. Schade halt, daß es für Alma eine so unglückliche Wahl war. Aber ob sie jetzt traurig ist oder nicht oder nachtragend oder nicht, es ändert nichts an dem, was zwischen Richard und Frau Ziehrer war, hingegen ändert es sehr wohl etwas an dem, wie Alma sich fühlt, wenn sie an Richard und Frau Ziehrer denkt.

Alma holt einen mittelgroßen Karton aus dem Keller und trägt ihn in Richards Arbeitszimmer. Der Raum ist weitgehend in dem Zustand verblieben, in dem Richard ihn verlassen hat, mit den von ihm irgendwann begonnenen und nie zu Ende geschriebenen Notizen am Schreibtisch, der Schreibmaschine, ein leerer Bogen darin eingespannt, gewölbt von der Walze, und davor, an einer helleren Stelle, wo die oberste Schicht des Tischholzes durchgescheuert ist, eine der vielen Füllfedern, die Richard im Laufe seines Arbeitslebens geschenkt bekommen hat. An der Wand das gerahmte Foto von Richard und der Familie Chruschtschow auf der Staumauer von Kaprun. Fotos von den Staustufen an der Donau. Und zwischen Bücherregal und Rollbalkenschrank die Landkarte von der kleinen Republik, die geografisch die Form einer Hühnerkeule hat. Ein Geruch nach verschütteter Tinte und vor sich hinbröselnden Farbstiften und langsam der Zukunft entgegenrostenden Büroklammern entsteigt den Schubladen. In der vierten Lade, die Alma öffnet, finden sich — zum wievielten Mal? — die Briefe von Nessi und Hermann, der lieben Verwandtschaft. Ohne nochmals hineinzublättern, wirft Alma den Packen in den Karton und, damit es sich lohnt, auch diverse andere Briefe an Richard, dazu etliche Aktenordner. Sie hievt den Karton vor die Brust, steigt die Treppen hoch mit langsamen Schritten bis unter das Dach, wohin es sie seit Anfang des Sommers nicht mehr verschlagen hat. Eine drückende Luft, eine drückende Stille stemmen sich ihr entgegen, Wärme und Feuchtigkeit, nur das leise Knacken der Dachbalken ist zu vernehmen, belauert von den Mäusen in den Strohmatratzen. Alma hat noch den Geruch des kriegsbedingt leergeräumten Dachbodens im Gedächtnis und die von den Brettern abstrahlende, gleichsam rauhe Wärme, die dort das halbe Jahr über herrschte und anders war als die Wärme auf der Veranda und im Bienenhaus (wo das dunkle Holz in der Sonne immer ein wenig verbrannt riecht). Sie weiß noch, wie Otto, der vorbildliche Hitlerjunge, das beste Gut der Nation, sie sachlich streng an der Kübelspritze und am Sandeimer instruierte. Sie weiß noch, wie Peter eine Seitenwand des auseinandergebauten Biedermeierschranks am letzten Treppenstich fallen ließ und ohne ein weiteres Wort aus dem Haus stürmte, nachdem er und Richard sich weder über die Art des Tragens hatten einigen können noch über die Sicherheitspolitik für die Welt, die sie schon den ganzen Nachmittag über betrieben hatten. Sie weiß. Sie weiß. Lauter so Geschichten. Sie stellt den Karton auf ein schmales Bett hinter dem Treppengeländer, auf mehrere andere Kartons, die von einer großen Mappe getragen werden mit (was was was?) häßlichen Stichen aus dem Besitz von Richards Eltern (Jagdszenen und französischen Modeblättern). Es herrscht ein stellenweise planmäßiges, dann wieder ganz unbeschreibliches Drunter und Drüber, als wären manche Ecken passiv, manche noch aktiv: offene Koffer, zu labilen Türmen gestapelte Schachteln, eingerollte Teppiche, Eislaufschuhe (spröd wie aus Pappmaché), Schultaschen griffbereit an Wandhaken, Schachteln mit Schulheften (zehn Sätze mit daß), eine Rodel (oder was einmal eine Rodel war), alte Federbetten, die Federn sedimentiert, eine Wehrmachtsdecke, Kaffeedosen (Arabia, Meinl), Keksdosen (Haeberlein, Heller) ungewissen Inhalts (abgerissene Briefmarken? Knöpfe?) und Staub, auf allem Staub wie zäher Verbandsstoff, als wäre das Gerümpel, ähnlich Richards gebrochenem Bein, bandagiert gegen die Schmerzhaftigkeit der darauf lastenden Zeit. Es ist, als würde nach und nach mit der Feuchtigkeit auch die Bedeutung aus den Gegenständen gepreßt. Wohin man schaut, verklumpen sich die abgelegten Dinge zu einem Grundstoff, einer Materie, die Generationen vermengt, zu eingedickter, eingeschrumpfter, ihrer Farben beraubter Familiengeschichte.

Zwischen den Möbeln und dem Gerümpel hindurch, vorbei an Ottos Tretauto, schiebt sich Alma zum nach Westen gelegenen Fenster und öffnet es, um frische Luft einzulassen. Als sie den linken Flügel befestigen will, fällt die Ringschraube aus der Wand. Alma denkt, ja, richtig, das gab’s schon mal, das hatten wir schon öfters. Im Sommer. Sie hebt die Ringschraube auf, dreht sie notdürftig in das ausgeleierte Loch, hängt den Haken in den Ring, knipst einige hohle Fliegenkadaver und Mäusekötel aus den Ritzen des inneren Fensterbrettes, das ganz schrundig ist von den Jahren, und blickt hinaus über die Gärten und Häuser in die Abenddämmerung über dem Bezirk. In einer Luftströmung, die über das Wiental hereinkommt, bewegt sich leise das trockene Laub in den Bäumen, halb sich abzeichnend in dem fahlen Licht, halb schon verwischt. Über dem Lainzer Tiergarten bildet sich dichtes Gewölk, Haufenwolken und gehäufte Schichtwolken mit Quasten am Bauch. Der Himmel in dieser Richtung ist vollständig bedeckt, darunter liegt kompakter Schatten. Die Farbe der Bäume schlägt kaum mehr durch. Die Wolken ziehen heran, träge und schwer, wie eingeladen von Almas Blicken. Bald werden auch die Dachfirste und Giebel, die dort hinten zu sehen sind, mit dem finsteren Milieu verschmelzen.

Alma wartet mit vor der Brust verschränkten Armen und hält Ausschau. Sie weiß nicht worauf und wonach.

Damals, kurz nach Mitternacht, als Ingrid kam und sie weckte, weil es an der Türe klopfte und Ingrid sich ängstigte. Es war Otto, der nicht hereinkonnte. Ingrid hatte alles gut versperrt. Ottos letzte Nacht daheim, bevor er wieder zum Barrikadenbau loszog und sich freiwillig einer Kampfeinheit anschloß. Zwei Jahre zuvor hatte er noch Briefe geschrieben aus dem Kanutenlager. Mit musizierenden Engeln am Briefkopf. Er hatte die Engel von einem Quartett abgepaust und mit Wasserfarben koloriert.

Kommentar überflüssig.

Denn seinen Engeln befiehlt er um deinetwillen, dich zu behüten auf allen deinen Wegen. / Sie werden dich auf Händen tragen, damit dein Fuß auf keinen Stein stoße. / Über Löwen und Nattern kannst du schreiten, auf Junglöwen und Drachen kannst du treten. (Psalm 91,11–13)

Wirklich und wahrhaftig.

Ja?

Noch einmal?

Das gibt es nicht.

Zögernd wendet Alma sich vom Fenster ab. Sie geht zur Tür, drückt die Tür hinter sich zu, nimmt die Gedanken an ihre Kinder mit, die Treppe hinunter, piano, als lauschte sie etwas anderem, einer anderen Stimme. Ihre rechte Hand gleitet über die von Tausenden Kinderhänden, Erwachsenenhänden geglättete (abgenutzte?) Kanonenkugel, die Otto zufolge 27 ½ Stunden brauchen würde, um in Gefechtstempo den Äquator zu umfliegen (er mußte es strafweise für die Schule ausrechnen). Sie hält kurz inne. Versonnen. Erstaunt. Falten zwischen den Brauen. Sie streicht an den Seiten über ihr Kleid. Plötzlich empfindet sie, wie leer das Haus ist, so anders als am Anfang, Otto und Ingrid, ihre Mutter oft da, und Richard, der sich freute, wenn recht viel Besuch kam. Von den fünf Leuten, die hier gelebt haben, ist nur mehr sie selbst übrig. Sie nickt langsam, mehrmals. Dann geht sie die Kellertreppe hinunter und holt aus der Kühltruhe einige von den besseren Vorräten, die sie ursprünglich für Besuche gespart hat und langsam vergißt, weil sie keine Besuche mehr will. Sie legt die Vorräte zum Auftauen in die Küche. Von dort biegt sie ins Wohnzimmer und dreht in der Hoffnung auf gute Neuigkeiten bei den Nachbarn im Osten den Fernseher an. Doch das Herunterleiern der Meldungen ohne jede Anteilnahme erschüttert sie diesmal ganz besonders. Noch ehe die Zeit im Bild zu Ende ist, schaltet sie auf einen anderen Sender, auf dem ein harmloser Blödsinn mit Fritz Eckhard läuft. Aber dieser Kitsch geht ebenfalls über ihre Kraft, und eine Dokumentation zur Entstehung des Lebens wiederum ist zu hoch für sie, obwohl das Thema sie interessiert. Es ist von Ketten von Aminosäuren die Rede, die sich nach einer bestimmten Ordnung aneinanderreihen und verbinden. Doch wie daraus Leben entsteht, offenbart sich ihr nicht. Sie dreht den Fernseher ab, ein wenig frustriert. Sie nimmt das Buch über die Outsider zur Hand, das in der vergangenen Nacht aus dem Regal gefallen ist, mal sehen, vielleicht gelingt es ihr, darin etwas über Richard zu erfahren. Aber auch hier: Fehlanzeige. Bereits auf der ersten Seite stolpert sie über mehrere Wörter, die ihr nichts sagen und die auch im Langenscheidt nicht angeführt sind. So stellt sie das Buch unverrichteter Dinge ins Regal zurück. Sie geht wieder zum Sofa, legt sich hin, dreht sich mit dem Gesicht zum großen Fenster, die Beine leicht angezogen, Knie auf Knie, die Knöchel aneinandergeschmiegt. In dieser Stellung lauscht Alma auf die vertrauten Geräusche im Haus, friedlich, sanft liegt sie da, geduldig, auf nicht unangenehme Weise einsam, also nicht einsam, sondern allein. Vielleicht niedergeschlagen, ja, ein wenig niedergeschlagen, weil die Möglichkeit, Wissen zu erwerben, auch für sie nachgelassen hat. Oft, wenn sie trotz zunehmender Übung in der Kunst des Weglassens und Einsparens schon am frühen Abend zu nichts mehr zu gebrauchen ist und lediglich das Bedürfnis verspürt, an nichts zu denken, nur still zu liegen, sagt sie zu sich: Das war wieder nicht mein Tag, der sollte bald kommen. Sie sagt es sich auch jetzt: Das war wieder nicht mein Tag, der sollte bald kommen. Gleichzeitig nimmt sie ohne Bitterkeit zur Kenntnis, wie unsinnig ihr Wunsch ist, weil dieser Tag nicht kommen kann, sie wüßte nicht wie und womit. So starrt sie erwartungslos in sich hinein, ohne glücklich oder unglücklich zu sein, ohne recht schlafen zu können, mit einem Gefühl, als ob der Raum um sie herum schaukelte, fern von ihr. Windböen laufen an den Fenstern auf, eine lose Scheibe klirrt leise, eine Viertelstunde später wird Regen gegen das Haus geworfen. Mit klopfendem Herzen und erhitzten Wangen lauscht Alma nach draußen, auf das Prasseln und Gluckern und Brausen und später auf ein dumpfes Grollen, das sich über die anderen Geräusche legt. Dieses Grollen veranlaßt sie aufzustehen, die Deckenlampe zu löschen und durch eines der türhohen Fenster in den Garten zu blicken, auf das Bienenhaus und auf die Bäume, die mit ihren Kronen schwarz gegen schwarz vor den Hintergrund und gegen den Himmel gestemmt sind. Es ist kein Lichtschimmer dort oben. Alma denkt, hoffentlich gibt es nicht wie beim letzten starken Regen kleine Bäche in der Veranda, das hätte noch gefehlt. Sie hatte drei Sachverständige im Haus, und keiner wußte eine wirkliche Lösung ohne einen Umbau im großen Stil. Aber für wen? Für mich? Für mich lohnt es sich nicht, die paar Jahre, die ich noch lebe, wird es schon halten, dann sollen sich andere drum kümmern. Und der dritte Sachverständige bestärkte Alma in dieser Ansicht. Er riet ihr, am besten nichts anzurühren, solange es nicht wirklich ganz arg werde, gegen Schnee, Eis und Hitze fände sich kaum ein wirklich gutes Material (siehe die Frostaufbrüche der Straßen). Seither befürchtet Alma, daß es eines Tages wirklich ganz arg werden wird. Ansonsten, das ist ihre Meinung, soll das Haus ausdienen, mehr wird nicht mehr verlangt.

Das Gewitter ist herangekommen. Es gießt wie aus Schaffeln. In Abständen von drei, vier Sekunden entladen sich zickzackförmige Blitze, von denen die meisten sich gabelförmig spalten. Die Blitze sind weiß und blendend hell, manchmal leicht ins Bläuliche spielend, andere Male orangefarben. Die Mehrzahl der Blitze ist von keinem Geräusch begleitet, nur von Zeit zu Zeit hört Alma in der Ferne ein leichtes an- und abschwellendes Rollen. Alma würde gerne die Sekunden zählen, aber wegen der Häufigkeit der Blitze und der Seltenheit des Donners kann sie nicht unterscheiden, zu welchem Blitz das Grollen gehört. Deshalb zählt sie für sich so dahin, angenehm betäubt vom mechanischen Aneinanderreihen der Zahlen, in Betrachtung der Schattenrisse im Garten, der Regenschraffuren, von denen sie nicht loskommt, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig, damit sie nicht an all diese Dinge denken muß, die wie gewohnheitsmäßige Altersschmerzen sind, dort, wo es durch allzu ausgiebigen Gebrauch zu Abnützungen gekommen ist, wo durch endlose Wiederholungen zwei Gedanken auf empfindliche Nerven drücken.

Daß sie Otto nicht in ihren Schoß betten konnte. Sie kann denken, soviel sie will, es gibt keinen Ersatz dafür, daß sie ihre Kinder, als sie starben, nicht in den Armen gehalten hat. Manchmal denkt sie mit einem sacht unter der Asche glühenden Groll, die Kinder hätten besser auf sich aufpassen sollen. Aber in Wahrheit ist es ein Vorwurf gegen sich selbst, weil das Aufpassen und Beschützen in den Aufgabenbereich der Mutter fällt. Sie würde es gerne besser machen, sie würde — doch wenigstens — den Kopf des toten Otto in ihren Schoß nehmen dürfen und den Kopf der toten Ingrid. Ob das eine Rettung wäre? Vielleicht. Und ihren Mann, Richard, würde sie in den großen Fauteuil setzen, den er zuletzt bevorzugt hat. Sie würde ihm den grün bezogenen Schemel zum Hochlagern der Füße bringen, dann wären alle versammelt (nochmaliges Zunehmen des Regenprasselns), alles wäre in Ordnung (wieder ein oranger Blitz), vielleicht nicht in Ordnung, nein (was für ein Sauwetter), aber besser.

Einmal ging Alma rüber ins Bad, Ingrid saß völlig verschlafen am Klo, da war Ingrid bereits siebzehn oder achtzehn. Alma streichelte Ingrids Kopf und drückte ihn gegen ihren Bauch, es war wie in alten Zeiten.

Ja, die alten Zeiten. Die glorreichen alten Zeiten, in denen man so leicht versackt.

Und jetzt?

Jetzt stillen die Rosen ein letztes Mal in diesem Jahr ihren Durst.

Jetzt knickt der Wind die Blumen auf den Gräbern, sofern die Blumen nicht aus Plastik sind.

Dann ein Donnerpoltern, ganz nah, als fielen alle Bilder von den Wänden, und die Menschen aus den Bildern und das Geißlein aus der Uhr.

In der Schule hat Alma gelernt, daß sich die Farben eines rasch rotierenden Windrads im menschlichen Auge vermischen, blau und gelb zu grün. Wenn jedoch bei völliger Dunkelheit ein Blitz das rotierende Windrad für eine Hundertstelsekunde erhellt, wird das Windrad in Ruheposition gesehen, die Farben klar voneinander abgegrenzt. Aus demselben Grund scheinen die heimeilenden Vögel in der Luft erstarrt zu sein, wenn der Blitz sie erleuchtet. Ganz ähnlich frieren die Dinge in der Erinnerung ein; als würde die Erinnerung das Farbengemisch der Vergangenheit in seine Bestandteile zerlegen und einzelne Farben herauslösen, als würde die Erinnerung die Vögel (Tauben), die vor Jahren in eilender Bewegung waren, für einen Augenblick ans Gewitter nageln.

Der Wind hat am Fenster gerissen, das Fenster hat am Haken gerissen, der Haken hat an der Ringschraube gerissen, die Ringschraube hat am Holz gerissen, das Holz hat nachgegeben, und die Ringschraube ist aus der Wand gefallen. Eine Weile dreht sich das Fenster lose in den Luftströmungen über dem westlichen Rand der Bundeshauptstadt, Wien, unabsetzbare Königin an der Donau. Die Angel quietscht, das Fenster wendet sich ein Stück zu dem in schwerer Müdigkeit harrenden Kinderspielzeug, zu den Briefen, denen der Adressat abhanden gekommen ist. Das Fenster wendet sich nach vorn, zurück, nach vorn. Dann schlägt es in einer Böe an die Wand, und das Glas springt in Scherben aus dem Rahmen heraus.

Alma stellt sich ein Glas Fernet aufs Nachtkästchen (auf daß wir nicht alleine sterben müssen). Sie zieht ihre Kleider aus, schlüpft in ein frisches Nachthemd, das mit den Marienkäfern. Sie schiebt sich unter die schwere Decke, nimmt den Grünen Heinrich vom Nachtkästchen und richtet die Lampe so, daß der Lichtkegel genau auf die aufgeschlagenen Seiten fällt.

Wie sie bloß hierher gekommen ist? Es ist verrückt. Sie kann es nicht fassen. Wie bloß? Es ging alles so schnell, nicht lange gefackelt, einmal umgedreht, einmal hingeschaut, schon vorbei.

[Applaus. Ende.]

In dem Zimmer hängt eine Federzeichnung an der Wand, ein Blatt im DIN-A3-Format, das der Enkel, Philipp, der Großmutter geschickt hat, der Datierung nach, als er zwölf war. Unten rechts, in einer allürenhaften Mischung aus Groß- und Kleinbuchstaben, hat er einen Titel notiert: Die Füße meiner Schwester Sissi. Tatsächlich bietet das Blatt nur wenig mehr: Senkrecht ins Bild fallende Glockenhosen, der obere Rand knapp über Kniehöhe, das linke Knie von einer Schraffur aus vier Strichen und einem Querstrich markiert. Unterhalb der Hosen gerippte Socken, entlang deren man ein gutes Stück weit in die Hosenröhren hineinsehen kann. Dann stumpfnasige Schuhe, hauptsächlich die Sohlen. Der linke Schuh liegt beinahe waagrecht nach seiner Seite, während der rechte, aufrecht stehend, leicht nach vorn und ein wenig zur anderen Seite kippt, woran, wie auch an der dreispitzförmigen Öffnung der Hosenröhren, zu erkennen ist, daß Sissi während des Zeichnens auf dem Rücken gelegen ist, vielleicht lesend, auf ihrem Bett, vielleicht schlafend, auf Philipps Bett, und deshalb die Schuhe.

[Applaus. Ende.]

Eins noch — was Alma sich?

Sie fragt sich, warum man der abenteuerlichen Idee von Gott und dem ewigen Leben mehr Wahrscheinlichkeit zuspricht als der sehr viel einfacher, wenn auch nicht leichter zu denkenden Variante, daß es mit dem Tod aus und vorbei ist und daß wir (wir) nicht wieder auf die Füße fallen. Schon im Leben immer der Wunsch, auf die Füße zu fallen, und noch zum Tod hin das sich Klammern an die durch nichts bestärkte Hoffnung, daß es ewig so weitergehen wird.

Daß es in ihrer Kindheit hieß, an ihr sei ein Bub verlorengegangen. Ja?

Wie die Tivoligasse damals ausgesehen hat? Eine breite, graue Straße, grau, grau, holprig und staubig.

Moment —.

Der 21. Februar 1945. Als viele der wertvollen Vögel aus dem schwer getroffenen Tiergarten entkommen und in die fensterlosen Hietzinger Villen flüchten konnten. Die Vögel wurden von den in der Stadt verbliebenen Kindern sichergestellt — was man halt damals sicherstellen nannte. Gemeinsam mit einem Sohn von Dr. Jokl hat Otto einen Tukan eingefangen, der soll bei Jokls im Kochtopf gelandet sein als Abwechslung auf dem seit Wochen eintönigen Speiseplan.

Weißt du noch? Im letzten Kriegsjahr hast du gelernt, wie man überprüft, ob Milch gewässert ist. Wenn man eine Stricknadel in die Milch tauchte, und es blieb an der Nadel eine Spur Milch hängen, war die Milch unverdünnt, ansonsten war sie gestreckt.

Sauer? In einem zerbrochenen Glas?

Hatte das Ingrid geschrieben oder Otto?

Eine Postkarte?

Keine Antwort.

Auf alle Lebenden und Toten.

[Applaus. Ende.]

Eins noch — wovon Alma?

Sie träumt von kleinen Schweinen. Ihr Vater und sie laden viele kleine Schweinchen von einem Wagen, tragen jedes einzeln in den Keller und legen sie auf eine Stellage, wo sie brav liegenbleiben, bis auf drei.

Ihr Vater sagt:

— Die drei werden nicht angenommen.

Dabei sind es die schönsten Schweinchen von allen.

Alma legt die lebhaften Schweine nochmals zu den anderen, und da bleiben auch sie brav liegen.

[Bravo. Applaus.]

Der Allsehende droben wird den Traum einer Rose und den Traum einer Lilie kennen und scheiden. Das hat jemand gesagt, als Alma noch klein war, manchmal versucht sie, sich zu erinnern, wer es gewesen ist, aber es fällt ihr nicht ein.

Gesagt wird viel.

Das Vergessen ist der beste Gehilfe des Henkers.

Man lebt nicht einmal einmal.

Das Leben besteht aus vielen Tagen. Dieser wird enden.

Im Konversationslexikon der Madame de Genlis, in einer Ausgabe aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, behandelt das einundfünfzigste und letzte Kapitel Gesprächsschablonen, die der Reisende auf dem Totenbett mit seinem Arzt wechseln soll. In Lautschrift abgefaßte Sätze in einer fremden Sprache.

— Bin ich verloren?

— Werde ich große Schmerzen leiden müssen?

— Ich bin bereit, vor meinen Herrn zu treten.

[Applaus.]

Im bereits ausgekühlten Fernseher, wenn er liefe, wenn das richtige Programm eingestellt wäre (wäre wäre wäre), antwortet ein vor drei Jahren verstorbener russischer Regisseur auf die Frage, was das Leben sei:

— Eine Katastrophe.

Was man ja immer ein wenig geneigt ist zu unterschlagen.

Ja?

:?

Ja.

[Black-out]

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