Freitag, 30. Juni 1978

Im knisternden Radio ein Vortrag über Alternativenergien, in dem davon die Rede ist, daß das vermehrte CO2 in der Luft zu einer Erwärmung der Erdatmosphäre führen wird, wodurch die Eismassen an den Polen teilweise abschmelzen, was wiederum den Meeresspiegel um fünf bis acht Meter ansteigen läßt. Venedig bis zum Hals, New York bis zu den Knien im Wasser.

— Wir würden besser nach New York fahren, sagt Sissi, die zukünftige Berufsrevolutionärin, die mit offenem Mund an ihrem Reisekaugummi kaut.

Ihre Urlaubshalluzinationen, das kann Peter sich lebhaft vorstellen, umfassen U-Bahnen, Müllgeruch, Plätze mit Panflötenspielern und in den Museen Bilder, auf denen die Porträtierten beide Augen auf einer Wange haben und aussehen wie Ufonen. Dazu langhaarige Typen, die an den Ecken stehen und bei jedem jungen Menschen, der vorübergeht, zwischen den Zähnen zischen.

— Was uns an der Adria alles Schönes erwartet, sagt er.

— Ich wüßte nicht was, kontert Sissi, siebzehn, ein mittelgroßes, schlankes Mädchen mit fuchsrot gelockten, völlig willkürlich geschnittenen Haaren.

— Sonne und Meer, sagt Peter.

— Und die Glocken an den Fischernetzen, die wie auf einer Ziegenalpe klingen. Willkommen daheim.

Sie befinden sich auf der Fahrt nach Jugoslawien, wo sie auch den großen Urlaub des letzten Jahres verbracht haben. Diesmal wollen sie campen, weil sich die Hotels im letzten Jahr teilweise in einem Zustand präsentierten, daß nicht einmal Peter je zuvor etwas ähnlich Trostloses vor Augen gekommen ist, nicht einmal als er in den fünfziger Jahren mit seinen Spielen durch Österreich tourte und bei seiner Quartierwahl nicht allzu wählerisch war. Durchhängende Betten, beim WC fehlte mehrfach das W. An einem der letzten Tage holten sie sich nahe bei Dubrovnik Flöhe. Als Peter nachts von den Bissen wach wurde und Licht machte, hüpften die Flöhe zu Hunderten auf ihm und den Kindern herum. Wie Staub, der auf Dachböden in Lichtstrahlen tanzt.

Er weckte die Kinder und rief:

— Sachen zusammenpacken!

Nach fünf Minuten waren sie draußen und wechselten über die Straße in ein anderes Hotel, obwohl sie das Geld für das erste Zimmer nicht erstattet bekamen; da müsse man auf den Manager warten. Die Rückfahrt nach Wien war dann alles andere als komfortabel. Aber unterhaltsam: Wer die meisten Flöhe zur Strecke bringt. Sie lachten viel. Zu Hause mußte Peter jedoch gut 300 Schilling für Flohpulver, Flohsprays und ein Flohhalsband für Cara ausgegeben, und trotzdem blieb drei Wochen lang immer irgendwo eine Gruppe zurück, die nach einigen Tagen des Stillhaltens über eines der Kinder herfiel.

Um derlei Vorkommnissen diesmal aus dem Weg zu gehen, werden sie in der Nähe von Porec zelten. Unter Olivenbäumen, zwischen wilden Schildkröten. Nettere Gesellschaft. Es wird herrlich sein.

Trotzdem nörgelt Sissi:

— Papa, ich will nicht campen. Bitte.

Er sagt:

— Dem Antrag wird nicht stattgegeben.

— Ich bin doch kein kleines Baby mehr, das nicht auf sich selbst aufpassen kann. Sogar die Eltern von Edith erlauben ihr, daß sie auf Interrail geht.

— Vielleicht, weil Ediths Eltern selbst nicht in den Urlaub fahren. Da bist du besser dran.

Nervös läßt Sissi das Gummiband schnellen, das sie an ihrem linken Handgelenk trägt — gegen den bösen Blick (eine von Sissis typischen Auskünften auf angeblich dumme Fragen). Im Ton herablassender Empörung sagt sie:

— Nur mich fragt wieder mal keiner.

— Ich brech gleich in Tränen aus. Du wirst Spaß haben, und außerdem wirst du dich erholen.

— Wenn meine Erholung deine einzige Sorge ist.

— Es ist zumindest eine, mein Gott.

— Ich würde mich aber besser erholen ohne euch.

— Indem du im Zug zwischen Innsbruck und Neapel am Gang schläfst. Nach meiner bescheidenen Meinung —.

— Immer noch besser als im Zelt mit euch Schnarchern.

— Es war der Hund, der geschnarcht hat.

Ach ja? Sissis rechter Mundwinkel hält dem Lächeln des linken stand. Ihr Kopf wackelt in lautloser Erheiterung hin und her. Sie sagt kühl:

— Wenn du willst, laß ich dich in dem Glauben. Es gibt noch andere Gründe, warum mir dieser Urlaub schaden wird. Weil Familienleben die Persönlichkeit zerstört.

— Jetzt hör aber auf.

— Man braucht sich nur umzuschauen.

— Da frag ich mich aber, wo du deine Augen hast.

— Ich frag mich, warum ausgerechnet du derjenige sein willst, der weiß, was gut für mich ist.

Peter lenkt den Wagen kurzfristig bloß mit der Linken. Scherzend (das hat er auch schon besser gekonnt) hebt er den Zeigefinger der Rechten in die Lücke zwischen den Vordersitzen und verkündet:

— Weil ich ein paar Jahre mehr am Buckel habe als du.

— Ich bin genauso alt wie Mama, als du sie kennengelernt hast.

— Dann weißt du bestimmt auch, daß deine Mutter damals spätestens um sechs zu Hause sein mußte, sonst fing sie sich was. Sie ist noch mit Anfang zwanzig mit ihren Eltern in den Urlaub gefahren, und nicht nach Jugoslawien, sondern nach Bad Ischl.

— Sie wird es gehaßt haben. Das zipft mich so an, immer mit euch mitzockeln.

Und kurze Zeit später, unter beredtem Seufzen:

— Ich würde mir so sehr einen liberaleren Vater wünschen.

Peter lenkt den Wagen über die Bundesstraße am Semmering, wo Ingrids Eltern einen Garten besitzen; in Schottwien. Das letzte, was Peter über den Garten gehört hat, ist, daß er von der Schwester seines Schwiegervaters genutzt wird. Von Tante Nessi und ihrer versnobten Familie.

— Ich bin liberal, wendet er ein: Als nächstes käme die totale Teilnahmslosigkeit, die hast du mir auch schon vorgeworfen.

Im Rückspiegel sucht er Sissis Augen. Sie hält seinem Blick für diesen kurzen Moment stand, ein müdes Lächeln auf den Lippen, das Bände spricht. Peter weiß, daß sie ihn ansieht wie etwas, dessen Qualitäten man nicht besonders hoch veranschlagt, in einer Mischung, wo das Bedauern die Verwunderung überwiegt. Man müßte sie für zwei Wochen in die Ferien zu einem ihrer Großväter schicken, sie dürfte sich sogar aussuchen, zu welchem, da käme sie schon nach der halben Zeit zurück, hoffentlich mit bescheideneren Ansprüchen und objektiveren Begriffen von dem, was man unter liberal zu verstehen hat.

Sissi sagt:

— Du bist nur liberal, solange es für dich bequem ist.

— Wenn ich’s bequem haben wollte, wärst du längst auf der Eisenbahn, da könnte ich’s billiger haben. Meine Meinung ist, daß ich sogar erstaunlich liberal bin, geduldig, gutmütig und großzügig. Genau so, wie ich es mir von meinen eigenen Eltern gewünscht hätte. Ich habe mir nämlich auch gewünscht, daß sie liberaler wären.

— Sie waren Nazis, sagt Sissi.

Obwohl der Vorwurf auch ein wenig ihm zu gelten scheint und obwohl er es satt hat, sich wegen seiner Geburt und seines Jahrgangs und seiner wie in einem Giftschrank weggesperrten Kindheit schuldig zu fühlen, läßt Peter den Vorwurf auf sich sitzen. Er will nicht schon auf der Hinfahrt mit Sissi zusammenkrachen. Seit Ingrids Tod hat er sich ein paar Strategien zurechtgelegt, wie er mit den Kindern über die Runden kommt. Und er sieht auch ein, daß zutrifft, womit ein Arbeitskollege ihn unlängst trösten wollte, nämlich daß es nicht ganz einfach ist, ein siebzehnjähriges Mädchen für sich zu gewinnen, wenn man das Unglück hat, ihr Vater zu sein.

Was soll’s. Er bemüht sich, seinen Kindern innerhalb vernünftiger Grenzen den größtmöglichen Spielraum zu gewähren. Mit der mangelnden Anerkennung, die ihm dafür zuteil wird, hat er in den vier Jahren, seit er für die Erziehung allein verantwortlich ist, umzugehen gelernt. Solange er sich keine Sorgen macht (dieses Recht werden sie ihm hoffentlich zubilligen), redet er den Kindern nicht drein. Und wenn eines der Kinder unbedingt seine Meinung hören will, versucht er, diese möglichst neutral zu formulieren, damit er sich nicht vertut. Er beklagt sich selten über den verheerenden Saustall in den Zimmern. Die ausufernde Telefonrechnung macht er nur zum Thema mit Hinweis auf die Nachbarn, die am selben Anschluß hängen und sich über die ständig belegte Leitung beschweren. Vor gut zwei Stunden, als Philipp und er zur Abfahrt bereit waren, nahm er es hin, daß die Waschmaschine noch eine Dreiviertelstunde brauchte, bis sie durch war, mit T-Shirts von Sissi darin. Er sagte nicht, daß die letzte Schulwoche und selbst der Vormittag ausreichend Zeit geboten hätte, die T-Shirts rechtzeitig zu waschen, und er sagte nicht, daß es typisch sei, obwohl es typisch war. Er nimmt diese Dinge hin, manchmal mit einem Gefühl der Beklemmung. Aber dann redet er sich zu, daß Sissis Art auch ihre guten Seiten hat, zum Beispiel, wenn er selber später dran ist, als er versprochen hat, und Sissi es gar nicht bemerkt. Um die Zeit zu überbrücken, bolzten er und Philipp den Fußball gegen das Garagentor, mit wildem Scheppern, so daß Herr Andritsch an den Zaun trat und sagte, sie sollen zusehen, daß sie in den Urlaub kommen, aber hurtig. Endlich um drei, als die Freitagsglocken läuteten, eine Stunde nach dem verabredeten Termin, stopfte Sissi ihre nasse Wäsche in eine Nylontasche und die Tasche in den ohnehin randvollen Kofferraum. Peter behielt für sich, wie grindig er das fand, und er ließ es Sissi auch durchgehen, daß sie ihre Wagentür mit den Worten» Scheiß Urlaub!«zuzog.

Dann sind sie losgefahren, here we go, here we go, und Peter hat zur Unterhaltung ein Liedchen angestimmt, Jimmy Brown das war ein Seemann undsoweiter. Er hat hinterher wohlweislich eingestanden, daß Freddy Quinn kalter Kaffee ist gegen David Bowie, selbstverständlich. Aber besser Freddy Quinn als Schweigen im Walde (oder die Lieder, die man ihm in seiner Kindheit beigebracht hat).

— Stimmen wir überein, meine Damen und Herren?

Sie sind jetzt über den Paß, und die Straße läuft einen Hügelrücken hinab. Sie passieren mehrere Pensionen, Kurve links, Gerade, Kurve links, Kurve rechts, nach einer weiteren kurzen Geraden öffnet sich die Landschaft, und sie blicken auf die südlichen Voralpen.

Peter sagt:

— Ich verspreche euch vierzehn Tage schönes Wetter. Ich habe meinem Namenspatron einen Schnaps bezahlt, da wird er uns nicht im Stich lassen.

Philipp lacht behäbig und rutscht zur Mitte der Rückbank, weil er die Sonne auf seiner Seite hat. Die Strahlen brennen ihm auf Arm und Schenkel.

— Mach dich nicht so breit, sagt Sissi.

— Ich?

— Schau, daß du dein Bein auf deine Seite bekommst. Nimm deinen Fuß weg!

— Es ist mir zu heiß am Fenster.

— Du hast vor der Abfahrt genug Zeit gehabt, dir zu überlegen, von welcher Seite die Sonne kommen wird, wenn wir nach Süden fahren.

— Dann häng du nicht deine Haare zu mir herüber.

— Tu ich ja gar nicht.

— Und ob.

— Ach, halt dochs Maul.

— Blöde Kuh.

Philipp packt sich wieder in seine Ecke. Nach einiger Zeit lacht er, ein wenig hinterhältig, wie ein Gnom.

Sissi beklagt sich:

— Papa, das Schwein furzt, mir kommt gleich das Blut aus der Nase.

— Kann ich was dafür? fragt Philipp.

Sein zartes Bubengesicht mit den im Verhältnis zu großen, weil schon ausgewachsenen Zähnen färbt sich an den Wangen und auf der Stirn rot, hinauf bis zum Flaum am Haaransatz.

— Furzt du oder der liebe Gott? fragt Sissi.

— Aber ich kann nichts dafür, erwidert Philipp, und schon lacht er wieder sein leises, gnomenhaftes Lachen, so halb durch die Nase und halb mit dem Bauch. Augenblicke später starrt er glucksend zum Fenster raus gegen eine dichte Wand aus Bäumen und Gestrüpp.

— Blödmann, sagt Sissi und bläst sich eine Strähne ihres Haares aus dem Gesicht. Sie harkt die Strähne mit den Fingern hinter das rechte Ohr.

Jetzt kann auch Peter Philipps Furz riechen, er kurbelt das Fenster handbreit nach unten, aber Sissi, die hinter ihm sitzt, wo sich ihr die bessere Deckung bietet, murrt, daß der Fahrtwind an ihren Haaren zerre. Ach ja? Also kurbelt Peter das Fenster wieder hoch.

— Dort vorne, das ist die Bärenwand, sagt er mit Blick auf die im Schönwetterdunst heran- und davonschwimmenden Hänge: Und dahinter ist die Kampalpe, die sieht man von hier aus aber nicht.

Wie erwartet werden die Hinweise ignoriert. Peter ist der einzige, der eine gewisse Solidarität mit dieser Landschaft zu empfinden scheint, der mehr sieht als nur leere Räume und leere Dörfer, die aus Sand gebacken sind und zerfallen, sowie der Wagen die Stelle hinter sich gelassen hat. Philipp macht Anstalten zu einem Nickerchen. Sissi schaut zwar zum Fenster raus, aber so, als fahnde sie dort draußen nach dem Sinn des Lebens, den die Luft, wer weiß, als winzige Materie enthält. Man möchte ihr viel Glück wünschen.

— Jetzt freu dich doch ein wenig, sagt Peter.

— Ich freu mich halt nicht, sagt sie mürrisch und zeigt ihm charmant die Zunge.

Bislang will keine Ferienstimmung aufkommen. Dabei ist die Erleichterung darüber, wie die Zeugnisse ausgefallen sind, bei allen groß, auch bei Peter, der angesichts der vielen Schularbeiten, die er nie zum Unterschreiben vorgelegt bekommen hat, unangenehme Überraschungen nicht ausgeschlossen hätte. Sissi hat etliche Dreier im Zeugnis und einen Vierer in Mathe, von dem sie behauptet, daß er vermeidbar gewesen wäre. Sie hat keine Fehlzeiten, geht also gerne zur Schule, sie erweckt sogar den Eindruck, daß ihr die Schule mit ihrer den Tag strukturierenden Wirkung in den Ferien abgeht. Philipp hingegen ist während des halben Schuljahres grün im Gesicht. Er braucht in den Ferien immer einige Tage, bis er sich von den Schrecken des kapitalistischen Leistungssystems (Ausdruck Sissi) erholt hat. Die letzte Schularbeitenrunde hat er komplett verhaut, da ist ihm die Puste ausgegangen, auch, weil Cara, sein Liebling, Anfang Juni eingeschläfert werden mußte. Nicht ganz ohne Einfluß war wohl auch, daß ihn einige Lehrer (Lehrkräfte) auf der Schaufel haben, speziell die Alten, die mit der verschnarchten Art des Buben nicht zurechtkommen. Vor Pfingsten (Peter weiß das um fünf Ecken herum) hat der Geschichtslehrer vor versammelter Klasse Philipps Schultasche ausgeschüttet. In der Tasche soll der Dreck der letzten Jahre sedimentiert gewesen sein: abgebrochene Stifte, Spitzabfälle, Radiergummi- und Papierreste, Büroklammern, massenhaft Brösel inklusive einiger verschimmelter Jausenbrote, die mit den Servietten verwachsen waren. Sehr übelreichend, igitt, kann er sich vorstellen. Wer hat ihm das eigentlich erzählt? Philipp ist auch der einzige in der Klasse, der es glaubwürdig schafft, den Nachmittagsunterricht zu vergessen. Mit dem Fußball unterm Arm klingelt er bei Klassenkollegen, deren Mütter ihn unter vielsagendem Kopfschütteln darauf aufmerksam machen, daß er jetzt besser mit den anderen auf der Schulbank säße. Ja wahrlich, ein kleiner Depp. Er kann einem richtig leid tun. Nicht einmal Peter ist bislang aufgegangen, welche Talente der Rotzfresser mitbringt. Geschickt ist er jedenfalls nicht, es ist unmöglich, ihm beizubringen, wie man auf den Fingern pfeift oder auf einem Grashalm, da tun ihm hinterher nur die Backen weh. Geschäftstüchtig ist er auch nicht. Wenn Peter ihn zum Kutschkaplatz fährt, damit er den Passanten seine Pfadfinderlose andrehen kann, bringt er am Abend alle Lose zurück, legt sie auf den Küchentisch und zieht hilflos die Achseln hoch in der unausgesprochenen Erwartung (Hoffnung?), daß die Heinzelmännchen es für ihn richten werden. Er besitzt keinen Ehrgeiz, weder im Sport noch bei den Mädchen, die interessieren ihn noch gar nicht. Und Mut ist ebenfalls nicht seine Sache. Wahrlich, was für ein Tropf.

— Philipp, weißt du noch, wie du dich im Prater nach der Fahrt auf der Achterbahn übergeben mußtest?

— Ich glaube, ich leide unter Höhenangst.

— Und im Spiegelkabinett? Da hast du dich so über dein Aussehen geschämt, daß du sofort wieder rauswolltest?

— Mir war noch schlecht von vorher.

— Du bist mir eine schöne Flasche von einem Bruder, sagt Sissi.

— So war das jetzt nicht gemeint, wirft Peter ein: Du hast einen ganz großartigen Bruder, Sissi. Du hast allen Grund, stolz auf ihn zu sein.

— Er furzt nur ein bißchen viel.

— Blöde Sau.

— He, dahinten, reißt euch zusammen.

Sie fahren das Mürztal hinunter Richtung Südwesten. Bei der Ortsausfahrt von Mürzhofen, vor einem Maisfeld, das auf der gegen St. Lorenzen liegenden Seite von einem Baumrain gesäumt wird, stehen Kinder am Straßenrand und verkaufen Kirschen. Als Schutz gegen die Sonne haben die Kinder einen alten Regenschirm an einen groben Stecken gebunden und den Stecken in den Boden gerammt, so daß der Schatten über die Steige mit den Kirschen fällt.

Peter hält an, er kauft anderthalb Kilo.

Wieder unterwegs, erlaubt er den Kindern, die Kerne aus dem Fenster zu spucken. Jetzt hört er von der Rückbank, wenn der Fahrtwind einen schlecht gespuckten Kern zurück ins Wageninnere schleudert, sogar Lachen. Furchtbar komisch finden sie das. Er selber schluckt die Kerne. Soll gut für die Verdauung sein, hat es in seiner Kindheit geheißen.

— Mein erstes Auto. Hab ich euch je erzählt —.

— Zehn Mal, Papa.

Peter stockt und stützt für einen Augenblick die Unterarme auf das Lenkrad. Er späht in die überbelichtete Straße. Im Beschwerdeton sagt er:

— Sissi, du weißt ja gar nicht, was ich erzählen will.

— Nur zu.

— Die Alarmanlage, die ich im ersten Jahr —.

— Bei der immer, wenn man eine der Türen geöffnet hat, die Hupe losgegangen ist.

Gekonnt spuckt Sissi mit Schwung einen Kirschkern quer durch das Auto zu Philipps Fenster, schwups, draußen. Ihr Blick bleibt seitwärts bei ihrem Bruder.

— He! empört sich Philipp.

Ein Lächeln kräuselt sich auf ihren Lippen. Man hört das Rascheln der fransigen Papiertüte. Sissi steckt sich eine weitere Kirsche in den Mund.

— Und daß dir die Nachbarn Prügel angetragen haben, weil die Alarmanlage auch für dich nicht zu umgehen war. Ob morgens, ob abends.

— Es freut mich, Sissi, daß du so gut informiert bist. Da hast du genügend Stoff zum Nachdenken.

Und kurz darauf:

— Die späten vierziger und frühen fünfziger Jahre, ich kann euch sagen. Was für ein Mond. Was für sibirische Nächte. Habe ich euch auch von meiner Ferialarbeit beim Bau des Kraftwerks Kaprun erzählt?

— Nicht nur einmal.

— Mhm-mhm.

Im Rückspiegel erhascht er einen Blick auf Sissis unausgeschlafenes (erschöpftes?) Gesicht. Er nimmt wahr (zumindest in Teilen), wie ihre Zungenspitze einen Kirschkern hinter die locker vorgewölbten Lippen schiebt, wie sie tief Atem holt, wie sie den Kopf senkt und ihn dann hochwirft, während sie gleichzeitig den Kern in Richtung ihres eigenen Fensters schleudert, mit einem hörbaren Flup!

Peter packt seine Tochter rhetorisch beim Handgelenk:

— Wenn ich’s mir überlege, Sissi, kann ich kein so schlechter Vater sein, bei dem vielen, was ich erzähle.

— Solange du dich selbst reden hörst, bist du glücklich.

Sie sagt es spitz und ohne zu zögern, das Gesicht nach wie vor ohne jeden Ausdruck des Zweifels, daß dies die geeignete Redeweise ist, sich in ihrer Familie zu verständigen.

— Weil aus dir ja nichts rauszukriegen ist, antwortet Peter, weiterhin ruhig: Wenn ich nur Anstalten mache, eine Frage zu stellen, höre ich gleich, ich soll nicht versuchen, dich bis aufs Hemd auszuziehen. Warum? Verstehe ich nicht.

Sie zuckt mit den Achseln und zieht die Brauen hoch, als wolle sie sagen, es sei nicht nötig, alles zu verstehen.

— Dein Bruder ist nicht so geizig mit Auskünften. Dem muß man nicht jedes Wort vom Mund abkaufen.

— Weil er nichts zu erzählen hat.

— Woher willst du das wissen? protestiert Philipp: Natürlich hab ich was zu erzählen.

— Hast du nicht.

— Hab ich doch.

— Lappalien. Einen großen Haufen Nichts.

— Stimmt doch überhaupt nicht.

— Lügen und Angebereien, die du dir aus deinen Abenteuerbüchern zusammenbaust.

— Das stimmt nicht. Ich hab grad soviel zu erzählen wie du.

— Und was? fragt Sissi: Schieß los, sagt sie: Sei kein Spielverderber, fordert sie ihn auf: Na, komm, schieß los, was hast du zu erzählen?

Kurz blickt Philipp zum Fenster raus. Tonlos liest er zwei Ortsnamen von einem Schild herunter:

— Peggau, Deutschfeistritz.

Dann nimmt er das Kirschenpaar herunter, das über seinem linken Ohr hängt, legt es sich in den Mund, zieht die Stengel ab und schiebt sie über den Scheibenrand in den vorbeistreichenden Fahrtwind.

— Na, komm, Philipp, erzähl uns was, sagt Peter.

Ein beleidigter Ausdruck liegt im Gesicht des Buben. Er öffnet den Mund, schließt ihn aber sofort wieder, ohne etwas gesagt zu haben.

— Ich bin schon gespannt, fügt Peter hinzu.

Sehnig und braungebrannt liegen seine Hände eng nebeneinander oben am Lenkrad. Beim Zementwerk in Peggau zieht er den Wagen dynamisch in eine scharfe Linkskurve. Philipp kippt zu Sissi hinüber. Sissi stößt Philipp mit der Handfläche gegen die Schulter, zurück in seine Ecke.

— Bleib auf deiner Seite.

— Was kann ich dafür?

— Dort hast du einen Haltegriff, benutz ihn.

Philipps rechte Hand geht nach oben zu dem kunststoffbezogenen Griff über dem Fenster, die freie Linke legt er sich auf den Bauch, bewegt sie dort ein bißchen hin und her und gähnt nach einiger Zeit. Dann dreht er den Kopf mißmutig zur Seite, eine Strähne auf seinem Scheitel richtet sich in einem Luftwirbel auf. Er betrachtet seinen wenig ausgebildeten rechten Oberarmmuskel, den er in kurzen Abständen anschwellen läßt. Über den Oberam hinweg sieht er auf die sich öffnende und wieder schließende Landschaft und hinter Peggau für kurze Zeit auf den sich langsam bewegenden lautlosen Fluß, ein Band aus blaugrauer Flüssigkeit.

Ein Spaziergänger am anderen Ufer wirft für seinen Hund einen Stock ins Wasser. Philipp folgt dem Hund mit dem Blick, dann ist der Wagen vorbei, in der nächsten Kurve.

Peter sagt:

— Philipp, ich würde mich über eine Geschichte von dir freuen.

Der Wagen setzt über einen der Straßenkämme, es geht leicht bergab. Peter schaltet sinnlos einen Gang tiefer und wieder rauf. Er späht die Straße hinunter, ehe er mit einem schnellen Blick über die Schulter seinen Sohn ins Visier nimmt. Woran Philipp in diesem Augenblick denkt? Peter könnte es nicht sagen. Still und in sich gekehrt lehnt der Bub seitlich an der Tür. Könnte auch sein, daß sich hinter Philipps Träumen konzentrierte Wachsamkeit verbirgt. Peter hört das Gummiband gegen Sissis linkes Handgelenk schnellen. Er kann regelrecht hören, daß es schmerzt. Er denkt: Gleich wird die Stichelei weitergehen. Ich sollte die beiden ein wenig beschäftigen.

Vorschlag an die Nachkommenschaft:

— Ihr könntet was singen. Na? wie wär’s? Zur Hebung der allgemeinen Moral. Was ist? ja? ja? na, so was! das freut mich … aber … aber … das lobe ich mir.

Der Bub wagt sich vor, nichts Besonderes, klar, aber immerhin: Wann wird’s mal wieder richtig Sommer, ein Sommer wie er früher einmal war. Es ist ein einfaches Lied über Sonnenbrände, die man sich im heimischen Freibad holen konnte, über Wasserrationierungen und die Hoffnung, daß es auch in Zukunft wieder Hitzewellen geben wird, mitsonnenscheinvonjunibisseptember. Kein Wort von Liebe, gebrochenen Herzen oder dem Wunsch nach Freiheit in einer gottlosen Ferne. Ein lustiges und einfaches Lied. Philipp singt es langsam und sanft (sanft wie der sommerliche Fluß mit seinem trübblauen Wasser), und obwohl Philipp den rachenkranken Akzent von Rudi Carrell nicht ohne Charme imitiert, klingt es mehr wie eine Moritat.

Als er zu Ende gesungen hat, sagt Sissi:

— Es ist ein schöner Sommer, ich weiß nicht, was du hast.

— Aber nicht wie früher.

— Wann war früher?

— Früher halt.

— Wann früher?

— Als wir mit Mama in Venedig waren.

Die Male, daß die Kinder Ingrid erwähnen, unvermittelte Sätze wie dieser, werden von Jahr zu Jahr weniger, und auch der Schmerz läßt nach, den diese Sätze aus einem stillen Gären wecken. Peter weiß noch, wie erschrocken es ihn anfangs machte, wenn eines der Kinder am Küchentisch sagte:

— Das erste Mal, daß wir Apfelfleckerln ohne Mama essen.

Dabei brachen die Kinder keineswegs immer in Tränen aus, sie sagten diese Sätze meist beiläufig, so dahin, wie soll man es ausdrücken, als bedauernde Hinweise darauf, wie sehr sich die Dinge verändert hatten, in einer Kettenreaktion, die unendlich viele Details erreichte. Die Kinder machten diese Bemerkungen, weil sie darin eine Möglichkeit erkannt hatten, an das Vorleben mit Ingrid anzuknüpfen, ex negativo: Wir tun es, und Mama tut es nicht mehr.

Ingrid. Dieser wunderbare, vom Tod so weit entfernte Mensch. Sie hatten gerade einen Urlaub in Venedig hinter sich, dort fanden sie ohne Schwierigkeiten zu Fuß auf die Piazza San Marco, weil sie als Markierung die von Millionen Händen glattpolierten Straßenecken und Brückengeländer verwendet hatten. Ingrids Idee.

Dann ein Sonntag. Es ist der letzte Tag, bevor für Ingrid die Arbeit am Krankenhaus wieder losgeht. Sie packt die Badesachen und die Kinder in ihren Wagen. Eine jüngere Arztkollegin, deren Mann ein Motorboot besitzt, hat zum Schwimmen eingeladen. Ingrid trägt den roten Bikini, den Peter ihr in Italien auf einem Straßenmarkt gekauft hat, sie lacht und genießt das Licht, das träge Fließen der Donau, das Leben. Noch immer ist sie vom Tod weit, weit entfernt, und doch nur, wie jeder, durch einen Zufall von ihm getrennt. Sie sagt, wie wunderbar dieser Tag sei, sie springt von der Bugspitze, taucht unter, es spritzt über ihren Füßen, das Wasser schließt sich, und Ingrid kommt nicht mehr hoch, eine Minute, zwei Minuten, so schnell geht das, so leicht stirbt sich’s, keine Bewegung, kein Laut entsteigt dem Wasser, du sollst die Donau nicht duzen, auch in schönen Wassern kann man ertrinken. Wie? Was los ist? Ihr Armband hat sich an einem halb in den Kiesgrund eingeschwemmten Fahrrad verhakt, sie zerrt, statt aus dem Armband zu schlüpfen, wie oft hat sie den Reifen achtlos abgestreift vor dem Schlafengehen, wie oft, am Bettrand sitzend, dabei redend, nicht hinsehend, sie hat Hämatome am Armgelenk, die Fingernägel der anderen Hand brechen, die Muskelfasern in ihrer Schulter reißen, sie zerrt, der Armreifen verbiegt sich, aber er hält, ein ums andere Mal. Und Ingrid: Schluckt Donauwasser, sie bekommt das Wasser in die Lunge, sie hustet, unter Wasser kann man nicht gut husten, sie ist Ärztin, sie weiß, das macht es nicht besser, unter Wasser kann man nicht gut husten, sie weiß, daß man sterben muß, wenn man Wasser in der Lunge hat, sie will nicht sterben, sie will nicht, sie hängt am, sie zerrt, sie schlägt, sie hängt, wenn der Armreifen jetzt bräche, ja, sie würde bestimmt, laß los, nach oben, wenn der Armreifen jetzt, sie würde es bestimmt noch, sie hängt am, nein, doch, laß los, aber nein, sie würde es bestimmt noch schaffen, sie hängt am Leben, laß los.

Jetzt die erschreckende Wirklichkeit: Ist nicht nur der ruhig nach der Strömung sich ausrichtende Körper und das zur Seite treibende offene Haar, ist nicht nur die letzte Luftblase, die den Weg aus Ingrids Lunge findet und zur Oberfläche steigt, um sich dort einen Moment als glitzernde Kuppel auf dem ruhig dahinziehenden Wasser aufzurichten und zu vergehen. Es ist auch das, was sich an Deck des Bootes und im Wasser ringsum abspielt, wo das Leben (wovon die Schlagerdichter singen) weitergeht. Der Mann der Kollegin taucht nach Ingrid, bis er ebenfalls Wasser in den falschen Hals bekommt. Seine Frau feuert ab, was der Kasten mit den Rettungsmitteln hergibt, Signalpistole, Leuchtmunition. Die Frau setzt eine Boje, sie wirft den Rettungsring ins Wasser, der davontreibt, donauabwärts. Sissi ruft nach ihrer Mutter, wohl zwanzigmal, und die Stimme verhallt, Mama, Mama, vom Flußwind verweht, das Mädchen, Sissi, müßte den Mund unter Wasser halten, nein, tut sie nicht, dort kauert sie, sie ist dreizehn, auf einer der schmalen Plastikbänke, Sissi, mit dem Kopf zwischen den Knien, den Händen über dem Kopf, sie weint. Und Philipp: Er schaut übers Wasser, er wartet, daß seine Mutter hochkommt, daß seine Mutter ihnen lachend eine lange Nase macht, daß sie ihnen das Schilfrohr zeigt, das sie zum Atmen verwendet hat, wie im Western, John Wayne, Rio Lobo, Philipp hat den Film gemeinsam mit seinem Vater gesehen, er zählt bis hundert, Mama, du hast uns einen schönen Schrecken eingejagt, das ist schon gar nicht mehr lustig, dann fängt er wieder von vorne an … siebzehn, achtzehn, neunzehn, zwanzig, einundzwanzig —.

Es heißt, wenn man den Kopf in die Donau steckt, die Donau, die jeden Tag eine andere ist, dann höre man ein singendes Geräusch, das angeblich von den Kieseln auf dem Stromgrund kommt, die vom Wasser langsam vorwärts und übereinander geschoben werden.

Durch einen unglaublichen Zufall, einen absolut dummen Zufall.

Und Peter wünschte, daß Ingrid zurückkäme, um zu sehen, wie er sich hält, denn er hält sich ganz gut, findet er, ja, seit die Anfangszeit überstanden ist, damals, als er wie mit einer Bleiweste lebte und den Kindern vor lauter Zeitdruck die Hausaufgaben diktierte, so daß Sissi irgendwann sagte:

— Papa, ich glaube, dir geht deine Schulzeit ab.

Und er wünschte, daß Ingrid zurückkäme, um ihm beizupflichten, wie gut sie es jetzt haben könnten, denn seither ist vieles geschehen und anders geworden, die Zeit hat so manches geregelt.

Und er wünschte, daß sie wieder eine Familie wären und die Welt so schön wie in einem Album, daß die Bäume im Garten blühten, und die Sonnenuntergänge eine einzige Pracht wären und daß sie gemeinsam gute Bücher läsen und die Kinder stolz wären und gerne nach Hause kämen.

Und er wünschte, daß Ingrid neben ihm am Beifahrersitz säße, wo jetzt der Fotoapparat und die Schmalfilmkamera liegen, und daß sie zwischendurch ihre Hand auf seinen Oberschenkel legte und mit den Fingern leichten Druck ausübte.

Und er wünschte, daß sie glücklich wären bis ans Lebensende, er bildet sich ein oder ist überzeugt, daß sie glücklich sein könnten, er denkt das sehr oft, düster, schmerzhaft, undeutlich, ja, denken kann man vieles, es kostet nichts.

Es kostet nichts.

Denn es ist nicht so, nein, daß er nicht wüßte, ja, um es leichter zu haben, hat er seine Erinnerung ein wenig korrigiert, er weiß aber doch, daß seine Ehe nicht das war, was sie sich vorgestellt hatten, und daß die Zutaten für ein haltbares Glück nicht gereicht hatten und daß wenigstens Sissi alt genug war, die Misere mitzubekommen. Und er weiß auch, daß die Jahre vor Ingrids Tod die am wenigsten erfolgreichen Jahre seines Lebens waren, das will was heißen bei einem, der auch davor und danach meistens auf seiten der Verlierer gestanden ist, bei dem sich die Niederlagen eingelagert haben wie Arteriosklerose.

Sooft er daran denkt, ist das alles noch, als wär es gestern gewesen.

Als er am Vortag von Ingrids Tod daheim anrief, schickte sie eines der Kinder ans Telefon.

Sissi: Es geht mir gut. Bei uns nieselt es.

Er: Kann ich mit Mama sprechen.

Sissi: Ja.

Er: Ich habe gehört, es nieselt bei euch.

Ingrid: Ja, da muß ich wenigstens nicht Garten gießen.

Er: Ist das Gras schon wieder gewachsen?

Ingrid: Ja, natürlich.

Er: Hier in München hat es nur gestern geregnet, jetzt ist es wunderschön. Gibt es zu Hause etwas Besonderes?

Ingrid: Nein, denke, es geht uns gut.

Funkstille.

Er: Dann gib ihnen ein Bussi von mir.

Ingrid: Ja.

Er: Und dir auch ein Bussi.

Ingrid: Danke, bis dann.

So stand die Sache. Recht traurig. Traurig. Vor allem in den letzten Jahren hatten sie viel gestritten, meistens war der Ausgangspunkt eine Kleinigkeit, so nichtswürdige Kleinigkeiten, zum Beispiel: Ihr letztes Geburtstagsgeschenk an ihn, Spoerl, Mit dem Auto auf Du. Deutlich vor Augen steht Peter auch Philipps Erstkommunion. Das war seltsam. Wenn er nicht wüßte, daß es so war, würde er nicht glauben, daß er seinerzeit Sprüche klopfte wie:

— Mein Sohn trägt kein Mascherl.

Und Ingrid sagte:

— Wenn dir die Erstkommunion auf die Nerven geht, ist das deine Sache, und jetzt hältst du dich besser zurück.

Dann sagte sie noch:

— Du erträgst es offenbar nicht, wenn nicht du im Mittelpunkt stehst, sondern wer anderer.

Da meinte er:

— Jetzt reicht es mir, Schluß mit dem Zeug, ich höre mir den Blödsinn nicht länger an.

Ingrid legte eins drauf, indem sie behauptete:

— Deine Reaktion spricht dafür, daß ich jetzt etwas Wahres gesagt habe und du das nicht erträgst.

Wenn er sich diese Momente ins Bewußtsein ruft (und als nächstes fallen ihm Ingrids Eltern ein, die verdammten Alten), überkommt ihn eine abscheuliche Stimmung, da fühlt er ein nagendes Gefühl im Magen, und er hätte am liebsten, daß dem Auto Flügel wüchsen, so unangenehm, so bedrückend ist ihm, was er nicht ungeschehen machen kann. Alle paar Tage (alle paar Stunden?) ist das, da hat es ihn, da muß er dann zusehen, wie er sich ablenkt (oder abreagiert oder betäubt). Diesmal legt er sich mächtig ins Zeug, die Kinder zu weiterem Singen zu animieren, na kommt, los, ihr Schlafmützen, avanti, Griechischer Wein, By the Rivers of Babylon, Fiesta Mexicana. Das hilft. Und als Sissi, der die Lieder davor zu wenig engagiert waren (Da ist mir sogar Streiten noch lieber), als sie mit ihrem vom Kirschenessen blauroten Mund und ihrer schönen Altstimme ebenfalls ein Lied beisteuert, na, wie darf man das verstehen? daß jetzt die Ferien beginnen? Blowing in the Wind, stimmt Peter beim Refrain ein mit seinem ratternden und zittrigen Baß, gerührt wie zu Weihnachten bei Stille Nacht, einen schmerzhaften Kloß im Hals, weil es ihm einen Moment lang vorkommt, als seien sie, ja was? ja was? dieser Gedanke kommt ihm nur selten vertraut vor: eine Familie.

Er weiß, klar, er weiß es natürlich nur zu gut, das wird nicht ewig anhalten, vermutlich nicht einmal sehr lange. Sowie sie aus dem Auto gestiegen sind, rennt wieder jeder in seinem eigenen Tempo.

In Graz hinter dem Hauptbahnhof verläßt Peter die Durchfahrung. Er hält sich nicht Richtung Knoten Süd, wo ein neues Stück Autobahn ansetzt, sondern manövriert den Wagen südöstlich Richtung Stadtrand, wo er — kleine Fleißaufgabe — eine Kreuzung begutachten will, auf der sich Anfang der Woche ein tödlicher Unfall ereignet hat. Die Zeitungen gaben ziemlich verworrene Darstellungen.

— Muß das sein? fragen die Kinder unisono.

— Es wird nicht lange dauern.

Damit sie ihm den Abstecher nicht allzu übelnehmen, lenkt er den Wagen bei der Justizanstalt Karlau vorbei.

— Da bekommt ihr etwas zu sehen. Die Gebäude da vorne, die aussehen wie ein Kloster, die Außenmauer mit oben dem Stacheldraht. Das ist das Zuchthaus.

— Faszinierend, sagt Philipp.

Sissi wiederholt bissig:

— Faszinierend — . Dann doziert sie:

— Es gibt drum so viele Gefängnisfilme, weil es so viele Leute faszinierend finden, daß man andere Leute wegsperrt.

— Das ist ja auch interessant, verteidigt sich Philipp.

Peter springt Philipp mit dem Argument bei, daß alles, was die Gesellschaft nicht erlaube, in Zuchthäusern konzentriert sei, das verleihe der Sache einen gewissen Reiz: Ist doch so?

— Sehr reizvoll, sagt Sissi.

Und Peter:

— Der beste Beweis dafür ist, daß auch du am liebsten Zigaretten rauchst, die rezeptpflichtige Kräuter enthalten. Die Ursache dieser Verlockung dürftest du ruhig mit etwas mehr Objektivität beleuchten, im Interesse der Selbsterkenntnis.

Sissi sagt nichts darauf. Doch als Philipp sich bei einem Greißler ein Eis holen will und Peter auf der Hauptstraße umdreht, nicht ganz vorschriftsmäßig, zugegebenermaßen (die Gelegenheit war grad günstig), stöhnt sie vernehmlich:

— Der Herr Ingenieur vom Kuratorium für Verkehrssicherheit, alle Achtung.

Wie wurscht ihm das ist. Soll sie meckern, wenn sie was davon hat. Philipp bekommt sein Eis. Schmeckt’s? Und er, Peter, seine Kreuzung. Er findet sie auf Anhieb.

— Jetzt könnt ihr eurem Vater mal zehn Minuten bei der Arbeit zusehen. Bitte um gebührende Aufmerksamkeit.

Er sagt es, als sei es als Scherz gemeint, und in der Tat hat er keine Hoffnung, daß die Blicke seiner Kinder voller Bewunderung auf ihm ruhen werden, vor allem bei Sissi macht er sich nichts vor. Er gesteht sich ein, wieviel ihm ihre Anerkennung bedeuten würde. Wieviel. Er gesteht es sich ein, ist aber vorsichtig genug, sich nichts anmerken zu lassen.

— Auch diese Arbeit muß jemand tun. Immer noch besser als ein Besuch in der Klopapierfabrik.

Peter Erlach, achtundvierzig Jahre alt, wohnhaft in Wien, achtzehnter Gemeindebezirk, Pötzleinsdorfer Straße. Witwer seit vier Jahren, das prägt. Zwei Kinder, siebzehn und zwölf. Er ist Verkehrsexperte, eine Stimme, die in allen einschlägigen Gremien Gewicht hat. Ein schlanker, muskulöser Mann, der bei oberflächlichem Hinsehen für Ende dreißig durchgehen könnte, sich gut bewegt, der eine gelassene, leicht verschleppte Art hat zu reden, eine markante, angenehme Stimme und ein sympathisches Lächeln, aus dem selten ein Lachen wird. Sein Kopf ist schmal mit einer kräftigen Kinnpartie, so daß der breite Mund mehr vor als zwischen den Wangen zu liegen scheint. Seine ebenfalls breite Augenpartie streckt sich unter dichtem, dunkelbraunem Haar, den sauberen Scheitel trägt er auf der rechten Seite. Er ist gut gebräunt, weil im heimischen Keller über der Werkbank eine Höhensonne hängt. Er sieht aus wie ein Mann mit Selbstbewußtsein, wie einer, der sich seiner Wirkung bewußt ist. Dabei ist er ein stiller, nachdenklicher Charakter, der vom Leben nie etwas Besonderes verlangt hat. Vielleicht, daß man ihn in Frieden lasse. Er ist ausgeglichen, besser gesagt kontrolliert. Stimmungen sind für ihn etwas Zyklisches, etwas, das ab- und zunimmt wie der Mond, wofür es Bauernregeln gibt (daß auf Regen Sonnenschein, immer). Er hat keine Freunde, viele Bekannte. Bei seinen Bekannten ist er beliebt. Er gilt als verläßlich, und man hält ihn für klug, obwohl er nicht viel redet. Wo man ihn läßt, neigt er zur Zurückgezogenheit. Ein Einzelgänger, wenn man so will. Einer, der dankbar ist, wenn er sich auf niemanden einstellen muß. Manchmal schläft er mit einer Bibliothekarin der Technischen Universität. Aber weil die Frau verheiratet ist, kommt es ihm als eine Angelegenheit vor, die ihn zu nichts verpflichtet. Eine Mittagspausenbeziehung, die er vor seinen Kindern geheimhält. Kleines Versteckspiel. Bei anderer Gelegenheit, als er weniger umsichtig war, ist er schuldig gesprochen worden, mit seinem noch nicht abgestumpften Interesse an Frauen das Ansehen der verstorbenen Mutter herabzusetzen. Offiziell ist er seither ein vollendetes Muster an Tugend.

Was weiter von Bedeutung ist: Als Entwickler einer allgemeinen Knotenlehre hat er sich internationale Reputation erworben durch den bloßen Hinweis auf Dinge, die eigentlich selbstverständlich sein müßten. Daß man Kreuzungen als aktive, katalysatorische Verteilersysteme zu verstehen hat. Und daß der Sinn einer Kreuzung ihr Gebrauch im Straßenverkehr ist, präziser: daß eine Kreuzung, die geplant und gebaut wird, ihre Realität erst im nachhinein erhält, daß erst der Verkehr, der auf ihr stattfindet, ihr die Rolle zumißt, die sie spielt. Und: Daß es Mechanismen gibt, die den Verstoß gegen Regeln herausfordern, und daß folglich nur eine Kreuzung, die für alle Beteiligten nach den Kriterien der Selbstverständlichkeit funktioniert, eine sichere Kreuzung ist.

Er parkt den Wagen seitlich in der Einfahrt einer Tankstelle, die zur Straße hin zwei Zapfsäulen hat. Er nimmt einen Notizblock aus dem Handschuhfach, den Fotoapparat vom Beifahrersitz und steigt aus. Gegen die grelle Sonne blinzelnd, läßt er den Blick über die Anlage schweifen, ohne ersichtliche Hast und ohne neugierig zu wirken. Er macht erste Notizen. Er reguliert an der Kamera Blende und Fokus. Schießt ein Foto. Dann unterzieht er die Kreuzung einer gründlichen Inspektion. Er arbeitet konzentriert, die heiße Sonne prickelnd mal auf dem Gesicht, mal im Nacken, den Geruch des Verkehrs in der Nase, wie er es mag.

Es ist ein Knoten mit drei Ästen, ein schiefes T, wo ein Nebenast in eine stark mit Durchgangsverkehr belastete Hauptstraße stößt. Der schwächere Ast hat lediglich lokale Bedeutung und mündet von unten in spitzem Winkel in den Hauptast. Das bringt Nachteile bei der Übersichtlichkeit, zumal die Kreuzung durch private Liegenschaften in der Breitenwirkung beengt ist. Wie Peter feststellt, werden auf der — für sich betrachtet — übersichtlich verlaufenden Hauptachse hohe Geschwindigkeiten gefahren. Trotzdem gibt es für abbiegende Fahrzeuge keinerlei Verzögerungs- und Vorsortierungsspuren, dadurch auch keinen Stauraum. Das tut seine Wirkung. Speziell die Situation für die von stadtauswärts kommenden Linksabbieger ist verheerend. Die Spur wird bei der Querung der Kreuzung nicht geführt. Ein Wagen, der im Eckverkehr aus der Hauptstraße in den Nebenast biegen will, wird dies — um aus dem Gefahrenbereich zu kommen — möglichst rasch tun, dabei kann es dann passieren, daß er die Gegenfahrbahn anschneidet. Peng. Noch von der Garage aus fotografiert Peter einen dieser Abbiegevorgänge. Einen Augenblick später überquert er die Hauptstraße zur linken Seite des einbiegenden Astes, wo zahlreiche Kreidemarkierungen die Arbeit der Polizei vom Anfang der Woche dokumentieren. Peter betrachtet die Markierungen. Pfeile, Begrenzungsstriche, Bremsspuren. Er registriert die in der Sonne funkelnden Plastiksplitter, die in den Rinnstein gekehrt wurden. Unterdessen läßt er den Verkehr um sich herum geschehen, weder ängstlich noch achtlos, mit dem deutlichen Gefühl, daß ihm nichts zustoßen kann, weil er jede Unregelmäßigkeit aus dem Geräuscheteppich heraushört. Erfahrungssache. Er macht weitere Fotos. Er läuft ein Stück in den Nebenast hinein. Am oberen Ende, wo die Straße neuerlich auf eine Querstraße stößt, bietet sich dem Blick ein Gasthaus und auf dem Platz davor ein Mädchen, das auf Stelzen in die Ferien stakst. Peter schaut dem Mädchen einen Augenblick lang zu. Dann wechselt er nochmals die Straßenseite und macht eine Fotografie der Kreuzung in Richtung der Stadt. Die Autogarage ist jetzt ebenfalls im Bild. Am äußerst rechten Rand des Suchers schiebt sich der hellbraun-beige Opel Manta herein, den Peter im Vorjahr gekauft hat. Die Kinder sind mittlerweile ausgestiegen. Mag sein, er hätte den Wagen besser im Schatten geparkt.

— Ich bin gleich soweit! ruft er.

Er überfliegt seine Notizen, rekapituliert die Bestandsaufnahme. Nach einer weiteren Fotografie verschließt er den Apparat und tritt mit gezücktem Stift, begleitet vom Läuten der Ladenklingel, in die Fleischhauerei, die mit der Eingangstür zur Unfallstelle liegt, das Haus eingeklemmt zwischen den beiden Straßen, die keilförmige Schmalseite des Hauses zum vortrittsberechtigten Ast.

Nachdem Peter um sechs Semmeln mit Salami und Gurken gebeten hat, stellt er einige Fragen. Ob es an dieser Stelle schon öfters Unfälle gegeben habe, Blechschäden, und ob man zuweilen Reifenquietschen höre, ohne daß es kracht.

— Ja, schon, antwortet die Frau hinter der Ladentheke.

Sie reißt mit dem Messer ein breites Stück Haut von einer Ungarischen und schneidet die Wurst elektrisch auf.

— Der Doktor hat mir verordnet, ich soll mich nicht aufregen, sonst kriege ich den Herzschlag, und der Ofen ist aus. Aber ich glaube, es ist die Galle. Ich hatte noch nie Probleme mit dem Herzschlag, aber mit der Galle.

Das Gesicht der Frau hat überall Furchen. Ihre Hände sind alt, an der rechten Hand fehlt der kleine Finger inklusive der Gelenkpfanne. Ein faltiger Hautlappen über der Amputationsstelle ist dunkler als die Haut am Handrücken, und man sieht dort auch nicht die Venen darunter.

— Es kreischt und quietscht, es ist wie in einem Schweinestall. Die Leute schaffen ihre Wagen alle paar Jahre zur Autoweihe. Dann fahren sie aufs Geratewohl durch die Gegend, nach dem Motto, der liebe Herrgott hat gestern nichts kommen lassen, so wird auch heute nichts kommen.

Die Luft in der Fleischhauerei macht auf Peter den Eindruck, als ob sie Fett ausdünste, so dick ist sie. Der Laden scheint auf Hartwürste und Jausenversorgung spezialisiert zu sein. Zwei schwitzende Warmhalteöfen in dem ansonsten kühlen Raum bieten drei verschiedene Sorten Leberkäse zur Auswahl. Peters Magen knurrt. Er spürt den Schweiß in den Achselhöhlen und auf der Brust. Auf der Kreuzung hatte es dreißig, wenn nicht vierzig Grad.

— Ein Desaster, sagt die Frau: Nichts für schwache Nerven.

Mit routinierten Handbewegungen schneidet sie sechs Semmeln in Hälften. Nebenher läßt sie sich über Einzelheiten aus, soweit sie darüber Bescheid weiß. Einige Hinweise, deren Wirklichkeitswert Peter bedeutsam erscheint, hält er schriftlich fest, zum Beispiel, daß der Begrenzungspfosten vis-à-vis an der flachen Straßenecke nie lange stehe, bis er wieder umgefahren sei.

— Ich hätte es mir denken können, sagt er.

Einen Augenblick später, nachdem die Frau mit einem Seufzen zum Ende ihres Berichts gelangt ist, fügt er hinzu:

— Das sind Straßen ohne Verstand.

— Die Menschen haben keinen Verstand.

Die Frau schneidet zwei große Essiggurken der Länge nach in Scheiben, verteilt die Scheiben, legt die Dachhälften auf die belegten Böden. Sie wickelt die fertigen Brote in Butterpapier und schiebt sie in einen Papiersack. Peter läßt zwei Flaschen Mineralwasser hinzugeben. Die Frau reicht ihm die Tasche.

Beim Zahlen sagt er:

— Manche Straßen bilden die unerwünschte Eigenschaft aus, daß sie den Verkehr genau dort beschleunigen, wo sie ihn eigentlich drosseln sollten. Im speziellen Fall dieser Kreuzung müßte man entweder die Verkehrsbeziehungen im spitzen Winkel verbieten oder die Einmündung dieser Straße (er redet mit den Händen) so nach links biegen, also nach Süden, daß sie frontal auf die Hauptstraße stößt. Hand in Hand damit würde es sich empfehlen, mit der Einmündung dieser Straße einige Meter zurückzurücken. Der Vorteil dabei wäre, daß man auf diese Weise für die Hauptstraße den Platz für eine Vorsortierungsspur zum Ein- und Ausfädeln der Linksabbieger gewinnen würde und auf dieser Straße Platz für eine Verkehrsinsel. Mit Hilfe der Verkehrsinsel könnte man die kritischen Fahrströme ausbremsen und ihnen gleichzeitig die Spur führen. Das würde nicht nur die Leistungsfähigkeit der Anlage erhöhen und die Übersichtlichkeit wesentlich verbessern, sondern auch die meisten Kollisionen vermeiden helfen. Voraussetzung für eine derartige Ausbildung wäre allerdings, daß man dieses Haus niederreißt.

— Nette Aussichten.

Die Miene der Frau bleibt ziemlich ausdruckslos. Sie gibt Peter das Wechselgeld heraus, schiebt anschließend die Kassenlade mit dem Bauch zu und wischt sich die Hände an einem Geschirrtuch ab.

— Ist Ihnen schon aufgefallen, daß Stiefmütterchen vorzugsweise auf Gräbern und auf Verkehrsinseln angepflanzt werden? fragt sie.

— Ist mir noch nie aufgefallen.

— Dann denken Sie drüber nach.

Peter wendet sich zur Tür.

— Besten Dank für die Auskunft.

Er tritt hinaus in die Hitze und Helligkeit, wo ihm vom plötzlichen Kontrast gelbe Lichtpünktchen vor den Augen tanzen. Kurz kneift er die Augen zu, und als er sich nochmals umwendet, weil ihm die Fleischhauerin unter die Tür gefolgt ist, spürt er die gleißende Sonne wie einen Peitschenhieb im Rücken. Das Haus scheint sich über ihn zu neigen, so kommt es ihm vor, und im gleichen Moment glaubt er zu wissen, daß die Frau das Haus verkaufen wird, sowie man ihr ein vernünftiges Angebot macht. So eingekeilt zwischen zwei Straßen, kein Platz vor der Tür. Eine solche Gelegenheit kommt nicht wieder.

— Mit Parkplätzen sind Sie hier auch nicht verwöhnt. Seien Sie froh, sagt er nüchtern.

Er wendet sich ab, im Geruch des warmen Asphalts. Er geht über die Stelle, wo sich vor drei Tagen der junge Mopedfahrer zu Tode geblutet hat. Dabei stellt sich Peter vor, wie die Kreuzung nach einem verkehrsgerechten Umbau aussehen könnte. Ja, wenn er es sich überlegt, stimmt es tatsächlich, daß die Rabatten der Verkehrsinseln gerne mit Stiefmütterchen bepflanzt sind. Er meint auch zu wissen, woran das liegt. Nicht an den Geistern der Toten, die auf den blutigen Kreuzungen nach den Brillen, Hüten und Schultaschen suchen, die an den Straßenrändern zurückgeblieben sind. Es liegt wohl daran, daß Stiefmütterchen — er mag Stiefmütterchen ebenfalls nicht besonders — billig und dankbar sind. Wie Chrysanthemen. Einen Strauß Chrysanthemen hat er am Vorabend an Ingrids Grab gebracht.

— Schwups, schon erledigt.

Die Kinder stürzen sich auf die Salami-Semmeln; wie immer scheint es darum zu gehen, wer seine Brötchen schneller unten hat.

— Schlingt nicht so.

Philipp schafft es immerhin, zwischen zwei Bissen die Frage herauszudrücken, ob es eine interessante Kreuzung ist.

— Was man halt so unter interessant versteht. Zwei Straßen wie Ach und Krach.

(Wie Bomben und Granaten, wie Fleisch und Blut, wie Rast und Ruh.)

Bevor Peter in den Wagen steigt, löscht er seinen ärgsten Durst. Er läßt den Tank auffüllen, dann fahren sie weiter, alle drei kauend. Im Radio die 6-Uhr-Nachrichten.

Daß es im Nationalrat in der letzten ordentlichen Sitzung vor der Sommerpause zu einem Riesenkrach um die von der SPÖ beantragte Novellierung des Arbeiterkammer-Gesetzes gekommen sei. Und daß die sechs ÖVP-Landeshauptleute ihr Ja zur Volksabstimmung über das Atomkraftwerk Zwentendorf gegeben hätten. Großoffensive der Äthiopier gegen Eritrea. Bonn übernimmt den Vorsitz der EG. Hans Krankl werde in den nächsten drei Jahren auf den Rufnamen» Juan «hören. Die Neuerwerbung des FC Barcelona sei am Flugplatz der katalanischen Hauptstadt von 120 Journalisten sowie hunderten Fans stürmisch empfangen worden. Die Sowjetunion bereite einen bemannten Raumflug zum Mars vor. Prinzessin Anne in Wien.

Philipp, von Peter dazu aufgefordert, rattert die Aufstellung der Mannschaft herunter, die vor einer Woche den amtierenden Weltmeister aus dem Bewerb der Fußball-WM geworfen hat. Philipp nennt die Torfolge inklusive Spielminuten und Torschützen. Er erwähnt den einzigen Spielerwechsel des österreichischen Teams, einundsiebzigste Minute Franz Oberacher für Walter Schachner. Gelb für Kreuz und Sara. Schiedsrichter Abraham Klein, Israel. Es vergeht einige Zeit. Dann will Philipp mit Sissi darauf wetten, welche Farbe das nächste entgegenkommende Auto hat. Er blitzt mit diesem Ansinnen aber ab. Zu kindisch. Die Dramatisierung dessen, was ohnehin geschehen wird. Peter stellt sich ersatzweise zur Verfügung.

— Weiß.

— Blau.

Sie wetten fünfmal. Aber immer liegen sie beide daneben, drum lassen sie es wieder. Philipp nimmt sich ein Asterix-Heft von der Heckablage. Sissi linst auf die sommerliche Landschaft. Peter indes grübelt, wie er eine zwanglose Unterhaltung anbahnen könnte. Womit? Gute Frage. Er setzt zweimal an, hält aber lieber den Mund, ehe er sich neuerlich der Gefahr aussetzt, mit seinen Themen auf Ablehnung zu stoßen. Ist nicht ganz einfach, etwas zu finden, das kein alter Hut ist, den Kindern entgegenkommt und gleichzeitig nicht erwachsenenhaft oder neugierig klingt.

Er würgt den letzten Bissen seiner zweiten Salami-Semmel hinunter. Dann ein dritter Anlauf, apropos, daß den Fleischhauern, als während des Kriegs Lebensmittel nur auf Bezugsschein zu erhalten waren, von heute auf morgen die wundersame Fähigkeit zuflog, Fleisch auf wenige Gramm genau abzuschneiden, und daß ihnen diese Fähigkeit ebenso plötzlich wieder abhanden kam, sowie das Kartenwesen abgeschafft war. Darf’s ein bisserl mehr sein?

— Ein erstaunliches Phänomen, nicht?

Er erntet eine der üblichen spitzen Bemerkungen von Sissi, die sich diesmal auf Ernesto Che Guevara beruft:

— Der Kapitalismus wird irgendwann an seinen Widersprüchen ersticken.

Peter nimmt es zur Kenntnis. Sei’s drum. Am Ende ertappt er sich dabei, daß er — zum wievielten Mal? — versucht, anhand der in den Fenstern sich rasch vorbeispulenden Panoramabilder heimisches Kulturgut zu vermitteln, als sich ihnen jenseits der hinter Bäumen verborgenen Mur ein Blick auf den Turm von Schloß Weißenegg bietet. Ein plump getarntes Selbstgespräch, bei dem es, wie bei den Gesprächen mit der toten Ingrid, vor allem darum geht, sich selbst zu umarmen.

Hinter Wildon erwacht dann auch Sissis Redseligkeit, entweder befallen von Langeweile oder von einem Mitteilungsbedürfnis, das ähnlich unbeholfen ist wie das ihres Vaters. Nachdem sie ihren Bruder angestupft hat, sagt sie:

— Erklär mir noch mal, warum du Friseur werden willst.

Philipp schaut von seinem Asterix-Heft auf und sagt:

— Ich will doch gar nicht Friseur werden.

— Aber Friseur ist doch ein schöner Beruf.

— Laß mich in Ruhe, ich will nicht Friseur werden.

— Aber du sagst doch sonst immer, daß du Friseur werden willst.

— Ich habe noch nie gesagt, daß ich Friseur werden will.

— Das wäre aber genau der richtige Beruf für dich.

Philipp versteckt sich hinter dem Asterix-Heft, so gut er kann. Als Sissi nicht lockerläßt, sagt er:

— Laß mich in Ruhe mit dem saudummen Zeug.

— Warum saudummes Zeug? Du drehst den Frauen Dauerwellen und kochst ihnen einen guten Kaffee, während sie unter der Trockenhaube sitzen.

— Papa, sag Sissi, daß ich nicht Friseur werden will.

— Sissi, laß deinen sonderbaren Humor woanders aus.

— Ich interessiere mich dafür, was er später werden will, erwidert Sissi, ganz Schweinchen Schlau. Und wieder zu Philipp gewandt: Wenn du nicht Friseur werden willst, was willst du dann werden?

Philipp schaut zum Fenster raus auf die Trasse der im Bau befindlichen Autobahn südlich von Lebring, auf einen Laster, der sich ihnen nähert in Richtung der neuen Autobahnbrücke, die der Manta im nächsten Moment unterquert.

— Willst du Asphaltarbeiter werden? fragt Sissi: Dann hättest du Muskeln und ganzjährig eine gute Farbe und wärst große Klasse. Das gefällt den Mädchen. Weißt du eigentlich, daß du ein ziemlich hübscher Bub bist.

Philipp verzieht das Gesicht. Die Lektionen der letzten Zeit raten ihm, Komplimente von Sissi zu ignorieren. Mit Lob fängt man Narren.

Sie sagt:

— Du bist hübsch, aber ein bißchen klein, und leider befürchte ich, daß du nicht mehr wachsen wirst. Du wirst so klein bleiben, wie du bist.

— Das stimmt überhaupt nicht.

— Man nennt das Wachs-tums-hor-mon-mangel. Das läßt sich bei dir nicht mehr beheben, dafür bist du schon zu alt, weil du bald diesen Flaum auf der Oberlippe bekommst. Aber sei nicht traurig, Schönheit ist nicht alles.

— Jetzt sei doch nicht so gemein zu ihm, sagt Peter.

Er reibt sich die Wangen. Er muß daran denken, wie sehr sich Sissi in den letzten Jahren um Philipp gesorgt hat und wie oft sie deshalb eingespannt war. Peter hat immer den Hut vor ihr gezogen und ihr deshalb auch manches nachgesehen. Jetzt hängt er der Frage nach, ob Sissi ihren kleinen Bruder — seit wann geht das eigentlich so? — , ob sie ihn deshalb in letzter Zeit härter anpackt, weil Philipp allmählich selbständig wird.

— Ich hab doch gesagt, daß er ein hübscher Bub ist.

Philipp, der jetzt in Wut gerät, platzt heraus:

— Papa, die dumme Kuh hat nur schlechte Laune, weil sie sich auf dem Schulfest verliebt hat.

Noch ehe Peter Luft holen kann, um Philipp wegen der dummen Kuh zu bitten, sich einer netteren Ausdrucksweise zu bedienen, faucht Sissi:

— Bist du still!

— Papa, er heißt Valentin! Er —.

Aus dem angefangenen Satz wird nichts. Sissi stürzt sich auf ihren Bruder, nimmt ihn in den Schwitzkasten und hält ihm mit der Hand den Mund zu. Philipp redet weiter, doch da er die meisten Laute nicht mehr bilden kann und das wenige, was er an dumpfem Gebrabbel herausbringt, von Sissis Drohungen übertönt wird, ist nichts mehr zu verstehen.

— Gebt Ruhe da hinten, es reicht. Hört ihr? Ich hab gesagt, es reicht. Ihr sollt aufhören.

Da die Kinder nicht reagieren, lenkt Peter den Wagen in die Nische einer Bushaltestelle und läßt die Kinder balgen, bis ihr Zorn von selbst erlahmt. Zum Ausklang bedenken die Kinder einander mit den üblichen banalen Schimpfwörtern (Ausnahme: Arsch-mit-Ohren-Friseur). Dann setzen sie sich stocksteif in ihre Ecken und starren geradeaus.

Peter sagt, fast ohne die Stimme zu heben:

— Sissi, du brauchst deinen Grant nicht an Philipp auslassen.

Sie läßt ihren Vater ein wenig warten.

— Das geht mir alles so auf die Nerven. Ich begreife nicht, warum ich mit euch in den Urlaub fahren muß.

— Mit einem alten Nazi und einem Friseuranwärter. Ist es das, was du sagen willst?

Sie schluckt, sie muß es sich verbeißen, daß sie gleich in Tränen ausbricht. Mit Mühe würgt sie ihre Scham hinunter, die wenigen Tränen, die ihr dennoch kommen, blinzelt sie rasch weg.

— Es war ja nur geblödelt.

— Wo wir grad beim Blödeln sind. Eins möchte ich doch sagen: Dein Herr Che Guevara hatte nicht alle Tassen im Schrank. Die Aufgabe des Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen. Das ist genau das richtige fürs Poesiealbum. Aber wenn man mit fünfzehn Leuten in den bolivianischen Dschungel geht und glaubt, auf diese Weise die Regierung stürzen zu können. Also bitte! Alles, was recht ist! Im Dschungel waren nur Schlangen. Und dann mit der Maschinenpistole hysterisch draufhalten, im Namen des Volkes und für das Elend der Massen. Da frage ich mich, ob der Herr Doktor und seine Kombattanten ihre Sinne noch beieinander hatten.

Sissi blickt ihn wider Erwarten an, die mageren Arme verschränkt. Ihr zu kurzes T-Shirt ist hochgerutscht und gibt ein Stück des nackten Bauches frei. Mit einem Ausdruck völliger Verständnislosigkeit sagt sie:

— Das verstehst du eben nicht, dazu bist du zu alt.

Dabei ist eine solche Traurigkeit in ihrer Stimme, daß Peter jedes weitere Wort vergeht.

Er seufzt einmal tief, das hilft, Spannung abzubauen. Er fühlt sich ausgelaugt, er ist es auch.

— Morgen sind wir am Meer, da schaut die Welt ganz anders aus.

Er startet den Motor, kuppelt und sagt:

— Dann können wir ja wieder.

Here we go … Here we go. Und so fahren sie schweigend, obwohl alle nicht aufs Maul gefallen, also desto schlimmer, unter der hohen Wölbung des Himmels mit der Sonne schon nicht mehr ganz so hoch oben, mit den Schatten schon nicht mehr ganz so hart, begleitet vom Hunger der Vögel, die schwarze Querlinien in das Blau ritzen, durch windüberpfiffene Dörfer, zwischen Sonnenblumen, die in staubigen Gärten stieren, an Leibnitz vorbei, über die Mur und immer geradeaus, der Brückenwirt, bevor die Straße erneut über die Mur setzt, zwanzig Schilling für den, der mir sagt, wie oft wir die Mur heute queren, falsch, mein Sohn, da vorne das siebente Mal, und langsam, langsam, da haben wir die Bescherung. Denn: Denn unmittelbar vor dem nördlichen Brückenkopf stößt der Wagen ans Ende des Staus, der sich nach vorne zum Grenzübergang streckt, Spielfeld, auch Spielfeld (gemeinsam mit Straß) eine der 88 (später 92) Stationen in Peters — ehemaligem? — Spiel, Wer kennt Österreich? an dem jetzt andere verdienen, eine Station wie heute schon? na? na? wer kann sie mir aufzählen? Wien und? Noch mal zwanzig Schilling. Doch selbst Peter hat seine liebe Not, die Stationen zusammenzubringen, er denkt nach, mit dem Geruch des Meidlinger Magazins unter der Schädeldecke: Holzstaub, verschütteter Leim, feuchtes Papier und Asche, Asche, als er und die schwangere Ingrid im Herbst 1960 alles ausräumten und die restlichen Kartons und Spielfiguren und den ganzen Müll (den Bärenpelz) am Vorplatz verbrannten. Soll ich es euch sagen? Seid ihr alle da? Wien, Leobersdorf, Wiener Neustadt, Semmering, Bruck, Graz, Spielfeld/Straß.

Wer kennt Österreich?

So langsam, doch, so langsam, tatsächlich, macht man sich ein Bild.

Sissi hat ihre verspiegelte Sonnenbrille auf. Sie blickt geduckt, ein wenig gepeinigt, wie es scheint, zur Seite, doch ohne recht durchblicken zu lassen, wie’s ihr — die wahrhaftige Wahrheit — geht. Auf alle Fälle ist sie schaumgebremst (um ihre eigene Diktion zu verwenden). Als Peter aussteigt, da er sich einen Überblick über die Situation verschaffen will, und Philipp ihm folgt, macht Sissi keinerlei Anstalten, ebenfalls aus ihrer Verschanzung zu kommen. Peters Frage, ob er sie auf den Zug bringen soll, damit sie nach Wien zurückkehren kann, scheint sie gar nicht zu hören, und wenn doch, läßt sie sich trotzdem zu keiner Reaktion herbei.

Da soll sich einer auskennen. Er weiß beim besten Willen nicht, was das für eine merkwürdige Phase ist, die das Mädchen gerade durchläuft. Aber was er weiß, ist, daß dies der letzte Urlaub mit ihr sein wird, und das tut ihm leid, weil sie trotz ihrer Mucken ein lieber Kerl ist. Im nächsten Schuljahr wird sie das Gymnasium beenden, und wenn sie erst mit dem Studium begonnen hat, wird sie daheim nicht mehr zu halten sein, da macht er sich nichts vor. Sie wird ihm abgehen, bestimmt. Hoffentlich kommt sie oft vorbei zum Essen oder wenn sie von einem Freund den Weisel bekommen hat. Einmal (nur): Weil ein Junge von den Pfadfindern sie ausgenutzt hatte. Sie war todunglücklich und weinte. Peter tröstete sie mit seinen allgemeinen und lahmen Floskeln, die ansonsten ihr Mißfallen erregen. Aber er hielt ihre Hand, und sie hielt seine und schlief oben bei ihm ein. Ist schon eine Weile her, vor anderthalb Jahren. Auch seither gibt es immer wieder Momente, in denen sie seine Nähe zu suchen scheint. Aber die meiste Zeit verhält es sich so, daß sie lautlos die Türen öffnet und wieder schließt und sich auf Zehenspitzen durchs Haus drückt und daß sie immerzu sehr ausführlich den Kopf schüttelt, einerlei, was er macht, ob er ein Glas Wasser trinkt oder sich schneuzt. Irgend etwas an der Art, wie er lebt, gefällt ihr nicht. Oft wochenlang. Er spürt es, ein ständiges, wie zum Reflex gewordenes Kopfschütteln oder windschiefes Anschauen oder beides, wenn sie gemeinsam in einem Raum sind. Dann dauert es meist nicht lange, bis sie abrauscht. Er hat nicht die leiseste Ahnung warum und wie ihm geschieht, was er falsch macht und was er seiner Tochter eigentlich schuldig bleibt.

Rätsel über Rätsel.

Er beugt sich ins Auto:

— Sollte in den nächsten Minuten etwas weitergehen und ich bin nicht hier, dann schiebt doch den Wagen einfach nach vorne.

Wieder das Zupfen am Gummiring, das hat Sissi sich in den letzten Jahren angewöhnt. Sie sagt trocken:

— Du bist echt klasse, Papa.

Er nimmt die Schmalfilmkamera vom Beifahrersitz, macht sie bereit und filmt Sissi durch das Seitenfenster. Sie streckt ihm, wie schon einmal an diesem Tag, die Zunge raus, glänzend vom Speichel und den Spiegelungen des Fensterglases. Peter tritt auf die Gegenfahrbahn, führt die Kamera in einem weiten Bogen über den Stau. Mit dem Gerät vor dem rechten Auge geht er die Reihe der dicht an dicht stehenden Autos entlang Richtung Grenze, eine gedrängte Galerie verlotterter Gastarbeiterwagen mit hängenden Hinterteilen und überladenen Dachträgern. Dazwischen vereinzelt deutsche und holländische Wohnmobile, an deren Heckträger Klappräder und High-Riser festgeschnallt sind. Es kommen Urlauber ins Bild, die ungeduldig ihre Absätze über den Boden schleifen lassen. Türkische Männer, denen der Stau weniger anzuhaben scheint. Zwei dieser Männer werden von unaufhörlichem Lachen geschüttelt. Geschorene Kinder winken mit beiden Händen. Ein Hund trottet am erweiterten Straßenrand, die weggeworfenen Abfälle beschnuppernd. Und da ist diese Frau, eine Jugoslawin, in deren angekraustem Haar sich ein Insekt verfangen hat und die am Straßenrand mit beiden Händen gegen ihren Kopf schlägt, während ein gleichaltriger, großgewachsener Mann unmittelbar daneben gelassen zuschaut, die Hände im fleischigen Nacken. Das Insekt fällt zu Boden, die Frau zertritt es mit einem Twist der Schuhspitze. Bringt ihre Frisur in Ordnung. Als sie bemerkt, daß sie gefilmt wird, wirft sie der surrenden Kamera eine Kußhand zu. Ehe Peter die Kamera stoppt, schwenkt er sie von rechts nach links und zeigt nochmals die reglose Kolonne der wartenden Fahrzeuge.

— Eine Stunde Warten, sagt die Jugoslawin mit einem verlegenen Lachen. Eine kräftige, kräftig lachende junge Frau in Jeans und Bluse und mit einem sympathischen Mondgesicht.

Der Mann in ihrer Begleitung, nackt bis zum Gürtel in der offenen Fahrertür, kugelt zweimal seine Schultern und sagt:

— Nix sehr schlimm. Geht vorwärts.

Peter bleibt stehen und knüpft eine kleine Unterhaltung an. Im Verlauf dieser Unterhaltung stellt sich heraus, daß die beiden in einer Textilfirma in Ternitz arbeiten. Sie sind unzufrieden mit ihrer Beschäftigung, aber sie finden nichts Besseres. Trotzdem sind sie guter Laune, selbst als sie sich über die Arbeitsbedingungen beklagen. In Fühlung mit der Grenze scheinen sie die Selbstsicherheit wiederzugewinnen, die man ihnen bei der Einreise abgenommen hat.

— Zigarette? fragt der Mann und hält seine Schachtel in Peters Richtung.

— Ich habe es aufgegeben, sagt er.

Dennoch ist die Bekanntschaft bereits nach fünf Minuten über die Grenze dessen gediehen, was man nach wenigen gewechselten Sätzen erwarten darf. Die Situation, im Stau aneinandergekettet, Stoßstange an Stoßstange, erzeugt ein angenehmes Gemeinschaftsgefühl, um so angenehmer, da es zu nichts verpflichtet.

— Wir fahren ins Reich von Josip Broz Tito zum Campen.

Und daß er das Essen vom Kohlengrill mag und den Geruch der Kräuter, die dort, wo sie hinfahren, wild wachsen: Fenchel, Thymian, Rosmarin.

— Ja, ja, sagt die Frau. Darauf das rauhe, dunkelkehlige Lachen: Auch bei uns.

Weiter vorne krachen die Anlasser, die Motoren springen an, es geht drei Wagenlängen weiter.

— Sie uns besuchen in Split mit Frau und Kinder, sagt der Jugoslawe, nachdem er seinen Wagen über die entstandene Lücke bewegt hat.

— Zwei Kinder, sagt Peter, aber nicht Frau.

Sein rechter Zeigefinger weist nach oben, wo sich das Licht allmählich ausdünnt. Die Luft trägt einen dünnen Uringeruch vom Straßenrand heran.

— Oh, sagt die Jugoslawin. Mit ihrer seltsamen Stimme. Dann lächelt sie so freundlich, daß auch Peter lächeln muß. Eine Rückkoppelung.

Abermals setzt sich die Kolonne für zwei Wagenlängen in Bewegung.

Peter schaut sich um:

— Ich muß dann wieder.

Er schüttelt dem Gastarbeiterpaar die Hände und geht zurück, damit sein Ausbleiben zu keiner weiteren familiären Verstimmung führt.

Als sein Wagen wieder in Sicht kommt, hebt er nochmals die Schmalfilmkamera und richtet sie auf die Kinder am Straßenrand. Sissi macht für die Kamera mit ausdruckslosem Gesicht Hampelmänner. Philipp markiert den starken Mann, indem er auf die Zähne beißt, die Mundwinkel heftig nach unten zieht und seinen lächerlichen Bizeps demonstriert. In den Bewegungen der Kinder ist noch immer etwas vom Streit, ein Abglanz der Handgreiflichkeiten, des Zorns und der Hilflosigkeit. Und doch liegt eine verblüffende Schönheit in diesem Versuch, einen Beitrag zum Familienarchiv zu leisten, eine Kraft und Schönheit, die in Peter ein Gefühl hochsteigen läßt, das man ruhig Zärtlichkeit nennen darf.

— Und was ist das? fragt er mit vorsichtiger Befangenheit, nachdem er die Kamera gestoppt hat.

Das sind T-Shirts von Sissi. Warum fragen? Sie liegen zum Trocknen auf der Motorhaube und am Deckel des Kofferraums. Über dem Rückspiegel der Fahrerseite hängt ein Lumpen, den Sissi unter dem Gepäck hervorgegraben und mit dessen Hilfe sie den Lack notdürftig von Schmutz befreit hat. Peter filmt auch die T-Shirts. Er geht sehr nahe ran. Später einmal, wenn er zu Hause im Keller eine Vorführung gibt, werden die kräftigen Batikfarben blaß sein und etwas zusätzlich Körniges und Weiches haben, wie die Luft in der Früh, wie etwas, das seine Bedeutung erst in der Zukunft zugewiesen bekommt, wie etwas, das sich erst in der Zukunft begibt.

— Ich gehe bis zur Grenze zu Fuß, sagt Sissi.

Und weg ist sie.

Peter blickt ihr hinterher mit einem Gefühl des schleichenden Verlusts. Wie sie stolpert im Schotter des Straßenbanketts, ein unglückliches Mädchen in Schuhen, die gut aussehen, in denen sie aber fürchterlich schwitzen muß. Ihr Haar. Ihr Rücken. Ihr Hintern. Und daß sie sich nicht umdreht. Das beklemmt ihn, obwohl er weiß, es ist das, was sie jetzt braucht, anderthalb Stunden, in denen sie ihrer Familie entrinnt und auf sich selbst gestellt ist, ein Gefühl (die konkrete Erfahrung der Freiheit?), das ihre Sehnsucht mildert und sie der Antwort auf die Frage näherbringt, die sich Dschingis-Khan inmitten der Mongolenzüge gestellt hat: Wo nur bin ich in diesem Strom?

— Sie ist nicht gut drauf, sagt Philipp.

— Das scheint mir auch so, sagt Peter.

Langsam vollzieht sich der Ablauf der Zeit. Die Sonne verglüht, die orangefarbene Scheibe sackt ab, tiefer und tiefer, verwaschen im Dunst, streift einen bewaldeten Hügel hinter dem Schloß von Spielfeld, gleich darauf, rötlicher, nachdem Peter den Wagen ein Stück nach vorne gesetzt hat, steht sie wieder frei am Himmel, in einer westlichen Landschaftskerbe. Die Unebenheiten in der Ferne glätten sich ein. Ein leichter Wind kommt auf. Dann ein Sonnenuntergang wie ein Gemetzel. Die bewaldeten Hügel scheinen der Sonne hinterher unter die glitschige Horizontlinie zu stürzen. Und der Himmel reißt sich drachengleich los und löst sich in der Höhe in nichts auf.

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