9

Das Steakhouse, in dem ich mich mit Victoria Flores traf, war ziemlich voll. Kellner eilten hin und her. Nach der gedämpften Geräuschkulisse im Krankenhaus empfand ich die Atmosphäre als unheimlich lebhaft.

Zu meiner Überraschung kam Victoria nicht allein. Drexell Joyce, der Bruder von Lizzie und Kate, saß bei ihr am Tisch.

»Hallo, Süße!«, sagte Victoria, stand auf und umarmte mich. Ich war überrascht, aber nicht so sehr, dass ich vor ihr zurückgewichen wäre. Ich wusste gar nicht, dass wir uns so nahestanden. Bestimmt zog sie diese Show bloß für Drexell Joyce ab. Ich hatte mich auf ein gemütliches Abendessen unter Frauen gefreut, die das Aufklären von Geheimnissen zu ihrem Beruf gemacht haben. Und nicht auf irgendwelche Spielchen mit einem Unbekannten.

»Mr Joyce«, sagte ich, während ich mich setzte und meine Handtasche unter dem Tisch verstaute.

»Oh, bitte nennen Sie mich Drex«, erwiderte er mit einem breiten Grinsen. Er musterte mich mit übertriebener Bewunderung, die ich ihm kein bisschen abnahm.

»Wieso sind Sie nicht auf der Ranch?«, fragte ich mit einem hoffentlich entwaffnenden Lächeln.

»Meine Schwestern haben mich gebeten, Victoria zu treffen, um zu hören, wie weit sie mit ihren Ermittlungen gekommen ist. Wenn wir eine kleine Tante oder einen kleinen Onkel haben, wollen wir das Baby finden und dafür sorgen, dass es standesgemäß aufwachsen kann«, sagte Drex.

»Sie gehen also davon aus, dass Maria Parishs Kind von Ihrem Großvater war?« Ich fand das erstaunlich und machte keinen Hehl daraus.

»Ja, genau. Er war alt, das schon, aber er war ein ziemliches Schlitzohr. Mein Granddad hatte schon immer eine Schwäche für Frauen.«

»Und Sie glauben, dass sich Maria Parish auf seine Avancen eingelassen hat?«

»Nun, er war sehr charismatisch, vielleicht dachte sie auch, ihr Job hinge davon ab. Granddad mochte es gar nicht, wenn man ihm etwas abschlug.«

Wie reizend. Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, und beschloss, lieber zu schweigen.

»Und, wie geht es deinem Bruder?«, fragte Victoria mit aufrichtiger Anteilnahme.

Ich war enttäuscht. Ich war mir sicher, dass mich Victoria nicht ohne Hintergedanken hergebeten hatte. Sie war gar nicht an meiner Gesellschaft interessiert. »Es geht ihm schon deutlich besser, danke der Nachfrage«, sagte ich. »Ich hoffe, dass er übermorgen entlassen wird.«

»Wohin fahrt ihr als Nächstes?«

»Tolliver managt unsere Aufträge. Wenn er wieder fit genug ist, werde ich unseren Terminplan mit ihm durchgehen. Wir hatten ohnehin geplant, eine Woche zu bleiben, um unsere Familie zu besuchen.«

»Oh, Sie haben Verwandte hier?« Drex beugte sich neugierig vor.

»Ja, unsere beiden kleinen Schwestern leben hier.«

»Wer zieht sie groß?«

»Meine Tante und ihr Mann.«

»Und sie leben hier in der Nähe?«

Vielleicht war Drex einfach nur fasziniert von allem, was ich tat, doch ich nahm ihm sein Interesse nicht ab. »Verbringt Ihre Familie viel Zeit in Dallas?«, fragte ich. »Ich habe erst neulich Ihre Schwestern getroffen, und jetzt sind Sie hier. Das ist eine ziemliche Fahrerei.«

»Wir haben eine Wohnung hier und eine in Houston«, sagte Drex. »Auf der Ranch sind wir etwa zehn Monate im Jahr, aber ab und zu müssen wir auch mal ein bisschen Stadtluft schnuppern. Nur Chip nicht. Er liebt es, die Ranch zu leiten. Aber Kate und Lizzie sitzen in etwa zehn verschiedenen Vorständen, angefangen von Banken bis hin zu Wohltätigkeitsorganisationen. Und die tagen alle in Dallas.«

»Und Sie nicht?«, fragte Victoria. »Engagieren Sie sich nicht für wohltätige Zwecke?«

Drex lachte und warf den Kopf in den Nacken. Wahrscheinlich, damit wir sein markantes Kinn aus einer anderen Perspektive bewundern konnten. Ich fragte mich, was er wohl tat, wenn er eines Tages kein so straffes Kinn mehr besäße. Ich weiß aus Erfahrung, dass im Grab niemand mehr gut aussieht.

»Die meisten Organisationen, Victoria, sind schlau genug, mich nicht in ihren Vorstand zu holen«, sagte er augenzwinkernd. Einer von den guten alten Millionärssöhnchen. »Ich kann nicht gut stillsitzen, und wenn ich mir die ganzen Reden anhören müsste, würde ich sofort einschlafen.«

Wie konnte Victoria diesen Mist bloß ertragen? Sie sah aus, als fände sie dieses Arschloch tatsächlich charmant.

»Aber um auf unser Gespräch von vorhin zurückzukommen, Victoria, wie läuft es mit der Suche?«, fragte Drex wie ein Mann, der nach einem Späßchen gezwungen ist, wieder zum geschäftlichen Teil überzugehen.

»Ziemlich gut, würde ich sagen«, erwiderte Victoria, und ich wurde sofort hellhörig. Victoria klang ruhig und kompetent und mehr als nur ein bisschen vorsichtig. »Ich stelle gerade Mariahs vollständige Biografie zusammen, was schwieriger ist, als ich dachte. Was haben Sie denn für Erkundigungen über sie eingezogen, bevor sie als Pflegerin für Ihren Großvater engagiert wurde?«

»Ich glaube nicht, dass Lizzie irgendwelche Erkundigungen eingezogen hat«, sagte Drex aufrichtig überrascht. »Ich glaube, mein Großvater hat sie eingestellt. Als wir davon erfuhren, lebte Mariah längst im Haus.«

»Aber Sie hatten überlegt, eine Pflegerin für ihn zu engagieren?«, fragte Victoria.

»Er brauchte jemanden, der mehr war als nur eine Haushälterin, aber weniger als eine Krankenschwester«, sagte Drex. »Er brauchte eine Hilfe. Im Grunde war sie so etwas wie ein Kindermädchen. Sie achtete darauf, dass er sich gesund ernährte, und versuchte, seinen Alkoholkonsum zu kontrollieren. Aber er wäre ausgeflippt, wenn wir sie so genannt hätten. Sie hat ihm auch täglich den Blutdruck gemessen.«

Victoria hakte nach. »War Mariah eine ausgebildete Krankenschwester?«

»Nein, nein. Ich glaube nicht, dass sie irgendeine Ausbildung hatte. Sie sollte darauf achten, dass er seine Medikamente nahm, ihn an seine Verabredungen erinnern, ihn fahren, wenn es ihm nicht gut ging, und den Arzt rufen, wenn ihr irgendwelche Warnsignale auffielen, die man ihr aufgeschrieben hatte. Sie war eine Art menschliche Alarmanlage oder sollte es zumindest sein.«

Ich tauschte einen kurzen Blick mit Victoria. Ich war also nicht die Einzige, die so etwas wie Ablehnung aus Drex’ Monolog heraushörte. Inzwischen war ich längst nicht mehr davon überzeugt, dass sich Victoria für Drex interessierte. Victoria spielte ein raffinierteres Spiel, als ich es mir je hätte ausdenken und umsetzen können.

»Sie selbst sah sich jedoch in einer etwas anderen Rolle?«, fragte ich.

»Und ob! Sie sah sich wahrscheinlich als eine Art Wachhund«, sagte Drex. Er nahm einen großen Schluck von seinem Bier und sah sich nach der Bedienung um. Dabei hatten wir erst vor wenigen Minuten bestellt.

»Warum ist Ihre Familie für ihre Beerdigung aufgekommen und hat sie in der Familiengruft bestattet?«, fragte ich. Das hatte ich mich bereits mehrmals gefragt. »Was war mit ihren Verwandten?«

»Nach ihrem Tod haben wir ihre Sachen durchgesehen und konnten keinerlei Namen oder Adressen finden«, sagte Drex. »Lizzie wollte wissen, was sie von ihrer Familie erzählt hätte, woher sie käme, aber niemand wusste irgendwas. Wir haben Chip gefragt, aber keiner seiner Leute konnte sich auch nur an das Geringste erinnern.«

»Was war mit ihrer Versicherungsnummer? Als ihr Arbeitgeber musste Ihr Großvater die doch haben.«

»Er hat sie schwarz bezahlt.«

Ich staunte, dass ein Mann mit so viel Geld wie Richard Joyce so etwas tat. Die Joyces mussten doch genug Steuerberater und Geschäftspartner haben, die sich förmlich darum rissen, ihnen zu Diensten zu sein.

Drex sagte: »Als Lizzie Mariah kennenlernte, sagte sie Granddad, dass Mariah nichts tauge. Granddad wollte, dass sie blieb, obwohl er wusste, dass wir nicht sonderlich viel von ihr hielten. Er war nicht scharf darauf, sich nach einer anderen Lösung umzusehen, nur um Mariah anschließend zu feuern.« Er klang defensiv, und ich verstand sehr gut, warum. Ich wechselte einen vielsagenden Blick mit Victoria.

»Ihr Großvater hat also eine Frau eingestellt, die er nicht kannte, die er schwarzarbeiten ließ und von der er keinerlei Referenzen besaß. Er ließ sie sogar in seinem Haus wohnen.« Verständlich, dass ich ungläubig klang. »Sagten Sie nicht, dass Sie Chip gebeten hätten, nach Mariahs Tod mit seiner Familie zu sprechen?« Ich hörte es donnern und sah zum Fenster, gegen das der Regen schlug.

»Ja, sie kannten sie. Es war Chip, der meinem Großvater Mariah als Hilfe vorschlug.«

Eine lange Pause entstand, in der sich Drex erneut nach der Bedienung umsah und Victoria und ich unseren eigenen Gedanken nachhingen.

Keine Ahnung, was Victoria durch den Kopf ging, aber ich für meinen Teil konnte nur hoffen, dass sich meine Familie besser um mich kümmern würde, als es die Joyces bei ihrem Patriarchen getan hatten.

»Wie lange ist Lizzie schon mit Chip zusammen?«, fragte Victoria im Plauderton, als schnitte sie ein völlig neues Thema an.

»Oh, bestimmt schon seit Jahren. Sie kennen sich natürlich schon ewig von der Ranch. Und vom Rodeoreiten. Nach ein paar Jahren und nach Chips Scheidung hat es Klick! gemacht. Er nahm an einem Rodeo in Amarillo teil, fing ein Kalb mit dem Lasso ein. Und sie startete beim Tonnenrennen. Sie hatte Probleme mit ihrer Anhängerkupplung, und er hat ihr geholfen.«

»Hatte Mariah bereits für Chips Familie gearbeitet?«

»Sie waren Pflegekinder in derselben Familie, und als sie auszog, empfahl Chip sie einem entfernten Cousin. Arthur Peaden, wenn ich mich nicht täusche. Der Cousin starb um den Zeitraum herum, in dem die Ärzte zu Granddad sagten, dass er eine Pflegerin brauche. Chip schlug sie vor, schickte sie her, und mein Großvater mochte sie. Nachdem wir uns von der Überraschung erholt hatten, waren wir mehr oder weniger erleichtert, dass wir keine Vorstellungsgespräche führen mussten. Und Großvater hatte jemanden mit der notwendigen Erfahrung, der keinen Kittel trug und ihn herumkommandierte. Sie sah gut aus, und sie war immer gut gelaunt. Sie war auch eine großartige Köchin.«

Drex bekam sein frisches Bier, und Victoria stellte ihm einige Fragen, die ihn aus der Reserve locken sollten. Drex war nicht besonders helle, und Victoria war eine kluge Frau. Ich brauchte nur dazusitzen und zuzuhören, um mir ein Bild von Drex’ Leben machen zu können. Sein Dad war wahrscheinlich enttäuscht gewesen, dass sein einziger Sohn nicht das Zeug dazu hatte, sein Nachfolger zu werden. Aber Lizzie war nun mal nicht nur die Älteste, sondern auch die Intelligenteste. Katie, das mittlere Kind, war die Wildeste von den Geschwistern, zumindest aus Drex’ Sicht.

Ich war erleichtert, dass unser Essen kam. Ich war keine Detektivin, und ich wurde nicht dafür bezahlt, mir lange Geschichten über die Joyce-Familie anzuhören. Als ich satt war, langweilte mich Drex Joyce zu Tode, und ich war alles andere als erfreut, Victoria helfen zu müssen, diesen Deppen auszuhorchen. Obwohl mich ihre Taktik nervte, konnte ich durchaus verstehen, dass Victoria auf die Idee gekommen war, Drex mitzubringen. So konnten wir uns abwechseln, ohne dass er merkte, auf was unsere Fragen abzielten. Auf diese Weise würde er uns wahrscheinlich mehr erzählen als er wollte.

Mir fielen auch ein paar Fragen ein, an die Victoria nicht gedacht hatte.

Anscheinend hatte Victoria Drex die Wahl zwischen zwei attraktiven Frauen lassen wollen, und ich war erleichtert, dass Drex mehr auf Victoria zu stehen schien. Es bereitete mir ein teuflisches Vergnügen, mich noch vor dem Dessert oder Kaffee zu verabschieden. Victoria war vorübergehend bestürzt, sagte dann aber, dass wir am nächsten Tag telefonieren würden.

Ich dachte: Nicht, wenn ich es irgendwie vermeiden kann. Ich mag es nicht, ausgenutzt zu werden, und ich war mir sicher, dass Victoria mich nur zu Recherchezwecken eingeladen hatte. Dabei hätte sie mir gegenüber ruhig aufrichtig sein können. Ich verstand nicht, warum sie auf so eine List zurückgegriffen hatte. Wenn die Familie Joyce ihr den Auftrag erteilt hatte, würde sie doch mit ihr zusammenarbeiten. Warum besaß Victoria diese Informationen nicht schon längst?

Verärgert fuhr ich ins Hotel zurück. Da es aufgehört hatte zu regnen, hatte ich Lust auf etwas Bewegung. Ich gehe nur ungern nachts joggen, aber ich brauchte dringend eine körperliche Herausforderung. Ich hatte noch keine Zeit gehabt, die Gegend zu erkunden, aber einen Block hinter dem Hotel hatte ich eine große Highschool entdeckt. Vielleicht konnte ich ihre Aschenbahn benutzen, wenn das Tor offen war. Wenn nicht, gab es gegenüber der Schule einen großen Busbahnhof.

Zu meiner Überraschung saß Parker Powers, der Ex-Footballer, in der Lobby meines Hotels.

»Warten Sie auf mich?«, fragte ich und ging auf ihn zu.

»Ja. Können wir reden?« Er musterte mich durchdringend.

»Was wollen Sie wissen?«

»Ich wollte Ihnen noch ein paar Fragen zu Ihrem Bruder stellen. Gestern Abend gab es ein paar Blocks weiter ein Drive-by-Shooting, und wir versuchen herauszufinden, ob der Schuss auf Ihren Bruder etwas damit zu tun hatte. Wie ich höre, geht es ihm besser.«

Wenn er das nicht gesagt hätte, hätte ich nicht angebissen. Ich hatte dieses Leuchten in seinen Augen gesehen. Aber wenn er in Tollivers Fall ernsthaft ermittelte, wollte ich ihm helfen. Ich wollte wissen, wer auf meinen Bruder geschossen hatte. Trotzdem hatte ich nicht vor, dieses Thema in der Lobby weiter zu vertiefen. Und bei diesem Leuchten in seinen Augen würde ich ihn auch nicht auf mein Zimmer bitten.

»Ich wollte gerade laufen gehen«, sagte ich. »Begleiten Sie mich?«

»Klar«, sagte er nach kurzem Zögern. »Ich habe Laufschuhe im Wagen. Sie sollten sich lieber nicht allein hinauswagen, wenn es jemand auf ihren Bruder abgesehen hat. Wir wissen immer noch nicht, warum auf ihn geschossen wurde. Vielleicht hat es was mit dem Drive-by-Shooting zu tun, vielleicht aber auch nicht.«

»Ich bin in zehn Minuten zurück«, sagte ich und ging nach oben auf mein Zimmer. Ich besaß ein Schlüsselband mit einer rechteckigen Plastikhülle, in die ich meine Hotel-Schlüsselkarte und den Führerschein steckte. Ich zog meine Trainingshose, ein T-Shirt und meine Laufschuhe an und war fertig. Dann steckte ich das Plastikrechteck unter mein T-Shirt und hüpfte ein paarmal auf und ab, um zu überprüfen, ob alles sicher verstaut war. Ich steckte mein Handy in die Hosentasche, zog den Reißverschluss zu und ging hinunter in die Lobby.

Parker wartete schon auf mich. Er trug alte Shorts und ein ausgeleiertes Sweatshirt. Ich nickte ihm zu, und wir gingen hinaus auf den Parkplatz und machten Dehnübungen. Ich hatte den Verdacht, dass Parker schon länger nicht mehr trainiert hatte. Anscheinend waren die Shorts und das Sweatshirt seine Klamotten fürs Fitnesscenter, denn ich konnte das Spiel seiner Muskeln sehen, obwohl er einen leichten Bauchansatz hatte. Ich merkte, dass ihn das Training nicht gerade begeisterte, aber er genoss es, mich zu beobachten.

»Fertig?«, fragte ich, und er nickte verbissen. Er machte eher den Eindruck, als wartete die Guillotine auf ihn statt eine angenehme abendliche Joggingrunde.

Und schon ging es los, den Bürgersteig hinunter und an mehreren Häuserblöcken vorbei. Es folgten weitere Häuserblöcke und das Highschoolgelände. Die Straßenbeleuchtung war ausgezeichnet, und alle schienen zu Hause zu sitzen. Es war kühl, und überall standen noch Pfützen vom vorherigen Regenguss. In regelmäßigen Abständen fuhren Autos vorbei, einige schneller als erlaubt, andere extrem langsam. Aber da es einen Bürgersteig gab, war das keinerlei Problem. Ich fragte mich, ob einige Fahrer meinen Laufpartner erkannten.

Die frische Luft tat mir gut. Ich lief in einem gemächlichen Tempo, genoss die Dehnung in den Beinen und meinen erhöhten Puls. Die Aschenbahn der Highschool war von einem hohen Zaun umgeben, das Tor war natürlich verschlossen. Ich führte meinen Laufpartner über die Straße auf den großen Parkplatz voller Schulbusse. Parker hielt mit mir Schritt. Ich warf ihm einen flüchtigen Seitenblick zu und sah, dass er selbstzufrieden lächelte. Ich beschleunigte mein Tempo, und das Lächeln verblasste schnell. Nachdem wir eine Weile richtig gelaufen waren, rang Parker nach Luft. Das Einzige, was ihn noch antrieb, war sein Stolz.

Aber auf dem nächsten Kilometer verließ ihn auch der. Es gab drei Reihen mit Bussen, und wir waren von der Straße bis ans Ende der ersten Reihe gelaufen und dann auf der anderen Seite wieder zurück. Jetzt umrundeten wir gerade die zweite Reihe, um wieder bis ans Ende zu laufen. Ich war so richtig in Schwung und fühlte mich prima, aber Parker blieb stehen und stützte sich schwer atmend auf die Oberschenkel. Ich lief auf der Stelle weiter. Er gab mir ein Zeichen, dass ich weiterlaufen sollte. »Bleiben Sie in Sichtweite«, sagte er, wobei er jedes Wort einzeln hervorstieß.

Ich winkte ihm zu und lief weiter. Ich lief nur halb so gut wie mein Bruder, aber an jenem Abend fühlte ich mich, verglichen mit Parker, leicht wie eine Feder. Ich musterte die stumme Reihe Busse, roch die Pfützen und den Asphalt, den der Abendregen gereinigt hatte. Ich blickte kurz über die Schulter und merkte, dass mir Parker in einem ordentlichen Tempo folgte. Doch so langsam verließ ich den Bereich, der sich noch in seiner Sichtweite befand. Mit leichtem Bedauern umrundete ich die letzte Reihe Busse nicht, sondern machte kehrt und nahm die Strecke, die ich gekommen war. Hinter den Bussen musste noch eine andere Straße verlaufen, denn ich hörte aus dieser Richtung ein langsam fahrendes Auto. In diesem Moment folgten mir Autoscheinwerfer, die Parkers Gesicht erhellten und meinen langen Schatten vor mir auf den Asphalt warfen. Angst stieg in mir auf, und ich wurde langsamer, weil ich nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte. Das Geräusch hinter mir stammte eindeutig von einem Motor im Leerlauf … aber es kam näher.

Der Detective war zwar geblendet, steigerte aber sein Tempo und rannte auf mich zu. Als er näher kam, griff er unter sein Sweatshirt und zog eine Waffe. Ich begriff nicht gleich und glaubte, er würde auf mich schießen. Ich zögerte. Das Motorengeräusch kam näher.

»Laufen Sie!«, brüllte er mich an.

Ich verstand rein gar nichts, wurde aber immer schneller. Meine Arme sausten durch die Luft, wie um Schwung zu holen. Als ich ihn erreicht hatte, stieß mich Parker zwischen zwei Busse und wirbelte mit seiner schussbereiten Waffe zu dem herankommenden Wagen herum. Der Wagen brach zur Seite aus, wahrscheinlich, weil der Fahrer die auf ihn gerichtete Waffe bemerkte. Dann beschleunigte er mit quietschenden Reifen, schlingerte vom Parkplatz und brauste davon.

»Was war denn das?«, sagte ich. »Was war das?« Ich sprang zwischen den Bussen hervor, um meinem Retter gegenüberzutreten, und breitete die Arme aus. »Was war das?«, schrie ich.

»Eine Morddrohung«, sagte er, und sein Atem ging immer noch unregelmäßig. »Wir haben heute eine Morddrohung gegen Sie erhalten. Ich wollte nicht, dass sie allein laufen. Sie hätten ein leichtes Ziel abgegeben.«

»Warum haben Sie mir nichts davon erzählt? Deshalb haben Sie eingewilligt, mit mir laufen zu gehen!«

»Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie eine solche Gesundheitsfanatikerin sind«, sagte er unsportlicherweise. »Ich wollte Sie nur warnen, Ihnen von dem Drive-by-Shooting erzählen.«

»Also statt …«, stammelte ich. Dann schloss ich die Augen, riss mich zusammen und richtete mich auf. »Wissen Sie, von wem diese Morddrohung stammt?«

»Nein, es war eine Männerstimme. Der Typ sagte, Sie wären des Teufels und so. Dass Sie in Texas nichts zu suchen hätten und er sich schon darum kümmern würde, wenn er Sie das nächste Mal sähe. Er hat auch Ihr neues Hotel genannt.«

Das mit dem Anruf traf mich auch so schon ziemlich unvorbereitet, aber als Parker dann noch erwähnte, dass der Anrufer den Namen meines Hotels kannte, war ich wirklich beunruhigt. Ich wusste, dass ich die Sache ernst nehmen musste.

»Glauben Sie, er saß in dem Auto? Oder haben Sie nur ein paar Teenagern, die da hinten parkten, eine Heidenangst eingejagt?« Meine Beinmuskulatur verhärtete sich, also wippte ich sanft auf den Fußballen und beugte mich dann zu meinen Zehen.

»Keine Ahnung«, sagte Parker düster. »Allerdings konnte ich einen Teil des Kennzeichens erkennen und werde es durch den Computer laufen lassen.«

Plötzlich wurde mir klar, dass sich dieser Mann vor mich gestellt hatte, als er dachte, jemand würde auf mich schießen. Dieser unglaubliche Akt traf mich wie ein Schuss.

»Danke«, sagte ich. Plötzlich zitterten mir die Knie. »Danke, dass Sie das getan haben.«

»Das ist unsere Pflicht«, sagte er. »Es ist unsere Aufgabe, andere zu schützen. Zum Glück musste ich es damit nicht übertreiben, sonst hätte ich noch einen Herzinfarkt bekommen.« Er grinste, und ich freute mich zu sehen, dass er nicht mehr schwer atmete.

»Wir sollten lieber umkehren. Das war wirklich ein unangenehmer Zwischenfall.« Ich wollte ihn nicht verletzen, was ziemlich absurd war.

»Nein, ich glaube, die sind weg.« Er wirkte erleichtert. »Lassen Sie uns zurück zum Hotel gehen.« Er steckte seine Waffe ins Halfter.

Ich wusste, dass ich den Polizisten nicht mehr zum Laufen bringen konnte. Zumindest legten wir ein flottes Marschtempo vor, als wir den Busparkplatz verließen und an der Highschool vorbeikamen. Dann befanden wir uns im Wohnviertel, wo es kaum noch Verkehr gab. Alle waren längst von der Arbeit zurückgekehrt, und niemand hatte vor, heute noch auszugehen. Die Temperatur war ein wenig gefallen, und ich begann zu frösteln. Wir hatten noch drei Blocks vor uns. Wir gingen durch eine Siedlung mit liebevoll gepflegten Vorgärten. Selbst im Winter gab es hier noch Bäume mit Blättern, Büsche und Kies, die die kleinen Vorgärten schmückten. Parker Powers stellte mir Fragen, die mich ablenken sollten. Unzusammenhängende Fragen darüber, wie lange ich schon joggte, wie lange pro Tag, ob mein Bruder auch joggte …

Als mir gerade auffiel, dass der Schatten hinter einem der Bäume höchst menschliche Züge hatte, setzte er sich auch schon in Bewegung. Ein Mann trat hinter dem Baum hervor, und eine Waffe glänzte im Laternenlicht. Parker Powers machte einen Satz auf mich zu und stieß mich aus der Schusslinie. Der Schütze zielte direkt auf ihn und traf ihn in die Brust.

Schreien wäre reine Zeitverschwendung gewesen. Mein einziger Vorteil war meine Kondition, also sprang ich auf den winzigen Rasenstreifen und sauste davon wie ein Kaninchen auf Speed. Ich hörte Schritte hinter mir, sogar auf dem Gras, und versuchte, hinter das nächste Haus zu kommen. In dem Moment sah ich, dass der Garten umzäunt war. Es war kein hoher Zaun, eher eine Art Grenzmarkierung. Ich sprang darüber, landete sicher, raste dann über den toten Rasen und übersprang den Zaun auf der anderen Seite.

Erst später fiel mir ein, über was ich alles hätte stolpern und mir das Bein brechen können.

Ich fand mich im nächsten Garten wieder und konnte die nächste Straße gut erkennen. Nur eine Straßenseite war bebaut. Die andere war baumbestanden, und hinter den Bäumen ging es steil bergab, soweit ich das bei der Beleuchtung erkennen konnte. Ich begann in Richtung Hotel zu rennen, und zwar so schnell ich konnte. Hier hinten war es deutlich dunkler. Ich hatte Angst, zu stürzen. Angst, erschossen zu werden. Angst, dass der Detective tot war. Ich wusste, dass ich in die richtige Richtung lief, konnte das Hotel aber nicht sehen, weil die Straße eine Biegung machte. Ich hätte fast an eine Tür geklopft. Doch als mir einfiel, welche Gefahr das für die Bewohner des Hauses bedeutet hätte, rannte ich weiter. Ich glaubte, ein lautes Geräusch vor mir zu hören, also sprang ich zur Seite und ging hinter einem in der Auffahrt parkenden Wagen in Deckung. Einen Moment lang verharrte ich regungslos und lauschte, obwohl mein Herz so laut schlug, dass ich kaum wahrnahm, was außerhalb meines Körpers vorging.

Ich machte den Reißverschluss meiner Hosentasche auf, zog das Handy hervor und klappte es auf. Ich hielt schützend die Hand davor, um das Licht abzuschirmen. Ich wählte den Notruf, und eine Frauenstimme antwortete. »Ich verstecke mich in der Auffahrt eines Hauses hinter dem Holiday Inn Express«, sagte ich so leise wie möglich. »Detective Parker Powers wurde angeschossen. Er liegt auf der Jacaranda Street. Der Schütze verfolgt mich. Beeilen Sie sich, bitte.«

»Ma’am? Sagten Sie, ein Officer wurde angeschossen? Sind Sie verletzt?«

»Ja, Detective Powers«, sagte ich. »Ich bin noch unverletzt. Ich muss jetzt auflegen.« Ich konnte nicht telefonieren, ich musste lauschen.

Jetzt, wo sich meine Atmung beruhigt hatte, war ich mir ziemlich sicher, jemand anders atmen zu hören. Jemand, der leise durch die Vorgärten schlich. Jemand, der nicht hier draußen sein sollte. Merkten die Leute denn nicht, was um sie herum vorging? Wo waren all die bewaffneten Hausbesitzer, wenn man sie brauchte? Ich wusste nicht, ob ich losrennen oder in meinem Versteck bleiben und hoffen sollte, dass er mich nicht fand.

Die Anspannung war schier unerträglich. In der Hocke neben dem Auto zu warten, war mit das Schwierigste, was ich je getan hatte. Ich wusste nicht einmal, ob diese ruhige Straße eine Sackgasse war. Vielleicht endete sie gleich hinter der leichten Biegung. Dann müsste ich mich durch die Gärten zurückschleichen, um wieder auf die Jacaranda Street und zurück zum Hotel zu kommen. Es könnte Zäune geben, Hunde … Ich hörte einen bellen, der nach einem ziemlich großen Tier klang.

Die Schritte, leise Schritte, kamen ein wenig näher und blieben dann stehen. Konnte er mich sehen? Würde er mich in der nächsten Minute erschießen?

Dann hörte ich die Polizeisirenen. Gott segne die Polizei, ihre Suchscheinwerfer, ihre Sirenen und Waffen! Der Schatten, der sich fast an mich herangeschlichen hatte, zog sich rasch zurück. Dann ließ der Schütze jede Vorsicht fahren und rannte die Straße in die Richtung zurück, aus der ich gekommen war.

Ich versuchte aufzustehen, aber das ging nicht. Meine Beine gehorchten mir nicht mehr. Ich sah den Lichtkegel einer riesigen Taschenlampe auf mich zukommen, dann tanzte er über mir und kehrte zurück, um mich zu blenden.

»Legen Sie sich mit ausgestreckten Armen hin«, sagte eine Frauenstimme.

»Gut«, sagte ich. »Wird gemacht.«

Im Moment erschien mir das besser, als aufzustehen.

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