7
Nachdem Victoria gegangen war, setzte ich mich auf den Stuhl neben Tollivers Bett. Mein rechtes Bein war zittrig. Das ist das Bein, in das an jenem Nachmittag im Wohnwagen der Blitz fuhr, während es draußen gewitterte. Ich hatte mich für eine Verabredung zurechtgemacht, es war ein Samstag oder Freitag. Mir fiel auf, dass mir die genauen Umstände entfallen waren, was mich wirklich schockierte.
Ich wusste noch, wie ich in den Badezimmerspiegel gesehen hatte, während ich einen Lockenstab in der Hand hielt, der in die Steckdose neben dem Waschbecken eingesteckt war. Der Blitz kam durch das offene Badezimmerfenster. Das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich auf dem Rücken lag, halb in und halb außerhalb des kleinen Raums. Und dass mich Tolliver wiederbelebte. Dann lösten ihn die Sanitäter ab, und Matthew schrie sie im Hintergrund an. Mark versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen.
Meine Mom lag besinnungslos im Schlafzimmer. Wenn ich den Kopf nach links drehte, konnte ich sehen, wie sie quer über dem Bett lag. Eines der Babys schrie, wahrscheinlich Mariella. Cameron stand mit dem Rücken zur Wand im Flur. Sie war tränenüberströmt und völlig verstört. Es roch so komisch. Die Haare auf meinem rechten Arm waren nur noch kleine, harte Flocken. Nichts an mir schien noch zu funktionieren.
»Ihr Bruder hat Ihnen das Leben gerettet«, sagte der Sanitäter, der sich über mich gebeugt hatte. Seine Stimme schien von ganz weit her zu kommen, und es summte.
Ich versuchte, etwas zu sagen, aber meine Lippen gehorchten mir nicht. Ich schaffte es, unmerklich zu nicken.
»Jesus, ich danke dir«, stammelte Cameron unzusammenhängend, weil sie so aus der Fassung geraten war.
Die Szene im Wohnwagen kam mir realistischer vor als dieses Krankenhauszimmer in Dallas. Ich sah Cameron wieder genau vor mir: ihr langes, glattes blondes Haar, ihre braunen Augen, dieselben wie Dads. Wir waren uns nicht sehr ähnlich, das sah man sofort: Unsere Gesichtsform war anders, dasselbe galt für unsere Augen. Cameron hatte Sommersprossen auf der Nase, und sie war kleiner und gedrungener als ich. Cameron und ich hatten beide gute Noten, aber sie war beliebter. Sie tat viel dafür.
Meiner Meinung nach wäre es Cameron deutlich besser gegangen, wenn sie sich nicht mehr so gut an das schöne Haus in Memphis, in dem wir aufgewachsen waren, erinnert hätte. Bevor unsere Eltern in der Gosse gelandet waren. Diese Erinnerungen sorgten auch dafür, dass sie einen Standard für uns anstrebte, der nur in ihrem Kopf existierte. Sie wurde wütend, wenn wir nicht sauber, ordentlich und wohlhabend wirkten. Sie flippte aus, wenn jemand ahnte, wie es bei uns zu Hause wirklich aussah. Manchmal sorgte ihr übertriebenes Bedürfnis, den Schein zu wahren, dafür, dass man nur schwer mit Cameron reden konnte. Oder besser gesagt leben konnte. Aber sie war uns Geschwistern gegenüber stets absolut loyal, gegenüber den Stiefgeschwistern ebenso wie gegenüber den leiblichen. Sie war fest entschlossen, Mariella und Gracie so zu erziehen, wie es den verblassten Erinnerungen an unsere respektable Vergangenheit entsprach. Cameron schuftete, damit der Wohnwagen sauber und ordentlich aussah, und ich unterstützte sie in diesem Kampf.
Die Begegnung mit Victoria hatte die Geister aus der Vergangenheit wiederbelebt. Während Tolliver schlief, musste ich an die Jahre denken, in denen ich überall erwartete, meine Schwester zu sehen. Ich stellte mir vor, wie ich mich in einem Geschäft umdrehte, und sie war die Verkäuferin, die meine Einkäufe einscannte. Oder die Prostituierte an der Straßenecke, an der wir eines Abends vorbeiliefen. Oder die junge Mutter, die einen Kinderwagen schob. Die mit den langen blonden Haaren.
Doch sie war es nie.
Einmal hatte ich sogar eine Frau gefragt, ob sie Cameron hieße, weil ich plötzlich felsenfest davon überzeugt war, sie wäre meine Schwester, nur ein wenig älter und verlebter. Ich hatte ihr Angst eingejagt. Ich hatte ganz schnell gehen müssen, da sie sonst die Polizei gerufen hätte.
Bei all den Fantasien hatte ich mich kein einziges Mal gefragt, wie Cameron in ihr zweites Leben hineingeraten war. Oder warum sie mich in all den Jahren nie angerufen oder mir geschrieben hatte.
Zunächst hatte ich angenommen, dass meine Schwester von einer Gang entführt und als Sklavin weiterverkauft worden sei. Ich hatte mir etwas Gewalttätiges, Furchtbares vorgestellt. Später überlegte ich, ob sie ihr Leben nicht vielleicht einfach nur satt gehabt hatte: die heruntergekommenen Eltern, den billigen Wohnwagen, die hinkende, geistesabwesende Schwester und die zwei Jüngsten, die sich ständig schmutzig machten.
Die meiste Zeit ging ich jedoch davon aus, dass Cameron tot war.
Das plötzliche Auftauchen eines der Detectives vom Vortag riss mich aus meinen trübsinnigen Gedanken. Er kam ganz leise ins Zimmer und sah auf meinen Bruder hinab. Dann fragte er: »Wie geht es Ihnen heute, Miss Connelly?« Mit einer Stimme, die kaum mehr war als ein Lufthauch, so gedämpft klang sie.
Ich stand auf, weil er mich mit seinem lautlosen Auftauchen und seiner gedämpften Stimme nervös machte. Er war nicht besonders groß, vielleicht knapp 1,80. Er war untersetzt und hatte einen dicken graumelierten Schnurrbart. Er hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit seinem Partner Parker Powers. Dieser Detective sah aus wie Millionen anderer Männer auch. Ich versuchte, mich an seinen Namen zu erinnern. Rudy irgendwas. Rudy Flemmons.
»Im Vergleich zu meinem Bruder geht es mir bestens«, sagte ich und wies mit dem Kinn auf die Gestalt im Bett. »Haben Sie schon einen Verdacht, wer ihm das angetan haben könnte?«
»Wir fanden ein paar Zigarettenstummel auf dem Parkplatz, aber die können von jedem stammen. Wir haben sie trotzdem eingesammelt, falls wir jemanden finden, von dem wir eine DNA-Probe nehmen können. Vorausgesetzt, die im Labor können irgendeine DNA sichern.« Wir starrten weiterhin den Patienten an. Tolliver öffnete die Augen, lächelte mich schwach an und schlief wieder ein.
»Glauben Sie, dass absichtlich auf ihn geschossen wurde?«, fragte der Detective.
»Er wurde getroffen«, sagte ich ein wenig verwirrt über die Frage. Natürlich hatte der Schütze auf Tolliver gezielt.
»Können Sie sich vorstellen, dass auf Sie geschossen wurde?«, fragte Rudy Flemmons.
»Warum denn das?« Kaum hatte ich das ausgesprochen, merkte ich auch schon, wie dämlich das klang. »Ich meine, wer sollte auf mich schießen? Wollen Sie damit sagen, dass die Kugel Tolliver bloß aus Versehen getroffen hat und dass sie eigentlich für mich bestimmt war?«
»Sie hätte für Sie bestimmt sein können«, sagte Flemmons. »Ich habe nicht behauptet, dass es so war.«
»Und wie kommen Sie darauf?«
»Sie spielen bei Ihnen beiden die Hauptrolle«, sagte Flemmons. »Ihr Bruder unterstützt Sie nur. Sie sind diejenige mit der besonderen Gabe. Insofern ist es wesentlich wahrscheinlicher, dass jemand Probleme mit Ihnen hat und nicht mit Mr Lang. Soweit ich weiß, hat er eine Freundin?«
Das war der merkwürdigste Polizist, dem ich je begegnet war.
Ich seufzte. Schon wieder. »Ja, das stimmt«, sagte ich.
»Wer ist sie?« Er hatte schon sein Notizbuch gezückt.
»Ich.«
Flemmons sah mich fragend an: »Wie bitte?«
»Wie Sie wissen, sind wir nicht blutsverwandt.« Ich war es leid, unsere Beziehung rechtfertigen zu müssen.
»Stimmt, Sie haben nicht dieselben Eltern«, sagte er. Er hatte seine Hausaufgaben gemacht.
»Nein. Wir sind Partner, in jeglicher Hinsicht.«
»Verstehe. Ich bekam heute Morgen einen interessanten Anruf«, sagte Flemmons und ließ das Thema fallen. Sofort spitzte ich die Ohren.
»Ja? Von wem denn?«
»Von einem Detective aus Texarkana. Er heißt Peter Gresham und ist ein Freund von mir.«
»Was hat er Ihnen erzählt?«, fragte ich seufzend. Ich hatte keine Lust, schon wieder über das Verschwinden meiner Schwester zu sprechen. Heute war der reinste Cameron-Trauertag.
»Er meinte, es habe jemand wegen Ihrer Schwester angerufen.«
»Was war das für ein Anruf?« Es gibt mehr Verrückte als man denkt …
»Jemand hat sie im Einkaufszentrum von Texarkana gesehen.«
Mir verschlug es kurz den Atem, und ich japste nach Luft. »Cameron? Wer hat sie gesehen? Jemand, der sie von früher kennt?«
»Es war ein anonymer Anruf. Ein Mann rief von einem öffentlichen Telefon an.«
»Oh«, sagte ich und fühlte mich, als hätte mir soeben jemand einen Magenschwinger versetzt. »Aber … wie kann ich herausfinden, ob das stimmt? Wie kann ich dafür sorgen, dass sich diese Person meldet? Gibt es da irgendeine Möglichkeit?«
»Erinnern Sie sich noch an Pete Gresham? Er hat die Ermittlungen im Fall Ihrer Schwester geleitet.«
Ich nickte. Ich erinnerte mich an ihn, aber nur vage. Wenn ich an die schlimme Zeit unmittelbar nach Camerons Verschwinden zurückdenke, spüre ich nichts als Angst. »Er war recht groß«, sagte ich. Dann fügte ich schon etwas unsicherer hinzu: »Und er trug ständig Cowboystiefel. Er bekam eine Glatze, obwohl er noch recht jung war.«
»Ja, genau das ist er. Inzwischen ist Pete kahl. Das bisschen, was da noch wächst, rasiert er ab.«
»Was hat er wegen des Anrufs unternommen?«
»Er hat sich die Bänder der Überwachungskameras angesehen.«
»Die aus dem Einkaufszentrum?«
»Ja, und darauf ist der Parkplatz auch ziemlich gut zu erkennen, sagt Pete.«
»War sie da?« Ich würde schreien, wenn er es mir nicht sofort sagte.
»Da war eine Frau, auf die die Beschreibung Ihrer Schwester zutrifft. Aber es gibt keine deutliche Aufnahme von ihrem Gesicht. Wir können also nicht feststellen, ob sie wirklich Cameron Connelly ist.«
»Kann ich das Band sehen?«
»Ich werde mich bemühen, das zu arrangieren. Normalerweise würden Sie wahrscheinlich selbst nach Texarkana fahren. Aber jetzt, wo Mr Lang noch mehrere Tage im Krankenhaus bleiben muss, können wir es vielleicht so einrichten, dass Sie die Bänder bei uns auf dem Revier anschauen.«
»Das wäre fantastisch!«, sagte ich. »Ansonsten müsste ich ihn zu lange allein lassen.« Ich versuchte, mich zur Ruhe zu zwingen.
Bevor ich mich zusammenreißen konnte, beugte ich mich über Tolliver und nahm seine Hand. Sie war kalt, und ich nahm mir vor, die Schwester um eine weitere Decke zu bitten. »Hallo, du«, sagte ich. »Hast du gehört, was der Detective gesagt hat?«
»Zum Teil«, sagte Tolliver. Es war mehr ein Murmeln, aber ich konnte ihn verstehen.
»Er versucht, die Bänder von dem Einkaufszentrum zu bekommen, damit ich sie mir hier anschauen kann«, sagte ich. »Vielleicht stoßen wir endlich doch noch auf eine Spur.« Ich konnte kaum glauben, dass ich keine Stunde zuvor mit Victoria genau über dieses Thema gesprochen hatte.
»Mach dir keine allzu großen Hoffnungen«, sagte Tolliver schon etwas deutlicher. »Das hatten wir schon mal.«
Ich wollte nicht an all die bisherigen falschen Zeugen denken. »Ich weiß«, sagte ich. »Aber vielleicht haben wir ja diesmal Glück?«
»Sie wäre nicht mehr dieselbe«, sagte Tolliver mit vollständig geöffneten Augen. »Das ist dir doch klar, oder? Sie wäre nicht mehr dieselbe.«
Ich beruhigte mich sofort. »Ja, ich weiß«, sagte ich. Sie würde nie mehr so sein wie früher. Dafür waren zu viele Jahre vergangen. Dafür war einfach zu viel passiert.
»Wenn du nach Texarkana fahren möchtest …«, hob Tolliver an.
»Ich lasse dich nicht allein«, sagte ich sofort.
»Aber wenn du fahren möchtest, fahr!«, bot er mir an.
»Ich weiß das sehr zu schätzen«, erwiderte ich. »Aber ich werde nicht fahren, solange du hier im Krankenhaus liegst.« Ich konnte kaum glauben, was ich da sagte. Seit Jahren wartete ich auf Neuigkeiten über meine Schwester. Jetzt, wo es tatsächlich eine Spur gab, so merkwürdig und unzuverlässig sie auch war, sagte ich Tolliver, dass ich mich nicht sofort darauf stürzen würde.
Ich setzte mich auf den Stuhl neben seinem Bett. Ich legte meine Stirn auf das Baumwolllaken, das meinen Bruder bedeckte. Ich hatte mich ihm noch nie so verpflichtet gefühlt.
Detective Flemmons hatte uns ungerührt zugehört, ohne seinen Senf dazuzugeben, wofür ich ihm äußerst dankbar war.
Er sagte: »Ich rufe Sie an, wenn wir so weit sind.«
»Danke«, erwiderte ich und fühlte mich wie betäubt.
Als der Detective weg war, sagte Tolliver: »Das ist nur fair.«
»Was?«
»Du wurdest statt mir angeschossen. Und jetzt werde ich statt dir angeschossen. Vorausgesetzt, er hat recht. Glaubst du, der Schütze hatte es auf dich abgesehen?«
»Hm«, sagte ich. »Aber als auf mich geschossen wurde, hätten sie mich beinahe verfehlt. Es war schließlich nur ein Streifschuss. Aber wer auf dich geschossen hat, hat besser gezielt.«
»Ach so«, meinte er. »Auf mich schießen also effizientere Leute.«
»Diese Schmerzmittel müssen ziemlich gut wirken.«
»Sie wirken ausgezeichnet«, sagte er verträumt.
Ich lächelte. Es kam nicht oft vor, dass Tolliver so entspannt war. Ich wollte nicht mehr über Cameron nachdenken, ganz einfach, weil ich nicht wusste, was ich mir wünschen sollte.
Sein Dad klopfte an die Tür und trat ein, bevor wir auch nur den Mund aufmachen konnten. Damit war es vorbei mit unserer trauten Zweisamkeit.
Matthew sah ein wenig mitgenommen aus, was nicht weiter überraschend war, wenn man bedenkt, wie lange wir am Vortag wach gewesen waren. Er hatte mir erzählt, dass er bei McDonald’s Frühschicht hatte. Er hatte sich offensichtlich Zeit genommen, nach der Arbeit zu duschen, denn er roch nicht nach McDonald’s.
»Tolliver, dein Dad hat mir geholfen, als wir den Krankenwagen riefen«, sagte ich, denn Ehre wem Ehre gebührt. »Und er war im Krankenhaus, bis wir erfuhren, dass du außer Lebensgefahr bist.«
»Bist du dir sicher, dass er nicht auf mich geschossen hat?«
Wenn ich nicht mehrere Jahre mit Matthew Lang zusammengelebt hätte, wäre ich jetzt völlig schockiert gewesen.
»Mein lieber Sohn, wie kannst du nur so etwas sagen?«, fragte er verletzt und wütend. »Ich weiß, dass ich kein guter Vater war …«
»Kein guter Vater? Weißt du noch, wie du Cameron die Waffe an den Kopf gehalten und gesagt hast, dass du ihr Hirn wegpustest, wenn ich dir nicht verrate, wo ich deine Drogen versteckt habe?«
Matthews Schultern sackten kraftlos nach vorn. Wahrscheinlich hatte er es geschafft, diesen kleinen Vorfall zu verdrängen.
»Und jetzt fragst du mich, wie ich bloß auf die Idee komme, du könntest auf mich geschossen haben?« Wenn Tollivers Stimme nicht so schwach gewesen wäre, hätte er getobt vor Wut. Aber so klangen Tollivers Worte dermaßen traurig, dass ich am liebsten geweint hätte. »Ich kann mir das sogar sehr gut vorstellen, Dad.«
»Aber das hätte ich doch niemals getan«, sagte Matthew Lang. »Ich liebte dieses Mädchen. Ich habe euch alle geliebt. Ich war einfach nur ein verdammter Junkie, Tolliver. Ich war ein Wrack, und das weiß ich auch. Ich bitte dich um Vergebung, jetzt, wo ich endlich clean bin. Ich werde es nicht wieder versauen, Sohn.«
»Du wirst deinen Worten Taten folgen lassen müssen«, sagte ich und sah, wie erschöpft Tolliver schon nach fünf Minuten mit seinem Vater war. »Und da wir gerade dabei sind, in schönen Erinnerungen zu schwelgen, fallen mir bestimmt auch noch ein paar ein. Du warst gestern Abend da … prima. Das war gut, aber es war nur ein Tropfen auf den heißen Stein.«
Matthew wirkte niedergeschlagen. Seine braunen Augen sahen aus wie die eines Cockerspaniels: unschuldig und tränenfeucht.
Ich glaubte ihm keine Sekunde, dass er sich geändert hatte, hätte ihm aber nur zu gern geglaubt. Wenn sich Tollivers Vater tatsächlich bessern und sich bemühen würde, Tolliver so zu lieben und zu respektieren, wie er es verdiente, wäre das einfach wunderbar.
Schon im nächsten Moment verfluchte ich mich dafür, so sentimental zu sein. Jetzt, wo Tolliver verletzt und extrem geschwächt war, musste ich doppelt vorsichtig sein. Ich war für uns beide verantwortlich, nicht nur für mich selbst.
»Harper, ich weiß, dass ich das verdient habe«, sagte Matthew. »Ich weiß, dass es lange dauern wird, bis ich euch von meiner aufrichtigen Reue überzeugt habe. Ich weiß, dass ich es immer wieder versaut, mich nicht wie ein Vater benommen habe. Ja, nicht einmal wie ein verantwortungsbewusster Erwachsener.«
Ich sah zu Tolliver hinüber, um zu sehen, wie er reagierte. Doch ich sah nur einen jungen Mann, dem man erst vor wenigen Stunden in die Schulter geschossen hatte. Einen Mann, der erschöpft war von den Forderungen, die sein Vater an ihn stellte.
»Tolliver kann dieses Drama jetzt gar nicht gebrauchen«, sagte ich. »Wir hätten nicht damit anfangen sollen. Danke für deine Hilfe gestern Abend. Du solltest jetzt gehen.«
Immerhin verabschiedete sich Matthew sofort von Tolliver und verließ das Zimmer.
»Gut, das wäre also erledigt«, sagte ich, um die plötzliche Stille zu durchbrechen. Ich hatte Tollivers Hand genommen und drückte sie, aber er machte die Augen nicht auf. Ich wusste nicht, ob er wirklich schlief. Vielleicht hatte er bloß das Bedürfnis, so zu tun als ob, was ich gut verstehen konnte. Unser Besucherstrom schien versiegt zu sein, sodass nun jene langweiligen Krankenhausstunden vor uns lagen, die ich bereits erwartet hatte. Ich war fast erleichtert, gelangweilt zu sein. Wir sahen uns alte Filme an, und ich las ein paar Seiten. Niemand rief an. Niemand kam zu Besuch.
Als die große Uhr in seinem Zimmer fünf Uhr anzeigte, bedrängte mich Tolliver, zu gehen, mir ein Hotelzimmer zu nehmen und mich auszuruhen. Nachdem ich mit seiner Krankenschwester geredet hatte, willigte ich ein. Ich schlief beinahe schon im Gehen, wollte aber noch einmal duschen. Die kleinen Schnittwunden in meinem Gesicht brannten und juckten.
Ich fuhr extrem vorsichtig und hielt vor mehreren Hotels. Ich entschied mich für eines, das ein sauberes, bereits gemachtes Zimmer im dritten Stock frei hatte. Ich schleppte meine Reisetasche quer durch die Lobby bis zum Lift und sehnte mich nach einem weichen Bett. Außerdem war ich hungrig, aber das Bett spielte die Hauptrolle in meinem kleinen Tagtraum. Mein Handy klingelte. Ich ging dran, da ich dachte, es sei das Krankenhaus.
Detective Rudy Flemmons sagte: »Sie klingen so, als würden Sie bereits im Stehen schlafen.«
»Stimmt genau.«
»Morgen früh bekommen wir die Bänder. Wollen Sie aufs Revier kommen und sie sich ansehen?«
»Klar.«
»Na gut. Dann sehen wir uns um neun, wenn Ihnen das passt.«
»Einverstanden. Wie laufen die Ermittlungen?«
»Wir befragen immer noch die Nachbarn, um herauszufinden, ob jemand etwas gesehen hat, als Ihr Bruder gestern Abend angeschossen wurde. Die andere Schießerei fand in der Goodman Street statt. Es handelte sich um eine Auseinandersetzung zwischen Dieben. Kann sein, dass der Schütze dort, nachdem er mit seinem Kumpel fertig war, aus lauter Wut beschloss, auf ein leichtes Ziel zu schießen, während er am Motel vorbeifuhr. Es sieht so aus, als ob wir die Stelle gefunden hätten, von der aus geschossen wurde.«
»Das ist gut«, sagte ich, unfähig zu jeder weiteren Reaktion. Die Lifttüren öffneten sich zu meinem Stockwerk, ich stieg aus und lief den Flur zu meinem neuen Zimmer hinunter. »Ist das alles, was Sie mir sagen wollten?« Ich steckte die Schlüsselkarte in den Schlitz.
»Ich denke schon«, antwortete der Detective. »Wo sind Sie gerade?«
»Ich habe gerade im Holiday Inn Express eingecheckt«, sagte ich.
»Das in Chisholm?«
»Ja. Ganz in der Nähe des Krankenhauses.«
»Wir sprechen uns morgen«, sagte Rudy Flemmons, und ich erkannte den Klang seiner Stimme.
Detective Flemmons war einer, der glaubt.
Die Menschen, mit denen ich zu tun habe, lassen sich in drei Kategorien einteilen: in jene, die mir nicht einmal glauben würden, wenn Gott höchstpersönlich mir eine eidesstattliche Erklärung ausstellte. In jene, die glauben, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die man einfach nicht erklären kann (die »Hamlet«-Leute, wie ich sie nenne). Und in jene, die felsenfest an das glauben, was ich tue, ja, die den Kontakt lieben, den ich zu den Toten herstelle.
Leute, die glauben, lieben die Sendung Ghost Hunters, gehen zu Séancen und beauftragen Hellseherinnen wie unsere verstorbene Kollegin Xylda Bernardo. Wenn sie nicht ganz so weit gehen wollen, sind sie zumindest offen für neue Erfahrungen. Es gibt nicht viele Gesetzeshüter, die glauben, was allerdings nicht weiter verwunderlich ist, da sie Tag für Tag mit Betrügern zu tun haben.
Ich bin so etwas wie Katzenminze für diejenigen, die glauben. Ich überzeuge, weil ich echt bin.
Ich wusste, dass Detective Rudy Flemmons von nun an immer häufiger auftauchen würde. Ich war der lebende Beweis für das, woran er heimlich glaubte.
Und das nur, weil mich der Blitz getroffen hatte.
Ich wollte duschen, zog aber nur die Schuhe aus und ließ mich aufs Bett fallen. Ich rief Tolliver an, um ihm zu sagen, dass ich am nächsten Morgen aufs Polizeirevier gehen und anschließend bei ihm im God’s Mercy Hospital vorbeischauen würde. Er klang genauso verschlafen, wie ich mich fühlte, und anstatt zu duschen, lud ich mein Handy auf, schlüpfte aus meiner Hose und glitt zwischen die Laken.