16

Ich ging ins Bad und schloss mich ein. Ich klappte den Toilettendeckel herunter und setzte mich darauf. Ich ließ das Licht aus. Ich wollte mein Spiegelbild nicht sehen.

Matthew hatte irgendwas mit den Joyces zu tun, auch wenn ich nicht wusste, was. Außerdem war er Camerons Stiefvater. Und wenn ich mich nicht sehr täuschte, war Cameron, kurz nachdem Maria Parish ihr Kind geboren hatte, verschwunden. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass jemand aus unserer Familie etwas mit Camerons Verschwinden zu tun haben könnte. Als die Polizei meine Mutter, Matthew, Mark, Tolliver und mich befragt hatte, hatte ich getobt, weil sie kostbare Zeit verschwendete, die sie lieber darauf verwenden sollte, den oder die wahren Mörder zu finden.

Ich hatte ein paar Jungs von unserer Highschool verdächtigt, vor allem Camerons letzten Freund, der nicht gerade galant auf die Trennung reagiert hatte. Ich hatte Laurels und Matthews Junkiefreunde verdächtigt. Ich hatte Wildfremde verdächtigt, jemanden, der Cameron allein von der Schule heimgehen sah und beschloss, sie zu berauben/zu vergewaltigen/zu entführen. Ich hatte die Jungs in Verdacht, die uns manchmal nachgepfiffen hatten, wenn wir gemeinsam ausgegangen waren. Ich hatte mir Hunderte von Szenarien ausgemalt. Einige davon waren höchst unwahrscheinlich. Aber sie alle gaben mir eine mögliche Antwort auf das furchtbare Verschwinden meiner Schwester. Eine Antwort, die keinen Schmerz über den Verlust einer weiteren Person zur Folge hatte.

Es schien zwar unglaublich, aber ich war fest davon überzeugt, dass zwei solche Vorfälle nicht so rasch aufeinander folgen können, ohne dass es da einen Zusammenhang gibt. Auch wenn ich noch nicht wusste, welchen. Und erst recht nicht, wenn ein und derselbe Mann in beide Vorfälle verwickelt war.

Reagierte ich einfach nur übertrieben? Ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, obwohl ich fast blind war vor Wut. Mein Stiefvater wusste etwas über die Joyces. Er wusste genug, um den Namen des Arztes zu kennen, der Mariah Parish »behandelt« hatte.

Er wusste Bescheid. Vermutlich wusste er auch, was meiner Schwester zugestoßen war. Und hatte das all die Jahre vor mir verheimlicht.

Ich spürte es bis tief in die Knochen.

Ich konnte nicht ins Wohnzimmer gehen und ihn mir vorknöpfen. Er war mir körperlich überlegen. Tolliver würde nicht zulassen, dass ich seinen Vater umbrachte. Wahrscheinlich nicht einmal Manfred, der nicht persönlich betroffen war und sich verpflichtet fühlen würde, einzugreifen. Aber Tolliver war schwach und verletzt, und Manfred würde irgendwann gehen.

Ich musste mich schwer zusammenreißen, nicht mehr ernsthaft darüber nachzudenken, wie ich meinen Stiefvater umbringen konnte.

Ich konnte mich schließlich irren, was ich jedoch für wenig wahrscheinlich hielt. Aber was noch viel schwerer wog, war, dass ich einfach nicht genug wusste. Ich wollte die letzte Ruhestätte meiner Schwester finden. Ich wollte wissen, was Cameron zugestoßen war.

Und deswegen musste ich mich überwinden, Matthews Anwesenheit zu erdulden.

Ich zwang mich dazu, allein in der Dunkelheit. Ich zwang mich, stark zu sein. Dann stand ich auf, machte das Licht an und wusch mir das Gesicht. So als könnte ich damit mein neu erworbenes Wissen wegwaschen und mich in den Zustand glücklicher Ahnungslosigkeit zurückversetzen.

Ich betrat das Wohnzimmer, musste aber ganz langsam gehen. Ich kam mir vor, als hätte man mir einen Stoß zwischen die Rippen versetzt. Ich fühlte mich zerbrechlich und war innerlich ganz wund wegen des Misstrauens und des Hasses, die ich mit mir herumtrug.

Ich spürte sofort, dass Matthew Manfred zum Gehen bewegen wollte, damit er allein mit seinem Sohn sprechen konnte. Doch Manfred hatte nicht gehen wollen, bevor er noch einmal mit mir geredet hatte. Er sah von Matthew zu mir, als ich den Raum betrat, und fröstelte. Was auch immer Manfred gesehen hatte –Tolliver und Matthew blieb es glücklicherweise verborgen.

»Manfred«, sagte ich. »Tut mir leid, dass ich dich so lange allein gelassen habe. Und danke, dass du mich heute begleitet hast.«

»Gern geschehen«, sagte Manfred und sprang dermaßen eifrig auf, dass ich merkte, wie wild er darauf war, dieses Hotelzimmer zu verlassen. »Wollen wir noch einen Kaffee zusammen trinken? Oder soll ich dich zum Einkaufen fahren? Hast du noch genügend … Kartoffelchips?«

Hier hatte er schlecht geraten. Wir aßen niemals Kartoffelchips. Meine Mundwinkel kräuselten sich. »Danke, Manfred.« Ich rang kurz mit mir. Manfred wollte unsere neu gewonnenen Erkenntnisse über Matthew mit mir besprechen. Aber ich wusste selbst noch nicht, was ich diesbezüglich unternehmen wollte. Deshalb wartete ich tunlichst mit dem Tête-à-Tête, bis ich einen Plan hatte. »Ich bleibe lieber hier, falls Tolliver mich braucht.«

Ich umarmte ihn spontan, und er fühlte sich zerbrechlich an. Zögernd erwiderte er meine Umarmung. Er musste sich noch von der hellseherischen Vision erholen, die er von mir gehabt hatte. Wenn er auch nur ansatzweise gesehen hatte, wie ich mich fühlte, hatte er etwas Furchtbares, Mörderisches gesehen. »Tu es nicht!«, flüsterte er mir ins Ohr. Dann ließ ich ihn los, und er trat einen Schritt zurück.

»Mach dir keine Sorgen, wir kommen schon zurecht«, versicherte ich ihm. »Ich rufe dich an, wenn ich Hilfe brauche, das verspreche ich dir.«

»Na gut. Ich habe heute Nachmittag noch ein paar Termine. Aber mein Handy steckt stets aufgeladen in meiner Tasche. Tschüs, Tolliver. Mr Lang.« Mit einem letzten, intensiven Blick in meine Augen verließ Manfred das Zimmer und eilte den Flur hinunter, ohne sich noch einmal umzusehen.

»Ein komischer Typ!«, sagte Matthew. »Hast du viel mit solchen Leuten zu tun, Tolliver? Das muss ein Freund von dir sein, Harper.«

»Er ist tatsächlich ein Freund von mir«, sagte ich. »Und mit seiner Großmutter war ich ebenfalls befreundet.« Ich fühlte mich wirklich merkwürdig, so als stünde ich neben mir. Matthew saß bei Tolliver auf dem Sofa, also nahm ich den Sessel. Ich schlug die Beine übereinander und schlang die Hände um mein Knie. »Heute Morgen war das Wetter wirklich scheußlich, stimmt’s, Matthew?«

Er sah mich überrascht an. »Ja, der Verkehr war furchtbar. Aber so ist das nun mal in Dallas. Und dann noch der Regen.«

»Hattest du heute Vormittag etwas zu erledigen?«

»Oh ja, so dies und das. Um halb drei muss ich in der Arbeit sein.«

Arbeitete er tatsächlich bei McDonald’s? Oder traf er sich mit einem der Joyces? Hatte er schon immer in ihren Diensten gestanden?

Und der Mann, den ich über alles liebte, der einzige, den ich aufrichtig liebte, war der Sohn dieses Mannes.

Tolliver mochte Probleme damit haben, aber mir war das egal. Ich weiß besser als jeder andere, dass man von den Kindern nicht auf die Eltern schließen darf. Ich war von derselben Frau großgezogen worden, die ihre zwei kleinen Töchter so sehr vernachlässigt hatte, dass ihre älteren Kinder sich um sie kümmern mussten.

Ich war der Meinung, dass ich etwas wohlgeratener war als meine Mutter.

Aber wenn ich Matthew Lang tötete – wäre ich dann wirklich noch besser als meine Mutter?

Nun, wenigstens hätte ich meine Entscheidung bei klarem Verstand gefällt.

Das wohl kaum!, sagte mein vernünftigeres Selbst. Erstickst du nicht förmlich an deinem Hass?

Das stimmte. Aber war es nicht besser, jemanden umzubringen, wenn man ihn so sehr hasste? Oder war es tugendhafter, zu warten, bis man ruhig und beherrscht war?

Dann hätte ich auf jeden Fall mehr Chancen, ungeschoren davonzukommen und ein Leben mit Tolliver zu führen, anstatt mich mit einem Haufen Frauen im Gefängnis anzufreunden. Genauso hatte das Leben meiner Mutter geendet … und ich war nicht so wie meine Mutter. Auf gar keinen Fall.

Ich muss ein ziemlich merkwürdiges Gesicht gemacht haben, während mir das alles durch den Kopf ging, auch wenn es kein fortlaufender Gedankenstrom, sondern eher Gedankenblitze waren.

Tollivers Mimik nach zu urteilen, hätte er mich gern gefragt, ob alles in Ordnung sei. Doch vor Matthew verzichtete er lieber darauf. Dieser hatte sich an Tolliver gewandt und kehrte mir Gott sei Dank überwiegend den Rücken zu.

Ich versuchte, mich auf ihr Gespräch zu konzentrieren. Matthew fragte Tolliver, ob er je daran gedacht habe, sein Studium abzuschließen. Was er davon halte, auf eines der vielen Colleges in Dallas zu gehen, wenn wir hierher zogen. Und dass Tolliver bestimmt einen guten Job fände, wenn er erst mal seinen Abschluss hätte. Dann wäre er auch nicht mehr von mir abhängig.

Matthew wollte eindeutig einen Keil zwischen uns treiben. Tolliver war empört. »Ich bin nicht von Harper abhängig«, sagte er.

»Du hast keinen Job, außer dem, sie zu begleiten, während sie … was auch immer«, sagte sein Dad.

»Ich sorge dafür, dass sie ihren Job erledigen kann«, sagte Tolliver. Ich merkte, dass dieses Gespräch nicht zum ersten Mal geführt wurde, nur dass ich vorher nie dabei gewesen war. Mein Hass wuchs ins Unermessliche. »Würde ich Harper nicht begleiten, könnte sie diese Arbeit gar nicht machen.«

»Er hat vollkommen recht«, sagte ich. »Mir wird schlecht von meiner Arbeit, und ohne Tolliver wäre ich dem hilflos ausgeliefert«, erklärte ich so sachlich wie möglich. Ich wollte mich nicht verteidigen, wo es nichts zu verteidigen gab.

»Du kannst dir viel einreden«, sagte Matthew zu Tolliver und überhörte meinen Einwurf. »Aber letztlich muss sich jeder selbst behaupten.«

»So wie du?«, fragte ich. »Indem du Drogen verkauft und zugelassen hast, dass deine Frau mich an den Meistbietenden verhökert? Hast du dich behauptet, indem du deine Anwaltskanzlei aufgegeben hast und stattdessen im Gefängnis gelandet bist?«

Matthew wurde rot. Jetzt konnte er mich nicht länger ignorieren. »Harper, ich versuche nur, ein guter Vater zu sein. Ich weiß, dass es dafür zu spät ist. Und ich weiß auch, dass ich abscheuliche Dinge getan habe, von denen mir noch im Nachhinein schlecht wird. Aber ich versuche, die Beziehung zu meinem Sohn zu retten. Ich weiß, dass er dich ›liebt‹, aber manchmal solltest du dich lieber um deine eigenen Angelegenheiten kümmern und mich in Ruhe mit ihm reden lassen.«

Dabei setzte er das Wort ›liebt‹ hörbar in Anführungszeichen.

Tolliver sagte: »Harper soll sich nicht um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Ich liebe sie. Es ist zu spät, und du hast Dinge getan, von denen uns allen kotzübel wurde. Wenn ich nicht da gewesen wäre, hättest du Harper glatt sterben lassen, als sie der Blitz traf.«

Eine Welle der Erleichterung durchflutete mich. Tief in meinem Innern nagte die Angst, dass Tolliver eines Tages doch noch auf seinen Dad hören, ihm glauben und sich wieder von ihm an der Nase herumführen lassen könnte.

»Wenigstens Mark hört mir zu«, sagte Matthew und stand auf.

Er stand kurz davor zu gehen, ohne dass ich ihn umgebracht hatte. Ich ließ ihn entkommen.

Aber mir blieb nichts anderes übrig. Ich hatte nur meine bloßen Hände zur Verfügung. Außerdem musste ich herausfinden, was er mit Cameron gemacht und warum er es getan hatte. Ich glaube nicht, dass er Cameron sexuell begehrte. Einige seiner Freunde hatten Sex mit uns haben wollen, aber nicht Matthew. Zumindest in dieser Hinsicht war ich mir ziemlich sicher. Aber irgendeinen Grund musste es schließlich geben, und ich wollte ihn herausfinden. Ich stand auf und hatte die Hände zu Fäusten geballt. Ich wusste nicht, ob ich auf ihn einschlagen sollte oder nicht.

Matthew spürte meine Feindseligkeit. Wenn man länger im Gefängnis gesessen hat, besitzt man eine Antenne dafür. Auf dem Weg zur Tür blieb er bewusst auf Distanz. »Keine Ahnung, was heute mit dir los ist, Harper. Ich versuche nur, etwas wiedergutzumachen.«

»Aber das geht leider nicht«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen.

»Ja«, erwiderte er mit einem nervösen Lachen. »Das habe ich auch schon gemerkt. Wir reden ein andermal weiter, mein Sohn. Ich hoffe, es geht dir bald besser. Ruf mich an, wenn du mich brauchst.« Dann verließ er den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Er lebte immer noch.

»Setz dich zu mir«, sagte Tolliver so leise, dass ich ihn kaum hörte. »Setz dich zu mir und sag mir, was in dir vorgeht.«

»Er war in dem Gebäude, in dem sich auch die Arztpraxis befindet«, sagte ich. »Dein Vater war dort, heute Vormittag. Er verließ gerade die Lobby, als wir hereinkamen.«

Ich blieb stehen und wartete, bis Tolliver diese Information verdaut hatte. Dann klopfte er neben sich auf das Sofa, und ich setzte mich zu ihm. »Dann wollen wir mal überlegen«, sagte er, und ich hätte Purzelbäume schlagen können vor Freude, weil er mich blind verstand.

Ich erzählte Tolliver von Dr. Bowden. Ich schilderte ihm die Geschichte des Arztes und kommentierte sie. Und er hörte mir Gott sei Dank zu. Er hörte sich jedes Wort an, ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen. Von seiner Gereiztheit war nichts mehr zu spüren. Ich sagte ihm, wie froh ich gewesen war, dass Manfred mich begleitet und dieselbe Geschichte gehört hatte wie ich, da ich ihr sonst kaum Glauben geschenkt hätte.

»Und warum wolltest du deswegen meinen Dad umbringen?«

»Weil ich nicht an solche Riesenzufälle glaube. Was hatte Matthew in diesem Bürogebäude zu suchen? Bestimmt hat er Tom Bowden besucht. Und woher kennt er den? Es muss irgendeine Verbindung zwischen ihm und den Joyces geben, oder zumindest zwischen ihm und dem Familienmitglied, das Mariahs Schwangerschaft und die Geburt des Kindes geheim halten wollte.«

»Meinst du wirklich?«, wandte Tolliver ein. »Muss Dad wirklich mit einem oder mehreren Joyces unter einer Decke stecken? Wir wissen nicht, wer den Arzt in jener Nacht zur Ranch gebracht hat. Aber wir wissen, dass Chip Moseley schon einmal in Texarkana verhaftet wurde, zumindest geht das aus Victorias Unterlagen hervor. Er war also bestimmt öfter dort. Und wenn das stimmt, was Tom Bowden sagt, wissen wir auch, dass die Joyces ein paar Ärzte dort hatten. Also besaßen auch sie Verbindungen dorthin. Das ist kein sehr überzeugender Anknüpfungspunkt, aber immerhin ein Anknüpfungspunkt.«

»Und als wir die Joyces trafen, kamen mir beide Männer irgendwie bekannt vor.«

»Chip und Drex?«

Ich nickte. »Ich weiß, dass das nicht sehr aussagekräftig ist, weil ich den Grund dafür nicht benennen kann. Aber die meisten Leute, an die ich mich nur noch vage erinnern kann, kamen zum Wohnwagen. Und ich hasse es, mich an diese Zeit zu erinnern. Außerdem habe ich damals versucht, bewusst wegzusehen, weil es gefährlich war, zu wissen, wer Drogen kauft und verkauft.«

»Ja«, sagte Tolliver mit Nachdruck. »Das war gefährlich, und zwar jeden Tag aufs Neue, solange wir dort wohnten.«

»Deshalb glaube ich, dass dein Dad in die Sache verwickelt ist. Ich frage mich, ob er sich bei Mark gemeldet hat, damit der Kontakt zu dir aufnimmt.«

Tolliver überlegte. »Das kann schon sein«, sagte er. »Denn ich hätte weder seine Briefe noch seine Anrufe beantwortet. Gut möglich, dass er Mark nur benutzt hat.« Tollivers Gesicht zeigte Schmerz. Noch bis jetzt hatte er einen Funken Hoffnung gehabt, dass sein Dad versuchte, das Richtige zu tun, ja, dass sich Matthew wirklich geändert hatte.

»Aber was ist passiert?«, fragte ich frustriert. »Warum hat er sich mit den Joyces eingelassen? Und wie wurde Cameron da mit hineingezogen?«

»Cameron? Warum sollte mein Dad Cameron etwas antun?« Tolliver schüttelte den Kopf. »Er hatte ein Alibi, vergiss das nicht. Als die alte Frau sah, wie Cameron in den Truck stieg, spielte Dad mit diesem Arschloch und seiner Freundin Billard.«

»Ich kann mich noch an den Kerl erinnern«, sagte ich. »Aber jetzt ab ins Bett mit dir! Wir können morgen weiterreden.«

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