8

Ich schrak hoch. Dann lag ich ein paar Sekunden da und versuchte zu begreifen, warum ich so unglücklich war. Bis mir wieder einfiel, dass Tolliver im Krankenhaus lag. Ich durchlebte den Moment, in dem man auf ihn geschossen hatte, mit grausamer Klarheit.

Da ich schon mal durch ein Fenster angeschossen worden war, fragte ich mich, was bloß mit uns und Fenstern los war. Wenn wir uns von Gebäuden fernhielten, würden wir dann unverletzt bleiben? Obwohl Tolliver bei den Pfadfindern gewesen war und mit ihnen gezeltet hatte, konnte ich mich nicht daran erinnern, dass er diese Erfahrung sehr genossen hätte. Ich würde sie ganz bestimmt nicht genießen.

Es war halb fünf Uhr morgens. Ich hatte das Abendessen und die ganze Nacht verschlafen. Kein Wunder, dass ich jetzt hellwach war. Ich stapelte Kissen in meinem Rücken und machte den Fernseher an, den ich bewusst leise laufen ließ. Die Nachrichten kamen nicht infrage: Es sind immer schlechte Nachrichten, und ich wollte kein weiteres Blutvergießen oder andere Grausamkeiten sehen. Ich fand einen alten Western. Es war unheimlich beruhigend zu sehen, wie die Guten siegten. Wie die verhärteten Saloon-Flittchen ihr goldenes Herz offenbarten und Leute, wenn sie angeschossen wurden, wie durch ein Wunder nicht bluteten. Diese Welt gefiel mir deutlich besser als die, in der ich lebte, und ich genoss es, sie zu besuchen, vor allem in den frühen Morgenstunden.

Nach einer Weile muss ich wieder eingeschlafen sein, denn um sieben wachte ich erneut auf. Der Fernseher lief immer noch, und die Fernbedienung lag lose in meiner Hand.

Nachdem ich geduscht und mich angezogen hatte, ging ich nach unten zum Frühstücksbuffet, das im Preis inbegriffen war. Wenn ich nicht bald regelmäßiger aß, würde ich noch zusammenklappen. Ich verzehrte eine große Portion Haferflocken mit Obst und trank anschließend zwei Tassen Kaffee. Dann ging ich wieder auf mein Zimmer, um mir die Zähne zu putzen. Make-up kam nicht infrage, da mein Gesicht so viele Schnittwunden aufwies. Aber ich schaffte es, ein wenig Lidschatten und Wimperntusche aufzutragen. Als ich das Resultat im Badezimmerspiegel begutachtete, verzog ich das Gesicht. Ich sah aus wie ausgespuckt. Am besten, ich gab es auf, mein Aussehen verbessern zu wollen.

Es wurde Zeit, aufs Polizeirevier zu gehen, um die Bänder aus dem Einkaufszentrum in Texarkana anzuschauen. Mein Magen zog sich nervös zusammen. Ich hatte mich bemüht, zu verdrängen, dass Cameron gesehen worden war. Aber als ich meine Vitamintabletten nahm, sah ich, dass meine Hände zitterten. Ich hatte im Krankenhaus angerufen, um mich nach Tolliver zu erkundigen. Die Schwester hatte gesagt, dass er die Nacht mehr oder weniger durchgeschlafen hätte, also konnte ich den Krankenbesuch guten Gewissens auf später verschieben.

Der Schlaf und das Essen hatten mir gutgetan, und ich fühlte mich wieder mehr wie ich selbst, trotz meiner Nervosität. Das Polizeirevier befand sich in einem einstöckigen Gebäude, das aussah, als hätte es klein angefangen und anschließend Wachstumshormone genommen. Man hatte einige Anbauten hinzugefügt, trotzdem platzte es eindeutig aus allen Nähten. Ich tat mich schwer, einen Parkplatz zu finden, und als ich gerade aus dem Wagen stieg, begann es zu regnen. Erst nieselte es nur, aber als ich überlegte, ob ich den Schirm mitnehmen sollte oder nicht, begann es zu schütten. Ich nahm den Schirm und spannte ihn in Rekordzeit auf. So gesehen war ich nicht allzu nass, als ich die Empfangshalle betrat.

Auf die eine oder andere Art habe ich schon viel Zeit auf Polizeirevieren verbracht. Egal, ob sie nun neu oder alt sind – sie ähneln sich alle. So wie Schulen und Krankenhäuser.

Es gab keinen geeigneten Ort, um meinen Schirm zu verstauen, also musste ich ihn mitnehmen. Ich hinterließ überall Tropfspuren und wusste, dass der Hausmeister heute noch viel zu tun haben würde. Die Latina hinter dem Tresen war schlank, muskulös und sehr professionell. Über eine Gegensprechanlage rief sie Detective Flemmons, und ich musste nur wenige Minuten auf ihn warten.

»Guten Morgen, Miss Connelly«, sagte er. »Kommen Sie mit.« Er führte mich in ein Labyrinth aus Arbeitsplätzen, die durch brusthohe Trennwände voneinander abgeschirmt waren. Als wir hindurchgingen, merkte ich, dass jeder Arbeitsplatz nach dem Geschmack seines Benutzers dekoriert war. Sämtliche Computer waren schmutzig: Die Tastaturen waren verklebt, die Bildschirme dermaßen eingestaubt, dass man die Augen zusammenkneifen musste, um überhaupt etwas zu erkennen. Stimmengewirr hing über dieser Arrestzelle wie eine Rauchwolke.

Das war kein angenehmer Ort. Obwohl mich die Polizei oft für eine Betrügerin und Schwindlerin hält, weshalb ich mit einzelnen Beamten oft nicht gut klarkomme, bin ich insgesamt schon sehr froh, dass es Leute gibt, die diesen Job machen. »Sie müssen sich den ganzen Tag Lügen anhören«, dachte ich laut. »Wie halten Sie das bloß aus?«

Rudy Flemmons drehte sich um und sah mich an. »Das gehört einfach dazu«, sagte er. »Irgendjemand muss sich ja zwischen die Normalbürger und die Bösen stellen.«

Mir fiel auf, dass der Detective nicht »die Guten« gesagt hatte. Wenn ich schon so lange bei der Polizei wäre wie Flemmons, würde ich wahrscheinlich auch niemanden mehr als gut bezeichnen.

Am Ende des Labyrinths lag eine Art Besprechungsraum mit einem langen Tisch, um den ramponierte Stühle standen. An einem Ende war die Videoausrüstung aufgebaut worden. Nachdem ich mich gesetzt hatte, machte Flemmons das Licht aus und drückte auf einen Knopf.

Ich war so angespannt, dass der ganze Raum summte. Ich starrte auf den Bildschirm, aus Angst, etwas zu verpassen.

Gleich darauf sah ich eine Frau, die Ende zwanzig oder Anfang dreißig zu sein schien und über einen Parkplatz lief. Ihr Gesicht war nicht deutlich zu erkennen. Es war teilweise abgewandt. Sie hatte lange blonde Haare, war klein und gedrungen. Ich schlug die Hände vor den Mund, um keinen Laut zu geben, bis ich wusste, was ich sagen wollte.

Die Szene wechselte abrupt und zeigte dieselbe Frau beim Betreten des Einkaufszentrums. Sie trug eine Einkaufstüte von Buckle. Diese Aufnahme war frontal gemacht worden. Obwohl der Film grobkörnig und sie nur kurz zu sehen war, schloss ich die Augen und spürte, wie mir mein Magen in die Kniekehle rutschte.

»Das ist sie nicht«, sagte ich. »Das ist nicht meine Schwester.« Ich glaubte, weinen zu müssen – meine Augen brannten –, aber ich weinte nicht. Aber meine Anspannung und die anschließende Enttäuschung (oder Erleichterung) waren enorm.

»Sind Sie sicher?«

»Nicht ganz.« Ich zuckte die Achseln. »Wie auch, wenn ich ihr nicht direkt ins Gesicht sehen kann? Seit ich meine Schwester zum letzten Mal gesehen habe, sind mehr als acht Jahre vergangen. Aber ich kann sagen, dass das Gesicht dieser Frau runder ist. Und ihr Gang ist auch nicht der von Cameron.«

»Lassen Sie uns das Band noch mal ansehen, um ganz sicher zu sein«, sagte Flemmons sachlich. Ich richtete mich auf und sah es mir erneut an. Diesmal konnte ich besser auf Kleinigkeiten achten.

Die Frau von den Parkplatzaufnahmen trug eine riesige Handtasche. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Schwester sich je so etwas aussuchen würde. Natürlich ändert man seinen Geschmack, wenn man älter wird, aber dass sich Camerons Taschengeschmack dermaßen anders entwickelt hatte, konnte ich mir nicht vorstellen. Die Einkäuferin trug hochhackige Schuhe zur Hose, und Cameron hielt nichts von hohen Absätzen im Alltag. Dennoch konnte sie natürlich ihren Schuhgeschmack ebenso wie den Handtaschengeschmack geändert haben. Ich trug auch nicht mehr dieselben Accessoires wie damals auf der Highschool. Aber die Gesichtsform der Frau und die Art, wie sie sich in dem Film bewegte, nämlich mit leicht eingefallenen Schultern – nein, diese Frau konnte unmöglich Cameron sein.

»Sie ist es auf gar keinen Fall«, sagte ich nach dem zweiten Anschauen. Ich war jetzt viel ruhiger. Der Schock war vorbei, und ich begriff, dass wieder eine Hoffnung enttäuscht worden war.

Rudy Flemmons senkte kurz den Blick, und ich fragte mich, was er wohl vor mir verbarg. »Na gut«, sagte er leise. »Na gut. Ich werde Pete Gresham Bescheid geben. Ich soll Sie übrigens von ihm grüßen.«

Ich nickte. Jetzt, wo ich das Band angeschaut hatte und wusste, dass diese Frau nicht meine Schwester war, platzte ich schier vor Neugier, wer der Anrufer gewesen war.

Ich versuchte, ein paar Fragen zu stellen, aber Detective Flemmons hielt sich bedeckt. »Ich sage Ihnen Bescheid, sobald ich mehr weiß«, sagte er, was mich natürlich enttäuschte.

Ich spannte wieder meinen Schirm auf und eilte zum Wagen. Während ich den Schirm ausschüttelte und hinterm Lenkrad Platz nahm, spürte ich, wie das Handy in meiner Tasche vibrierte. Ich warf den Schirm auf die Rückbank, knallte die Tür zu und klappte das Handy auf.

»Mariah Parish hatte tatsächlich ein Kind«, sagte Victoria Flores.

»Darfst du mir das überhaupt sagen?«

»Ich habe bereits mit Lizzie Joyce gesprochen. Ich suche jetzt nach dem Kind. Nach Lizzies Auftrag habe ich Stunden am Computer verbracht und Erkundigungen eingeholt. Die ganze Sache ist äußerst merkwürdig, das kann ich dir sagen. Da sie erlaubt hat, dass du mit mir redest, gehe ich davon aus, dass ich auch mit dir reden darf.« Victoria, die immer so verschlossen und nüchtern wirkte, sprudelte förmlich über vor Mitteilungsdrang.

»Das ist zwar nicht unbedingt gesagt, aber wie du weißt, werde ich niemandem davon erzählen.« Ich muss zugeben, dass ich selbst neugierig war.

»Wollen wir zusammen essen gehen? Ich nehme an, dass du nicht viel rauskommst, jetzt wo dein Süßer im Krankenhaus liegt.«

»Das klingt gut.«

»Prima, wie wär’s mit dem Outback Steakhouse? Es gibt eines ganz in der Nähe des Krankenhauses.« Sie nannte mir die Adresse, und ich versprach, sie dort um halb sieben zu treffen.

Ich staunte nicht schlecht, dass Victoria so gesprächig war. Ihr Interesse, mit mir zu reden, war irgendwie merkwürdig. Aber es stimmte, ich fühlte mich einsam. Es tat gut zu wissen, dass jemand mit mir reden wollte. Iona hatte genau einmal angerufen, um sich nach Tolliver zu erkundigen, aber es war ein kurzes, pflichtschuldiges Gespräch gewesen.

Krankenhäuser sind eine Welt für sich, und dieses hier drehte sich unablässig um die eigene Achse. Als ich Tollivers Zimmer betrat, hatte man ihn gerade zu Untersuchungen abgeholt, aber niemand konnte mir sagen, was für Untersuchungen das waren und warum sie gemacht wurden.

Ich fühlte mich mutterseelenallein. Nicht einmal der eigentlich ans Krankenhausbett gefesselte Tolliver war da, wo er sein sollte. Mein Handy klingelte, und ich zuckte schuldbewusst zusammen. Ich dürfte es im Krankenhaus gar nicht an haben. Aber ich ging trotzdem dran.

»Harper? Alles in Ordnung?«

»Manfred! Wie geht es dir?« Ich lächelte.

»Ich hatte so das ungute Gefühl, dass du in Schwierigkeiten steckst, und musste anrufen. Störe ich gerade?«

»Ich bin froh, dass du dich meldest«, sagte ich, wahrscheinlich begeisterter als ich sollte.

»Na dann«, meinte er. »Ich nehme das nächste Flugzeug.« Das war nur halb im Spaß dahingesagt. Manfred Bernardo, ein Hellseher in spe, war drei oder vier Jahre jünger als ich, hatte aber noch nie einen Hehl daraus gemacht, wie attraktiv er mich fand.

»Ich fühle mich einsam, weil Tolliver angeschossen wurde«, sagte ich, wobei mir sofort auffiel, wie egoistisch das klang. Nachdem ich Manfred erzählt hatte, was passiert war, wurde er ganz aufgeregt. Er wollte tatsächlich nach Texas kommen, damit ich eine Schulter zum Ausweinen hätte, wie er es nannte. Ich war völlig gerührt, und einen verrückten Moment lang überlegte ich, Ja zu sagen. Es wäre tröstlich, Manfred um mich zu haben – mit seinen Piercings, Tattoos und allem anderen. Erst als ich mir Tollivers Gesicht vorstellte, kam ich wieder davon ab.

Bevor wir das Gespräch beendeten, hatte ich Manfred versprochen, anzurufen, »falls sich die Lage verschlechtert«. Das war vage genug, um uns beide zufriedenzustellen. Er hatte mir seinerseits versprochen, sich täglich telefonisch nach mir zu erkundigen, bis Tolliver aus dem Krankenhaus entlassen wurde.

Als ich auflegte, hatte sich meine Laune deutlich gebessert. Sie hob sich noch einmal, als ein Pfleger Tolliver im Rollstuhl hereinschob, kurz nachdem ich mein Handy zugeklappt hatte. Er hatte eine viel bessere Gesichtsfarbe als noch am Vortag, aber ich sah, dass er doch sehr schwach war, weil er so in sich zusammengesunken im Rollstuhl saß. Tolliver musste wieder ins Bett, auch wenn er das nur ungern zugab.

Nachdem der Pfleger dafür gesorgt hatte, dass Tolliver bequem lag und alles hatte, was er brauchte, verschwand er mit diesen wippenden, leisen Schritten, die sich Krankenhausangestellte im Rahmen ihres Jobs anzueignen scheinen. Wie mir Tolliver sagte, war sein Schlüsselbein nochmals geröntgt worden. Ein Neurologe sei gekommen, um zu kontrollieren, dass auch wirklich keine Nerven verletzt worden waren.

»Hast du schon mit Dr. Spradling gesprochen?«, fragte ich.

»Ja, er kam vorher vorbei und meinte, dass es gut aussieht. Ich habe dich schon vor einer Stunde erwartet.« Tolliver hatte völlig vergessen, dass ich noch auf dem Polizeirevier vorbeischauen wollte.

Ich erzählte ihm von dem Videoband und beschrieb ihm, wie sich die Frau von Cameron unterschieden hatte.

»Das tut mir leid«, sagte er. »Ich habe mir schon gedacht, dass es jemand anderes ist, aber ein bisschen Hoffnung hat man immer.« Genauso war es mir auch gegangen.

»Sie war es aber nicht. Ich frage mich nur, warum sie jemand verwechselt hat. Wer hat bitteschön die Polizei verständigt? Wer hat Pete dazu gebracht, sich die Bänder anzusehen? Diese Frau sah Cameron zumindest so ähnlich, dass ich mir auf Petes ausdrücklichen Wunsch hin das Band ansehen sollte. War der anonyme Anrufer jemand, der mit mir und Cameron die Highschool besucht hat? Jemand, der sich aufrichtig getäuscht hat? Oder war es nur irgendein Verrückter, der uns an der Nase herumführen will?«

»Und warum ausgerechnet jetzt?«, fragte Tolliver und sah mich an. Aber diese Frage konnte ich ihm auch nicht beantworten.

»Ich wüsste nicht, was das mit Rich Joyce und seiner Pflegerin zu tun haben sollte«, sagte ich. »Aber das Timing ist wirklich eigenartig.«

Wir wussten nicht, was wir sonst noch zu dieser merkwürdigen Häufung von Vorfällen sagen sollten. Nach einer Weile fand ich Tollivers Kamm in einer Tasche seiner Jeans, die im Schrank hing. Sie war etwas fleckig. Ein neues Hemd brauchte er sowieso. Ich nahm mir vor, frische Sachen mitzubringen, wenn er aus dem Krankenhaus entlassen würde.

Als ich begann, seine Haare zu kämmen, merkte ich natürlich, dass sie ungewaschen waren. Ich überlegte, wie ich sie waschen konnte. Mit etwas Fantasie, einer sauberen Bettpfanne, zusätzlichem Verbandsmaterial, das man gebracht hatte, falls seine Schulter nachblutete, und einem kleinen Fläschchen Shampoo vom Krankenhaus gelang es mir schließlich. Ich half ihm auch beim Rasieren und Zähneputzen und wusch ihn mit einem Schwamm, was zu meiner Überraschung in eine ziemlich obszöne Aktion ausartete.

Danach war er sehr entspannt, schläfrig und glücklich und meinte, dass er sich schon viel besser fühle. Ich kämmte sein feuchtes, dunkles Haar und küsste ihn auf seine glatte Wange. Er hatte gerade eine seiner bartlosen Phasen.

Ich war kaum damit fertig, als eine Schwester hereinkam, um ihn zu baden. Als ich sagte, das wäre bereits erledigt, zuckte sie nur die Achseln.

Im Krankenhaus vergeht die Zeit unendlich langsam. Doch bevor ich Tolliver von Victorias Anruf erzählen konnte, schlief er ein. Ich wollte ihn auf keinen Fall wecken, da der überwiegende Teil des Tages noch vor uns lag. Ich machte selbst ein Nickerchen und wurde mühsam wach, als um halb zwölf Tollivers Tablett mit dem Mittagessen gebracht wurde.

Noch so eine aufregende Abwechslung. Ich schnitt sein Essen klein – viel gab es da ohnehin nicht zu schneiden – und steckte einen Strohhalm in sein Glas. Er freute sich dermaßen, wieder feste Nahrung zu sich nehmen zu können, statt nur am Tropf zu hängen, dass ihm sogar das Krankenhausessen hochwillkommen war. Als ich mir sicher war, dass er genügend gegessen hatte, rollte ich den Tisch weg und reichte ihm die Fernbedienung für den Fernseher. Es wurde Zeit, dass ich mir selbst etwas zu essen besorgte.

»Du musst hier nicht den ganzen Nachmittag herumsitzen«, sagte Tolliver.

»Nachdem ich etwas gegessen habe, werde ich den Nachmittag mit dir verbringen«, sagte ich in einem Ton, der keine Widerrede zuließ. »Um halb sieben treffe ich Victoria zum Abendessen und werde wahrscheinlich nicht noch mal wiederkommen.«

»Gut. Ich will nicht, dass du hier den ganzen Tag eingepfercht bist. Du willst bestimmt laufen gehen, den Fitnessraum des Hotels ausprobieren oder so.«

Da hatte er nicht ganz unrecht. Ich bin es zwar gewohnt, länger still zu sitzen, ganz einfach, weil wir so oft im Auto unterwegs sind. Aber ich bin es auch gewohnt, jeden Tag zu trainieren, und meine Muskeln waren steif.

Ich holte mir einen Salat in einem Fastfoodlokal und genoss das geschäftige Treiben um mich herum. Es fühlte sich komisch an, allein dort zu sein, was mir allerdings gleich weniger ausmachte, als ich sah (und hörte), wie sich am Nebentisch eine Mutter mit drei Vorschulkindern herumplagte. Ob sich Tolliver wohl Kinder wünschte? Ich wollte keine. Ich hatte bereits zwei Babys gehabt, um die ich mich kümmern musste, nämlich meine kleinen Schwestern. Ich hatte keine Lust, das noch einmal zu erleben. Und obwohl ich nicht aus dem Leben meiner Schwestern verbannt werden wollte, wollte ich auch nicht für sie verantwortlich sein.

Nicht einmal, als ich sah, wie der kleinste Junge seine Mutter spontan umarmte und küsste, bekam ich Lust, ein fremdes Wesen in meinem Körper zu beherbergen. Musste ich deswegen ein schlechtes Gewissen haben? Wünschte sich nicht jede Frau ein eigenes Kind, das sie lieben konnte?

Nicht unbedingt, dachte ich. Außerdem gibt es wahrhaftig genügend Kinder auf der Welt. Da muss ich nicht auch noch welche kriegen.

Tolliver war wach und sah sich ein Basketballspiel an, als ich wieder in sein Zimmer kam. »Mark hat angerufen, während du weg warst«, sagte er.

»Oh je, bist du überhaupt ans Telefon gekommen?«

»Das war meine große Herausforderung für heute.«

»Was wollte er?«

»Oh, mir sagen, dass ich meinen Dad verletzt habe. Und dass er es blöd von mir findet, dass ich Dad nicht mit ausgebreiteten Armen im Land der Nüchternen empfange.«

Ich kämpfte kurz mit mir und rang mich dann dazu durch, zu sagen, was ich dachte. »Mark hat eine echte Schwäche für deinen Dad, Tolliver. Du weißt, dass ich Mark sehr mag, er ist wirklich ein toller Kerl. Aber das mit Matthew wird er nie begreifen.«

»Ja«, sagte Tolliver. »Da hast du recht. Er hing wahnsinnig an Mom, und als sie starb, hat er diese Gefühle auf unseren Dad übertragen.«

Tolliver sprach nur selten über seine Mutter. Ihr Krebstod musste eine schreckliche Erfahrung für ihn gewesen sein.

»Meiner Meinung nach glaubt Mark, dass Dad im Grunde seines Herzens ein guter Kerl ist«, sagte Tolliver langsam. »Denn sonst hätte er den einzigen Elternteil verloren, den er noch hat. Aber den braucht er.«

»Glaubst du, dass dein Dad im Grunde seines Herzens ein guter Kerl ist?«

Tolliver dachte lange nach, bevor er antwortete. »Ich hoffe, dass er sich einen guten Kern bewahrt hat«, sagte er. »Aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass er clean bleiben wird, falls er überhaupt clean ist. Er hat uns diesbezüglich schon so oft belogen. Letztendlich kehrt er immer wieder zu den Drogen zurück. Und wenn es ganz schlimm wird, nimmt er alles, was er kriegen kann. Er muss sehr gelitten haben, dass er so viele Drogen brauchte, um dieses Leid abzutöten. Andererseits hat er uns jedem überlassen, der uns ausnutzen wollte, nur um Drogen nehmen zu können. Nein, ich kann ihm nicht vertrauen«, sagte Tolliver. »Ich hoffe nur, dass ich es niemals tue, denn dann werde ich bloß wieder enttäuscht.«

»Genauso ging es mir mit meiner Mutter«, sagte ich verständnisvoll.

»Ja, Laurel war wirklich krass«, sagte Tolliver. »Weißt du, dass sie versucht hat, Mark und mich anzumachen?«

Mir wurde ganz schlecht. »Nein«, sagte ich heiser.

»Ja, so war es. Cameron wusste davon. Sie kam im … äh … entscheidenden Moment ins Zimmer. Mark wäre vor lauter Scham am liebsten im Erdboden versunken, und ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte.«

»Was ist passiert?« Ich empfand eine tiefe, brennende Scham. Ich redete mir ein, nichts damit zu tun zu haben, aber das ist nicht so einfach, wenn man eine Geschichte über seine engsten Verwandten hört, bei der man sich am liebsten übergeben würde.

»Na ja, Cameron hat ihre Mutter ins Schlafzimmer geschleift und sie gezwungen, sich etwas anzuziehen«, sagte Tolliver. »Ich glaube nicht, dass Laurel wusste, wo sie war und wen sie da anmachte, Harper, falls dir das etwas hilft. Cameron hat deine Mom mehrmals geohrfeigt.«

»Meine Güte!«, sagte ich. Manchmal fehlen einem einfach die Worte.

»Wir haben es hinter uns«, sagte Tolliver, wie um sich selbst zu überzeugen.

»Ja«, sagte ich. »Und wir haben uns.«

»Das kann uns nichts mehr anhaben.«

»Nein«, sagte ich. Aber das war gelogen.

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