11

Manfred schien ein wenig beleidigt zu sein, weil ich mich gegen sein Angebot, mich zu begleiten, zunächst gesträubt hatte. »Kann ich mich nicht irgendwie nützlich machen?«, fragte er, wobei seine blauen Augen sehr verloren wirkten.

»Manfred«, hob ich erschöpft an. »Ich weiß einfach nicht, wie.«

»Ich hätte da schon die eine oder andere Idee«, erwiderte er und wackelte mit den Augenbrauen. Er gab vor zu scherzen, meinte es aber todernst. Hätte ich ihm auch nur ansatzweise Hoffnungen gemacht, hätte Manfred uns ein Hotelzimmer gebucht, so schnell er sein Portemonnaie zücken konnte.

Leider hätte ich dieses Zimmer selbst bezahlen müssen, denn sein Portemonnaie war bestimmt leer. Keine Ahnung, wie Manfred über die Runden kam. Seine Großmutter, Xylda Bernardo, war eine verrückte alte Schwindlerin gewesen. Trotzdem hatte sie tatsächlich eine hellseherische Gabe besessen. Sie stand ihr nur nicht immer zur Verfügung, wenn sie sie brauchte. Wenn sie keine Stimme hörte, pflegte sie sich eine auszudenken. Sie konnte mehr schlecht als recht davon leben. Sie neigte zur Theatralik, was allerdings wenig überzeugend gewirkt hatte.

Manfred war da schon wesentlich geschickter. Auch er besaß die Gabe. Ich wusste nicht, wie weit Manfreds hellseherische Fähigkeiten reichten, aber wenn er sie genügend ausgelotet und sich darin geübt hätte, würde er bestimmt gutes Geld damit verdienen können. Aber soweit ich wusste, war er noch nicht so weit.

»Als Erstes muss ich zurück ins Hotel, duschen und mich umziehen«, sagte ich und ignorierte seine anzügliche Bemerkung. »Anschließend werden wir zu einem anderen Krankenhaus aufbrechen, in dem Detective Powers liegt.«

»Der Dallas Cowboy? Parker Powers?« Manfred begann zu strahlen. »Ich habe in ›Sports Illustrated‹ über ihn gelesen, damals, als er Polizist wurde.«

»Ich wusste gar nicht, dass du ein Footballfan bist«, sagte ich. Das Leben hält doch immer wieder neue Überraschungen bereit.

»Machst du Witze? Ich liebe Football. Ich habe auf der Highschool selbst Football gespielt.«

Ich beäugte ihn misstrauisch.

»He, lass dich nicht von meiner Größe täuschen«, sagte Manfred. »Ich kann rennen wie der Wind. Und es war eine kleine Highschool, sie hatten also keine große Auswahl«, fügte er der Ehrlichkeit halber hinzu.

»Auf welcher Position hast du gespielt?«

»Ich war Tight End.« Das kam wie aus der Pistole geschossen. Was Football anging, verstand Manfred keinen Spaß.

»Das ist ja interessant«, sagte ich aufrichtig. »Manfred, ich wechsle nur ungern das Thema, aber warum hast du beschlossen, die weite Fahrt hierher zu machen, obwohl ich dir gesagt habe, dass ich schon klarkomme?«

»Ich hatte das Gefühl, dass du in Schwierigkeiten steckst«, antwortete er. Er warf mir einen flüchtigen Seitenblick zu und schaute dann wieder geradeaus durch die Windschutzscheibe seines Wagens. Wenn wir verfolgt würden (was ich mir nach wie vor kaum vorstellen konnte), würde sein verbeulter Camaro den Stalker vielleicht abschütteln.

»Und das konntest du tatsächlich sehen?«

»Ich habe gesehen, wie jemand auf dich schoss«, sagte er und wirkte plötzlich wie um Jahre gealtert. »Ich habe dich fallen sehen.«

»Wusstest du … Du wusstest also nicht, ob ich noch lebte, als du in Tollivers Zimmer kamst?«

»Na ja, ich habe die Nachrichten gesehen, und es war nicht die Rede davon, dass du ermordet worden wärst. Ich hörte nur, dass ein Polizist aus Garland angeschossen worden sei. Seinen Namen haben sie da noch nicht herausgegeben. Ich habe gehofft, dass es dir gutgeht, wollte mich aber lieber persönlich davon überzeugen.«

»Und deshalb bist du den ganzen weiten Weg hierher gekommen.« Ich schüttelte erstaunt den Kopf.

»So weit war es auch wieder nicht«, sagte Manfred.

Eine kurze Pause entstand, und ich wartete, bis er weitersprach.

»Na gut, du hast mich neugierig gemacht«, sagte ich. »Wo warst du?«

»In einem Motel in Tusla«, sagte er. »Ich hatte dort einen Auftrag.«

»Du bist jetzt offiziell in dem Geschäft tätig?«

»Ja. Ich habe eine Webseite, das volle Programm.«

»Wie läuft’s?«

»Die Beantwortung einer Frage kostet fünfundzwanzig Dollar. Eine Beratung, wenn ich das Sternzeichen und Alter weiß, fünfzig Dollar. Und wenn ich für eine Sitzung zum Kunden kommen soll … wird es deutlich teurer.«

»Und das funktioniert?« Ich hatte mich offensichtlich getäuscht, was Manfreds Finanzen betraf.

»Gut sogar«, sagte er lächelnd. »Natürlich profitiere ich von Xyldas gutem Namen, Gott segne sie.«

»Du musst sie ganz schön vermissen.«

»Ja, das stimmt. Meine Mutter ist zwar auch sehr nett …«, sagte er pflichtschuldig, »… aber meine Großmutter hat mir mehr Liebe geschenkt, und ich habe mich, so gut ich konnte, um sie gekümmert. Meine Mutter musste die ganze Zeit arbeiten, und an meinen Vater kann ich mich nicht erinnern. So gesehen war Xylda meine eigentliche … sie war mein Zuhause.«

Das war schön gesagt.

»Manfred, das mit Xylda tut mir sehr leid. Ich denke oft an sie.«

»Danke«, sagte er betont munter, um die Atmosphäre aufzulockern. »Sie hat dich auch gemocht. Sehr.«

Die restliche Fahrt über schwiegen wir.

Während ich duschte und mich umzog, sah sich Manfred die Stelle an, wo man am Vorabend auf Parker Powers geschossen hatte. Vielleicht würde er dort irgendetwas wahrnehmen. Außerdem wusste er, dass ich ihn lieber nicht auf meinem Zimmer hatte, während ich mich zurechtmachte. Ich wusste beides zu schätzen. Als er an die Tür klopfte, war ich angezogen und so gut geschminkt, wie es meine Gesichtsverletzungen zuließen. Ich wappnete mich für mein nächstes Vorhaben. Manfred programmierte sein Navi, damit es uns zu dem Krankenhaus leitete, in dem Parker Powers lag. Es hieß Christian Memorial. Ich verstand nicht, warum man ihn dorthin gebracht hatte statt ins God’s Mercy, wo Tolliver lag. Tolliver und Parker hatten beide Schusswunden, also konnte es nicht daran liegen, dass der Fall der Notaufnahme nicht zuzumuten war.

Ich war beeindruckt von Manfreds Navi. Ich überlegte schon länger, Tolliver eines zu schenken, also unterhielten wir uns auf der Fahrt zum Christian Memorial darüber. Ich wollte nicht an den bevorstehenden Krankenbesuch denken. Zum Glück mussten wir auf den Verkehr achten, und das lenkte mich ab.

Jede Stadt der Welt behauptet, die schlimmsten Staus zu haben. Dallas ist sehr schnell gewachsen, und weil die vielen Zugezogenen keinen Stadtverkehr gewohnt sind, könnte Dallas mit seiner Behauptung durchaus recht haben. Der Verkehr staute sich bis in die Peripherie, und durch die fuhren wir gerade.

Als sich unser Smalltalk über Navis erschöpft hatte, fragte mich Manfred nach dem Fall, den wir vor unserer Ankunft in Dallas bearbeitet hatten. »Erzähl mir davon«, sagte er. »Diese Schießerei muss etwas damit zu tun haben, denn dass der Carolina-Fall eine Rolle spielt, kann ich mir nicht vorstellen.«

Ich pflichtete ihm bei. Da Manfred ein Kollege war, erzählte ich ihm, was auf dem Pioneer Rest Cemetery geschehen war. Normalerweise hätte ich meinen ungeschriebenen Vertrag mit den Joyces nicht gebrochen, aber so langsam glaubte ich auch, dass sie etwas mit den Vorfällen zu tun hatten. Außerdem konnte ich mir sicher sein, dass Manfred die Informationen für sich behielt.

»Es gibt genau zwei Möglichkeiten«, sagte er. »Du kannst das vermisste Baby suchen, das vielleicht von einem der beiden Männer, die du getroffen hast, gezeugt wurde. Obwohl es wahrscheinlich kein Baby mehr ist, sondern schon zur Schule geht. Oder aber du kannst dem Verdacht nachgehen, dass einer von ihnen die Klapperschlange nach Rich Joyce geworfen hat, um einen Herzinfarkt auszulösen.«

»Diese beiden Möglichkeiten bestehen durchaus«, sagte ich, erleichtert, weil ich endlich darüber reden konnte. »Und dann ist da noch Tollivers Vater aufgetaucht, der wieder Kontakt zu ihm aufnehmen möchte. Zu ihm und den Mädchen. Außerdem hat nach all den Jahren jemand behauptet, Cameron gesehen zu haben, was auch reichlich merkwürdig ist.«

Ich klärte Manfred über unsere Familienprobleme auf.

»Die Sache könnte also irgendwas mit deinen kleinen Schwestern zu tun haben. Oder mit deiner vermissten Schwester. Was, wenn das alles mit Cameron zusammenhängt?«

Ich war verblüfft. »Warum sollte es?«

»Ein Anrufer behauptet, Cameron gesehen zu haben. Ein anderer Anrufer bedroht dich. Zwei anonyme Anrufe. Da gibt es doch bestimmt einen Zusammenhang, meinst du nicht?«

»Ja«, sagte ich langsam und zog die Möglichkeit zum ersten Mal in Erwägung. »Ja, natürlich, das könnte sein.« Dass ich nicht längst selbst darauf gekommen war, musste daran liegen, dass ständig auf meine Begleiter geschossen wurde. »Es könnte also etwas mit Cameron zu tun haben.«

»Oder mit dem Anrufer, der wusste, dass dieser Anruf die beste Methode ist, dich von Tolliver fortzulocken. Vielleicht dachte er, du würdest abreisen und nach Texarkana zurückkehren. Er konnte ja nicht wissen, dass die Polizei anbot, dir das Band auf dem hiesigen Revier zu zeigen.« Eine lange Pause entstand. »Äh, Harper«, sagte Manfred. »Bist du dir wirklich ganz sicher, dass die Frau auf dem Band nicht deine Schwester war?«

»Ja, da bin ich mir sicher«, sagte ich. »Ihr Kinn war anders und ihr Gang auch. Klar, sie war blond und hatte die richtige Größe. Ich wüsste auch nicht, warum jemand behaupten sollte, sie gesehen zu haben. Ausgerechnet jetzt, wo der Fall längst zu den Akten gelegt wurde.«

»Du … du bist vermutlich fest davon überzeugt, dass Cameron tot ist?«

»Ja. Schon lange«, sagte ich nachdrücklich, so als bestünde daran nicht der geringste Zweifel. »Sie würde nie zulassen, dass ich mir solche Sorgen mache, nicht über so viele Jahre hinweg.«

»Aber du sagtest, dass ihr es wirklich schwer zu Hause hattet.«

»Ja, das kann man wohl sagen.« Ich atmete tief durch. »Sie würde so etwas niemals tun«, sagte ich mit soviel Nachdruck wie möglich. »Sie hat uns geliebt, und zwar alle ihre Geschwister.«

»Dein Stiefvater taucht also wieder auf, und plötzlich wird Cameron gesehen«, sagte er und war so taktvoll, nicht mehr anzudeuten, dass meine Schwester freiwillig abgehauen sein könnte. »Ist das nicht auch ein ziemlich merkwürdiger Zufall?«

»Allerdings«, sagte ich. »Ich weiß auch nicht, was ich davon halten soll. Ich habe mir nie vorstellen können, dass er sie umgebracht hat. Vielleicht hätte ich mal darüber nachdenken sollen. Aber er besuchte damals gerade einen Freund, den er aus dem Knast kannte. Einen Typen, mit dem er Geschäfte machte, sodass Matthew rein zeitlich einfach nicht infrage kam.«

»Was für Geschäfte?«

»Drogen, alles, womit man Geld verdienen kann.« Ich verstummte einen Augenblick und musste nachdenken. Verrückt! Nie hätte ich geglaubt, auch nur ein Detail von diesem Tag vergessen zu können. »An jenem Nachmittag wollten Renaldo und Matthew Alteisen zum Schrottplatz bringen, um sich etwas Geld zu verdienen. Aber ich glaube nicht, dass sie jemals dort waren. Sie fingen an, Billard zu spielen.«

»Wie hieß der Freund mit vollem Namen?«

»Renaldo Simpkins.« Ich war sehr traurig, weil es mir so schwerfiel, mich noch an alles zu erinnern. »Er war jünger als Matthew und sah gut aus, das weiß ich noch.« Ich versuchte, sein Gesicht heraufzubeschwören. »Vielleicht kann sich Tolliver noch daran erinnern«, sagte ich schließlich. Wenn ich auch nur das winzigste Detail von diesem Tag vergaß, fühlte ich mich, als würde ich das Andenken meiner Schwester besudeln. Zum ersten Mal wusste ich es zu schätzen, dass die Polizei und Victoria Flores noch über die damaligen Ermittlungsakten verfügten.

Wir hielten auf dem Parkplatz eines weiteren Krankenhauses. Das Christian Memorial war vielleicht etwas neuer als das God’s Mercy, obwohl in dieser Gegend nichts wirklich alt war. Wir betraten die Eingangshalle und fragten die Frau in dem knallrosa Kittel an der Information nach dem Weg. Sie schenkte uns ein routiniertes Lächeln, das warm und herzlich sein sollte. »Detective Powers liegt im vierten Stock, aber ich warne sie, dort ist jede Menge los. Kann sein, dass Sie gar nicht bis zu ihm vordringen.«

»Danke«, sagte ich und lächelte genauso routiniert zurück. Wir durchquerten die Lobby und betraten den Lift, wo Manfreds Gesichtsschmuck ziemliches Aufsehen erregte. Er schien die ungläubigen, faszinierten Blicke gar nicht zu bemerken. Als sich die Türen im vierten Stock öffneten, schauten wir in ein Meer von Gesichtern. Die dominierende Farbe war Blau. Polizisten in verschiedenen Uniformen standen herum, und dann waren da noch Männer und Frauen in Zivil, die nur Detectives sein konnten. Es waren auch ein, zwei Footballspieler da.

Obwohl ich gar nicht daran gedacht hatte, Manfred unten zu lassen, merkte ich sofort, dass es ein Riesenfehler gewesen war, ihn mitzunehmen. Er fiel ziemlich auf, und zwar nicht unbedingt angenehm. Ich nahm Haltung an. Manfred war mein Freund, und er hatte dasselbe Recht, hier zu sein, wie alle anderen auch. Eine große Frau mit breiten Schultern und dicken braunen Haaren kam auf mich zu. Sie hatte hier eindeutig das Sagen, und nicht nur hier.

»Hallo«, sagte sie. »Ich bin Beverly Powers, Parkers Frau. Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich hoffe doch«, sagte ich zögernd. Irgendwie hatte ich nicht damit gerechnet, von so vielen Menschen angestarrt zu werden. »Ich bin Harper Connelly, und Parker wurde angeschossen, als man versuchte, mich umzubringen. Ich möchte mich bei ihm bedanken. Und das ist mein Freund Manfred Bernardo, mein Fahrer, solange mein Bruder noch im Krankenhaus liegt.«

»Ach, Sie sind die junge Frau!«, sagte Beverly Powers und sah mich gleich viel neugieriger an. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Es kursieren nämlich zahlreiche Gerüchte darüber, warum Sie und mein Mann draußen unterwegs waren. Ich hoffe, Sie können mir erklären, was genau passiert ist.«

»Aber gern«, sagte ich überrascht. »Da gibt es nicht viel zu erklären.«

Sie wartete mit hochgezogenen Brauen, zum Zeichen, dass sie ganz Ohr war. Ich war etwas überrumpelt, dass ich die Ereignisse jetzt sofort schildern sollte.

Alle hörten zu, obwohl sie das Gegenteil vorgaben. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass sich Manfred zurückgezogen und an eine Wand gelehnt hatte. Er verschränkte die Arme und ließ mich nicht aus den Augen. Er sah aus wie ein Geheimagent, und das bestimmt mit Absicht. Der Mann war das reinste Chamäleon.

»Mein Bruder wurde vor zwei Abenden angeschossen«, erklärte ich und wählte meine Worte mit Bedacht. »Damals kam Detective Powers, um den Tatort zu untersuchen. Zusammen mit Rudy Flemmons. Der besuchte meinen Bruder am nächsten Tag im Krankenhaus, um uns zu informieren. Und als ich dann gestern Abend in mein Hotel zurückkehrte, wartete dort Ihr Mann auf mich. Als ich ihm sagte, dass ich eine Runde laufen wolle, da ich den ganzen Tag mit meinem Bruder im Krankenhaus eingesperrt gewesen war, willigte er ein, mich zu begleiten. Er zweifelte nämlich daran, dass es der Schütze auf meinen Bruder abgesehen hatte.« Powers’ begeisterte Blicke verschwieg ich lieber. »Er war der Ansicht, dass derjenige, der auf Tolliver schoss, eigentlich mich treffen wollte. Außerdem hatte ich an diesem Tag eine Morddrohung bekommen. Leider nahm die keiner von uns sonderlich ernst, was ein großer Fehler war – und das tut mir auch aufrichtig leid. Zu meiner Entschuldigung kann ich nur sagen, dass ich schon öfter Morddrohungen erhalten habe, ohne dass je etwas passiert ist. Ihr Mann meinte, seine Laufsachen wären im Auto. Er hat sich in seinem Wagen umgezogen, und dann sind wir losgelaufen. Bitte verzeihen Sie, wenn ich das sage, aber er kam ziemlich schnell aus der Puste. Wahrscheinlich war er schon lange nicht mehr laufen.« Zu meiner Überraschung hatten sich meine Zuhörer deutlich entspannt, während ich Beverly Powers erklärte, warum auf ihren Mann geschossen worden war. Als ich beschrieb, wie sehr er aus der Puste gekommen war, lachten einige sogar, und ein Lächeln erschien auch auf Beverly Powers’ Gesicht.

Plötzlich begriff ich: Mrs Powers und Parkers Kollegen hatten gedacht, ich hätte eine Affäre mit ihm. Meine freimütigen Erklärungen hatten diesen Verdacht zerstreut. Sie fanden die Sache nicht wirklich komisch, sondern waren bloß erleichtert.

»Wir rannten die Reihen dieses großen Busdepots gegenüber der Highschool an der Jacaranda Street auf und ab.« Aus den Augenwinkeln sah ich, wie genickt wurde. »Wir hörten, wie ein Wagen auf den Busparkplatz fuhr, und Detective Powers und ich fühlten uns verfolgt. Aber dann ist er davongebraust. Wir beschlossen, lieber wieder zum Hotel zurückzukehren. Auf dem Rückweg sprang plötzlich dieser Typ aus einem Gebüsch und schoss auf uns. Ich weiß nicht, ob er auf mich oder auf Ihren Mann zielte, aber Detective Powers stieß mich sofort zur Seite. Deshalb fing er sich die Kugel ein, was mir wirklich sehr leid tut. Er war so tapfer, und ich fühlte mich furchtbar, weil er so schwer verletzt wurde. Ich setzte so schnell wie möglich einen Notruf ab.«

»Der hat ihm das Leben gerettet«, sagte Beverly. Ihr Gesicht war rund und sympathisch, aber ihre Augen sprachen eine andere Sprache. Egal in welcher Disziplin – diese Frau war eine beinharte Konkurrentin.

Ich war heilfroh, keine Affäre mit ihrem Mann gehabt zu haben.

»Bitte kommen Sie und besuchen Sie ihn«, sagte Beverly.

»Ist er bei Bewusstsein?«

»Nein«, sagte sie, und an ihrem Tonfall merkte ich, dass Detective Powers vielleicht nie wieder das Bewusstsein erlangen würde.

Die große Frau nahm meinen Arm, führte mich in einen verglasten Raum und sah ihren Mann an. Er sah furchtbar aus und war völlig weggetreten. Ich weiß nicht, ob das an den Medikamenten lag oder ob er sich im Tiefschlaf oder im Koma befand.

»Es tut mir so leid«, sagte ich. Er würde sterben. Ich kann mich auch täuschen – der Tod kann über den Menschen hängen wie ein Schatten, der sich niemals senkt –, aber bei Detective Powers war ich mir ziemlich sicher. Ich wünschte, dass ich mich irrte.

»Danke, dass Sie mir noch ein bisschen mehr Zeit mit ihm geschenkt haben«, sagte sie. Wir standen eine Weile schweigend da.

»Ich muss zurück zu meinem Bruder«, sagte ich. »Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie mit mir geredet und mir erlaubt haben, ihn zu sehen. Bitte sagen Sie ihm, wie dankbar ich ihm bin für das, was er für mich getan hat.«

Ich tätschelte Beverly unbeholfen die Schulter und bahnte mir einen Weg zu Manfred, der meine Hand nahm und auf den Liftknopf drückte. Die Tür öffnete sich sofort, und wir betraten einen leeren Fahrstuhl. Ich betete darum, dass sich die Tür schloss und die traurige Szene unseren Blicken entzog.

»Ich bin froh, dass du dabei warst«, sagte ich. »Das muss ziemlich anstrengend für dich gewesen sein.«

»Ach, Quatsch, ich liebe es, in die Höhle des Löwen zu gehen, mit einem Schild um den Hals, auf dem steht: Heute frisches Lammfleisch.« Jetzt, wo wir allein waren, sah der kurz zuvor noch so ausdruckslose Manfred genauso erleichtert aus wie ich.

Wir hielten uns dermaßen fest an den Händen, dass sich unsere Knochen berührten. Genau in dem Moment, als ich merkte, wie weh das tat, lockerte er seinen Griff.

»Das war heftig«, sagte er mehr oder weniger normal. »Was machen wir jetzt? Mit Alligatoren ringen?«

»Nein, ich dachte, wir gehen mittagessen. Und danach muss ich zu Tolliver.« Wir fuhren gerade zurück zum Hotel, als Manfred fragte: »Hat der Arzt schon verraten, wann Tolliver entlassen wird?«

»Er darf morgen raus. Ich werde ihn allerdings pflegen müssen. Vielleicht sollte ich mich um eine Suite in einem anderen Hotel bemühen und aus dem jetzigen Zimmer ausziehen. Kann sein, dass wir noch ungefähr eine Woche bleiben, denn der Arzt meinte, dass Tolliver Ruhe braucht. Er muss überwiegend liegen, und ich möchte ihn nicht beunruhigen.«

»Du bist also tatsächlich mit Tolliver zusammen? Und er ist der Richtige?«, fragte Manfred plötzlich ernst.

»Er ist der Richtige«, bestätigte ich. »Das war er schon, als ich ihm das erste Mal begegnete. Aber du warst immer die zweitbeste Lösung.« Ich rang mir ein Lächeln ab, und zu meiner Erleichterung wurde es erwidert.

»Dann werde ich meinen Suchradius wohl oder übel erweitern müssen«, sagte er theatralisch. »Vielleicht ziehe ich eine Meerjungfrau an Land.«

»Wenn hier jemand eine Meerjungfrau findet, dann du«, sagte ich.

»Apropos Meerjungfrauen: Suchst du gerade im Rückspiegel nach einer oder hast du nur Angst wegen meines Fahrstils?«

»Ich versuche herauszufinden, ob uns jemand folgt. Das ist mir hier schließlich schon mal passiert, aber ich kann beileibe niemanden entdecken. Nur gut, dass ich keine Polizistin bin.« Manfred hielt ebenfalls die Augen offen, aber auch ihm fiel kein Wagen auf, der unsere Manöver imitierte. Bei dem Verkehrsaufkommen sagte das zwar nicht viel, aber ein bisschen beruhigt war ich trotzdem.

Als wir das Hotel erreichten, packte ich meine Sachen und checkte aus. Aber erst nachdem ich ein anderes Kettenhotel in der Nähe angerufen und nach einer Suite gefragt hatte. Wie sich herausstellte, war noch eine frei, und ich buchte sie unter Tollivers Namen. Der anonyme Anrufer hatte meine Hoteladresse gekannt. Obwohl es ihm nicht schwerfallen dürfte, mich erneut ausfindig zu machen, musste ich es ihm nicht extra leicht machen. Ich reservierte die Suite für sechs Nächte. Bestimmt konnte ich jederzeit früher abreisen, wenn Tolliver schon vorher reisefähig wäre. Ich rief auch Mark an, um ihm zu sagen, wo wir steckten. Dann fuhr mich Manfred zum neuen Hotel und half mir mit unserem Gepäck.

Anschließend gingen wir in ein Familienrestaurant mit einer langen Salatbar. Es wurde Zeit, dass ich endlich etwas aß, das nicht ungesund war. Also türmte ich Salat und Obst auf meinen Teller. Zu meiner Überraschung tat Manfred das Gleiche.

Mein Begleiter liebte es, Konversation zu machen, besser gesagt, zu reden. Während ich zuhörte, fragte ich mich, wie Manfred wohl mit Gleichaltrigen zurechtkam. Er musste so einiges loswerden, über das er sonst nur selten reden konnte. Es ging hauptsächlich um Xylda, darum, wie sehr er sie vermisste, was sie ihm alles beigebracht hatte und welche merkwürdigen Gegenstände er in ihrem Haus gefunden hatte.

»Danke, dass du gekommen bist«, sagte ich, als eine kurze Pause entstand.

Er zuckte die Achseln. Er wirkte stolz, aber auch verlegen. »Ich wusste, dass du mich brauchst«, sagte er und wandte den Blick ab.

»Ich würde dich gern einigen von diesen Leuten vorstellen. Und danach erzählst du mir, was du gesehen hast«, sagte ich. »Ich muss mir nur einen plausiblen Grund dafür ausdenken.«

Er schien sich wahnsinnig zu freuen, mir helfen zu können.

»Natürlich nur, wenn du nicht gleich wieder nach Hause musst«, sagte ich.

»Nein«, meinte er. »Ich kann inzwischen viel übers Internet erledigen, und für diese Woche habe ich noch keine Aufträge. Ich habe meinen Laptop und mein Handy dabei, das müsste reichen. Nach was soll ich Ausschau halten?« Sein Schalk verließ ihn, und plötzlich sah ich einen deutlich älteren Manfred vor mir.

»Nach allem, was mit diesen Leuten zu tun hat«, sagte ich. »Jemand hat auf Tolliver geschossen. Jemand hat auf Detective Powers geschossen, auch wenn man es wahrscheinlich auf mich abgesehen hatte. Und ich glaube, dass es einer von ihnen war. Ich möchte wissen, warum.«

»Nicht wer?«

»Na ja, das natürlich auch. Aber das Warum ist äußerst wichtig. Ich muss wissen, ob ich das Ziel bin oder nicht.«

Er nickte. »Verstehe.«

Wir fuhren zurück zum Krankenhaus, und Manfred setzte mich vor dem Seiteneingang ab. Unauffälliger konnte ich das Krankenhaus leider nicht betreten. Ich huschte hinein und ging auf die Aufzüge zu. Ich hatte nicht das Gefühl, beobachtet zu werden, und niemand schien in der Lobby herumzulungern. Alle, die ich sah, schienen ein Ziel zu haben, und niemand sprach mich an.

Als ich Tollivers Zimmer betrat, fand ich ihn auf dem Stuhl vor. Ich spürte, wie sich meine Lippen zu einem breiten Grinsen verzogen.

»Oh, du bist aber mutig!«, sagte ich und strahlte ihn an.

»Ich bin schließlich kein Schlappschwanz«, konterte er und lächelte zurück. »Als ich erfuhr, dass ich vielleicht raus darf, ging es mir gleich viel besser. Wie war deine Fahrt quer durch die Stadt mit dem unglaublichen Manfred?«

Ich erzählte Tolliver von unserem Besuch bei Detective Powers. »Als sie begriffen hatten, dass ich nichts mit ihm hatte, waren alle erleichtert«, sagte ich.

»Wenn er sich wieder erholt hat, kannst du ihm sagen, für welchen Casanova ihn seine Kollegen gehalten haben.«

»Ich fürchte, er wird sich nicht mehr erholen«, sagte ich. »Ich fürchte, er wird sterben.«

Tolliver nahm meine Hand. »Harper, das liegt nicht in unserer Macht. Wir können nur hoffen, dass er durchkommt.«

Das war wirklich lieb von ihm. Vielleicht weniger seine Worte, als wie er das sagte. Ich spürte, dass er mich liebte. Ich weinte ein wenig, und er ließ mich weinen, ohne mich irgendwie zu bevormunden. Danach half ich ihm zurück ins Bett, weil er müde war. Wir hätten überlegen können, wer auf ihn geschossen hatte, aber im Moment waren wir einfach zu kaputt dafür.

Eine Stunde später kamen Mark und Matthew.

Wir sahen uns gerade einen alten Spielfilm an, den wir sehr genossen, aber ich wollte nicht unhöflich sein und machte den Fernseher aus. Als sie nebeneinander am Fußende des Bettes standen, fiel mir auf, dass sich Mark und Matthew deutlich mehr ähnelten als Tolliver und sein Dad. Beide waren klein und gedrungen, beide besaßen dasselbe kantige Gesicht … Alle drei Männer hatten denselben Teint, aber ansonsten glich Tolliver eher seiner Mutter. Von der ersten Mrs Lang kannte ich nur Fotos, aber sie hatte Tollivers schmales Gesicht und seine zierliche Figur.

Ich überlegte, ob sie wohl allein sein wollten.

Tolliver machte nicht den Eindruck, und obwohl ich fast schon erwartete, dass Matthew sagte, er wolle mit seinen Söhnen allein reden, erwähnte er nichts dergleichen. Also blieb ich.

Nach den üblichen Fragen zu Tollivers Genesungsfortschritten und seiner Entlassung sagte Mark: »Ich habe überlegt, ob ihr vielleicht zu mir kommen und bei mir wohnen wollt. Solange, bis du wieder gesund bist.«

»Zu dir nach Hause?«, fragte Tolliver, als wäre das etwas völlig Abwegiges. Wir waren genau ein Mal bei Mark gewesen. Er hatte uns zum Abendessen eingeladen, aber die Gerichte kommen lassen. Er lebte in einer stinknormalen Dreizimmerwohnung mit Gartenanteil.

»Ja, warum nicht? Da Harper und du …«, er machte eine vage Geste, die wohl besagen sollte, dass wir miteinander schliefen, »… könnt ihr euch ja ein Bett teilen. Es ist also Platz genug.«

»Dad schläft also in dem anderen Zimmer?« Tolliver sah seinen Vater nicht an, während er mit Mark sprach, was diesem bestimmt nicht entgangen war.

»Ja, genau«, sagte Mark. »Das war naheliegend, da er im Moment nicht viel verdient und das Zimmer ohnehin leer steht.«

»Ich habe uns schon eine Hotelsuite gebucht«, sagte ich betont sachlich. Ich wollte niemanden brüskieren.

Aber mein Wunsch schien nicht in Erfüllung zu gehen.

»Jetzt hör mir mal zu!«, sagte Mark hochrot, wie immer, wenn er wütend wurde. »Halt dich da raus, Harper. Das ist mein Bruder, und ich werde ihn doch wohl noch fragen dürfen, ob er bei mir wohnen will. Das ist sein gutes Recht. Er gehört schließlich zur Familie.«

Jetzt war ich nicht nur wütend, sondern auch verletzt. Es war mir egal, ob ich je zu Matthews Familie gehören würde, aber Mark und ich hatten gemeinsam viel durchgemacht. Ich dachte, wir Kinder wären unsere eigene Familie gewesen. Ich spürte, wie ich meinerseits rot wurde.

»Mark!«, sagte Tolliver scharf. »Harper ist meine Familie. Und das schon seit Jahren. Deine übrigens auch. Du weißt bestimmt noch, wie sehr wir damals zusammenhalten mussten.«

Mark starrte zu Boden. Es war kaum mit anzusehen, wie hin- und hergerissen er war.

»Ist schon gut, Mark«, sagte Matthew. »Ich verstehe, was sie sagen wollen. Ihr musstet zusammenhalten. Laurel und ich haben nicht gerade viel zu einer funktionierenden Familie beigetragen. Wir waren zusammen, aber wir waren keine richtige Familie. Tolliver hat recht.«

Jetzt übertreibt er es aber, dachte ich.

»Dad«, murmelte Mark, als wäre er wieder siebzehn. »Du hast versucht, uns zusammenzuhalten.«

»Das habe ich auch«, sagte Matthew. »Aber dann kam meine Sucht dazwischen.«

Ich musste mich zwingen, nicht die Augen zu verdrehen. Schmierentheater. Tolliver musste schon wieder mit ansehen, wie sein Vater den Büßer spielte, ließ sich aber nichts anmerken. Es gibt Momente, in denen ich nicht weiß, was Tolliver durch den Kopf geht, und das war einer davon. Vielleicht ließ er sich von seinem Vater erweichen, vielleicht malte er sich auch aus, ihn umzubringen. Wahrscheinlich Letzteres.

»Tolliver, bitte, gib mir eine Chance, dich neu kennenzulernen«, flehte sein Vater.

Ein langes Schweigen entstand. Mark sagte: »Weißt du noch, als Gracie so krank war? Weißt du noch, wie Dad sie ins Krankenhaus brachte? Die Ärzte haben ihr Antibiotika gegeben, und anschließend ging es ihr besser.«

Das hatte ich ganz vergessen. Es war schon lange her. Gracie war noch sehr klein gewesen, vielleicht vier Monate alt. Wie alt ich wohl gewesen war? Fünfzehn? Es war sehr peinlich gewesen, noch eine kleine Schwester zu bekommen, ganz einfach deswegen, weil es bewies, dass meine Mutter und ihr Mann tatsächlich Sex hatten.

Es ist schon erstaunlich, was einem mit fünfzehn alles peinlich sein kann.

Damals kannte ich mich schon ziemlich gut mit Babys aus, schließlich mussten wir uns bereits um Mariella kümmern. Als unsere erste Halbschwester zur Welt kam, war es meiner Mutter noch etwas besser gegangen. Zumindest einen Teil der täglichen Pflege hatte sie übernommen, sodass wir Mariella zu Schulzeiten bei ihr lassen konnten. Als dann Gracie untergewichtig und kränklich geboren wurde, kam das überhaupt nicht mehr infrage. Warum man Mom Gracie nicht gleich im Krankenhaus wegnahm, ist mir ein Rätsel. Wir hatten uns fast gewünscht, dass jemand das getan hätte. Oder dass Mom zur Vernunft gekommen wäre und Gracie zur Adoption freigegeben hätte.

Doch nichts von alledem war geschehen. Also hatten Cameron und ich abwechselnd bei anderen Familien als Babysitter gejobbt. Die Jungs hatten Geld verdient, und Matthew hatte auch manchmal gearbeitet. So hatten wir die Mädchen zu einer Tagesmutter geben können, wenn wir nicht zu Hause waren.

Doch dann war Gracie, die schon immer Atemwegsprobleme gehabt hatte, noch kränker geworden. Ich konnte mich kaum noch daran erinnern, sondern wusste nur noch, dass ich eine Riesenangst gehabt hatte. Wir waren schwer beeindruckt gewesen, dass Matthew sie ins Krankenhaus gebracht hatte.

»Willst du damit sagen, dass ich mich mit Dad anfreunden muss, nur weil er sich ein Mal, ein einziges Mal, wie ein Vater benommen hat?«, sagte Tolliver, und ich atmete hörbar aus. Er ließ sich nicht so leicht übers Ohr hauen.

»Ach, Tolliver.« Matthew schüttelte den Kopf, das Wort »betrübt« stand ihm in Riesenlettern auf die Stirn geschrieben. »Ich versuche, anständig zu bleiben, mein Sohn. Verschließe dich nicht gegen mich.«

Ich musste mich schwer zusammenreißen, nichts zu sagen, war aber stolz, dass ich es schaffte, meine Zunge im Zaum zu halten. Beinahe wäre mir doch etwas herausgerutscht, weil ich befürchtete, Tolliver könnte schwächeln. Doch dann sagte er: »Tschüs, Mark. Tschüs, Dad. Danke, dass ihr vorbeigekommen seid«, und ich atmete erleichtert auf.

Die beiden Besucher sahen erst sich und dann mich an. Sie wünschten sich eindeutig, dass ich hinausging, aber den Gefallen tat ich ihnen nicht. Nach einer Weile war klar, dass ich bleiben würde.

Matthew sagte: »Es tut mir leid, dass wir nicht alle …« Seine Stimme brach. »Meine Güte, ich wünschte, ihr beiden könntet vergeben und vergessen.«

Ich fand das unglaublich. Ich hatte meinem Stiefbruder nichts vorzuwerfen, aber dafür meinem Stiefvater: »Während du uns vernachlässigt hast, habe ich einige der wichtigsten Lektionen meines Lebens gelernt, Matthew. Ich hasse dich nicht, aber vergessen werde ich das nie. Denn das wäre wirklich äußerst dumm von mir.«

Matthew sah mich direkt an, und kurz spürte ich seine unverhohlene Abneigung, bevor er sein wahres Gesicht wieder hinter der Maske des reumütigen Büßers verbarg.

»Es tut mir leid, dass du so denkst, Harper«, sagte er sanft. »Mein Sohn, ich werde dich in meine Gebete mit einschließen.«

Tolliver sah ihn schweigend an. Dann drehten sich sein Vater und sein Bruder um und verließen das Zimmer.

»Er hasst mich«, sagte ich.

»Ich bin mir gar nicht so sicher, ob er für mich nicht genau dasselbe empfindet«, sagte Tolliver. »Falls ich mal einen Unfall haben sollte, verständige sie bitte nicht. Ich liebe Mark, und er ist mein Bruder. Aber jetzt steht er wieder unter Dads Fuchtel, und ich traue ihm nicht mehr über den Weg.«

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