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Im Texas Roadhouse hatten wir uns schon für einen Tisch eintragen lassen, als Mark kam. Mark sieht aus wie Tollivers Bruder: Beide haben dieselben Wangenknochen, dasselbe Kinn und dieselben braunen Augen. Aber Mark ist kleiner und dicker und (was ich allerdings nie laut gesagt habe) längst nicht so intelligent wie Tolliver.

Ich habe so viele gute Erinnerungen an Mark, dass ich ihn für immer in mein Herz geschlossen habe. Mark tat, was er konnte, um uns vor unseren Eltern zu beschützen. Nicht, dass unsere Eltern uns bewusst wehtun wollten, aber sie waren nun mal drogensüchtig. Drogensüchtige vergessen, dass sie Eltern sind. Sie vergessen, dass sie verheiratet sind. Sie sind nur noch süchtig.

Mark hatte schwer gelitten, da er sich noch besser als Tolliver an einen normalen Vater erinnern konnte. Mark erinnerte sich, wie er von ihm zum Fischen und Jagen mitgenommen worden war. Dass sein Vater zu Lehrersprechstunden und zu Fußballspielen gegangen war und ihm bei seinen Mathehausaufgaben geholfen hatte. Von Tolliver wusste ich, dass er nur noch vage Erinnerungen an diese Zeit hatte. Aber die letzten Jahre im Wohnwagen hatten diese Erinnerungen immer mehr überschattet, bis der Schmerz auch jene Flamme gelöscht hatte, die sie noch am Leben hielt.

Mark war seit Neuestem Manager bei JCPenney. Er trug eine marineblaue Hose, ein gestreiftes Hemd und ein Namensschild. Als ich sah, wie er das Restaurant betrat, wirkte er erschöpft. Aber seine Miene erhellte sich sofort, als er uns entdeckte. Mark trug sein Haar sehr kurz und hatte seinen Schnurrbart abrasiert. Dieses propere Erscheinungsbild ließ ihn älter, aber auch irgendwie selbstbewusster wirken.

Tolliver und sein Bruder absolvierten das typische Männerbegrüßungsritual, indem sie sich auf den Rücken klopften und mehrmals »Hey, man!« sagten. Ich wurde weniger heftig umarmt. Genau im richtigen Moment erfuhren wir, dass wir jetzt Platz nehmen konnten. Als wir in unserer Nische saßen und mit Speisekarten versorgt waren, fragte ich Mark nach seinem Job.

»Unser Weihnachtsgeschäft war weniger gut als erhofft«, sagte er ernst. Mir fiel auf, wie weiß und ebenmäßig seine Zähne waren, und ich spürte einen eifersüchtigen Stich anstelle seines Bruders. Im Gegensatz zu Tolliver war Mark damals alt genug gewesen, um seine Zähne korrigiert zu bekommen. Als dann Tolliver mit der typisch amerikanischen Mittelstands-Zahnspange und Aknebehandlung an der Reihe gewesen wäre, hatte die Abwärtsspirale für unsere Eltern bereits begonnen. Ich schüttelte die unangemessene Eifersucht ab. Mark hatte in dieser Hinsicht einfach Glück gehabt. »Die Verkaufszahlen sind hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben, und wir werden uns in diesem Frühling ganz schön anstrengen müssen«, sagte er.

»Und worauf führst du das zurück?«, fragte Tolliver, als ob es ihn auch nur einen Scheiß interessierte, warum der Laden nicht so lief, wie er sollte.

Mark schwallte ihn weiter mit dem Laden und seiner Verantwortung zu, und ich zwang mich, das gebührende Interesse zu zeigen. Das war ein besserer Job als der des Restaurantleiters, den er vorher gehabt hatte, zumindest die Arbeitszeiten waren besser. Mark hatte zwei Jahre lang das Junior College besucht und danach ein Abendstudium absolviert. Irgendwann hatte er einen Abschluss gemacht. Ich bewunderte ihn für seine Ausdauer. Weder Tolliver noch ich hatten so viel erreicht.

Doch obwohl ich den Eindruck erweckte, zuzuhören, und Mark wirklich mochte, langweilte ich mich ehrlich gesagt zu Tode. Ich musste daran denken, wie Mark einmal einen Besucher meiner Mom k. o. geschlagen hatte, einen taffen Burschen um die dreißig, der sich unverhohlen an Cameron herangemacht hatte. Mark hatte nicht wissen können, ob der Kerl bewaffnet war (was viele Freunde unserer Eltern waren). Trotzdem hatte er keine Sekunde gezögert, meine Schwester zu verteidigen. Diese Erinnerung erleichterte es mir, vorzugeben, dass ich an Marks Lippen hing.

Tolliver stellte die entsprechenden Fragen. Anscheinend kannte er sich in solchen Dingen besser aus als gedacht. Zum hundertsten Mal fragte ich mich, ob Tolliver nicht lieber ein ganz normales Leben führen würde.

Dabei hatte er mich diesbezüglich noch am Vortag beruhigt.

Wir hatten Iona und Hank äußerst kleinlaut verlassen. Ionas Neuigkeiten hatten uns beide völlig überrascht. Obwohl wir uns bemühten, ihr und Hank begeistert zu gratulieren, wirkten wir wahrscheinlich doch nicht begeistert genug. Wir waren noch ziemlich sauer wegen ihrer Reaktion auf unsere Beziehung, sodass es uns schwergefallen war, uns aufrichtig für sie zu freuen.

Natürlich waren unsere Anspannung und Wut auch den Mädchen nicht verborgen geblieben. Innerhalb weniger Minuten hatten sie sich erst für uns gefreut und waren dann völlig in das sie umgebende Gefühlschaos hineingerissen worden. Hank hatte sich in sein winziges »Arbeitszimmer« zurückgezogen, um seinen Pastor anzurufen und diesen Fremden zu unserer Beziehung zu befragen. Daraufhin war bei mir eine kleine Sicherung durchgebrannt. Er hatte Tolliver mitgenommen, und Tolliver war ebenso empört wie amüsiert wieder herausgekommen.

Seit unserem Abschied von Hank und Iona hatten wir unsere Hochzeit, die so unerwartet zur Sprache gekommen war, mit keinem Wort mehr erwähnt.

Komischerweise fühlte es sich gut an, nicht darüber zu reden. Wir waren in den Fitnessraum gegangen, um ein bisschen auf dem Laufband zu trainieren, und hatten uns die Wiederholung einer Law-and-Order-Folge angesehen. Wir hatten uns über die Gegenwart des jeweils anderen gefreut und darüber, endlich allein zu sein. Noch auf dem Laufband war mir aufgefallen, dass uns die Besuche bei unseren Schwestern immer so mitnahmen. Nach kurzer Zeit in dem beengten Haus mussten wir schon wieder den Rückzug antreten, uns sammeln und neue Kraft tanken.

Ich machte mir Sorgen über die Verstimmung zwischen meiner Tante und mir, bis mir klar wurde, dass zwischen Tolliver und mir alles in Ordnung war. Und das war die einzige Beziehung, die mir wirklich wichtig war, mal abgesehen von der, die ich zu meinen kleinen Schwestern aufbauen wollte.

Trotzdem hatte mich die unangenehme Situation am Vorabend immer wieder beschäftigt. Ich weiß, dass das naiv von mir war, aber immer wenn ich an Ionas Schwangerschaft dachte, war ich wieder schockiert. Ich hatte mitbekommen, wie meine Mutter mit meinen kleinen Schwestern schwanger war. Ich finde es noch heute erstaunlich, dass Gracie angesichts des Drogenkonsums meiner Mutter mit allem Drum und Dran zur Welt kam und keinerlei geistige oder neurologische Auffälligkeiten aufwies. Als meine Mutter mit Mariella schwanger war, hatte sie sich gerade noch beherrschen können, aber bei Gracie … Gracie war sehr krank, als sie zur Welt kam, und anschließend auch noch oft.

Am Vorabend hatte ich nach dem Laufbandtraining an diese schlimmen Zeiten zurückdenken müssen. Nachdem ich mich ausgeruht hatte, war ich mit dem Handstaubsauger zum Auto gegangen, um den Kofferraum sauber zu machen. Ich hatte eine Plastiktüte für den Müll mitgenommen. Wenn man wie wir ständig im Auto sitzt, verwandelt es sich schnell in eine kleine Müllhalde. Während ich alte Quittungen und leere Pappbecher in die Tüte warf und sämtliche Ecken aussaugte, machte ich mir Sorgen um meine Tante. Iona war, soweit ich wusste, gesund, und sie trank weder Alkohol noch nahm sie Drogen. Aber war sie nicht ein bisschen zu alt, um sich jetzt noch auf das Wagnis Mutterschaft einzulassen?

Während ich einerseits überlegte, ob es am Autobahnzubringer irgendwo eine Möglichkeit zum Ölwechsel gab, war ich andererseits damit beschäftigt, meine Ängste in Schach zu halten. Ich sagte mir, dass viele Frauen lange warten, bis sie eine Familie gründen. Und wenn sie sich dann finanziell oder beziehungstechnisch abgesichert fühlten, waren das auch bessere Voraussetzungen dafür, ein Kind großzuziehen. Leider wusste ich aus eigener Erfahrung, wie anstrengend es ist, für ein Kleinkind zu sorgen. Vielleicht konnte Iona ja aufhören zu arbeiten.

Während ich vorgab, Mark zuzuhören, und an dem Getränk nippte, das mir die Kellnerin gebracht hatte, ließ ich mir das Gespräch an Ionas Küchentisch noch einmal durch den Kopf gehen. Irgendetwas, das ich wahrgenommen hatte, hatte mich beunruhigt. Etwas, an das ich mich nach dem Aufhebens um unsere familiären Enthüllungen nicht mehr erinnern konnte.

Da sich Mark und Tolliver eindeutig zu lange in Einzelhandelsdiskussionen verloren, ging ich noch einmal alle Personen durch, die mit am Tisch gesessen hatten. Dann frischte ich meine Erinnerung an die Gegenstände auf dem Tisch auf. Schließlich gelang es mir, den Grund für meine Beunruhigung ausfindig zu machen. Ich wartete, bis die Brüder verstummten, bevor ich abrupt das Thema wechselte.

»Besuchst du die Mädchen oft, Mark?«, fragte ich.

»Nein«, sagte er und zog schuldbewusst den Kopf ein. »Von mir aus ist es ziemlich weit, und ich habe abartige Arbeitszeiten. Außerdem sorgt Iona immer dafür, dass ich mich dort unwohl fühle.« Er zuckte die Achseln. »Ehrlich gesagt interessieren sich die Mädchen nicht besonders für mich.«

Mark hatte den Wohnwagen verlassen, sobald er konnte, was auch wir sehr befürworteten. Er besuchte uns, wenn unsere Eltern nicht da oder weggetreten waren. Und er versorgte uns Gott sei Dank mit Lebensmitteln, sooft er konnte. Aber das bedeutete auch, dass er nicht so allgegenwärtig gewesen war wie wir, als die Mädchen noch klein waren. Er hatte nicht die Möglichkeit gehabt, eine wirkliche Bindung zu ihnen herzustellen. Cameron, Tolliver und ich hatten uns um Mariella und Gracie gekümmert. Wenn mich die bösen Erinnerungen im Schlaf heimsuchten und weckten, wurde mir wieder ganz schlecht vor Angst bei dem Gedanken, was den Mädchen alles hätte zustoßen können, wenn wir nicht gewesen wären. Doch das durfte und sollte die Mädchen nicht kümmern.

»Du hast also in letzter Zeit nicht mit Iona gesprochen.« Ich musste an die Gegenwart und an die Zukunft denken.

»Nein.« Mark sah mich fragend an.

»Weißt du, dass Iona von deinem Dad gehört hat?« Es war die Schrift meines Stiefvaters gewesen, die ich in dem Brief auf dem Poststapel entdeckt hatte!

Aus Mark würde nie ein guter Pokerspieler, denn er hatte eindeutig ein schlechtes Gewissen. Ich musste lächeln, als ich sah, wie erleichtert er war, dass die Kellnerin ausgerechnet jetzt kam, um unsere Bestellungen aufzunehmen.

Aber dieses Lächeln sollte mir bald vergehen. Ich wagte es nicht, Tolliver einen Seitenblick zuzuwerfen.

Als die Kellnerin verschwunden war, zeigte ich auf Mark, zum Zeichen, dass er mit der Sprache herausrücken sollte.

»Na ja, das wollte ich euch noch erzählen«, sagte er und starrte auf sein Besteck.

»Was wolltest du uns noch erzählen, Bruderherz?«, fragte Tolliver angestrengt höflich.

»Dad hat mir vor ein paar Wochen geschrieben«, sagte Mark. Oder beichtete es vielmehr. Dann wartete er, dass Tolliver ihm die Absolution erteilte, was dieser jedoch nicht vorhatte. Wir beide wussten, dass Mark den Brief beantwortet hatte, sonst würde er jetzt nicht so herumdrucksen.

»Dad lebt also«, sagte Tolliver, und jeder andere hätte seine Stimme für neutral gehalten.

»Ja, er hat einen Job. Er ist wieder clean, Tol.«

Mark hatte schon immer eine Schwäche für seinen Vater gehabt. Und er war stets unglaublich naiv, wenn es um seinen Vater ging.

»Seit wann ist Matthew eigentlich wieder aus dem Gefängnis?«, fragte ich, da Tolliver nicht auf Marks Bemerkung reagierte. Ich hatte es nie geschafft, Matthew Lang ›Vater‹ zu nennen.

»Äh, seit einem Monat«, sagte Mark. Er faltete den kleinen Papierserviettenring, der Besteck und Serviette zusammengehalten hatte. Dann entfaltete er ihn und faltete ihn erneut. Diesmal verkleinerte er ihn zu einem Rechteck. »Er ist wegen guter Führung vorzeitig entlassen worden. Nachdem ich ihm geantwortet habe, hat er mich angerufen und gesagt, dass er wieder Kontakt zu seiner Familie aufnehmen will.«

Ich war mir ziemlich sicher, dass Matthew rein zufälligerweise auch Geld und eine Übernachtungsgelegenheit wollte. Ob Mark seinem Vater tatsächlich glaubte? War er tatsächlich so blauäugig?

Tolliver sagte kein Wort.

»Hat er sich bei deinem Onkel Paul oder bei Tante Miriam gemeldet?«, bemühte ich mich, das Schweigen zu brechen.

Mark zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Mit denen spreche ich nie.«

Auch wenn es nicht wirklich stimmte, dass Tolliver und ich mit Ausnahme von Mark keine weiteren erwachsenen Verwandten mehr hatten, fühlte es sich so an. Matthew Langs Geschwister waren von seinem Verhalten so oft enttäuscht und abgestoßen worden, dass sie jeden Kontakt abgebrochen hatten. Dummerweise galt das auch für seine Kinder. Mark und Tolliver hätten Hilfe gebrauchen können – und das nicht zu knapp –, aber dann hätte man sich mit Matthew auseinandersetzen müssen, der schlichtweg zu schwierig und Angst einflößend für seine Geschwister war. Und so kam es, dass Tolliver Cousins hatte, die er kaum kannte.

Ich wusste nicht genau, was er von Pauls und Miriams Selbstschutzmaßnahmen hielt, aber er hatte in den letzten Jahren keinen Versuch unternommen, sie zu kontaktieren, während Matthew hinter Gittern saß. Ich glaube, das spricht für sich.

»Was macht Dad?«, fragte Tolliver. Seine Stimme war ungewöhnlich ruhig, aber er riss sich zusammen.

»Er arbeitet bei McDonald’s. Am Drive-In-Schalter, glaube ich. Vielleicht auch in der Küche.«

Bestimmt war Matthew Lang nicht der erste Anwalt mit Berufsverbot, der am Drive-In-Schalter von McDonald’s arbeitete. Aber angesichts der Tatsache, dass ich es in der gemeinsamen Zeit im Wohnwagen nicht ein einziges Mal erlebt hatte, dass er etwas kochte oder auch nur einen Teller spülte, war das wirklich eine Ironie des Schicksals. Aber so komisch, dass ich gelacht hätte, war es auch wieder nicht.

»Was ist eigentlich mit deinem Vater passiert, Harper?«, fragte Mark. »Cliff, hieß er nicht so?« Mark fand es wohl an der Zeit, darauf hinzuweisen, dass Matthew nicht der einzige Rabenvater war.

»Als ich das letzte Mal von ihm hörte, war er im Gefängniskrankenhaus«, sagte ich. »Ich glaube, er erkennt niemanden mehr.« Ich zuckte die Achseln.

Mark wirkte schockiert. Er strich geistesabwesend über den Tisch. »Besuchst du ihn nicht?« Er klang erstaunt über meine Herzlosigkeit, was ich wirklich nicht verstehen konnte.

»Wie bitte?«, sagte ich. »Warum sollte ich? Er hat sich nie um mich gekümmert. Da brauche ich mich auch nicht um ihn kümmern.«

»War das nicht anders, bevor er Drogen nahm? Hat er dir da nicht ein schönes Zuhause geboten?«

Ich begriff, dass es gar nicht wirklich um meinen Vater ging, trotzdem reagierte ich gereizt. »Ja«, gab ich zu. »Er und meine Mutter haben uns ein schönes Zuhause geboten. Aber als sie süchtig waren, haben sie kaum noch einen Gedanken an uns verschwendet.« Es gab viele Kinder, denen es schlechter ergangen war und die nicht einmal einen Wohnwagen mit einem Loch im Badezimmerboden besessen hatten. Und keine Geschwister, die auf sie aufpassten. Aber mir hatte es gereicht. Und später waren hässliche Dinge passiert, als meine Mutter und Tollivers Vater ihre gestörten »Freunde« eingeladen hatten. Ich weiß noch, wie wir Kinder eines Nachts unter dem Wohnwagen geschlafen hatten, weil wir uns so sehr vor dem fürchteten, was darin vorging.

Ich schüttelte mich. Bloß kein Mitleid.

»Woher weißt du das überhaupt mit Dad?«, fragte Mark. Er wirkte beleidigt. Mark war schon immer sehr leicht zu durchschauen. Im Moment war ich bei ihm eindeutig nicht sehr wohl gelitten.

»Ich habe einen Brief von ihm auf Ionas Tisch entdeckt. Ich brauchte eine Weile, bis mir einfiel, woher ich die Schrift kannte. Meinst du, er will Iona dazu bringen, dass sie ihm Kontakt zu den Mädchen erlaubt? Aber warum sollte er das wollen?«

»Vielleicht findet er, dass er seine Töchter sehen sollte«, sagte Mark und wurde ganz rot, ein untrügliches Zeichen dafür, dass er wütend war.

Tolliver und ich sahen unseren Bruder nur wortlos an.

»Ist ja gut«, sagte Mark und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. »Er hat es nicht verdient, sie zu sehen. Keine Ahnung, was er von Iona will. Als ich ihn traf, sagte er, dass er Tolliver sehen wolle. Er hat schließlich keine Adresse von ihm, an die er schreiben könnte.«

»Aus gutem Grund«, sagte Tolliver.

»Er ist auf Webseiten gestoßen, die ihre Arbeit verfolgen«, sagte Mark und wies mit dem Kinn auf mich, als säße ich ganz weit weg. »Er meinte, auf eurer Webseite sei eine E-Mail-Adresse angegeben, aber er wolle euch nicht darüber kontaktieren wie ein Fremder.«

Die Kellnerin kam mit unserem Essen, und wir absolvierten das kleine Ritual, Servietten zu verteilen und Salz- und Pfefferstreuer neu anzuordnen.

»Mark«, sagte Tolliver, »fällt dir auch nur ein einziger Grund ein, warum ich mir die Mühe machen sollte, diesen Mann wieder in mein Leben zu lassen? Oder in Harpers?«

»Er ist unser Vater«, sagte Mark hartnäckig. »Er ist alles, was wir noch haben.«

»Nein«, sagte Tolliver. »Harper ist auch noch da.«

»Aber sie gehört nicht zu unserer Familie.« Mark sah mich an, wenn auch diesmal entschuldigend.

»Sie ist meine Familie«, sagte Tolliver.

Mark erstarrte. »Willst du damit sagen, dass ich euch nicht in diesem Wohnwagen hätte zurücklassen dürfen? Dass ich bei euch hätte bleiben müssen? Dass ich euch im Stich gelassen habe?«

»Nein«, sagte Tolliver erstaunt. Wir tauschten einen flüchtigen Blick. »Ich will damit sagen, dass Harper und ich ein Paar sind.«

»Sie ist deine Stiefschwester«, sagte Mark.

»Und meine Freundin«, erwiderte Tolliver, während ich in meinen Salat hineinlächelte. Wie merkwürdig das klang.

Mark starrte uns mit offenem Mund an. »Wie bitte? Seit wann denn das? Ist das legal?«

»Erst seit Kurzem, und ja, es ist legal. Übrigens sind wir sehr glücklich miteinander, danke der Nachfrage.«

»Dann freue ich mich für euch«, sagte Mark. »Schön, dass ihr euch habt.« Doch sehr überzeugt wirkte er nicht. »Ist das nicht trotzdem ein bisschen komisch? Wir sind schließlich zusammen aufgewachsen.«

»So wie du und Cameron«, sagte ich

»Ich habe nie vergleichbare Gefühle für Cameron empfunden.«

»Na gut«, sagte ich. »Aber wir empfinden nun mal so. Wir haben es nicht darauf angelegt, es ist eben einfach passiert.« Ich lächelte Tolliver an und war auf einmal absurd glücklich.

Er lächelte zurück, und der Kreis schloss sich.

»Was also soll ich Dad sagen?«, fragte Mark. Er klang ein wenig verzweifelt. Keine Ahnung, wie Mark sich diese Unterhaltung vorgestellt hatte, aber bestimmt nicht so.

»Ich dachte, ich hätte mich klar genug ausgedrückt. Wir möchten ihn nicht sehen«, sagte Tolliver. »Ich möchte nicht, dass er sich bei mir meldet. Wenn er an unsere Webseite mailt, werde ich ihm nicht antworten. Das letzte Jahr dort im Wohnwagen – du kannst von Glück sagen, dass du das nicht miterlebt hast, Mark. Gott sei Dank warst du alt genug, fortzugehen und dein eigenes Leben zu leben. Ich habe dir nie vorgeworfen, dass du weggegangen bist, wenn du das meinst. Selbst wenn du im Wohnwagen geblieben wärst, hättest du nichts an unserer Situation ändern können. Außerdem hast du uns mit Lebensmitteln, Windeln und Geld versorgt, so gut du konntest. Wir waren froh, dass es einer von uns geschafft hatte, ein normales Leben zu führen. Mein Job bei Taco Bell allein hätte nicht ausgereicht.«

»Du wirfst mir also nicht vor, einfach davongelaufen zu sein?« Mark zersäbelte sein Steak, den Blick fest auf die Gabel geheftet.

»Nein, ich glaube vielmehr, dass du dein Leben gerettet hast.« Tolliver legte seine Gabel weg. Sein Gesicht war ernst. »Das glaube ich wirklich. Und Harper glaubt das auch.«

Nicht, dass Mark großen Wert auf meine Meinung gelegt hätte, aber ich nickte. Etwas anderes wäre mir dazu nie eingefallen.

Mark versuchte zu lachen, aber es war ein erbärmlicher Versuch. »Ich hatte nicht vor, so heftige Themen anzuschneiden«, sagte er.

»Dein Dad ist wieder aufgetaucht. Das ist nicht deine Schuld.« Ich lächelte ihn an, um ihn wieder aufzumuntern.

Wohl eher vergeblich. »Hast du deinen Dad wirklich nie besucht?«, fragte er mich. Er kam mit meiner Haltung nicht zurecht.

»Nein«, sagte ich. »Warum sollte ich dich deswegen anlügen?«

»Was hat er denn?«

»Keine Ahnung.«

»Weiß er, dass deine Mutter gestorben ist?«

»Keine Ahnung.«

»Weiß er das mit Cameron?«

Ich dachte einen Moment nach. »Ja, denn einige Reporter haben ihn ausfindig gemacht und mit ihm geredet, als sie vermisst wurde.«

»Und er hat dich nie …«

»Nein. Er saß im Gefängnis. Er hat mir ein paar Briefe geschrieben. Meine Pflegeeltern haben sie mir gegeben. Aber ich habe sie nicht beantwortet. Keine Ahnung, was dann mit ihm passiert ist. Dasselbe wie immer, nehme ich an. Ich habe nie mehr etwas von ihm oder über ihn gehört, bis er krank wurde. Da hat mir der Gefängnisseelsorger geschrieben.«

»Und du hast … einfach nicht darauf geantwortet?«

»Ich habe einfach nicht darauf geantwortet. Tolliver, darf ich von deiner Süßkartoffel probieren?«

»Klar«, sagte er und schob mir seinen Teller hin.

Er bestellt immer eine, wenn wir im Texas Roadhouse essen, und ich bekomme immer einen Bissen davon. Ich schluckte ihn hinunter. Es schmeckte nicht so gut wie sonst, aber das lag vermutlich nicht am Koch, sondern an Mark.

Der schüttelte den Kopf und starrte in seinen Teller. Dann sah er auf und schaute erst Tolliver und dann mich an. »Keine Ahnung, wie ihr das macht«, sagte er. »Wenn Dad etwas von mir will, muss ich darauf reagieren. Er ist mein Vater. Wenn meine Mutter noch lebte, wäre es genauso.«

»Wahrscheinlich sind wir einfach nicht so gut wie du, Mark«, sagte ich. Was sollte ich auch sonst sagen? Er wird dich ausquetschen und aussaugen. Er wird seine Versprechen und dir das Herz brechen.

»Ich nehme nicht an, dass ihr seit unserem letzten Gespräch was von der Polizei gehört habt?«, fragte Mark. »Oder von dieser Detektivin?«

»Du schreckst ja heute vor keinem heiklen Thema zurück, Mark«, meinte ich und musste mich schwer beherrschen, höflich zu bleiben.

»Ich muss euch das fragen. Irgendwann muss es doch Neuigkeiten geben.«

Ich ließ meinen Ärger sausen, denn manchmal denke ich dasselbe. »Es gibt keine Neuigkeiten. Eines Tages werde ich sie finden.« Das sage ich bereits seit Jahren, doch noch war es nicht dazu gekommen. Aber eines Tages, und zwar dann, wenn ich es am wenigsten erwartete – obwohl ich es eigentlich ständig erwartete –, würde ich ihre Nähe spüren, so wie ich die Nähe unzähliger anderer Toter gespürt hatte. Ich würde Cameron finden, und dann würde ich wissen, was ihr an jenem Tag zugestoßen war.

Sie war allein nach Hause gegangen, nachdem sie geholfen hatte, die Highschool für den Abschlussball zu dekorieren. Ich war damals in ein Kind verwandelt worden, für das so etwas nicht mehr infrage kam. Daran war der Blitzschlag schuld. Ich musste mich nach wie vor an mein neues Ich gewöhnen und hatte eine Riesenangst vor meiner neuen, seltsamen Gabe. Ich musste mich noch von den körperlichen Folgen erholen. Ich humpelte und wurde schnell müde. An jenem Tag hatte ich wieder eine meiner furchtbaren Migräneattacken gehabt.

Es war Frühling gewesen, und wir erlebten gerade einen Kälteeinbruch. In der Nacht davor war die Temperatur auf unter vier Grad gefallen. An jenem Nachmittag hatte es nur fünfzehn Grad gehabt. Cameron hatte schwarze Strumpfhosen, einen schwarz-weiß karierten Schottenrock und einen weißen Rolli getragen. Sie sah toll aus. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass sie dieses Outfit aus der Altkleidersammlung hatte. Ihr blondes langes Haar glänzte. Meine Schwester Cameron hatte Sommersprossen. Sie hasste sie. Und sie schrieb nur gute Noten.

Während sich Mark und Tolliver unterhielten, versuchte ich mir vorzustellen, wie Cameron jetzt wohl aussah. Wäre sie noch blond? Hätte sie zugenommen? Sie war klein gewesen, kleiner als ich, hatte dünne Arme und Beine und einen eisernen Willen gehabt. Sie war eine gute Leichtathletin gewesen, aber als sie eine Zeitung nach ihrem Verschwinden einen »Leichtathletikstar« genannt hatte, hatten wir nur die Augen verdreht.

Meine Schwester war keine Heilige gewesen. Ich hatte Cameron besser gekannt als alle anderen. Sie war stolz. Sie konnte ein Geheimnis bewahren, bis es nicht mehr anders ging. Sie war klug und lernte fleißig. Manchmal hasste sie unsere Situation, den Verlust unseres Wohlstands, so sehr, dass sie laut schrie. Sie hasste unsere Mutter Laurel. Sie hasste sie leidenschaftlich dafür, uns mit in die Tiefe gerissen zu haben. Gleichzeitig liebte Cameron unsere Mutter.

Matthew, Mutters zweiten Mann, aber x-ten »Freund«, konnte sie nicht ausstehen. Cameron hing der Illusion an, dass unser Vater eines Tages wieder er selbst würde – zu dem Menschen, der er vor seiner Drogensucht gewesen war. Sie glaubte, dass er eines Tages vor dem heruntergekommenen Wohnwagen stehen und uns mitnehmen würde. Dann würden wir wieder in einem richtigen Haus leben, und andere würden unsere Kleider waschen und das Essen kochen. Unser Vater würde zu Lehrersprechstunden kommen und am Abendbrottisch mit uns besprechen, auf welches College wir gehen könnten.

Das war Camerons Fantasie, ihre positive Fantasie. Sie hatte auch düstere Fantasien, ziemlich düstere. Eines Morgens erzählte sie mir auf dem Schulweg, dass sie sich ausgemalt habe, einer der Dealer unserer Mutter würde in unserer Abwesenheit vor dem Wohnwagen auftauchen, unsere Mutter und unseren Stiefvater umbringen. Anschließend würden wir zu einer netten Pflegefamilie kommen, nach der Highschool einen guten Job finden, eine Wohnung mieten und studieren.

So hatten Camerons Träume ausgesehen. Was sie sich wohl für die Zeit danach vorgestellt hatte? Hätten wir alle einen netten, wohlhabenden Mann kennengelernt und würden jetzt glücklich und zufrieden mit ihm zusammen sein bis an unser Lebensende? Oder wären wir für immer in unserer bescheidenen, aber ordentlichen Wohnung geblieben, hätten unsere neuen Sachen getragen (ein wesentlicher Bestandteil von Camerons Träumen) und das gute Essen genossen, das wir inzwischen zubereiten konnten?

»Schatz?«, sagte Tolliver. Ich drehte mich verblüfft zu ihm um. So hatte er mich noch nie genannt.

»Möchtest du ein Dessert?«, fragte er. Ich merkte, dass die Kellnerin wartete und angestrengt lächelte, um uns zu zeigen, wie unglaublich geduldig sie war.

Ich aß so gut wie nie ein Dessert. »Nein, danke«, sagte ich. Doch zu allem Überfluss musste Mark einen Pie bestellen, und Tolliver leistete ihm Gesellschaft, indem er einen Kaffe nahm. Ich wäre gern gegangen und konnte es kaum erwarten, meinen Erinnerungen zu entfliehen. Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her, suchte eine bequemere Position und unterdrückte ein Seufzen.

Als Tolliver und Mark anfingen, über Computer zu reden, konnte ich wieder meinen eigenen Gedanken nachhängen.

Aber alles, woran ich denken konnte, war Cameron.

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