13

Ich war im »Trainingsraum« und joggte auf dem Laufband auf der Stelle – ein eher symbolisches Zugeständnis des Hotels an das Thema Fitness. Zumindest befand ich mich in einem abgeschlossenen Bereich, was im Moment Sicherheit bedeutete. Ich war früh aufgewacht und hörte an Tollivers Atmung, dass er noch tief im Land der Träume war.

Ich konnte inzwischen verstehen, warum diese schrecklichen Dinge um mich herum geschahen, wusste aber nicht, was ich dagegen tun sollte. Ich hatte nichts in der Hand, womit ich zur Polizei gehen konnte, nicht das Geringste. Und die Joyces waren reich und hatten gute Beziehungen. Ich wusste nicht, ob alle in die Sache verwickelt waren oder ob der Schütze und der Mörder (denn meiner Meinung nach waren sowohl Maria Parish als auch Rich Joyce ermordet worden) unabhängig voneinander agierten oder ob es ein und dieselbe Person war. Die drei Joyces und Lizzies Freund konnten alle mit Waffen umgehen, da war ich mir sicher. Vielleicht dachte ich in Klischees, doch ein Rancher wie Rich Joyce würde seinen Enkelinnen bestimmt nicht das Rodeoreiten beibringen und das Schießen vernachlässigen. Dasselbe galt natürlich erst recht für Drex und den Freund. Am wenigsten wusste ich über Chip Moseley. Er schien gut zu Lizzie zu passen. Er war genauso schlank und wettergegerbt und wirkte selbstbewusst und bodenständig. Er hatte mich skeptisch beäugt, aber das taten schließlich die meisten Leute.

Ich war schweißnass und begann langsam mit dem Abkühlen. Ich lief noch zehn Minuten in gemächlichem Tempo, trocknete mir dann das Gesicht mit dem Handtuch ab und kehrte auf unser Zimmer zurück. So langsam fing ich an, Hotelzimmer zu hassen. Ich hielt mich für keine gute Hausfrau, wünschte mir aber ein Zuhause, ein richtiges Zuhause. Ich wünschte mir einen Bettüberwurf, der nicht aus Kunstfasern bestand. Ich wünschte mir Bettwäsche, in der nur ich schlief. Ich wünschte mir, meine Kleidung zusammengefaltet aus dem Schrank holen zu können, statt in einem Koffer wühlen zu müssen. Ich wünschte mir ein Bücherregal und keinen Pappkarton. In unserer Wohnung gab es das alles, aber selbst sie wirkte nicht wie ein echtes Zuhause, sondern war einfach nur ein besseres Hotelzimmer.

Im Lift atmete ich tief durch und verdrängte diese Gedanken in einen Winkel meines Gedächtnisses. Dort lagerten viele Erinnerungen, aber jetzt, wo jemand Jagd auf uns machte, wollte ich mich durch nichts ablenken lassen. Da Tolliver außer Gefecht gesetzt war, musste ich doppelt vorsichtig sein.

Rudy Flemmons stand vor unserem Zimmer und wollte gerade anklopfen.

»Detective!«, rief ich. »Warten Sie einen Moment.«

Er erstarrte mit erhobener Faust, und ich sah sofort, dass etwas nicht stimmte.

Ich trat näher und musterte sein Gesicht beziehungsweise sein Profil. Er drehte sich nicht zu mir um.

»Oh nein!«, keuchte ich. »Kommen Sie, gehen wir hinein.« Ich ging an ihm vorbei, um die Tür aufzumachen, dann betraten wir das Zimmer. Ich machte das Licht an und hoffte, Tolliver nicht dadurch zu wecken. Doch dann sah ich, dass Licht im Bad brannte, und wusste, dass er wach war. Ich klopfte an die Tür. »Hallo, bist du da drin? Wir haben Besuch.«

»So früh?«, fragte er, und ich wusste, dass er schlecht geschlafen hatte.

»Komm da raus, mein Schatz«, sagte ich und hoffte, dass er die Botschaft begriff.

Das tat er und kam keine halbe Minute später ins Wohnzimmer. An der Art, wie er sich bewegte, sah ich, dass es ihm nicht gut ging. Ich beeilte mich, ihm Orangensaft aus unserem kleinen Kühlschrank zu holen. Rudy Flemmons brauchte ich offensichtlich keinen anzubieten, so sehr war er in sich zusammengesunken. Entweder er war tieftraurig oder aber extrem besorgt. Um das unterscheiden zu können, hätte ich ihn besser kennen müssen. Ich sah nur, dass es ihm schlecht ging.

Das war bestimmt kein schöner Start in den Tag für Tolliver, der sich auf dem Sofa zurücklehnte.

»Erzählen Sie uns, warum Sie hier sind«, sagte Tolliver.

»Ich glaube, Victoria ist tot«, verkündete Rudy Flemmons. »Ihr Wagen wurde heute Morgen gefunden, auf einem Friedhof in Garland. Ihre Handtasche war noch darin.«

»Aber ihre Leiche haben Sie nicht gefunden?«, fragte ich.

»Nein. Ich wollte Sie bitten, sich dort einmal umzusehen.«

Das war sowohl schrecklich als auch ungewohnt. Wegen seiner offensichtlichen Trauer und unserer Freundschaft mit Victoria dachte ich gar nicht an Geld. Ich dachte an die anderen Cops da draußen, die mein Erscheinen am Tatort als extreme Panikreaktion von Rudy Flemmons deuten würden.

Aber es gab nicht viel, was ich dazu sagen konnte, außer: »Geben Sie mir zehn Minuten Zeit.«

Ich sprang unter die Dusche, seifte mich ein und spülte mich ab. Ich putzte mir die Zähne und zog mich an. Ich schlüpfte in meine Stiefel – kein modisches Modell mit hohen Absätzen, sondern flache, wasserdichte Uggs. Es hatte viel geregnet, und ich wollte unangenehme Überraschungen vermeiden. Obwohl ich noch keinen Wetterbericht gesehen oder gelesen hatte, war mir aufgefallen, dass Rudy eine dicke Jacke trug. Dementsprechend warm zog ich mich auch an.

Dass Tolliver mitkam, war ausgeschlossen. Das wurde mir erst so richtig bewusst, als ich zur Tür ging. Schlechtes Wetter, ein Friedhof: nicht gerade ideale Bedingungen, um sich von einer Schusswunde zu erholen.

»Ich bin so schnell wie möglich wieder zurück«, sagte ich in plötzlicher Panik. »Du rührst dich hier nicht von der Stelle. Sprich, du gehst wieder ins Bett und siehst fern. Wenn irgendwas ist, ruf ich dich an, einverstanden?«

Auch Tolliver dämmerte inzwischen, dass ich allein zu einem Auftrag unterwegs war. »Nimm einen Schokoriegel aus meiner Jackentasche«, sagte er, und ich gehorchte. »Tu nichts, was dich in Gefahr bringt«, befahl er streng.

»Mach dir keine Sorgen«, erwiderte ich und sagte Rudy Flemmons anschließend, dass ich so weit war, obwohl das kein bisschen der Wahrheit entsprach.

Während der Fahrt durch Nieselregen und dichten Verkehr schwiegen wir. Rudy kündigte unsere Ankunft über Funk an, mehr wurde während der nächsten Viertelstunde nicht gesprochen.

»Ich weiß, dass Sie dafür Geld nehmen«, sagte er plötzlich, während er am Ende einer langen Autoschlange zum Stehen kam, auf einer Straße, die durch einen riesigen Friedhof führte. Es war einer von der modernen Sorte, auf dem Grabsteine verboten sind. Ich wurde regelrecht mit den Schwingungen der Leichen bombardiert, sie kamen aus allen Richtungen. Sie waren ausnahmslos sehr intensiv, da es sich um einen relativ neuen Friedhof handelte. Die älteste Bestattung lag vielleicht zwanzig Jahre zurück.

»Kein Problem, bitte lassen Sie uns nicht mehr davon sprechen«, sagte ich und stieg aus. Das Letzte, was ich jetzt wollte, war über Geld reden, während ich nach der Freundin dieses trauernden Mannes suchte.

Man sollte meinen, dass es einfacher ist, wenn man die Person kennt, aber dem ist nicht so. Ansonsten hätte ich meine Schwester längst gefunden. Die Toten ringen mit gleicher Intensität um Aufmerksamkeit, und wenn Victoria irgendwo hier draußen lag, war sie einfach nur eine Stimme in diesem Chor. Es fiel mir schwer, die Gräber zu überhören, die um meine Aufmerksamkeit buhlten, und es war unglaublich schmerzhaft, ohne Tolliver hier zu sein. Ich besaß keinen Rückhalt.

Benutz deinen gesunden Menschenverstand!, ermahnte ich mich. Ich blieb so nahe an dem verlassenen Wagen wie möglich. Ein Techniker von der Spurensicherung untersuchte die Reifenabdrücke, allerdings so unsystematisch, dass die gröbste Arbeit bestimmt längst erledigt war. Polizisten suchten den Friedhof ab, der sich über hügeliges Gelände erstreckte. Er war so angelegt wie viele moderne Friedhöfe: Es gab verschiedene Areale, die durch eine große Statue in der Mitte markiert wurden. Zum Beispiel durch einen Engel oder ein Kreuz, welche die Besucher zum richtigen Grab führen sollten. Ich wusste nicht, welche Methode hier vorherrschte: ob die Gräber beginnend von der Skulptur in der Mitte angelegt worden waren oder ob man sich ein bestimmtes Grab in einem bestimmten Areal aussuchen musste. Die Gräber lagen dicht an dicht. In der Ferne erkannte ich den Schuppen eines Friedhofgärtners und eine Kapelle – ein kleiner Marmorbau, der wahrscheinlich ein Mausoleum und eine Urnenhalle beherbergte. Auf der anderen Seite des Friedhofs fand gerade eine Beerdigung statt, während die Suche nach Victoria Flores weiterhin voll im Gange war.

Ich hoffte inständig, dass mich niemand bemerken würde, schloss die Augen und streckte meine Fühler aus. Es gab so viele Signale, die ich durchgehen, so viele Rufe, denen ich Gehör schenken musste, dass ich zitterte. Aber ich ließ nicht locker.

Frisch, frischer, am frischesten: Ich suchte nach den frischesten Rufen, nach etwas Brandneuem. Also nach jemandem, der erst gestern oder vor wenigen Stunden gestorben war. Hier, direkt vor mir. Ich öffnete die Augen und lief zu einem Grab, auf dem noch Blumenschmuck lag. Ich schloss die Augen erneut und streckte meine Fühler aus.

»Nein«, murmelte ich, »hier ist sie nicht.« Ich wunderte mich nicht, als ich den Detective neben mir entdeckte. »Das ist Brandon Barstow, der bei einem Autounfall starb«, erklärte ich ihm. Ich streckte meine Fühler erneut aus. Ich spürte einen Sog aus dem Schuppen des Friedhofsgärtners. Er war noch ganz frisch.

»Los geht’s!«, sagte ich zu niemandem im Besonderen und setzte mich in Bewegung. Ich achtete auf meine Schritte, denn wenn ich erst mal eine Spur aufgenommen habe, vergesse ich schnell, wo ich hintrete. Rudy Flemmons befand sich direkt hinter mir, aber er wusste nicht, wie er mir helfen konnte. Das war in Ordnung, ich schaffte es auch allein.

Das Gras war nass, und die Kiefernnadeln sorgten dafür, dass der Boden an manchen Stellen rutschig war. Ich wusste, wo ich hinlief, jetzt gab es keinen Zweifel mehr.

»Dort drüben wurde schon alles abgesucht«, sagte der Detective.

»Trotzdem, da ist jemand«, erwiderte ich. Ich wusste schon, wie diese Suche ausgehen würde. »Man wird mir unterstellen, dass ich irgendwie davon wusste«, murmelte ich. »Und dann wird man versuchen, mich festzuhalten.«

Die Leiche befand sich nicht in dem Schuppen und auch nicht gleich dahinter. Nach dem Schuppen fiel der Boden steil ab zu einem Entwässerungsgraben, wo eine dünne Erd- und Grasschicht eine unterirdische Wasserleitung bedeckte. Victoria lag in dem Wasserrohr. Man hatte ihre Leiche dort hineingestopft und so allen Blicken entzogen. Aber ich wusste, dass sie dort war, genauso wie ich wusste, dass sie angeschossen worden und verblutet war.

Rudy sah verständnislos nach unten, und ich zeigte auf die Öffnung des Rohrs. Es gab nichts, was ich hätte sagen können. Er stolperte den Abhang hinunter und fiel auf die Knie. Er beugte sich vor und sah hinein.

Dann schrie er.

»Hier! Hier!«, brüllte er, und alle kamen angerannt. Jeder Polizist, der vor Ort war, einschließlich des Kerls, der den Wagen untersucht hatte. Rudy schien zu glauben, dass sie vielleicht noch am Leben war. Aber da täuschte er sich, er wollte es einfach nicht wahrhaben. Ich finde nämlich keine Lebenden.

Ich zog mich zurück und ging zu Victorias verlassenem Auto. Der Kofferraum stand offen. Ich ertappte mich dabei, wie ich hineinstarrte und vorgab, mich nicht näher dafür zu interessieren. Darin lagen Mappen, viele einzelne und einige, die von einem breiten Gummiband zusammengehalten wurden. Auf dem obersten Bündel stand »Lizzie Joyce«, und ehe ich wusste, was ich tat, griff ich danach und legte es in Rudys Wagen. Es waren noch genügend andere Mappen übrig, redete ich mir ein – und auch, dass wir es uns schuldig waren, unsere Feinde zu kennen.

Im Nachhinein wurde auch mir klar, dass das falsch gewesen war. Ich hätte das lieber der Polizei überlassen sollen. Aber in diesem Moment fand ich es völlig selbstverständlich, ja, hielt es für einen besonders schlauen Schachzug. Mehr kann ich zu meiner Verteidigung nicht vorbringen. Einer dieser Leute hatte auf uns geschossen, und ich musste herausfinden, wer von ihnen das höchstwahrscheinlich gewesen war.

Ich stieg in Rudys Wagen. Er hatte eine alte Jacke auf den Rücksitz geworfen, und ich nahm sie nach vorn und hüllte mich darin ein, als wäre mir kalt, was gar nicht mal gelogen war. Nach ein paar Minuten kam ein Uniformierter angelaufen und sagte, er würde mich ins Hotel zurückbringen. Ich hatte die Jacke angezogen, sie bis oben hin geschlossen und die Mappen darunter versteckt. Ich verließ Rudys Wagen und stieg in den Streifenwagen.

Der Uniformierte, ein Mann um die dreißig, hatte einen kahl rasierten Schädel und ein finsteres Gesicht, was angesichts der Umstände nicht weiter verwunderlich war. Während der Fahrt machte er genau eine Bemerkung: »Damit das klar ist: Wir haben sie gefunden«, sagte er und warf mir einen Blick zu, der mich wohl das Fürchten lehren sollte. Es fiel mir nicht schwer, zustimmend zu nicken. Ich musste richtig eingeschüchtert gewirkt haben, denn anschließend schwieg er.

Ich stieg recht unbeholfen aus, wegen der Mappen. Er muss sich gefragt haben, ob ich irgendwie behindert bin, aber das machte ihn auch nicht zuvorkommender. Mit verschränkten Armen betrat ich das Hotel und war froh über die sich automatisch öffnenden Türen, die es mir erlaubten, meine Hände an Ort und Stelle zu lassen und die Mappen in den Lift zu schmuggeln.

Meine Hände waren kalt, und ich tat mich schwer, nach meiner Schlüsselkarte zu greifen und diese in den dafür vorgesehenen Schlitz zu stecken. Aber die Tür ging auf, und ich taumelte ins Zimmer.

»Was ist passiert?«, rief Tolliver sofort, und ich eilte ins Schlafzimmer. Das Zimmermädchen war da gewesen und hatte das Bett gemacht. Er trug einen sauberen Schlafanzug und lag auf dem Bettüberwurf, wobei er sich mit der Sofadecke zugedeckt hatte. Die Vorhänge waren aufgezogen und gaben den Blick auf den erschreckend grauen Himmel frei. Während ich im Lift gewesen war, hatte es zu regnen begonnen. Das würde die Arbeit auf dem Friedhof verkomplizieren. Dicke Tropfen prasselten gegen die Fensterscheiben. Ich ging zum Bett, beugte mich darüber und zog Rudy Flemmons alte Jacke auf. Die Mappen plumpsten laut auf den Bettüberwurf.

»Was hast du getan?«, fragte Tolliver weniger vorwurfsvoll als neugierig. Er machte den Fernseher aus und griff nach dem Bündel, aber ich war schneller. Ich löste das Gummiband, legte es für nachher beiseite und reichte ihm dann die oberste Mappe, auf der »Lizzie Joyce« stand.

»Sie war also tatsächlich dort«, sagte er. »Verdammt, sie hat ihre kleine Tochter geliebt. Die Sache nimmt immer schlimmere Formen an. Hat es lange gedauert, bis du sie gefunden hast?«

»Zehn Minuten«, sagte ich. »Ein Streifenpolizist hat mich zurückgebracht.«

»Du hast die Mappen gestohlen?«

»Ja. Aus Victorias Kofferraum.«

»Wie wahrscheinlich ist es, dass sie danach suchen werden?«

»Ich weiß nicht, wie genau sie hingesehen haben, bevor alle losgerannt sind, in der Hoffnung, sie wiederzubeleben. Vielleicht hatten sie schon Fotos gemacht.« Ich zuckte die Achseln. Ich konnte es nicht mehr rückgängig machen.

»Nach was suchen wir?«, fragte er.

»Wir versuchen herauszufinden, wer von diesen Leuten höchstwahrscheinlich auf dich geschossen hat.«

»Dann hast du meine ungeteilte Unterstützung«, sagte er.

Ich zog meine nassen, schlammbespritzten Stiefel aus und kletterte zu ihm ins Bett. Dann begann ich mit Kates Mappe, während er sich mit Lizzies beschäftigte.

Eine Stunde später musste ich eine Pause einlegen und den Zimmerservice bestellen, damit er uns Kaffee und etwas zu essen brachte. Wir hatten noch nicht gefrühstückt, und es war schon fast elf.

Wir hatten viel gelernt.

»Sie war wirklich gut«, sagte ich. Ich hatte Victoria vorher nie besonders zu schätzen gewusst, aber jetzt tat ich es. In kürzester Zeit hatte sie unzählige Informationen zusammengetragen und viele Leute befragt.

Tolliver war dankbar für eine Tasse Kaffee und freute sich auch über den Vollkornmuffin. Ich bestrich ihn mit Butter, ein ungewohnter Luxus. Er kaute, schluckte und nippte erneut an seinem Kaffee. »Meine Güte, schmeckt das gut nach dem Krankenhausfraß«, sagte er. »Lizzie Joyce ist eine schillernde Persönlichkeit, noch schillernder als auf dem Friedhof. Sie ist wirklich Champion im Tonnenrennen, und das gleich mehrfach. Außerdem hat sie öfter im Rodeo gewonnen. Schon als Teenager war sie Rodeo Queen, und zwar die des ganzen Bundesstaates. Außerdem hat sie die Highschool mit Auszeichnung abgeschlossen und war Dreizehnte ihres Jahrgangs an der Baylor University.«

Ich hatte keine Ahnung, aus wie vielen Leuten ein Jahrgang an der Baylor University besteht, aber ich war schwer beeindruckt. »Was hat sie denn studiert? Ich bin bloß neugierig.«

»Betriebswirtschaft«, sagte er. »Ihr Dad hatte sie bereits zur Nachfolgerin auserkoren. Den Joyces gehört die riesige Ranch, aber der Großteil des Geldes stammt aus dem Öl-Boom. Danach wurde es investiert, viel davon in Übersee. Es gibt gleich mehrere Steuerberater, die sich ausschließlich um die Firmenbeteiligungen der Joyces kümmern. Laut Victoria behalten sie sich gegenseitig im Auge, sodass sich keiner von ihnen Betrügereien erlauben kann, und wenn, nicht ungeschoren damit davonkommt. Die Joyces besitzen außerdem hohe Anteile an einer Anwaltskanzlei, die ein Onkel gegründet hat.«

»Und was machen sie?«, fragte ich,

Tolliver verstand sofort, was ich meinte, was im Grunde erstaunlich war.

»Sie spenden viel für die Krebsforschung, denn daran ist die Frau von Rich Joyce gestorben. Sie unterhalten eine Ranch für behinderte Kinder. Das ist ihre größte Wohltätigkeitsorganisation. Sie ist fünf Monate im Jahr geöffnet, und die Joyces bezahlen die Angestellten, obwohl sie auch Spenden annehmen. Dann ist da noch die Hauptranch, die von Lizzies Freund Chip Moseley geleitet wird. Dort leben sie, wenn sie nicht gerade in ihren Apartments in Dallas oder Houston sind. Die Unterlagen über den Freund habe ich noch nicht gelesen.«

»Ich komme gleich dazu«, sagte ich. »Kate, auch Katie genannt, ist nicht so klug wie ihre Schwester. Sie ist von der Texas A&M University geflogen, nachdem sie sich vor allem als wilde Partygängerin hervorgetan hat. Als Teenager wurde sie einige Male betrunken am Steuer erwischt, und sie hat das Wagenfenster eines Freundes zertrümmert, nachdem sie sich getrennt hatten. Seitdem scheint sie ein wenig erwachsener geworden zu sein. Sie arbeitet auf der kleinen Ranch, die für die behinderten Kinder gegründet wurde. Sie organisiert Fundraising-Veranstaltungen und macht Einkäufe. Ach ja, sie hat auch ein freiwilliges Praktikum im Zoo absolviert.«

Das klang wirklich langweilig.

Chip Moseley war da schon deutlich interessanter. Er hatte sich ganz schön hochgearbeitet. Seine Eltern waren gestorben, als er noch klein war. Danach war er in eine Pflegefamilie gekommen, und zwar auf eine Ranch. Er hatte das Rodeoreiten gelernt und sich darin einen Namen gemacht. Gleich nach der Highschool hatte er einen Job auf der Joyce-Ranch bekommen. Er hatte sich hochgeackert, die Abendschule besucht und managte jetzt den Viehhandel der Ranch. Er hatte schon eine Ehe hinter sich und war jetzt seit sechs Jahren mit Lizzie zusammen. Abgesehen von einem kleinen Gesetzeskonflikt mit Anfang zwanzig besaß er keinerlei Vorstrafen. Er war mal in eine Kneipenschlägerei in Texarkana verwickelt gewesen. Zu meiner Überraschung kannte ich den Namen des Lokals. Meine Mutter und mein Stiefvater waren dort manchmal hingegangen.

Das Lesen hatte mich ermüdet und ich ließ mich zurück auf mein Kissen sinken. Tolliver erzählte mir, was in Victorias Unterlagen über Drex stand, obwohl ich mir das meiste schon nach zehn Minuten in Drex’ Gesellschaft zusammengereimt hatte. Der einzige männliche Nachkomme der Joyces war die totale Enttäuschung. Er hatte seine Freundin von der Highschool geschwängert, und die beiden waren zusammen abgehauen, um zu heiraten. Ein halbes Jahr später hatten sie sich wieder scheiden lassen. Drex zahlte Unterhalt für das Kind und seine Mutter. Mit achtzehn war er zu den Marines gegangen, um seinem Vater eins auszuwischen. Dort hatte er die Grundausbildung absolviert, bis er ein Magengeschwür bekam. Vielleicht hatte sich ein bestehendes Magengeschwür auch nur verschlechtert. Wie dem auch sei, er war ehrenhaft entlassen worden und hatte mal dies, mal jenes auf der großen Ranch seines Vaters erledigt. Phasenweise hatte er auch mit den behinderten Kindern gearbeitet und im Büro einer Firma, die dem Freund seines Vaters gehörte. Was genau er dort getan hatte, ging nicht aus den Unterlagen hervor.

»Wahrscheinlich nicht viel, und wahrscheinlich nicht sehr erfolgreich«, sagte Tolliver. »Ich glaube, er hat nie studiert.«

»Er tut mir leid«, sagte ich und gähnte. »Wie alt wohl Victorias Mom ist? Ob sie das Kind allein großziehen kann? Wer ist der Vater? Hat Victoria dir das jemals erzählt?«

»Ich habe mich schon mal gefragt, ob es mein Vater ist«, sagte Tolliver, und ich erstarrte mitten in einem neuen Gähnanfall.

»Du machst keine Witze«, stellte ich fest. »Du meinst das ernst.«

»Ja«, erwiderte er. »Victoria war nach Camerons Verschwinden häufig bei uns. Aber als ich der Sache nachging, stimmte das Timing nicht. Ich glaube, er saß schon im Gefängnis, als das Kind gezeugt wurde. Ich habe noch nie verstehen können, was Frauen an ihm finden.«

»Ich ganz bestimmt nichts«, sagte ich vollkommen aufrichtig.

»Zum Glück. Du magst größere, schlankere Männer, stimmt’s?«

»Und ob ich das tue!«

Wir fassten uns bei den Händen, und ich schmiegte mich enger an Tolliver. Wir schwiegen eine Weile und sahen zu, wie der Regen gegen das Fenster prasselte. Der Himmel hatte beschlossen, sein Trauerkleid anzulegen. Mir taten alle leid, die noch am Tatort waren. Im Grunde mussten sie mir dankbar sein, dass ich Victoria so schnell gefunden hatte – gerade noch rechtzeitig, dass sie ihre Leiche aus dem Abflussrohr bergen konnten. Ich musste an die Joyces denken, was sie für typische reiche Gören geworden waren. Sie taten auch Gutes, aber ich interessierte mich für die bösen Dinge. Ich fand es vielsagend, dass keiner von ihnen glücklich verheiratet war – obwohl sie alle im entsprechenden Alter waren. Dem einen oder anderen würde es vielleicht doch noch beschieden sein. Ich dachte gerade an die Binsenweisheit, dass Geld nicht glücklich macht, als mir auffiel, dass Mark, Tolliver, Cameron und ich auch nicht gerade ein erfülltes Leben führten. Cameron war Gott weiß wo, Mark hatte meines Wissens noch nie eine ernst zu nehmende Freundin gehabt, und Tolliver und ich …

»Möchtest du wirklich heiraten?«, fragte ich.

»Ja, das möchte ich«, sagte Tolliver, ohne eine Sekunde zu zögern. »Ich würde dich gleich morgen heiraten, wenn das ginge. Du zweifelst doch hoffentlich nicht daran? Oder bist du dir nicht sicher, ob wir zusammenpassen?«

»Nein«, sagte ich. »Ich habe keinerlei Zweifel. Du bist wirklich ganz anders als die beziehungsunfähigen Typen aus den Zeitschriften, Tolliver.«

»Du bist auch ganz anders als die Frauen in den Männermagazinen. Und das ist jetzt als Kompliment gemeint.«

»Wir kennen uns eben«, sagte ich. »Auch unsere größten Schwächen. Ich kann mir ein Leben ohne dich gar nicht vorstellen. Klinge ich jetzt wie eine Klette? Ich kann versuchen, unabhängiger zu werden.«

»Du bist unabhängig. Du triffst Tag für Tag zahlreiche Entscheidungen«, sagte er. »Mir fällt es bloß leichter, mich um das Organisatorische zu kümmern, bevor du machst, was du am besten kannst. Anschließend reisen wir weiter, und ich bin wieder dran.«

Irgendwie klang das nicht sehr gleichberechtigt.

»Wo ist Manfred?«, fragte er plötzlich aus heiterem Himmel.

»Puh, keine Ahnung. Ich soll ihn anrufen, wenn ich ihn brauche. Er hat mir nicht verraten, wohin er fährt und was er dort vorhat.«

»Er hat wirklich eine Schwäche für dich.«

»Ja, ich weiß.«

»Und du? Wenn ich nicht wäre, würdest du dich dann mit dem Piercingwunder zusammentun?«

Er sagte es in einem neckenden Ton, erwartete aber eine Antwort von mir. Ich war nicht so dumm, ernsthaft darauf einzugehen. »Spinnst du? Das wäre wie ein Hamburger im Vergleich zu einem Steak«, sagte ich loyal. Wobei es allerdings Tage gab, an denen ich wirklich Lust auf Hamburger hatte. Und es würde bestimmt auch Zeiten geben, in denen Tolliver anderen Frauen hinterhersah. Wenn sich das jedoch alles auf Blicke beschränkte, durfte ich mir auch welche gönnen. Ich wusste, wen ich liebte.

»Nun, nach Durchsicht der Unterlagen – wen siehst du am ehesten in der Rolle des Schützen?«, fragte er munter.

»Es könnte jeder von ihnen gewesen sein«, erwiderte ich. »Eine deprimierende Erkenntnis. Aber angesichts des Risikos, einen großen Teil ihres Vermögens zu verlieren, könnte jeder von ihnen beschlossen haben, dass es niemals so weit kommen darf. Sogar Chip Moseley. Er rechnet sich bestimmt aus, Lizzie zu heiraten. Und es wäre zu viel verlangt, dabei nicht auch an das viele Geld zu denken. Er dürfte den Umfang des Joyce’schen Vermögens besser kennen als die meisten Freunde, da er die große Ranch führt. Ich wette, er hat auch Einblick in die restlichen Finanzen.«

»Ja, bestimmt. Ich neige dazu, Lizzie auszuschließen, da sie diejenige war, die dich beauftragt hat. Sie musste damit rechnen, dass du dein Handwerk beherrschst. Wenn sie die Mörderin wäre, wäre sie dieses Risiko niemals eingegangen. Dann hätte sie auch gewusst, dass der Tod ihres Großvaters kein natürlicher war, denn die Schlange, die den Herzinfarkt auslöste, flog schließlich nicht zufällig durch die Luft. Irgendjemand hat sie nach ihm geworfen. Vielleicht dachte derjenige, sie würde ihn beißen, aber stattdessen erlitt Rich einen Herzinfarkt, was sogar noch besser war. Jetzt brauchte diese Person nur noch dafür zu sorgen, dass Rich nicht an sein Handy kam, und damit war der Fall erledigt.«

»Das war eiskalt«, sagte ich. »Und wer dazu in der Lage ist, ist wirklich böse.«

»Auf wen, glaubst du, hat der Schütze gezielt, auf mich oder auf dich?«, fragte Tolliver. »Ich weiß, dass wir nichts beweisen können, aber das wäre schon interessant.«

»Vor allem für dich.«

Er lachte. Zwar nur ein bisschen, aber ich freute mich. Wie sehr ich das vermisst hatte!

Ich wollte gerade etwas sagen, als es an der Tür klopfte.

Wir seufzten beide. »Ich bin es leid, dass ständig an unsere Tür geklopft wird und jemand kommt, der schlechte Nachrichten für uns hat«, sagte ich. »Hier im Hotel sind wir eine leichte Zielscheibe.« Das wäre bei einem eigenen Zuhause wahrscheinlich ähnlich gewesen, hätte sich aber ganz anders angefühlt.

Ich benutzte den Türspion, und zu meiner Überraschung sah ich Manfred. Da wir gerade von ihm gesprochen hatten, fühlte ich mich wie ertappt, als ich ihn hereinließ. Er warf mir einen vielsagenden Blick zu und wusste also, was mir durch den Kopf ging.

»Wie geht es unserem Invaliden?«, fragte er. In dem Moment kam Tolliver aus dem Schlafzimmer, und Manfred sagte: »Hallo, Kumpel! Wie ist es so, angeschossen zu werden?«

»Das wird überschätzt«, sagte Tolliver. Wir setzten uns. Ich bot Manfred eine Cola oder ein Mineralwasser an, und er nahm die Cola.

»Ich habe das mit der Detektivin gehört«, sagte Manfred. »Sie hat für euch gearbeitet, nachdem eure Schwester entführt wurde, oder?«

Ich staunte, dass er das wusste. Ich konnte mich nicht erinnern, das in seiner Gegenwart je erwähnt zu haben. »Ja«, sagte ich. »Das stimmt. Woher weißt du das?«

»Es kam in den Nachrichten. Wegen ihres Buches.« Ich sah ihn fragend an. »Wusstest du nicht, dass Ms Flores an einem Buch schrieb? Hat sie dir nichts davon erzählt?«

»Nein«, sagte ich. Tolliver schwieg.

»Ja, es sollte ›Eine Detektivin in Texas‹ heißen. Sie hatte sogar schon einen Verlag dafür.«

»Wirklich?« Ich war wie vom Donner gerührt.

»Ja, wirklich. Camerons Fall war der Auslöser dafür, dass sie die Polizei verließ und Detektivin wurde. Ihre fortwährende Suche nach Cameron ist das Thema des Buches.«

Ich wusste nicht, was ich davon halten, wie ich darauf reagieren sollte. Es gab keinen Grund, mich hintergangen zu fühlen, aber genau den Eindruck hatte ich. Besonders unangenehm fand ich die Vorstellung, dass jeder für den Preis eines Buches Einblick in mein schlimmstes Erlebnis überhaupt bekommen konnte.

»Hat sie dir gestern Abend davon erzählt?«, fragte ich Tolliver.

Er nickte. »Ich wollte es dir sagen, aber dann kam Rudy Flemmons, um dich abzuholen«, sagte er.

»Du hattest anschließend noch reichlich Gelegenheit dazu.«

Er zögerte. »Ich wusste nicht, wie du es aufnehmen würdest.«

»Ich wünschte, ich hätte das Manuskript statt der Mappen gestohlen«, sagte ich, und Manfred sah mich neugierig an.

»Welche Mappen? Weiß die Polizei, dass du sie hast? Was ist da drin?«

»Ich habe ein paar Unterlagen aus ihrem Kofferraum geklaut«, sagte ich. »Die Polizei würde Hackfleisch aus mir machen, wenn sie wüsste, dass ich sie habe. Es geht um die Joyces.«

»Aber über Mariah Parish gibt es keine?«

»Nein«, sagte Tolliver. »Sollte es das?«

»Ehrlich gesagt, nein«, sagte Manfred. »Weil ich sie habe.« Mit einer typischen Bernardo-Geste zauberte er sie aus seiner Jacke. Er hatte sie genauso versteckt wie ich meine, nur dass es sich bei ihm um nur eine einzige Mappe handelte.

»Wo zum Teufel hast du die her?« Tolliver rutschte auf die Sofakante. Er starrte Manfred an, als hätte dieser ein Baby hereingeschmuggelt. Mit einer Mischung aus Faszination und Bewunderung.

»Gestern bin ich noch spätabends an ihrem Büro vorbeigefahren. Da habe ich gesehen, dass die Tür offen stand«, sagte Manfred. »Eine innere Stimme sagte mir, dass es wichtig wäre, mit ihr zu reden. Aber ich kam zu spät. Ich nehme an, das war, bevor sie vermisst gemeldet wurde. Ich ging hinein und fragte die Geister, ob es irgendetwas gäbe, nach dem ich suchen sollte. Etwas, das sich auf – keine Ahnung wen bezieht.«

Wir starrten ihn beide mit offenem Mund an, und zwar nicht, weil er die »Geister« erwähnt hatte. »Hatte jemand Victorias Büro durchwühlt?«, fragte ich.

»Ja«, sagte er. »Irgendjemand hatte es gründlich auf den Kopf gestellt. Aber nicht gründlich genug.« Er schwieg, um die Spannung zu steigern. »Irgendetwas zog mich zu ihrem Sofa«, fuhr er dann fort, wobei der Moment ein wenig durch Tollivers Schnauben ruiniert wurde. »Doch, wirklich!«, sagte Manfred und wirkte auf einmal sehr jung. »Jemand hatte die Sitzpolster weggenommen. Aber es war ein Schlafsofa, wie das, auf dem ich bei Oma zu übernachten pflegte. Ich habe es ausgeklappt und die Unterlagen darin gefunden. Wahrscheinlich hat jemand an die Tür geklopft, woraufhin sie sie dort schnell hineinschob.«

»Und so wie es aussieht, hattest du keine Probleme, sie zu entwenden.« Tollivers Stimme war staubtrocken.

»Nein«, gab Manfred zu. Er hatte ein strahlendes Lächeln aufgesetzt, das einzig Strahlende an diesem Tag.

»Wir haben eine Tote bestohlen«, sagte ich, plötzlich entsetzt über meine Tat. »Und wir haben der Polizei Beweismaterial vorenthalten.«

»Wir versuchen, dein Leben zu retten«, sagte Manfred.

Tolliver warf dem Hellseher einen misstrauischen Blick zu. Ich dachte schon, der würde etwas sagen, doch er nickte nur. »Aber die eigentliche Frage lautet doch: Wer stand vor ihrer Bürotür?«, fragte Tolliver. »Kannst du uns da auch weiterhelfen, Manfred?«

Manfred wirkte sehr selbstzufrieden. »Vielleicht schon. Denn während ich in ihrem Büro war, nahm ich eine Nagelfeile aus ihrem Stiftehalter. Das ist ein sehr persönlicher Gegenstand, an dem sich noch Hautzellen finden. Ich werde sie für eine Sitzung verwenden und sehen, was ich herausfinde. Das kann hilfreich sein, muss es aber nicht. Man kann sich nicht darauf verlassen, deshalb schwindeln ja auch so viele in unserer Branche.«

Da konnten wir ihm nicht widersprechen. Die meisten »Hellseher« sind Betrüger, selbst diejenigen, die über eine echte Gabe verfügen. Hellseher müssen auch von irgendwas leben, und wenn man sein Geld damit verdienen kann, dass man in einem Schaufenster sitzt und Mrs Sentimental erzählt, dass ihre Fluffy gerade im Paradies schnurrt, tut man das eben, wenn einen die Gabe im Stich lässt.

»Was brauchst du, um loszulegen?«, fragte ich. Jeder Hellseher, den ich kenne, besitzt sein eigenes Ritual.

»Nicht viel«, sagte er. »Bitte ganz leise sein. Schließt kurz die Augen, dann stimme ich mich ein.«

Das fiel uns nicht weiter schwer. Tolliver und ich schlossen die Augen, und seine Hand fand die meine. Ich konnte mich entspannen und überlegen, wo genau sich Manfred in diesem erweiterten Bewusstseinsstrom befand, in jenem Zustand zwischen Wachen und Schlafen, zwischen dieser und der nächsten Welt. Dort halte ich mich auf, wenn ich auf die Knochen in der Erde hinabsehe. An einem Ort, den Manfred jetzt ebenfalls erkundete. Es ist nicht weiter schwer, dorthin zu gelangen, aber manchmal ist es verdammt schwer, zurückzukommen.

Im Zimmer war es still, vom Rauschen der Klimaanlage einmal abgesehen. Nach ein, zwei Minuten glaubte ich, meine Augen öffnen zu können. Manfred hatte den Kopf in den Nacken gelegt. Er wirkte so entspannt wie eine leblose Puppe. Ich hatte Manfred noch nie in Aktion erlebt. Es war interessant, aber auch unheimlich.

»Ich mache mir Sorgen«, sagte Manfred plötzlich. Ich machte gerade den Mund auf, um ihn zu beruhigen, als ich merkte, dass Manfred sich nicht mit uns unterhielt. Er lieh Victoria seine Stimme. »Ich sitze vor dem Computer. Ich habe in kurzer Zeit sehr viel herausgefunden, genug, um weitermachen zu können. Ich habe so einige Hypothesen. Wenn Mariah so gestorben ist, wie Harper gesagt hat, ist die Chance groß, dass das Kind noch am Leben ist. Wer würde ihr das Baby wegnehmen? Und wohin würde derjenige das Baby bringen? In ein Waisenhaus? Ich werde also alle Waisenhäuser zwischen Dallas und Texarkana abtelefonieren. Ich kann mich erkundigen, ob um Mariahs Sterbedatum herum ein kleines Mädchen abgegeben wurde. Vielleicht kann ich noch heute Abend ein paar anrufen.«

Wow, Victoria war wirklich eine gute Detektivin gewesen.

»Ich mache mir Sorgen«, fuhr Manfred fort und bewegte unruhig den Kopf. »Ich habe mit allen Joyces und mit dem Freund gesprochen. Ich habe mir eine Liste mit den anderen Angestellten gemacht, die für Rich Joyce arbeiteten, als Mariah auch dort war. Aber ich weiß nicht, wie weit ich damit komme. Mehr schaffe ich heute nicht mehr. Ich glaube, jemand ist mir zum Büro gefolgt. Rudy?«

Manfred tat so, als hielte er ein Handy. »Ich spreche dir nur ungern auf den Anrufbeantworter, denn wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen. Aber ich glaube, dass mich jemand verfolgt. Und wenn man schon das Glück hat, mit einem Polizisten befreundet zu sein, sollte man ihn anrufen, wenn man in der Klemme steckt. Ich möchte ihn nicht zu meiner Mom führen, wenn ich MariCarmen abhole. Na ja … tschüs. Ich werde das Büro in etwa zehn Minuten verlassen. Ich muss noch ein paar Anrufe machen.« Manfred berichtete uns in der ersten Person, was Victoria gedacht hatte, und er sprach so, als wäre er sie.

Jetzt bewegten sich Manfreds Hände. Er machte irgendetwas, woraus ich allerdings nicht schlau wurde. Ich sah Tolliver an und hob fragend die Brauen. Tolliver zeigte auf den Stapel mit Unterlagen auf dem Couchtisch. Gleich darauf begriff ich. Victoria schob die Unterlagen zu einem ordentlichen Stapel zusammen, steckte sie in eine Mappe und legte sie auf die anderen. Dann holte sie ein Gummiband aus einer Schublade und zog es um den Stapel. »Ich lege das nur schnell in den Kofferraum«, flüsterte sie. »Danach erledige ich meine Anrufe.« Manfreds Füße und Schultern bewegten sich unmerklich, was nahelegte, dass Victoria (verkörpert von Manfred) hinausging, den Kofferraum öffnete, die Unterlagen hineinwarf, den Kofferraum schloss und wieder zurückkam.

Das war eine sehr merkwürdige Erfahrung. Erhellend, aber merkwürdig.

»Da kommt jemand«, murmelte Victoria alias Manfred. »Hm.«

Jetzt verstand ich besser, warum ich manche Leute so nervös mache, nachdem sie gesehen haben, wie ich mit Übernatürlichem Kontakt aufnehme. Mit dem unsichtbaren Teil unserer Welt, der für die meisten nur schwer zugänglich ist. Ich spürte die Anspannung in Tollivers Hand.

Wieder suggerierten Zuckungen in Manfreds Körper, dass er Victorias Bewegungen nachvollzog. Er schien eindeutig an etwas zu ziehen. Ich war mir sicher, dass er die Schlafcouch auszog, um Mariahs Mappe zu verstecken. Victoria – nein, Manfred – wandte abrupt den Kopf und riss entsetzt die Augen auf.

»Ich werde sterben«, sagte er. »Oh Gott, ich werde noch heute Nacht sterben.«

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