12
Nach Einbruch der Dunkelheit verließ ich das Krankenhaus und fuhr eine Weile herum, um sicherzugehen, dass mir niemand auf den Fersen war. Ich war es nicht gewohnt, verfolgt zu werden, sodass mir gut und gerne fünf Wagen hätten folgen können, ohne dass ich es bemerkt hätte. Aber ich tat mein Bestes. Ich parkte ganz in der Nähe des Hoteleingangs und rannte mehr oder weniger in die Lobby. Die Suite befand sich im zweiten Stock, und ich wartete im Flur, bis niemand mehr da war, der sehen konnte, welche Tür ich öffnete.
Ich packte meine Sachen aus und bügelte. Ich war so optimistisch, Tollivers Sachen durchzusehen, um etwas herauszusuchen, das er bei seiner Entlassung tragen konnte. Die Armbewegung, die nötig war, um in ein T-Shirt oder Polohemd zu schlüpfen, würde ihm bestimmt wehtun. Deshalb entschied ich mich für ein durchgeknöpftes Sporthemd und eine Jeans. Ich steckte beides in eine kleine Tüte und war vorbereitet.
Nachdem ich die Nachrichten gesehen hatte, rief ich den Zimmerservice. Ich war froh, dass ein Restaurant zum Hotel gehörte, da ich nicht allein ausgehen wollte. Ich wunderte mich ein bisschen, dass Manfred nicht angerufen hatte, um mit mir essen zu gehen. Aber auch ohne Begleiter war ich hungrig. Ich bestellte einen Caesar Salad und eine Minestrone. Das dürfte auch schmecken, wenn der Koch nicht sonderlich talentiert war.
Ich eilte zur Tür, als es wie erwartet klopfte, wartete aber, bevor ich sie aufriss. Meiner Erfahrung nach sagen Hotelangestellte immer »Zimmerservice«, aber das war diesmal nicht der Fall.
Mit einem Ohr an der Tür lauschte ich. Ich hatte so das Gefühl, dass die Person auf der anderen Seite genau dasselbe tat.
Natürlich hätte ich nachschauen können, wer davor stand. Aber merkwürdigerweise hatte ich zuviel Angst, durch den Spion zu sehen. Ich hatte Angst, der Schütze könnte vor der Tür stehen und schießen, sobald er wusste, dass ich im Zimmer war. Denn wenn man darauf achtet, kann man sehen, ob jemand durch das Guckloch schaut. Keine zehn Pferde würden mich dazu bringen.
Ich hörte den Lift auf dem Flur und den Gong, als er mein Stockwerk erreichte. Ich hörte, wie sich die Türen öffneten. Ein Servierwagen klapperte, ein Geräusch, das ich kannte. Gleichzeitig hörte ich, wie sich jemand vor meiner Tür bewegte. Ja, da war immer noch jemand. Aber nach einer Sekunde verschwand mein Besuch. Ich sah durch das Guckloch, doch leider zu spät. Ich konnte keinen Blick mehr auf die Person erhaschen, die davor gestanden hatte.
In der nächsten Sekunde klopfte es deutlich fester an die Tür, und eine Frauenstimme sagte: »Zimmerservice.« Das Guckloch bestätigte, dass es sich tatsächlich um eine Hotelangestellte mit Servierwagen handelte. Nachdem ich gesehen hatte, wie gelangweilt sie wirkte, öffnete ich ohne zu zögern die Tür.
»Haben Sie jemand weggehen sehen?«, fragte ich. Ich wollte nicht paranoid klingen und fügte deshalb hinzu: »Ich habe gerade ein Schläfchen gemacht und dachte, es hätte geklopft, bevor Sie kamen. Aber als ich an der Tür war, war mein Besuch schon verschwunden.«
»Mir kam jemand entgegen«, sagte die Frau, »Aber ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, tut mir leid.«
Das war’s dann wohl.
Ich war ziemlich wütend auf mich. Ich hätte doch durch den Türspion schauen sollen. Vielleicht hätte ich einen Fremden entdeckt, der sich in der Zimmernummer geirrt hatte. Vielleicht war es Manfred gewesen, der wusste, dass ich in diesem Hotel wohnte. Vielleicht hätte ich auch das Gesicht meines Feindes gesehen.
Aus Enttäuschung darüber, so ein Angsthase gewesen zu sein, schaltete ich den Fernseher ein und sah mir eine alte Folge von ›Law and Order‹ an, während ich meine Suppe und meinen Salat aß. Sollte ich sie einmal zu oft gesehen haben, gab es bestimmt noch eine x-te Wiederholung von ›CSI‹. Im Fernsehen siegt häufig die Gerechtigkeit, aber leider nicht im wirklichen Leben. Vielleicht sehen wir deshalb so viel fern.
Ich aß langsam und ertappte mich dabei, bewusst leise zu kauen, um mitzubekommen, wenn jemand vor der Tür wäre. Das war wirklich albern. Ich legte die Sicherheitskette vor und fühlte mich gleich ein Stückchen besser. Als ich mit dem Essen fertig war, sah ich mich sorgfältig um, bevor ich den Wagen auf den Flur schob. Dann verriegelte ich die Tür erneut und zog mich in mein Zimmer zurück. Zum Glück gab es keine Türen, die von meinem direkt in andere Zimmer führten, und weil es im zweiten Stock lag, konnte auch niemand durchs Fenster einsteigen. Trotzdem zog ich die Vorhänge vor.
Dermaßen isoliert blieb ich bis zum nächsten Morgen auf meinem Zimmer.
Das war wirklich kein Zustand.
Am nächsten Tag sah Tolliver noch besser aus, und der Arzt meinte, er könne entlassen werden. Er gab mir eine Liste mit Anweisungen. Die Wunde durfte nicht nass werden. Tolliver sollte mit seinem rechten Arm nichts heben. Wieder zu Hause (in unserem Fall war damit wahrscheinlich St. Louis gemeint), sollte er mit diesem Arm physiotherapeutische Übungen machen. Natürlich dauerte es eine Ewigkeit, bis die Entlassungsformalitäten erledigt waren, aber irgendwann saßen wir endlich in unserem Wagen, und ich schnallte Tolliver an.
Beinahe hätte ich gesagt: »Ich wünschte, wir könnten hier weg!«, wollte Tolliver aber nicht beunruhigen. Wir mussten die Anweisungen des Arztes befolgen, weshalb uns nichts anderes übrig blieb, als noch ein paar Tage hier in Dallas auszuharren. Ich konnte es kaum erwarten, Texas zu verlassen. Ich hatte eigentlich gedacht, dass wir uns auf dieser Reise nach einem Haus umschauen könnten. Stattdessen wollte ich nur noch unsere Sachen packen und davonrasen, als wäre der Teufel hinter uns her.
Tolliver sah aus dem Autofenster, als wäre er im Gefängnis gewesen. Als hätte er in Einzelhaft gesessen und jahrelang keine Restaurants, keine Hotels und keinen Verkehr mehr zu Gesicht bekommen. Er trug die Jeans und das Hemd, die ich ihm mitgebracht hatte, und besaß so endlich wieder mehr Ähnlichkeit mit sich selbst als in diesem Krankenhauskittel.
Er ertappte mich dabei, wie ich ihn kurz schräg von der Seite ansah. »Ich weiß, dass ich furchtbar aussehe«, konstatierte er. »Das musst du mir nicht extra sagen.«
»Ich dachte gerade, dass du wirklich toll ausschaust«, sagte ich unschuldig, und er lachte.
»Klar«, konterte er.
»Ich bin noch nie angeschossen worden. Nicht wirklich. Mich hat der Schuss damals nur gestreift. Hat es sich wirklich so angefühlt wie ein Fausthieb? So wird das in Büchern häufig beschrieben.«
»Wenn dich eine Riesenfaust völlig durchdringt, dich bluten lässt und die schlimmsten Schmerzen verursacht, die du jemals hattest, dann ja«, sagte er. »Es tat so weh, dass ich einen Moment lang am liebsten gestorben wäre.«
»Puh«, sagte ich und versuchte, mir so einen intensiven Schmerz vorzustellen. Ich hatte Schmerzen gehabt, schlimme Schmerzen, aber als mich der Blitz traf, hatte ich erst mal mehrere Sekunden gar nichts gespürt. Nur, dass ich in einer anderen Welt war, bevor ich wieder in diese hier zurückkehrte. Danach hatte mir alles höllisch wehgetan. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass man bei einer Geburt furchtbare Schmerzen hat, aber diese Erfahrung hatte ich bisher noch nicht gemacht.
»Ich hoffe, das passiert nie wieder«, sagte ich. »Keinem von uns.«
»Hast du irgendwas gehört?«, fragte er.
Was für eine merkwürdige Formulierung. »Von wem, meinst du?«
»Victoria hat mich gestern Abend im Krankenhaus besucht«, sagte er.
Ich schwieg einen Moment. »Habe ich Grund zur Eifersucht?«, fragte ich, als es mir gelang, einigermaßen gelassen zu klingen.
»Nicht mehr als ich wegen Manfred.«
Oh je. »Dann solltest du mir lieber davon erzählen.«
In diesem Moment hielten wir vor dem Hotel, sodass wir unser Gespräch vertagen mussten. Ich lief um den Wagen herum und hielt Tolliver die Tür auf. Er streckte die Füße aus dem Wagen, und ich stützte ihn beim Aussteigen ein wenig unter seinem gesunden Arm. Er verzog das Gesicht, woran ich merkte, dass er Schmerzen hatte. Ich verriegelte den Wagen und wir gingen langsam zum Hotel. Ich war erschüttert, wie wackelig Tolliver auf den Beinen war.
Wir schafften es durch die Lobby und in den Lift. Ich ließ Tolliver nicht aus den Augen, falls er Hilfe brauchte, und versuchte gleichzeitig, nach nahendem Unheil Ausschau zu halten. Ich kam mir vor wie eine Geisteskranke, so wild irrte mein Blick hin und her, um sich anschließend auf meinen Patienten zu heften.
Als wir endlich in unserem Zimmer waren, seufzte ich erleichtert und half Tolliver, sich hinzulegen. Ich zog einen Stuhl ans Bett, was mich allerdings zu sehr ans Krankenhaus erinnerte. Also legte ich mich neben ihn und drehte mich auf die Seite, damit ich ihn ansehen konnte.
Er brauchte eine Minute, um sich in eine bequeme Position zu bringen. Dann drehte er den Kopf, sodass sich unsere Blicke trafen.
»Das fühlt sich schon deutlich besser an«, sagte er. »Geradezu paradiesisch.«
Ich pflichtete ihm bei. Um seine Entlassung aus dem Krankenhaus zu feiern, öffnete ich den Reißverschluss seiner Hose und ließ ihm eine Therapie angedeihen, mit der er nicht gerechnet hatte. Eine, die ihm so gut tat, dass er sofort einschlief, nachdem er mich geküsst hatte. Ich tat es ihm nach.
Wir wurden wach, weil es an unserer Tür klopfte. Ich ertappte mich bei dem Wunsch nach einer Tür, an die niemand klopfen konnte. Ich hätte das Schild »Bitte nicht stören« hinaushängen sollen. Tolliver bewegte sich und öffnete die Augen. Ich rollte aus dem Bett, reckte mich und fuhr mir mit einer Hand durchs Haar. Dann verließ ich das Schlafzimmer und durchquerte den Wohnbereich, um nachzusehen, wer da war. Diesmal nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und schaute durch das Guckloch.
Zu meinem Erstaunen stand Rudy Flemmons vor der Tür, obwohl ich die Polizei nicht über unseren neuen Aufenthaltsort informiert hatte.
»Es ist der Detective«, sagte ich. Ich stand in der Tür des Schlafzimmers und war noch völlig verschlafen. »Rudy Flemmons, nicht derjenige, auf den geschossen wurde.«
»Das habe ich mir bereits gedacht«, erwiderte Tolliver und gähnte. »Du solltest ihm lieber aufmachen.« Er schloss den Reißverschluss seiner Jeans, und ich knöpfte sie ihm zu, wobei wir uns anlächelten.
Ich ließ Detective Flemmons herein und half dann Tolliver ins Wohnzimmer, damit er sich an dem Gespräch beteiligen konnte. Tolliver ließ sich vorsichtig auf dem Sofa nieder, und Flemmons nahm den Sessel.
»Wie lange sind Sie schon hier?«, fragte er.
Ich sah auf meine Uhr. »Na ja, wir haben das Krankenhaus vor etwa anderthalb Stunden verlassen«, sagte ich. »Wir sind direkt hierher gefahren und haben ein Schläfchen gemacht.«
Tolliver nickte.
Rudy Flemmons sagte: »Haben Sie in den letzten beiden Tagen Ihre Freundin Victoria Flores gesehen?«
»Ja«, sagte Tolliver wie aus der Pistole geschossen. »Sie hat mich gestern Abend im Krankenhaus besucht. Harper war schon gegangen. Victoria ist nach etwa einer Dreiviertelstunde aufgebrochen. Das muss so um … hm, keine Ahnung, ich habe ziemlich viele Schmerzmittel genommen. So gegen acht Uhr, nehme ich an. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«
»Sie ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen. Sie hat ihre Tochter Mari-Carmen bei ihrer Mutter gelassen, und als Victoria nicht kam, um ihr Kind abzuholen, hat diese die Polizei benachrichtigt. Normalerweise unternimmt die Polizei in solchen Fällen nicht sofort etwas. Aber Victoria war früher bei der Polizei von Texarkana, und einige von uns kennen sie. Sie hat ihr Kind noch nie zu spät abgeholt, jedenfalls nicht, ohne vorher anzurufen und Bescheid zu geben. Victoria ist eine gute Mutter.«
Ich sah ihm an, dass er zu den Garland-Cops gehörte, die sie gut kannten. Vielleicht sogar sehr gut. »Haben Sie mit jemandem gesprochen, der sie nach meinem Bruder gesehen hat?«
»Nein«, sagte er ernst und niedergeschlagen. »Leider nicht.«
Zumindest nahm niemand an, dass Tolliver aus seinem Krankenhausbett gesprungen war, Victoria überwältigt und sie unter dem Bett versteckt hatte, bis er den Pförtner bestechen konnte, ihre Leiche zu entsorgen.
»Ihre Mutter hat nichts von ihr gehört?«
Der Detective schüttelte den Kopf.
»Das ist ja furchtbar«, sagte ich. »Ich … das ist ja furchtbar.«
Mir fiel ein, dass Tolliver mir vorhin etwas über Victoria hatte erzählen wollen. Ich saß neben ihm auf dem Sofa und wandte den Kopf, um seinen Blick zu erhaschen. Ich hob fragend die Brauen. Würde er das Thema anschneiden?
Er schüttelte unmerklich den Kopf. Nein.
Na gut.
»Worüber haben Sie sich unterhalten? Hat Victoria irgendetwas erzählt? Woran sie arbeitet oder wohin sie nach dem Krankenhausbesuch wollte?«
»Ich fürchte, wir haben überwiegend von mir gesprochen«, gestand Tolliver. »Sie hat mir Fragen zu der Kugel gestellt und wollte wissen, ob der Ort, von dem aus der Schütze geschossen hat, bereits ermittelt wurde. Ob es in jener Nacht noch andere Schießereien gegeben hätte. Sie haben Harper erzählt, dass es noch eine ganz in der Nähe des Motels gegeben hat, stimmt’s? Dann hat sie mich noch gefragt, wie lange ich noch im Krankenhaus bleiben muss. Solche Sachen.«
»Hat sie irgendetwas von sich erzählt?«
»Ja. Sie meinte, sie sei eine Zeitlang mit einem Mann zusammen gewesen. Mit einem von der Polizei. Sie hätten sich jedoch kürzlich getrennt. Sie meinte, sie hätte es sich anders überlegt und wollte ihn noch gestern Abend anrufen.«
Ich hatte nicht mit so einer drastischen Reaktion gerechnet. Detective Flemmons wurde leichenblass. Ich hatte schon Angst, er würde in Ohnmacht fallen. »Das hat sie gesagt?«, würgte er hervor.
»Ja«, sagte Tolliver genauso überrascht wie ich. »Mehr oder weniger wortwörtlich. Ich war erstaunt, da wir uns früher nie über ihr Liebesleben unterhalten haben. So nahe standen wir uns nicht, und sie sprach nicht gern über ihr Privatleben. Wissen Sie, mit welchem Cop sie zusammen war?«
»Ja«, antwortete Flemmons. »Mit mir.«
Darauf wusste niemand von uns etwas zu sagen.
Flemmons blieb mindestens noch eine Viertelstunde und stellte Tolliver bestimmt weitere zwanzig Fragen. Er wollte genau wissen, was er und Victoria besprochen hatten, aber Tolliver wich ihm immer wieder geschickt aus. Ich staunte und war etwas beunruhigt, dass Tolliver sich so bedeckt hielt.
Ich erzählte Rudy von der geheimnisvollen Person, die am Vorabend vor meiner Tür gestanden und geklopft hatte, bevor der Zimmerservice gekommen war. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es Victoria Flores gewesen war, aber ich wollte, dass jemand über diesen kleinen Vorfall Bescheid wusste.
Schließlich wandte sich Detective Flemmons zum Gehen. Ich war unheimlich erleichtert, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Ich wartete, bis ich ihn zum Lift gehen hörte. Ich lauschte auf das Pling!, als der Lift kam, und auf das leise Rumpeln der auf- und zugehenden Lifttüren. Ich öffnete sogar die Zimmertür und sah mich suchend um, um sicherzustellen, dass niemand mehr da war.
So langsam litt ich unter Verfolgungswahn, aber aus gutem Grund.
»Los, raus mit der Sprache!«, sagte ich. Obwohl Tolliver sehr müde aussah und mühsam aufstand, damit ich ihn ins Bett bringen konnte, wollte ich unbedingt wissen, was er mir erzählen wollte, bevor Rudy Flemmons gekommen war.
Als er wieder im Bett lag, sagte Tolliver: »Sie hat mich gefragt, ob die Joyces das Baby von Mariah Parish wirklich nur finden wollen. Oder ob ich mir vorstellen kann, dass sie das Kind töten wollen.«
»Das Kind töten?!«, sagte ich verblüfft. Aber ich verstand natürlich sofort, was er meinte. »Ein weiterer Nachkomme der Joyces wird vermutlich mindestens ein Viertel des Vermögens erben. Er ist also ein direkter Erbe oder wie das heißt und wäre damit erbberechtigt, und zwar unabhängig davon, ob er unehelich geboren wurde oder nicht. Ich nehme nicht an, dass Rich Joyce Mariah heimlich geheiratet hat?«
Tolliver schüttelte den Kopf. »Nein, er hätte sie offiziell geheiratet. Wenn Victoria recht hat, hatte er eiserne Prinzipien. Wenn das Kind von ihm war, wäre er auch dazu gestanden. Vorausgesetzt, er wusste davon.«
»Und, konnte sie sich das vorstellen?«
»Ja, da sie viele Leute befragt hat, die Rich Joyce gekannt haben und ihm nahestanden. Sie alle haben Victoria erzählt, dass Lizzie genau wie ihr Großvater ist, zupackend und grundehrlich, während es Kate und Drex nur ums Geld geht.«
»Und was ist mit Chip, ihrem Freund?«
»Ihn hat sie nicht erwähnt.«
»Und das hat Victoria schon alles herausgefunden?«
»Ja, sie war ziemlich fleißig.«
»Warum hat sie dir das alles erzählt? Wahrscheinlich nicht, weil sie auf dich steht, wenn sie ohnehin wieder zu Rudy Flemmons zurückwollte.«
»Weil sie glaubt, dass einer der Joyces auf mich geschossen hat, deshalb.«
»Gut, aber ich verstehe trotzdem noch nicht.«
»Die Joyces vermuten, dass du mehr über Richs Tod weißt, als du an seinem Grab gesagt hast. Sie sind nervös, weil du wusstest, woran Mariah gestorben ist, und die Existenz des Babys erwähnt hast. Ich nehme an, dass sie Angst haben, du könntest die Leiche des Babys finden.«
»Victoria glaubt also nicht, dass das Baby noch lebt? Sie glaubt, dass das Baby umgebracht wurde?«
Mir wurde ganz schlecht. Ich habe schon viel Schlimmes gesehen und gehört, wirklich schlimme Dinge, durch die »Gabe«, die mir der Blitz geschenkt hat. Früher sind viele Babys bei der Geburt gestorben, weil dabei so viel schiefgehen konnte. Heute gibt es das kaum noch. Ich habe schon auf unzähligen winzigen Gräbern gestanden und die reglosen, weißen Gesichter gesehen. Und es hat mich jedes Mal mitgenommen. Aber der Mord an einem Kind ist für mich das abscheulichste Verbrechen überhaupt, das absolute Böse.
»Davon geht sie aus. Sie konnte keinen Eintrag im Geburtenregister finden. Vielleicht hat Mariah das Kind allein bekommen.«
»Na hör mal, welche Frau geht nicht ins Krankenhaus, wenn sie spürt, dass es so weit ist?«
»Vielleicht eine, die nicht dorthin kann«, sagte Tolliver.
Ich spürte, wie ich meine Lippen angewidert und zugleich entsetzt zusammenpresste. »Du meinst, jemand hat verhindert, dass sie ins Krankenhaus gehen konnte? Und einfach zugelassen, dass sie bei der Geburt starb?« Ich brauchte nicht noch hinzuzufügen, wie grausam und unmenschlich ich das fand. Tolliver teilte meine Gefühle.
»Das kann schon sein. Das wäre die beste Erklärung dafür, dass sie im Kindbett gestorben ist und dass es weder einen Eintrag im Geburtenregister noch einen aktenkundig gewordenen Krankenhausaufenthalt von ihr gibt.«
»Und wenn ich nicht gekommen wäre …«
»Hätte niemand je davon erfahren.«
So gesehen war es kein Wunder, dass mich jemand tot sehen wollte.