6

Ich muss auf das Klopfen reagiert und die Tür geöffnet haben, denn plötzlich stand Matthew im Zimmer. Ich selbst war nicht in der Lage, Tolliver zu helfen. Ich stand einfach nur da, sah auf ihn herunter und streckte meine Hände von mir, nachdem ich mein Gesicht berührt hatte. Sie waren blutverschmiert. Da meine Hände schmutzig waren, wollte ich Tolliver nicht anfassen.

Matthew kniete neben seinem Sohn. Ich holte mein Handy aus der Tasche und wählte den Notruf, wofür ich mich konzentrieren musste wie noch nie in meinem Leben. Ich würgte den Namen des Motels und die Adresse hervor und sagte vermutlich, dass wir so schnell wie möglich einen Krankenwagen bräuchten. Ich sprach auch von einem »Scharfschützen«, weil mir das Wort gerade in den Sinn kam.

Unmittelbar darauf bereute ich es. Vielleicht kam jetzt kein Krankenwagen, weil der Fahrer Angst hatte. Doch dann schüttelte ich diesen Gedanken wieder ab, leistete Matthew auf dem Teppich Gesellschaft und sah ihn über Tollivers reglosen Körper hinweg an.

Auf mich war auch schon mal durch ein Fenster geschossen worden – eine beängstigende Erfahrung. Damals war ich ebenfalls von Glassplittern übersät gewesen. Aber diesmal war es noch viel schlimmer. Es war das Schlimmste, was mir je passiert war, ganz einfach, weil es Tolliver getroffen hatte. Ich konnte nur noch an ihn denken. Daran, wie merkwürdig es war, dass uns so etwas schon zum zweiten Mal passierte. Aber ich versuchte, mich aus meiner Trance zu reißen und zu helfen. Matthew zog Tolliver das Hemd aus, faltete es zusammen und drückte es auf die blutende Wunde.

»Halt das, du Idiotin!«, sagte er. Folgsam drückte ich meine Hände auf den provisorischen Verband. Unter meinen Fingern quoll Blut hervor.

Wenn er nicht so schnell vor der Tür gestanden hätte, hätte ich Matthew verdächtigt. Aber ich konnte ohnehin keinen klaren Gedanken fassen. Wäre mir das in den Sinn gekommen, hätte ich es bestimmt geglaubt.

Tollivers Augen öffneten sich. Er war leichenblass und verwirrt.

»Was ist passiert?«, fragte er. »Was ist passiert? Alles in Ordnung mit dir, mein Schatz?«

»Ja, alles in Ordnung«, sagte ich und drückte auf den Verband, so fest ich konnte. »Gleich kommt der Krankenwagen, mein Schatz.« Ich konnte mich nicht erinnern, Tolliver jemals »Schatz« genannt zu haben. »Er ist schon unterwegs, gleich wirst du verarztet. Du bist nicht schwer verletzt, alles wird gut.«

»War das eine Bombe?«, fragte er. »War das eine Explosion?« Seine Stimme zitterte. »Dad, was ist passiert? Harper ist verletzt.«

»Mach dir keine Sorgen um Harper«, sagte Matthew. »Es geht ihr prima. Sie ist außer Gefahr.« Er untersuchte Tollivers Verletzungen mit den Fingern und nahm das Hemd weg, um sich die Stelle anzusehen.

Dann verdrehte Tolliver die Augen, und seine Züge erschlafften.

»Oh, Gott!« Ich drückte wieder das Hemd auf die Wunde und hätte beinahe locker gelassen, wusste aber trotz meiner Panik, dass ich das auf keinen Fall tun durfte. Ich drückte und drückte eine halbe Ewigkeit. Ich durfte jetzt bloß nicht nachlassen.

»Er ist nicht tot!«, rief Matthew. »Er ist nicht tot.«

Aber für mich sah er tot aus.

»Nein«, sagte ich. »Er ist nicht tot. Das kann gar nicht sein. Es ist seine rechte Schulter, und da ist kein Herz. Er kann nicht daran sterben.« Ich wusste, wie dämlich sich das anhörte, aber im Moment konnte man mir das schlecht vorwerfen.

»Nein, er wird nicht sterben«, sagte sein Vater.

Ich öffnete den Mund, um Matthew anzuschreien, ohne zu wissen, was ich ihm eigentlich vorwerfen wollte, presste die Lippen jedoch wieder zusammen, weil ich einen Krankenwagen hörte.

Menschen drängten sich in der Tür zum Motelzimmer, sie redeten wild durcheinander und schrieen. Ich hörte auch, wie jemand den Leuten im Krankenwagen zurief: »Kommt her, kommt hierher!« Wenn ich den Kopf nach links wandte, konnte ich das Blaulicht vor dem Fenster sehen. Mehr als alles auf der Welt wünschte ich mir jetzt jemanden, der sich auskannte und der sich um alles kümmerte. Jemand, der meinen Bruder verarzten und die Blutung stoppen konnte.

Der Tumult draußen steigerte sich noch, da die Polizei gleichzeitig mit dem Krankenwagen gekommen war und alle bat, zurückzutreten. Dann standen die Sanitäter im Zimmer, und Matthew und ich mussten den kleinen Raum verlassen, damit sie ihre Arbeit machen konnten.

Die Polizei führte mich hinaus, und nach dieser Nacht konnte ich mich an kaum ein Gesicht erinnern. »Jemand hat durch das Fenster auf ihn geschossen«, sagte ich zu dem ersten Gesicht, das mir eine Frage stellte. »Ich stand hinter ihm, und jemand hat durch das Fenster auf ihn geschossen.«

»In welcher Beziehung stehen Sie zu ihm?«, fragte das Gesicht.

»Ich bin seine Schwester«, sagte ich automatisch. »Und das ist sein Vater. Nicht mein Vater, aber seiner.« Keine Ahnung, warum ich diese Unterscheidung traf. Vielleicht, weil ich den Leuten seit Jahren erklärte, dass ich nicht mit Matthew Lang verwandt war.

»Sie müssen auch ins Krankenhaus«, sagte das Gesicht. »Man muss Ihnen die Splitter entfernen.«

»Was denn für Splitter?«, fragte ich. »Tolliver wurde angeschossen.«

»Sie haben Glassplitter im Gesicht«, sagte der Mann. Jetzt erkannte ich, dass es ein Mann war, ein älterer Mann von Mitte fünfzig. Ich erkannte, dass er braune Augen, tiefe Krähenfüße, einen großen Mund und schiefe Zähne hatte. »Sie müssen sie entfernen und die Wunden desinfizieren lassen.«

Ich sollte in Zukunft eine Schutzbrille tragen.

Das Nächste, woran ich mich erinnerte, war, dass ich im Krankenhaus in einer Kabine saß. Jemand hatte meine Geldbörse mitgenommen, um an die Versicherungsinformationen zu kommen. Etwa hundert Leute stellten mir Fragen, aber ich konnte nicht sprechen. Ich wartete darauf, dass jemand kam und mir sagte, wie es Tolliver ging. Es hatte keinen Sinn zu reden, bevor ich wusste, was mit ihm los war. Die Ärztin, die mir die Glassplitter entfernte, schien sich ein bisschen vor mir zu fürchten. Sie bemühte sich, auf mich einzureden, und dachte wohl, dass ich mich dabei entspanne.

»Sie müssen nach unten schauen, während ich dieses Stück hier entferne«, sagte sie schließlich. Und als ich nach unten sah, spürte ich, wie alle Anspannung aus ihr wich. Ich musste sie angestarrt haben. Ich wünschte, ich könnte meinen Körper verlassen und auf den Flur schweben, um nach meinem Liebsten zu sehen. Wenn ich schwor, ihn aufzugeben, für den Fall, dass er überlebte – würde das etwas nutzen? Schwüre, die man macht, wenn man wirklich Angst hat, zeigen den wahren Charakter. Vielleicht auch nur die primitive Natur des Menschen. Jenes Menschen, der noch nie ein Einkaufszentrum gesehen, noch nie ein Gehalt bekommen und die Nahrungsbeschaffung noch nicht an andere delegiert hat.

Eine Frau in einem knallrosa Kittel fragte, ob sie jemanden verständigen solle. Jemanden, der sich um mich kümmern könne. Aber bei der Vorstellung, Iona oder Hank hier zu sehen, musste ich beinahe laut schreien, also sagte ich Nein.

Sie ließen seinen Dad zu ihm, aber nicht mich! Mir musste man die Glassplitter entfernen. Ich war so wütend, dass ich fürchtete, mein Kopf könnte explodieren. Aber ich schrie nicht. Ich behielt alles für mich. Nachdem die Ärztin und die Krankenschwester mit mir fertig waren und mir ein paar Tabletten gegeben hatten, weil sie glaubten, dass ich mich noch eine Weile unpässlich fühlen würde, nickte ich ihnen zu und machte mich auf die Suche nach Tolliver. Ich entdeckte Matthew im Wartezimmer, er sprach gerade mit einem Polizisten.

Er sah mich an, als ich hereinkam, und ich sah das Misstrauen in seinem Gesicht.

»Das ist Tollivers Stiefschwester. Sie war mit ihm im Raum und stand hinter ihm«, sagte Matthew wie ein Zeremonienmeister.

Der Polizist musste der Detective sein, da er eine Freizeithose, ein Hemd und eine Windjacke trug. Er war sehr groß und erinnerte mich an einen ehemaligen Footballstar, was sich tatsächlich bewahrheitete. Parker Powers war ein berühmter Highschool-Footballer aus Longview, Texas. Er hatte sich verletzt, als er gerade zwei Jahre bei den Dallas Cowboys unter Vertrag gewesen war. Das machte ihn beinahe zu einem Star, zumindest war er prominent. Dank Matthew Lang erfuhr ich das alles in den ersten zehn Minuten unserer Begegnung.

Detective Powers hatte einen mittelbraunen Teint und hellblaue Augen. Sein Haar war hellbraun, gelockt und kurz geschnitten. Er trug einen Ehering.

»Wer, glauben Sie, hat auf Sie geschossen?«, fragte er mich direkter als erwartet.

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte ich. »Ich hätte Matthew vermutet, wenn er nicht so schnell zurück ins Motelzimmer gekommen wäre.«

»Warum sein Vater?«

»Wer sollte sonst ein Interesse daran haben?«, fragte ich, wobei mir auffiel, dass das nicht gerade schlüssig klang. »Gut, es gibt viele Leute, denen nicht gefällt, was wir tun. Aber wir sind ehrlich und machen uns keine Feinde. Zumindest nicht, dass ich wüsste. Aber anscheinend haben wir uns mindestens einen gemacht.« Es war mir ein Rätsel, ob die Polizei irgendetwas von dem, was ich da erzählte, verstand. Aber wahrscheinlich hatte ich irgendwann erklärt, was Tolliver und ich taten. Auch wenn ich mich nicht daran erinnern konnte.

Detective Powers absolvierte das übliche Frage-und-Antwort-Spiel. Er wollte wissen, womit wir unser Geld verdienten, seit wann wir das taten, wie viel wir verdienten und was unser letzter Auftrag gewesen war. Ich musste tatsächlich kurz überlegen, aber dann fiel mir der Besuch bei den Joyces wieder ein, und ich erzählte ihm davon. Es schien ihm gar nicht zu behagen, dass wir mit einer so wohlhabenden, mächtigen Familie zu tun gehabt hatten.

Ein Arzt kam herein, ein älterer Mann mit einem spärlichen Haarkranz und einem müden Gesicht. Ich sprang sofort auf.

»Gehören Sie zur Familie Lang?« Er sah von mir zu Matthew. Mir hatte es die Sprache verschlagen, und Matthew nickte.

»Ich bin Dr. Spradling und Orthopädiechirurg. Ich habe Mr Lang soeben operiert. Im Großen und Ganzen habe ich gute Neuigkeiten. Mr Lang wurde von einer kleinkalibrigen Kugel getroffen, wahrscheinlich aus einem .22er-Gewehr oder einer Pistole. Sie ist in seine Clavicula, sein Schlüsselbein, eingedrungen.«

Ich rang nach Luft, ich konnte nichts dagegen tun. Ich benahm mich wie eine Idiotin.

»Also habe ich die Clavicula verschraubt. Nerven oder Blutgefäße wurden keine verletzt, er hat also Glück gehabt – wenn man das über einen Angeschossenen überhaupt sagen kann. Er hat die Operation gut überstanden«, sagte der Arzt. »Ich glaube, er wird sich gut erholen. Jetzt muss er erst mal zwei oder drei Tage im Krankenhaus bleiben. Wenn alles gut geht und keine Komplikationen auftreten, können wir ihn entlassen. Aber er wird anschließend noch eine Woche lang intravenös Antibiotika erhalten müssen. Wir können eine Schwester vorbeischicken, die das übernimmt, aber Sie müssen in der Nähe bleiben, auch wenn Sie eigentlich gar nicht hier leben.« Er fixierte mehr oder weniger den Raum zwischen uns und wartete auf eine Reaktion.

Ich nickte hektisch, zum Zeichen, dass ich alles verstanden hatte. »Ganz wie Sie meinen«, sagte ich zu Dr. Spradling.

»Wo wohnen Sie, Miss Connelly? Soweit ich weiß, leben Sie zusammen?«

Ich warf einen kurzen Blick auf Matthew und befürchtete schon, er könnte sich um Tollivers Pflege reißen. Eine Riesenangst verdrängte alle anderen Ängste: Würden sie mich überhaupt zu ihm lassen, wenn Matthew etwas dagegen hatte? Ich musste Matthews Vaterschaft überbieten. Ich machte den Mund auf und staunte selbst nicht schlecht, als ich dem Arzt völlig unvermittelt erklärte: »Wir sind ein Paar. Wir führen eine Lebensgemeinschaft.« Texas erkannte auch Ehen ohne Trauschein an. Die Lebensgefährtin könnte die Stiefschwester ausstechen. »Wir haben eine Wohnung in St. Louis. Wir sind seit sechs Jahren zusammen.«

Dem Arzt war das vollkommen egal. Er wollte mir nur mitteilen, was Tollivers Pflege beinhaltete. Er drehte sich leicht zu mir: »Sie sollten eine Unterkunft finden, die näher am Krankenhaus liegt. Zumindest so lange, bis er nach seiner Entlassung etwas zu Kräften gekommen ist. Er ist noch nicht übern Berg, aber es wird schon alles gut gehen.«

»Gut.« Ich ließ mir das, was er gesagt hatte, noch einmal durch den Kopf gehen und hoffte, nichts vergessen zu haben: ein zerschmettertes Schlüsselbein, eine kleinkalibrige Kugel, keine weiteren Verletzungen. Drei Tage im Krankenhaus. Antibiotika, die eine Schwester intravenös im Hotel verabreichen würde. In einem näher gelegenen Hotel.

»Sie können bei mir und ihrem Bruder wohnen, wenn es sein muss«, sagte Matthew, und der Arzt, der sich eindeutig nicht für solche Details interessierte, nickte. Das würden wir ganz bestimmt nicht tun, aber das war jetzt nicht der geeignete Augenblick, um das zu besprechen.

»Hauptsache, es ist jemand da, der sich um ihn kümmert. Er muss ruhig und bequem liegen, sollte mehrmals am Tag aufstehen und etwas spazieren gehen, seine Medikamente regelmäßig einnehmen, keinen Alkohol trinken und sich gesund ernähren«, sagte der Arzt. »Aber wie gesagt nur, wenn er sich gut macht. Morgen sehen wir weiter.« Dr. Spradling wollte sicherstellen, dass wir ausreichend gewarnt waren.

Ich nickte heftig und zitterte vor Angst.

»Ich werde heute Nacht bei ihm bleiben«, sagte ich, und der Arzt, der sich schon halb abgewandt hatte, rang sich einen mitleidigen Blick ab.

»Da er gerade erst operiert wurde, wird heute Nacht ständig nach ihm gesehen«, sagte der Arzt. »Er wird auch noch nicht aufwachen. Sie sollten lieber nach Hause gehen, duschen und morgen früh wiederkommen. Wenn Sie Ihre Telefonnummer dalassen, wird man Sie benachrichtigen, falls Probleme auftreten.«

Ich sah an mir herunter. Überall war Blut, getrocknetes Blut. Ich sah … zum Fürchten aus. Jetzt begriff ich auch, warum mich jeder, der vorbeikam, so merkwürdig ansah. Ich roch nach Blut und Angst. Außerdem brauchte ich unser Auto. Also bat ich Matthew widerwillig, mich zum Motel zu bringen.

Die Polizei hatte inzwischen die Überreste unseres Zimmers angeschaut. Als ich mich in die Lobby schleppte, um mit der Rezeptionistin zu reden, begrüßte mich die Hotelmanagerin, eine Afroamerikanerin um die fünfzig mit kurzen Haaren und einer sympathischen Art. Sie wollte mich so schnell wie möglich aus dem Blickfeld bringen, für den Fall, dass neue Gäste kämen. Als wir in dem kleinen Raum hinter der Rezeption Platz genommen hatten, brachte sie mir einen Kaffee, ohne dass ich sie darum gebeten hatte. Auf ihrem Namensschild stand Deneise.

»Miss Connelly«, sagte sie sehr ernst und sehr aufrichtig. »Wenn Sie einverstanden sind, werde ich Cynthia auf Ihr Zimmer schicken, damit sie Ihre Kleidung und Ihre Sachen holt.«

Ich fragte mich, was wohl als Nächstes kam. »Gut, Deneise«, sagte ich. »Das wäre sehr nett.«

Sie atmete tief durch und fuhr fort: »Hoffentlich akzeptieren Sie unsere Entschuldigung für diesen furchtbaren Vorfall. Wir möchten, dass Sie eine möglichst stressfreie Zeit bei uns verleben. Ihnen geht jetzt bestimmt so einiges durch den Kopf.«

Jetzt verstand ich! Deneise hatte Angst, wir könnten das Hotel für die Schießerei belangen, und wollte schon mal vorfühlen, wie ich das sah. Gleichzeitig wirkte sie aufrichtig entsetzt, der Vorfall tat ihr unendlich leid.

Nachdem Cynthia in das zerstörte Zimmer geschickt worden war, um zu retten, was von unseren Sachen noch zu retten war, bot Matthew mir zu meiner großen Erleichterung an, sie zu begleiten. Anschließend sprach Deneise Klartext: »Vielleicht wollen Sie keine weitere Nacht hierbleiben, Miss Connelly. Aber wenn doch, würden wir uns freuen.«

Das klang schon weniger aufrichtig, was ich der Frau allerdings schlecht vorwerfen konnte.

»Wenn Sie bleiben möchten, stellen wir Ihnen selbstverständlich ein vergleichbares Zimmer kostenlos zur Verfügung. Zum Zeichen, dass uns diese … Unannehmlichkeiten leidtun.«

Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Das ist noch stark untertrieben«, sagte ich. »Ja, ich hätte gern ein Zimmer, werde aber gleich morgen früh ausziehen. Ich muss etwas finden, das näher am Krankenhaus liegt.«

»Wie geht es Mr Lang?«, fragte Deneise, und ich erzählte ihr, dass er wieder gesund würde.

»Oh, das sind ja gute Neuigkeiten!« Ihr schienen gleich mehrere Steine vom Herzen zu fallen.

Jetzt, wo das mit dem Motel geklärt war, konnte ich es kaum erwarten, auf mein Zimmer zu kommen und mich zu waschen. Die Managerin rief Cynthia auf dem Handy an und bat sie, unser Gepäck direkt auf Zimmer 203 zu bringen.

»Ich dachte, Sie fühlen sich besser, wenn Sie nicht mehr im Erdgeschoss wohnen«, erklärte sie beim Auflegen.

»Das stimmt«, sagte ich. Ich dachte an das schwarze Loch im Fenster und bekam eine Gänsehaut. Mein Gesicht und meine Schultern schmerzten, ich war mit verkrusteten Blutspritzern übersät und begann plötzlich zu zittern. Ausgerechnet jetzt, wo ich endlich wieder Zeit für mich hatte. Wo ich glaubte, dass Tolliver wieder gesund würde.

Matthew erschien in der Tür des Büros. »Eure Sachen sind in dem neuen Zimmer, ich glaube nicht, dass etwas fehlt. Alles scheint noch in deiner Handtasche zu sein.«

Die Vorstellung, dass Matthew in meine Handtasche geschaut hatte, behagte mir gar nicht, aber er hatte mir an diesem Abend wirklich sehr geholfen, das musste man ihm lassen. Ich bedankte mich bei Deneise für ihre Hilfsbereitschaft und verließ mit der neuen Schlüsselkarte die Lobby, um mit Matthew zum Lift zu gehen.

»Danke«, sagte ich, während rumpelnd die Tür zu dem Bereich mit den Snackautomaten und dem Eiswürfelspender aufging. Ein Paar, das gerade die Treppen hochkam, musterte uns neugierig. Als es mein blutiges Erscheinungsbild verinnerlicht hatte, eilte es schnell auf sein Zimmer.

»Das ist schon in Ordnung«, sagte Matthew. »Ich habe den Schuss gehört, und dann hast du geschrieen. Ich bin verdammt schnell über diesen Parkplatz gerannt.« Er lachte.

Mir war gar nicht klar gewesen, dass ich geschrieen hatte.

»Hast du irgendjemanden auf dem Parkplatz gesehen?«

»Nein. Und das macht mich echt wahnsinnig, weil der Schütze ganz in der Nähe gewesen sein muss.«

Ich hob mir den Gedanken für später auf. »Ich nehme an, wir sehen uns morgen im Krankenhaus, falls du dir freinehmen kannst«, sagte ich. Plötzlich wollte ich nur noch allein sein.

»Soll ich Iona anrufen?«, fragte Matthew.

Als ich »Nein!« sagte, lachte er ein ersticktes Lachen, wobei er sich kurz anhörte wie Tolliver.

»Bitte nimm es mir nicht übel, wenn ich das sage, aber du bist sehr abhängig von meinem Sohn«, meinte Matthew. Damit traf er dermaßen ins Schwarze, dass ich sofort wütend wurde.

»Dein Sohn ist mein Geliebter und meine Familie«, sagte ich. »Wir sind schon seit Jahren zusammen. Seit du weg bist.«

»Aber du solltest auch allein zurechtkommen können«, sagte Matthew im selbstgerechten Ton eines Menschen, der eine Therapie hinter sich hat. Weil er sich bemühte, freundlich zu klingen, wurde ich erst recht wütend. Ich bin vielleicht kein Feld-Wald-und-Wiesentyp, aber so zerbrechlich, wie ich aussehe, bin ich auch wieder nicht. Na gut, vielleicht doch, aber wenn, ging das Matthew Lang nicht das Geringste an.

»Ich glaube nicht, dass du das Recht hast, mir zu sagen, wie ich leben soll. Wie ich sein sollte«, erwiderte ich. »Du hast nicht über mich zu bestimmen. Früher nicht und jetzt auch nicht. Ich weiß deine heutige Hilfe sehr zu schätzen. Ich freue mich, dass du endlich etwas für deinen Sohn tust, auch wenn er dafür erst angeschossen werden musste. Aber jetzt musst du gehen, denn ich möchte duschen.« Ich benutzte die Schlüsselkarte, und die Tür zu meinem neuen Zimmer sprang auf. Die Lampen brannten, und im Raum war es warm. Unser Gepäck stand neben dem Bett.

Matthew nickte mir zu und ging ohne ein weiteres Wort, worüber ich sehr froh war. Ich betrachtete Tollivers Koffer und begann zu weinen. Aber dann zwang ich mich, ins Bad zu gehen und meine blutbesudelten Kleider auszuziehen. Ich badete ausgiebig, verarztete meine Schnittwunden und Schrammen. Dann zog ich meinen Schlafanzug an.

Ich rief noch mal im Krankenhaus an und erfuhr, dass es Tolliver unverändert ging. Ich ermahnte die Schwestern, mich sofort zu verständigen, wenn sich irgendetwas änderte. Ich lud das Handy auf, legte mich ins Bett und wartete auf ein Klingeln.

Aber es klingelte nicht, die ganze Nacht nicht.

Als ich am nächsten Morgen einen McDonald’s-Drive-In aufsuchte, fiel mir ein, dass ich Iona anrufen und ihr von dem Vorfall berichten musste. Ansonsten würde sie es aus der Zeitung erfahren. Ich erwartete nichts von ihr, und es war ein komisches Gefühl, überhaupt jemanden benachrichtigen zu müssen. Tolliver und ich sind es gewohnt, allein zurechtzukommen. Wären wir nicht hier in der Gegend gewesen, wäre ich nie auf die Idee gekommen, Iona über Tollivers Verletzung zu informieren. Ich war schon früh im Krankenhaus, fand Tolliver schlafend in seinem Zimmer vor. Dann kehrte ich in die Lobby zurück, um mein Handy zu benutzen. Es war ein kalter, wolkenloser Tag mit einem knallblauen Himmel.

Ich sah auf die Uhr. Vielleicht war Iona noch nicht zur Arbeit aufgebrochen, also rief ich bei ihr zu Hause an. Iona war nicht gerade begeistert, dass ich sie so früh störte, woraus sie auch keinen Hehl machte.

»Tolliver wurde gestern Abend angeschossen«, sagte ich. Daraufhin verstummte sie kurz.

»Geht es ihm gut?«, fragte sie dann, sogar jetzt noch vorwurfsvoll.

»Ja, er wird durchkommen«, sagte ich. »Er liegt im God’s Mercy Hospital. Er hatte eine Schulter-OP. Er wird ein paar Tage dortbleiben müssen, sagt der Arzt.«

»Ich glaube nicht, dass ich die Mädchen gleich informieren muss«, sagte Iona. »Mal ganz abgesehen davon, dass Hank sie gerade zur Schule fährt. Wir werden das ansprechen, wenn sie heute Nachmittag nach Hause kommen.«

»Ganz wie du meinst«, sagte ich. »Ich muss Mark anrufen.« Ich legte auf und war wütend und enttäuscht. Ich wollte auch nicht, dass sich meine kleinen Schwestern aufregten und Sorgen machten. Erst recht nicht nach dem Vorfall auf der Eisbahn gestern. Aber mich störte, dass mein Verhältnis zu ihnen stets von dieser Hexe beherrscht und reglementiert wurde. Ich wusste, dass ich Iona damit Unrecht tat. Eigentlich musste ich froh sein, dass Hank und sie den Nerv und die Güte hatten, zwei Mädchen aus so schwierigen Verhältnissen aufzuziehen.

Aber immer erst an ihr vorbei zu müssen, war wirklich anstrengend.

Zum ersten Mal musste ich Tolliver recht geben. Vielleicht sollten wir lieber aus dem Leben unserer Schwestern verschwinden und ihnen nur noch Weihnachtsgeschenke und Geburtstagskarten schicken.

Dann ging Mark verschlafen ans Telefon, und ich musste die bösen Gedanken verdrängen, um ins Hier und Jetzt zurückzukehren. Mark hatte am Vorabend Spätschicht gehabt und war dementsprechend wenig aufnahmefähig. Aber ich achtete darauf, dass er das Wichtigste mitbekam und den Namen des Krankenhauses behielt. Er versprach, vorbeizukommen, sobald er konnte, wahrscheinlich am späten Vormittag.

Dann blieb mir nichts anderes übrig, als in den trostlosen Raum zurückzukehren und Tolliver beim Schlafen zuzuschauen. Natürlich hatte ich ein Buch in der Handtasche und versuchte, eine Weile zu lesen. Trotzdem konnte ich der Handlung nicht recht folgen. Schließlich legte ich das Buch weg und sah Tolliver einfach nur an.

Tolliver ist selten krank, und er war noch nie so schlimm verletzt. Der Verband, die Schläuche und sein fahler Teint machten ihn mir regelrecht fremd, so als hätte ein anderer von seinem Körper Besitz ergriffen. Ich saß da und starrte ihn an, wünschte mir, er würde sich aufsetzen und wieder zu Kräften kommen.

Was aber nicht sehr gut funktionierte.

Ich wusste, dass ich jetzt stark sein musste. Jetzt, wo mein Bruder ans Bett gefesselt war, musste ich mich um ihn, um uns kümmern. Gut, dass wir ohnehin vorgehabt hatten, ein paar Tage in Texas zu bleiben. So mussten keine Aufträge verschoben werden. Trotzdem musste ich unsere Mails kontrollieren. Ich würde alles selbst in die Hand nehmen müssen. Sofort hatte ich Angst, dem nicht gerecht werden zu können oder etwas Wichtiges zu vergessen. Aber was konnte ich schon vergessen, das so wichtig war? Solange wir keinen Auftrag übersahen, solange der Wagen vollgetankt war und uns das Benzin nicht ausging, würde ich schon alles richtig machen.

Endlich kam Dr. Spradling herein. Tolliver hatte sich ein wenig bewegt, also wusste ich, dass er bald aufwachen würde. Dr. Spradling sah noch erschöpfter und älter aus als am Vortag. Er warf mir einen Blick zu und nickte, bevor er an Tollivers Bett trat. Dann sagte er durchdringend: »Mr Lang?«

Tolliver öffnete die Augen. Er sah am Arzt vorbei, direkt zu mir, und seine Züge entspannten sich.

»Geht es dir gut, mein Schatz?«, fragte er und versuchte, meine Hand zu nehmen.

Ich ging am Arzt vorbei und lief um das Bett herum auf die andere Seite. Ich nahm seine Linke in meine Hände.

»Wie geht es dir?«, fragte ich.

Dr. Spradling sah Tolliver in die Augen, las seine Patientenakte und hörte uns zu.

»Meine Schulter tut weh. Was ist mit dir passiert?«, fragte Tolliver. »Das Fenster ist explodiert. Hat jemand einen Ziegelstein hineingeworfen? Du hast Schnittwunden im Gesicht.«

»Tolliver, du wurdest angeschossen«, sagte ich. Mir fiel keine taktvollere Methode ein, um ihm das beizubringen. »Mich haben nur ein paar Glassplitter von der Fensterscheibe getroffen. Eine Kleinigkeit. Aber auch du wirst wieder gesund.«

Tolliver machte einen verwirrten Eindruck. »Ich kann mich gar nicht daran erinnern«, sagte er. »Ich wurde angeschossen?«

»Seine Erinnerung wird zurückkehren«, beruhigte mich Dr. Spradling. Ich sah ihn blinzelnd an, um die Tränen zurückzuhalten.

»Das ist nicht ungewöhnlich«, sagte er, und ich war ihm dankbar für seine beruhigenden Worte. »Mr Lang, ich werde mir jetzt Ihre Wunde ansehen.« Eine Schwester kam herein, und die nächsten Minuten waren nicht sehr angenehm. Tolliver wirkte erschöpft, als er wieder frisch verbunden war.

»Alles sieht gut aus«, sagte Dr. Spradling knapp. »Mr Lang, Sie erholen sich wie erhofft.«

»Ich fühle mich hundeelend«, sagte Tolliver, weniger aus Selbstmitleid, sondern aus Sorge.

»Eine Schussverletzung ist keine Kleinigkeit«, sagte Dr. Spradling und lächelte mich vorsichtig an. »Das ist nicht so wie im Fernsehen, Mr Lang, wo die Leute sofort aus dem Krankenhausbett springen und die Verfolgung wieder aufnehmen.«

Vermutlich hatte Tolliver das nicht verstanden, denn er sah den Arzt verwirrt an. Spradling wandte sich an mich. »Ich nehme an, dass er morgen auch noch hier sein wird, und dann warten wir den nächsten Tag ab. Vielleicht braucht er eine Physiotherapie wegen der Schulter.«

»Aber er wird seinen Arm wieder ganz normal benutzen können?«, fragte ich, als mir klar wurde, dass ich mir viel mehr Sorgen hätte machen müssen.

»Wenn alles weiterhin gut geht, wahrscheinlich schon.«

»Oh«, sagte ich, bestürzt über die fehlende Gewissheit. »Was kann ich für ihn tun?« Dr. Spradling sah genauso verwirrt aus wie Tolliver. Er schien nicht zu glauben, dass ich viel für Tolliver tun konnte, außer seine Rechnung zu bezahlen. »Jetzt kommt es ganz auf ihn an«, sagte Dr. Spradling. »Auf Ihren Partner.«

Ich glaube, an diesem Tag hielt ich generell nicht viel von Ärzten, da mir keiner eine eindeutige Antwort geben konnte. Vom Verstand her wusste ich, dass Dr. Spradling einfach nur vernünftig und realistisch war. Mein Verstand sagte mir auch, dass ich ihm dafür dankbar sein musste. Aber meine Gefühle waren stärker.

Ich schaffte es, mich zu beherrschen, und Dr. Spradling verschwand mit einem fröhlichen Winken. Tolliver machte nach wie vor einen verwirrten Eindruck, döste aber wieder ein. Seine Lider flatterten, wenn es Lärm auf dem Flur gab, aber so richtig öffnete er die Augen nicht. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich stand an seinem Bett, sah Tolliver an und versuchte, einen Plan zu schmieden, als Victoria Flores nach einem kurzen Klopfen hereinkam.

Victoria war Ende dreißig. Die frühere Polizeibeamtin Texarkanas war gut gebaut und gut aussehend. Ich hatte Victoria nie anders als im Kostüm und mit hohen Schuhen gesehen. Sie besaß ihren ganz eigenen Dresscode. Victorias dunkles, dickes Haar war zu einem schulterlangen Pagenschnitt geglättet worden, und schwere goldene Kreolen schmückten ihre Ohren. Heute war ihr Kostüm von mattem Rot, darunter trug sie eine eierschalenfarbene Bluse.

»Wie geht es ihm?«, fragte sie und wies mit dem Kinn zu der reglosen Gestalt im Bett. Keine Umarmung, kein Händedruck, keine lange Vorrede. Victoria kam direkt zur Sache.

»Er ist ziemlich schwer verletzt«, sagte ich. »Sein Schlüsselbein wurde zerschmettert.« Ich tippte auf mein eigenes Schlüsselbein. »Aber der Arzt, der gerade da war, meinte, dass Tolliver wieder gesund wird, wenn er Physiotherapie macht. Wenn alles gut geht.«

Victoria schnaubte. »Wie ist das passiert?«

Ich erzählte es ihr.

»Was war euer letzter Fall?«, wollte sie wissen.

»Die Joyces.«

»Ich treffe mich heute Vormittag mit ihnen.«

Ich erzählte ihr nicht, was auf dem Friedhof vorgefallen war, weil mir die Joyces das nicht erlaubt hatten. Aber ich erzählte Victoria in groben Zügen, wie wir die Zeit verbracht hatten. Sie wusste auch, dass sie uns im Motel besucht hatten.

»Das muss der Grund für die Schießerei gewesen sein«, sagte Victoria. »Und der Auftrag davor?«

»Erinnerst du dich noch an den Serienmörder? Der die Jungs in North Carolina umgebracht und in ein Massengrab geworfen hat?«

»Das warst du – du hast sie gefunden?«

»Ja. Es war furchtbar. Wir hatten viel Publicity, allerdings vorwiegend unangenehme.« Ich hatte festgestellt, dass Mund-zu-Mund-Propaganda besser war, um an gut bezahlte Aufträge zu kommen. Publicity führte zwar zu einem heftigen Aufflackern von Interesse, aber dieses Interesse kam meist von Leuten, die das Unerklärliche, Blutrünstige anzog. Nicht unbedingt Leute, die viel Geld dafür bezahlen, damit so etwas in ihrer direkten Nachbarschaft passiert.

»Die Schießerei ist also vielleicht eine Folge des Falls in North Carolina?«

»Jetzt, bei näherer Betrachtung, erscheint mir das wenig wahrscheinlich.« Tolliver musste sich dringend rasieren. Das würde ich erledigen müssen, genauso wie das Kämmen. Ich wusste nicht, womit ich ihm noch helfen konnte.

Er sah so hilflos aus. Er war so hilflos. Ich war die Einzige, die ihn beschützen konnte. Ich musste mich zusammenreißen.

»Die Morde in North Carolina haben wirklich viele Leute entsetzt«, sagte Victoria nachdenklich. Sie schien zu glauben, dass der Schuss auf Tolliver etwas mit dem einzigen Serienmord zu tun hatte, mit dem wir je konfrontiert waren.

»Aber die Bösen wurden gefasst. Warum sollte jemand auf uns schießen, wenn wir geholfen haben, die Täter dingfest zu machen?«

»Bist du sicher, dass nicht noch mehr Leute in den Fall verwickelt waren? Waren die beiden Männer die einzigen Mörder?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, und die Polizei ist es auch. Glaub mir, in dem Fall wurde sehr gründlich ermittelt. Der Prozess steht noch aus, aber der Staatsanwalt ist sich ziemlich sicher, dass sie verurteilt werden.«

»Gut.« Victoria sah ein paar Sekunden auf Tolliver herab. »Dann verfolgt euch entweder ein Stalker oder es hat mit den Joyces zu tun.« Sie schwieg einen Moment. »Über deine Schwester gibt es schon eine ganze Weile nichts Neues. Ich nehme an, dass die Spur von Camerons Entführung längst viel zu sehr erkaltet ist, um noch etwas mit der jetzigen Situation zu tun zu haben.«

Ich nickte. »Das sehe ich genauso. Am wahrscheinlichsten ist, dass die Joyces etwas damit zu tun haben. Wenn sie mir erlauben, mit dir zu reden, weihe ich dich gerne ein. So viel gibt es da allerdings auch wieder nicht zu erzählen.«

Victoria zog ihr Handy hervor und machte einen Anruf, obwohl das im Krankenhaus bestimmt nicht erlaubt war. Sie begann zu reden. Wenige Sekunden später reichte sie mir das Telefon.

»Hallo«, sagte ich.

»Hier ist Lizzie Joyce.«

»Hallo. Darf ich Victoria alles erzählen?«

»Das ist wirklich sehr integer von Ihnen. Sie haben meine Erlaubnis.« Klang sie amüsiert? Ich mag es nicht, wenn man sich über meine Korrektheit amüsiert. »Das mit Ihrem Manager tut mir leid«, fuhr Lizzie fort. »Es soll im selben Motel passiert sein, in dem wir Sie besucht haben. Meine Güte! Was ist denn da passiert? War es ein Amokläufer?«

Eine Erinnerung kam in mir hoch. »Einer der Cops sagte mir, ein paar Blocks weiter weg habe es ebenfalls eine Schießerei gegeben. Das könnte also sein, aber es fällt mir schwer, das zu glauben.«

»Nun, das tut mir aufrichtig leid. Wenn ich etwas für Sie tun kann, geben Sie mir bitte Bescheid.«

Ich fragte mich, wie aufrichtig dieses Angebot wirklich war. Eine verrückte Minute lang wollte ich schon sagen: »Dieser Krankenhausaufenthalt wird sehr teuer, weil wir so schlecht versichert sind. Können Sie die Rechnung übernehmen? Oh, und die für die Reha ebenfalls?« Aber ich dankte ihr nur und gab Victoria das Handy zurück.

Bisher war ich viel zu besorgt gewesen, um mir über die finanziellen Konsequenzen Gedanken zu machen. Ich verlor mich in Grübeleien, während Victoria Flores das Telefonat mit Lizzie Joyce beendete. Zum ersten Mal wurde mir die Tragweite der ganzen Sache klar. Ich begriff, dass Tollivers Verletzung das Ende unseres Traums, ein Haus zu kaufen, bedeutete. Zumindest in der näheren Zukunft.

Ich konnte also noch deprimierter werden als vorhin, was ich vor zehn Minuten noch für völlig unmöglich gehalten hätte.

Ich erzählte Victoria von unserem Besuch auf dem Pioneer Rest Cemetery. Sie stellte mir jede Menge Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Aber am Ende wirkte sie zufrieden, auch noch das Letzte aus mir herausgequetscht zu haben.

»Ich hoffe, ich kann den Joyces weiterhelfen«, sagte sie, inzwischen selbst etwas deprimiert. »Ich konnte es kaum fassen, dass sie sich an mich und nicht an eine große Detektei gewandt haben. Aber jetzt, wo ich die Details kenne, verstehe ich, warum sie jemanden wie mich wollten.«

»War das schwer, hierher zu ziehen?«, fragte ich.

»Ja, es gibt zwar viel mehr zu tun, aber auch viel mehr Konkurrenz«, sagte Victoria. »Doch es ist gut, dass ich näher bei meiner Mutter wohne, sie hilft mir mit meiner Tochter. Und die MariCarmen-Schule hier ist besser als die in Texarkana. Außerdem ist der Schulweg nicht so weit. Ich habe immer noch viele Geschäftskontakte und Freunde in Texarkana. Ich brauche nur zweieinhalb bis drei Stunden dorthin, je nach Wetter und Verkehr.«

»Wir werden Cameron niemals finden, was?«, sagte ich.

Victorias Mund öffnete sich, als ob sie mir etwas mitteilen wollte. Dann schloss sie ihn wieder. »Das würde ich nicht sagen. Man weiß nie, wann noch mal eine Spur auftaucht. Und das sage ich nicht nur, um dir was vorzumachen. Das weißt du selbst am besten.«

Ich nickte.

»Ich habe Cameron stets im Hinterkopf«, sagte Victoria. »Als ich vor all den Jahren zu eurem Wohnwagen kam und mit Tolliver sprach … Da war ich eine noch ganz unerfahrene Polizistin. Ich dachte, ich würde sie schnell finden und mir einen Namen machen. Aber dem war nicht so. Aber jetzt, wo ich mich selbstständig gemacht habe, suche ich immer noch nach ihr, und zwar wo ich gehe und stehe.«

Ich schloss die Augen. Dasselbe tat ich auch.

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