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»Also dann«, sagte die strohblonde Frau in der Jeansjacke. »Legen Sie los.« Bei ihrem breiten Akzent hörte sich das jedoch eher an wie »Legnselos«. Ihr habichtartiges Gesicht war erwartungsvoll gespannt, so als stünde sie kurz davor, eine unbekannte Speise zu probieren.
Wir befanden uns auf einem windgepeitschten Gelände, mehrere Meilen südlich der zwischen Texarkana und Dallas verlaufenden Interstate. Auf der schmalen zweispurigen Straße, auf der wir hergekommen waren, brauste ein Wagen vorbei – der einzige, den ich gesehen hatte, seit ich Lizzie Joyces schwarz glänzendem Chevy Kodiak zum Pioneer Rest Cemetery gefolgt war, einem Friedhof außerhalb des kleinen Städtchens Clear Creek.
Als unsere kleine Truppe verstummte, war das Pfeifen des Windes, der über die sanft geschwungenen Hügel strich, das einzige noch hörbare Geräusch.
Der kleine Friedhof war nicht umzäunt. Er war aufgegeben worden, allerdings schon vor längerer Zeit. Es handelte sich um einen alten Friedhof – insoweit ein Friedhof in Texas überhaupt alt sein kann –, der angelegt wurde, als die Eiche in seiner Mitte noch ein kleines Bäumchen gewesen war. Vögel zwitscherten in ihren Ästen. Da wir uns im Norden von Texas befanden, wuchs hier Gras, aber im Februar war es noch nicht grün. Obwohl es etwa zehn Grad warm war, pfiff der Wind kälter als erwartet. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke bis ganz nach oben zu und staunte nicht schlecht, dass Lizzie Joyce gar keine trug.
Die Menschen, die hier lebten, waren zäh und pragmatisch. Zu ihnen zählte auch die etwa dreißigjährige Blondine, die mich eingeladen hatte. Sie war schlank und durchtrainiert und hatte ihre Jeans hochgekrempelt – wahrscheinlich, um sich den Stiefelschaft einzufetten. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie ein Pferd bestieg. Aber ihre Stiefel hatten Patina, dasselbe galt für ihren Hut. Und wenn ich die Gravur auf ihrer Gürtelschnalle richtig entzifferte, war sie der letztjährige Bezirks-Champion im Tonnenrennen. Lizzie Joyce war echt.
Sie hatte außerdem mehr Geld auf der Bank, als ich jemals haben würde. Die Diamanten an ihrer Hand funkelten im grellen Sonnenlicht, als sie auf die den Toten geweihte Erde zeigte. Ms Joyce wollte, dass ich endlich mit meiner Vorstellung begann.
Ich bereitete mich aufs »Loslegn« vor. Da Lizzie eine Menge Geld dafür blechte, wollte sie so viel wie möglich davon haben. Sie hatte ihre kleine Entourage eingeladen, die aus ihrem Freund, ihrer jüngeren Schwester und ihrem Bruder bestand. Letzterer sah aus, als wäre er überall lieber als auf dem Pioneer Rest Cemetery.
Mein Bruder hatte sich an unseren Wagen gelehnt und rührte sich nicht von der Stelle. Bis ich meinen Job erledigt hatte, würde Tolliver mich nicht aus den Augen lassen.
Ich betrachtete ihn nach wie vor als meinen Bruder, obwohl ich mich bemühte, ihn in der Öffentlichkeit nicht mehr so zu nennen. Inzwischen führten wir eine ganz andere Beziehung.
Wir waren den Joyces an jenem Vormittag zum ersten Mal begegnet. Wir hatten den langen, gewundenen Feldweg genommen, der zwischen weitläufigen, eingezäunten Feldern hindurchführte, und waren Lizzies ausgezeichneter Wegbeschreibung gefolgt, die sie uns gemailt hatte.
Das Haus am Ende des Weges war sehr groß und sehr schön, aber nicht protzig. Es war ein Haus, in dem hart arbeitende Menschen lebten. Die Latina, die uns aufmachte, trug eine hübsche Hose und eine Bluse statt irgendeiner Uniform. Und sie nannte ihre Chefin »Lizzie« und nicht »Ms Joyce«. Da es auf einer Farm keine Sonntage gibt, wunderte ich mich nicht weiter, dass das große Haus wie ausgestorben wirkte. Die wenigen Menschen, die ich entdecken konnte, hielten sich in weiter Entfernung von der Farm auf. Während uns die Haushälterin hineinbat, sah ich einen Jeep kommen, und zwar auf dem Weg, der zur Rückseite des Hauses führte.
Lizzie Joyce und ihre Schwester Kate hatten in der Waffenkammer gewartet. Bestimmt bezeichneten sie diesen Raum als Wohnzimmer oder so etwas, denn hier traf man sich, um fernzusehen, Brettspiele zu spielen oder zu tun, was reiche Leute sonst so mit ihrer Freizeit anfangen, wenn sie am Arsch der Welt leben. Aber für mich war es eine Waffenkammer: Gewehre und Tierköpfe, wohin man sah. Die Einrichtung war im Stil einer rustikalen Jagdhütte gehalten. Da das Haus vom Großvater der Joyces errichtet worden war, spiegelte es bestimmt seinen Geschmack wider. Aber hätte ihnen das nicht gefallen, hätten sie ihn leicht ändern können. Der Mann war nämlich schon eine ganze Weile tot.
Lizzie Joyce sah aus wie auf den Fotos, die ich von ihr gesehen hatte. Sie wirkte absolut handfest, wie eine Frau, die ihren Mann steht. Ihre Schwester Kate, genannt Katie, war eine jüngere Ausgabe von ihr, kleiner und unverbrauchter. Aber genauso selbstbewusst und durchsetzungsfähig. Vielleicht wird man automatisch so, wenn man viel Geld im Hintergrund hat.
Die Waffenkammer verfügte über Fenstertüren, die auf eine großzügige Loggia hinausführten. Dort standen Steingefäße, die im Frühling sicher bepflanzt wurden, aber noch war es nicht so weit. Nachts sank die Temperatur manchmal immer noch unter Null. Ich sah, dass die Joyces ihre Schaukelstühle den Winter über draußen gelassen hatten. Wie es sich wohl anfühlte, an einem Sommermorgen auf der überdachten Loggia zu sitzen, Kaffee zu trinken und über die eigenen Ländereien zu schauen?
Der Jeep hielt vor der sanften Steigung, die zur Hintertür führte, zwei Männer stiegen aus und betraten das Haus.
»Harper, das ist der Manager der RJ Ranch, Chip Moseley. Und das ist unser Bruder Drexell.«
Tolliver und ich gaben den Männern die Hand.
Der Manager hatte ein wettergegerbtes Gesicht, grüne, skeptisch dreinblickende Augen und braunes Haar. Auch er wäre am liebsten gleich wieder verschwunden, genau wie der Bruder. Beide waren nur gekommen, weil Lizzie das wollte. Chip Moseley gab Lizzie einen flüchtigen Kuss, und ich sah, dass er sowohl ihr Freund als auch ihr Manager war. Das könnte heikel werden.
Der Bruder Drexell war der Jüngste der Joyces und der Unscheinbarste. Lizzie und Katie besaßen beide eine gewisse habichtnasige Markanz, während Drexells rundes Gesicht nach wie vor sehr kindlich wirkte. Er sah mir nicht in die Augen, genau wie seine Schwestern.
Ich hatte das dumpfe Gefühl, die beiden Männer schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Da die riesige Ranch der Joyces nicht allzu weit von Texarkana entfernt lag, wo ich aufgewachsen war, konnte ich Chip und Drexell durchaus schon einmal begegnet sein. Aber wenn ich etwas auf gar keinen Fall wollte, dann meine Vergangenheit wieder aufleben lassen. Ich war nicht immer diese mysteriöse Frau gewesen, die Leichen finden kann, weil sie vom Blitz getroffen wurde.
»Ich freue mich sehr, dass Sie kommen konnten«, sagte Lizzie.
»Meine Schwester liebt das Besondere«, behauptete Katie an Tolliver gewandt. Sie hatte eindeutig ein Auge auf ihn geworfen.
»Harper ist unvergleichlich«, erwiderte er und sah mich dabei an. Er schien sich zu amüsieren.
»Nun, ich hoffe, Sie sind Ihr Geld wert«, bemerkte Chip, dessen wettergegerbtes, anziehendes Gesicht etwas Drohendes bekam. Ich nahm ihn genauer ins Visier. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, mich für den Mann einer anderen zu interessieren. Aber Chip Moseley hatte durchaus etwas: etwas, das meine besondere Gabe ansprach. Doch er lebte und atmete – normalerweise ein Ausschlusskriterium.
Ich arbeite nämlich mit Toten.
Seit Lizzie Joyce auf eine Webseite gestoßen war, die über meine Reisen berichtet, hatte sie anscheinend keine ruhige Minute mehr gehabt, bis ihr ein Job für mich eingefallen war. Sie wollte endlich wissen, was ihren Großvater umgebracht hatte, der weit entfernt vom Haupthaus leblos neben seinem Jeep gefunden worden war. Rich Joyce hatte eine Schädelverletzung, und man nahm an, dass er beim Ein- oder Aussteigen gestürzt war. Oder aber sein Jeep war auf einen Felsen gefahren, woraufhin er aus dem Wagen geschleudert worden war und sich den Kopf an der Karosserie gestoßen hatte. Man hatte jedoch keinerlei Spuren eines solchen Zusammenstoßes entdecken können. Wie dem auch sei: Der Motor des Jeeps war abgestellt, und Rich Joyce war tot gewesen. Da weit und breit niemand zu sehen gewesen war, hatte man seinen Tod einem Herzversagen zugeschrieben. Er war schon vor Jahren beerdigt worden. Da Richs einziger Sohn und dessen Frau mehrere Jahre zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, hatten seine drei Enkel alles geerbt, wenn auch nicht zu gleichen Teilen. Wie Tolliver herausgefunden hatte, war Lizzie zur Verwalterin des Familienvermögens bestellt worden. Die anderen beiden Enkel besaßen Anteile, die sich auf etwas weniger als ein Drittel beliefen. Das genügte, um sicherzustellen, dass Lizzie auch in Zukunft das Sagen hatte. Es war nicht schwer zu erraten, wem Rich Joyce am meisten vertraut hatte.
Ob Rich Joyce gewusst hatte, dass sich seine Enkelin für Übernatürliches interessierte oder schlichtweg das Besondere liebte? Deshalb also hatte Lizzie uns auf den Pioneer Rest Cemetery geführt, und deshalb stand ich jetzt hier und wartete auf ihr Signal zum Loslegen.
Die eigensinnige Lizzie wollte was sehen für ihr Geld, also würde sie mich nicht gleich zum Grab ihres Großvaters führen. Sie hatte mich nicht einmal über den Sinn und Zweck meiner Suche unterrichtet, bevor ich vor einer halben Stunde aus meinem Wagen gestiegen war. Natürlich konnte ich hier herumspazieren und alle Grabinschriften lesen, bis ich auf eine mit den passenden Daten stieß. So viele Joyces lagen hier auch nicht unter der Erde. Aber ich würde die Sache trotzdem etwas in die Länge ziehen und ihr ein paar Gratisdarbietungen geben, da sie bei meinem Honorar nicht mit der Wimper gezuckt hatte.
Ich hatte meine Schuhe ausgezogen und musste aufpassen, wo ich hintrat. In Texas verstecken sich Dornen im Gras, auch wenn es noch so schön aussieht. Ich warf einen letzten Blick auf das Panorama aus sanften Hügeln und Bäumen. Der kleine Friedhof hätte ebenso gut auf dem Mond liegen können, so stark war der Kontrast zu den dicht besiedelten Landstrichen und wohlgeordneten Kleinstädten, die wir auf dem Weg zu unserem letzten Auftrag in North Carolina passiert hatten. Dort waren wir zwar in einem kleinen Kaff gewesen, aber ich hatte mich dort nie so isoliert gefühlt wie hier in dieser Landschaft. Man hatte stets gewusst, dass der nächste Ort nur eine kurze Autofahrt entfernt war.
Aber wenigstens war es hier nicht ganz so kalt, wir konnten davon ausgehen, dass es nicht schneien würde. Meine Füße prickelten in der kühlen Luft, aber nicht so, wie ich im eis- und nasskalten North Carolina am ganzen Körper gefroren hatte.
Die Joyces waren in der Nähe der alten Eiche bestattet worden. Ich entdeckte einen großen Felsbrocken, der auf einer Seite poliert worden war. Dort hatte man in riesigen Buchstaben den Namen Joyce eingraviert. Es hätte doch etwas zu naiv gewirkt, diesen Hinweis zu ignorieren. Ich blieb am ersten Grab dieser Familiengruft stehen, obwohl es eindeutig nicht das war, weswegen ich hier war. Aber egal, irgendwo musste ich schließlich anfangen. Auf dem Grabstein stand: Hier ruht Sarah, die geliebte Ehefrau von Paul Joyce. Ich atmete tief durch und betrat das Grab. Sofort war ich wie elektrisiert und nahm Verbindung zu den Gebeinen unter meinen Füßen auf. Sarah wartete wie alle Verstorbenen, und zwar unabhängig davon, ob sie schon lange tot oder erst seit Kurzem verstorben sind, ordnungsgemäß bestattet oder wie Müll weggeworfen wurden. Ich spürte mit meiner besonderen Gabe tief in die Erde hinab. Stellte einen Kontakt her. Hörte zu.
»Eine Frau um die sechzig, ein geplatztes Aneurysma«, sagte ich. Ich öffnete die Augen und betrat das nächste Grab. Dieses hier war älter, deutlich älter. »Hiram Joyce«, sagte ich. Ich stand da und versuchte, die wenigen noch verbliebenen Knochen unter meinen Füßen zu erreichen. »Eine Blutvergiftung«, sagte ich schließlich. Ich ging zu dem Grab daneben und blieb einen Moment stehen, bis mich das Summen erfasste: Das war der Ruf der Gebeine, der sterblichen Überreste. Sie wollten, dass ich erfuhr, woran sie gestorben waren, wie ihr letztes Stündlein ausgesehen hatte. Ich warf einen Blick auf den Grabstein. Man muss das Rad schließlich nicht neu erfinden.
Das hier war kein Mitglied der Familie Joyce, obwohl es in ihrer Gruft beerdigt worden war. Das Sterbedatum lag acht Jahre und ein paar Monate zurück. Die Grabinschrift lautete Mariah Parish. Obwohl ich spürte, dass sich die beiden Männer, die im kümmerlichen Schatten eines verkrüppelten Baumes warteten, plötzlich aufrichteten, war ich zu sehr darauf konzentriert, Kontakt aufzunehmen, um mir darüber Gedanken zu machen.
»Oh«, sagte ich leise. Der Wind zerzauste mein dunkles kurzes Haar und zerrte daran. »Oh, die Ärmste.«
»Wie bitte?«, fragte Lizzie, deren raue Stimme einfach nur verwirrt klang. »Das war die Pflegerin meines Großvaters. Sie hatte einen Blinddarmdurchbruch oder so was Ähnliches.«
»Sie hat viel Blut verloren, ist nach der Geburt eines Kindes gestorben«, sagte ich. Ich zählte zwei und zwei zusammen und sah zu den beiden Männern hinüber. Drexell war tatsächlich einen Schritt näher gekommen. Chip Moseley staunte, war aber auch wütend. Ob ihn die Information schockierte oder vielmehr die Tatsache, dass ich sie laut ausgesprochen hatte, wusste ich nicht. Aber egal, was in den Männern vorging – für Mariah war es zu spät. Ich wandte den Blick ab und betrat das Grab rechts davon, jenes, weswegen ich gekommen war. Es war ein besonders breites Doppelgrab und besaß den größten Grabstein von allen. Richard Joyces Frau war zehn Jahre vor ihm gestorben. Sie hatte Cindilynn geheißen, und ich fand heraus, dass sie an Brustkrebs gestorben war. Ich erwähnte das und sah, dass sich Kate und Lizzie anblickten und nickten. Ich betrat den Bereich daneben, den von Rich Joyce. Er war vor acht Jahren gestorben, kurz nach seiner Pflegerin. Ich legte den Kopf schräg, während ich Richards Gebeinen zuhörte.
Er hatte etwas Unerwartetes gesehen, soviel wurde mir klar. Aber ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich begriff, dass er mit dem Jeep angehalten hatte und ausgestiegen war, weil er einen Bekannten getroffen hatte.
Ich hatte kein Bild von dieser Person vor Augen. Es ist nicht so, als sähe ich einen Film. Ich versetze mich eher für einen kurzen Augenblick in die Person des Verstorbenen hinein, denke, was sie gedacht, fühle, was sie in den letzten Sekunden ihres Lebens gefühlt hat. So erfuhr ich von Rich Joyce, dass er angehalten hatte, weil er jemanden entdeckt hatte. Ich durchlief allerdings nicht den Prozess des Wiedererkennens und traf auch nicht die Entscheidung, anzuhalten. Als Rich Joyce stellte ich den Motor ab und stieg aus, als die Schlange angeflogen kam. Die Klapperschlange, die mich (Rich Joyce) dermaßen erschreckte, dass mein (sein) Herz stehen blieb. Mir ist so heiß, kein Wasser, ich komme nicht an mein Handy, oh mein Gott, so sterben zu müssen! Danach wurde alles schwarz. Um klarer zu sehen, was nur ich sehen konnte, schloss ich die Augen und erzählte, was geschah.
Als ich die Augen wieder aufmachte, starrte mich die vierköpfige Joyce-Truppe an, als zeigte ich die Wundmale Jesu. Manchmal reagieren die Leute so, obwohl sie mich doch extra dafür engagiert haben.
Ich jage den Leuten Angst ein, fasziniere sie (wenn auch nicht immer auf eine gesunde Art und Weise) oder beides. Das mit der Faszination schien sich allerdings heute in Grenzen zu halten: Lizzies Freund Chip sah mich an, als trüge ich eine Zwangsjacke, und den drei Joyces stand der Mund offen. Alle schwiegen.
»Jetzt wissen Sie also Bescheid«, sagte ich knapp.
»Das können Sie genauso gut erfunden haben«, wandte Lizzie ein. »Es war jemand bei ihm? Wie denn das? Niemand hat etwas dergleichen erwähnt. Wollen Sie etwa behaupten, dass jemand eine Klapperschlange nach Granddaddy geworfen hat, der daraufhin einen Herzinfarkt bekam? Und dass dieser Jemand anschließend einfach ging? Und wollen Sie allen Ernstes behaupten, dass Mariah ein Baby hatte? Ich habe Sie nicht engagiert, damit Sie mich anlügen!«
Jetzt wurde ich langsam wirklich sauer. Ich atmete tief durch. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Tolliver schon auf dem Weg zu mir war, er wirkte alarmiert. Chip Moseley dagegen hatte sich zum Jeep zurückgezogen und stützte sich schmerzgekrümmt darauf ab. Ich begriff, dass es ihm gar nicht gefallen würde, wenn ich die Aufmerksamkeit darauf lenkte.
»Sie haben mich genau hierfür angeheuert«, sagte ich und hob die Hände. »Da lässt sich nichts nachweisen, nicht einmal, wenn Sie Ihren Großvater obduzieren lassen würden. Aber ich habe Sie vorgewarnt, dass genau das passieren kann. Die Sache mit Mariah Parish dagegen können Sie selbstverständlich überprüfen, wenn Sie mir tatsächlich misstrauen. Es müsste eine Geburtsurkunde oder andere Unterlagen geben.«
»Stimmt«, sagte Lizzie schon ein gutes Stück nachdenklicher und weitaus weniger aufgebracht. »Aber mal abgesehen davon, was mit Mariahs Baby passiert ist, falls sie denn wirklich eines hatte, wird mir ganz schlecht bei dem Gedanken, dass jemand meinem Großvater so etwas antun konnte. Vorausgesetzt, Sie sagen wirklich die Wahrheit.«
»Sie können mir glauben oder auch nicht, das liegt ganz bei Ihnen. Wussten Sie von seiner Herzschwäche?«
»Nicht direkt, denn er ging nur selten zum Arzt. Aber er hatte bereits einen Infarkt hinter sich. Und nachdem er sich das letzte Mal durchchecken ließ, wirkte er besorgt.« Das war ihr seit dem Tod ihres Großvaters offensichtlich schon öfter durch den Kopf gegangen.
»Er hatte ein Handy in seinem Jeep, stimmt’s?«, fragte ich.
»Ja«, meinte sie. »Das stimmt.«
»Er hat versucht, danach zu greifen.« Manche letzten Momente sind aufschlussreicher als andere.
Ich warf einen flüchtigen Blick zu Tolliver hinüber und sah anschließend gleich wieder weg. Seine Schultern entspannten sich. Man würde uns in Ruhe lassen.
»Glaubt ihr etwa diesen Unsinn?«, fragte Chip die Schwestern fassungslos. Er hatte sich wieder von seiner merkwürdigen Schmerzattacke erholt und stand jetzt neben Lizzie. Er sah sie an, als sähe er sie zum ersten Mal, obwohl ich dank unserer Recherchen wusste, dass sie bereits seit sechs Jahren ein Paar waren.
Lizzie war zu selbstbewusst, um sich verunsichern zu lassen. Sie wirkte sehr nachdenklich, als sie eine Zigarette hervorzog und anzündete. Schließlich sah sie ihn an. »Ja, ich glaube ihr.«
»Ach du Scheiße!«, sagte Kate Joyce, nahm ihren Cowboyhut ab und schlug sich damit auf ihren schlanken Oberschenkel. »Als Nächstes schleppst du uns noch Hellseher an!«
Lizzie warf ihrer Schwester einen warnenden Blick zu, der alles andere als liebevoll war. Drexell sagte: »Wenn du mich fragst, hat sie sich das alles bloß ausgedacht.«
Wir hatten eine Anzahlung von Lizzie bekommen. Wir waren sowieso nach Texas unterwegs, hätten dort aber nie angehalten, wenn wir keinen Vorschuss bekommen hätten. Interessanterweise ändern reiche Kunden ihre Meinung oft. Arme nicht. Obwohl wir den ersten Scheck von der RJ Ranch bereits eingelöst hatten, stand das restliche Honorar noch aus. Sogar ein Blinder konnte sehen, dass die Joyce-Truppe so ihre Zweifel an meiner Leistung hatte. Doch bevor ich mir darüber den Kopf zerbrechen konnte, zog Lizzie einen zusammengefalteten, zerknitterten Scheck aus ihrer Hosentasche und gab ihn Tolliver, der nahe genug gekommen war, um den Arm um mich zu legen. Mir war ein wenig zittrig. Diesmal war es nicht so schlimm gewesen wie in anderen Fällen, da Rich Joyce nur eine kurze Schrecksekunde erlebt hatte, bevor er gestorben war. Aber der direkte Kontakt mit den Toten ist anstrengend.
»Brauchst du etwas Süßes?«, fragte er.
Ich nickte. Er zog ein Sahnebonbon aus der Tasche und wickelte es aus seinem Papier. Ich machte den Mund auf, und er legte es mir auf die Zunge. Goldener Butterschmelz.
»Ich dachte, er wäre Ihr Bruder!«, sagte Kate Joyce und wies mit dem Kinn auf Tolliver. Obwohl sie erst Ende zwanzig war, schien sie deutlich mehr Lebenserfahrung zu besitzen. Ob das wohl eine Folge davon war, als Kind reicher, aber arbeitsamer Eltern in Texas aufzuwachsen? Oder war das Leben der Joyces aus anderen Gründen anstrengend?
»Das ist er auch«, sagte ich.
»Er wirkt aber eher wie Ihr Freund.« Drexell kicherte.
»Ich bin ihr Stiefbruder und ihr Freund, Drex«, sagte Tolliver liebenswürdig. »Gut, wir fahren dann wieder. Schön, dass wir Ihnen weiterhelfen konnten.« Er nickte ihnen zu. Tolliver ist etwa 1,80 Meter groß und dünn. Aber er hat ziemlich breite Schultern.
Ich liebe ihn mehr als alles auf der Welt.
Das Rauschen der Dusche weckte mich. Wir sehen dermaßen viele Motelzimmer von innen, dass ich manchmal mehrere Sekunden brauche, bis mir klar wird, wo ich gerade bin. Das war wieder so ein Morgen.
Texas. Nachdem wir die Joyces verlassen hatten, waren wir fast den ganzen Nachmittag unterwegs gewesen, um dieses unweit der Autobahn gelegene Motel in Garland bei Dallas zu erreichen. Doch diesmal handelte es sich nicht um eine Geschäfts-, sondern um eine Privatreise.
Als ich die Augen öffnete, wusste ich, dass ich zu viel über unsere schlimme Vergangenheit nachdachte. Jedes Mal, wenn wir meine Tante und ihren Mann in der Nähe von Dallas besuchen, kommen die schlimmen Erinnerungen wieder hoch.
Aber das liegt nicht an dem Bundesstaat.
Wenn ich bei meinen kleinen Schwestern bin, muss ich wieder an den kaputten Wohnwagen in Texarkana denken. Der, in dem Tolliver und ich mit seinem Vater, meiner Mutter, seinem Bruder, meiner Schwester und unseren beiden gemeinsamen Geschwistern lebten. Als die Familie auseinanderbrach, waren sie mehr oder weniger noch Babys.
Das ausgeklügelte Täuschungsmanöver, das wir größeren Kinder mehrere Jahre aufrechterhalten hatten, war aufgeflogen, als meine ältere Schwester Cameron verschwand. Da waren unsere unschönen familiären Verhältnisse an die Öffentlichkeit gelangt, woraufhin man uns unsere kleinen Schwestern weggenommen hatte. Tolliver war zu seinem Bruder Mark gezogen, und ich war in eine Pflegefamilie gekommen.
Die beiden kleinen Mädchen konnten sich nicht mal mehr an Cameron erinnern. Ich hatte sie beim letzten Besuch danach gefragt. Die Mädchen lebten bei Tante Iona und Onkel Hank, die uns ungern besuchen. Aber wir besuchen sie. Mariella und Grace, genannt Gracie, sind unsere Schwestern, und sie sollen wissen, dass wir auch ihre Familie sind.
Ich stützte mich auf, um Tolliver beim Abtrocknen zuzusehen. Er hatte die Badezimmertür beim Duschen aufgelassen, denn sonst beschlug der Spiegel so sehr, dass er sich nicht mehr rasieren konnte.
Wir sehen uns ähnlich. Wir sind beide dünn und dunkelhaarig. Unser Haar ist sogar etwa gleich lang. Seine Augen sind braun, meine dunkelgrau. Aber Tollivers Haut ist voller Aknenarben, weil ihn sein Vater nicht zum Dermatologen schicken wollte. Sein Gesicht ist schmaler, und er trägt oft einen Schnurrbart. Er hasst es, etwas anderes als Jeans und Hemden anzuziehen, während ich mich gern ein bisschen hübsch mache. Schließlich besitze ich die »Gabe«, und da erwartet man das mehr oder weniger von mir. Tolliver ist mein Manager, mein Berater, mein Halt und seit einigen Wochen auch mein Liebhaber.
Er drehte sich zu mir um und merkte, dass ich ihm zusah. Er lächelte und ließ das Handtuch sinken.
»Komm her!«, sagte ich.
Er gehorchte sofort.
»Wollen wir eine Runde laufen?«, fragte ich am Nachmittag. »Danach kannst du gemeinsam mit mir duschen. Damit wir nicht so viel Wasser verschwenden.«
Im Nu hatten wir unsere Laufklamotten an und rannten nach ein paar Dehnübungen los. Tolliver ist schneller als ich. Meist läuft er auf den letzten achthundert Metern voraus, so auch dieses Mal.
Wir waren froh, einen guten Platz zum Laufen gefunden zu haben. Unser Motel lag direkt am Autobahnzubringer. In der näheren Umgebung gab es weitere Hotels, Motels, Restaurants und Tankstellen – die übliche Ansammlung von Dienstleistungsunternehmen für Leute, die viel unterwegs sind. Aber hinter dem Motel entdeckten wir eines dieser »Gewerbegebiete«: zwei gewundene Sträßchen mit sorgsam angelegten, noch niedrigen Bepflanzungen vor einstöckigen Gebäuden mit dazugehörigem Parkplatz. Zwischen den beiden Straßen gab es einen Grünstreifen, der breit genug war, um ein paar Kreppmyrten zu beherbergen. Es gab auch Bürgersteige, um das Gebiet einladender und freundlicher wirken zu lassen. Da es bereits später Freitagnachmittag war, herrschte nur wenig Verkehr zwischen den Betonkästen, die in gesichtslose Einheiten namens Great Systems Inc. und Genesis Distributors aufgeteilt waren. Firmen, hinter denen sich alles Mögliche verbergen konnte. Jeder Block wurde von einer Zufahrt begrenzt, von einer schmalen Straße, die höchstwahrscheinlich zu den Mitarbeiterparkplätzen führte. Davor standen so gut wie keine Autos, die Kunden waren weg, und die letzten Angestellten gingen ins Wochenende.
An so einem Ort erwartete ich wahrhaftig keine Leiche. Ich dachte an den Schmerz in meinem rechten Bein, der von Zeit zu Zeit wieder aufflammt, seit mich der Blitz getroffen hat. Deshalb hörte ich erst nicht, wie ihre Gebeine nach mir riefen.
Tote gibt es selbstverständlich überall. Ich höre nicht nur die modernen Toten. Ich nehme auch die längst Verstorbenen wahr, und selten, sehr selten, sogar das schwache Echo einer Spur, die Menschen vor Erfindung der Schrift hinterlassen haben. Aber der Kerl, mit dem ich hier in einem Vorort von Dallas Kontakt aufnahm, war noch ganz frisch. Ich lief einen Moment auf der Stelle.
Ich konnte mir nicht hundertprozentig sicher sein, bevor ich mich der Leiche näherte. Aber ich hatte so das Gefühl, dass es sich um einen Selbstmord durch Erschießen handelte. Ich ortete den Mann – er befand sich in den hinteren Räumen einer Firma namens Designated Engineering. Ich schüttelte seine innere Not von mir ab. Ich habe schließlich Übung darin. Ob ich ihn bemitleidete? Er hatte die Wahl gehabt. Wenn ich jeden bemitleiden würde, der über den Jordan gegangen ist, müsste ich wahrscheinlich andauernd heulen.
Nein, ich verschwende meine Zeit nicht an irgendwelche Gefühle. Ich überlegte, was ich tun sollte. Ich konnte ihn einfach liegen lassen und hatte das zunächst auch vor. Der Erste, der am nächsten Tag ins Büro von Designated Engineering käme, würde einen gehörigen Schrecken bekommen. Vorausgesetzt, die Angehörigen des Kerls schickten nicht die Polizei zu seiner Firma, wenn er nicht nach Hause kam.
Es kam mir brutal vor, ihn einfach so liegen zu lassen. Andererseits hatte ich keine Lust, der Polizei mühsam etwas erklären zu müssen.
Beim Auf-der-Stelle-Laufen wurde mir kalt. Ich musste mich entscheiden.
Obwohl ich mir nicht jeden Tod zu Herzen nehmen kann, mit dem ich es zu tun habe, möchte ich auch nicht unmenschlich sein.
Ich sah mich um und suchte nach einer Eingebung. Ich fand sie in den Steinen, die das fantasielose Blumenbeet am Eingang einfassten. Ich zog den größten Stein heraus, den ich gerade noch heben konnte. Nach einigen Versuchen beschloss ich, ihn einhändig zu werfen. Ich sah die Straße hinauf und hinunter. Es waren weder Autos noch Fußgänger in Sicht. In sicherer Entfernung suchte ich einen festen Stand und warf den Stein. Ich musste ihn zweimal aufheben und das Ganze wiederholen, bevor das Glas barst und die Alarmanlage losging. Ich rannte davon und musste der Polizei Respekt zollen: Kaum hatte ich den Motel-Parkplatz erreicht, verließ auch schon ein Streifenwagen den Autobahnzubringer, raste am Motel vorbei und nahm Kurs auf das Gewerbegebiet.
Eine Stunde später schminkte ich mich gerade vor dem Spiegel. Ich hatte ausgiebig geduscht, und natürlich war Tolliver noch mal zu mir in die Kabine gehüpft, um mir »beim Haarewaschen« zu helfen.
Ich beugte mich über das Waschbecken, um in den Spiegel zu starren und meinen Eyeliner aufzutragen. Obwohl ich erst vierundzwanzig war, musste ich inzwischen näher an den Spiegel heran. Bei der nächsten Augenuntersuchung würde mir mein Arzt bestimmt sagen, dass ich eine Brille brauchte. Ich bin nie eitel gewesen, doch die Vorstellung, eine Brille zu tragen, gab mir einen Stich. Vielleicht Kontaktlinsen? Aber bei dem Gedanken, mir was ins Auge zu tun, bekam ich Gänsehaut.
Immer wenn ich darüber nachdachte, fürchtete ich mich vor den Kosten für die Sehhilfe. Wir sparten jeden Cent für das Haus, das wir hier unweit von Dallas kaufen wollten. St. Louis war zwar beruflich geschickter, weil zentraler gelegen, aber wenn wir in Dallas wohnten, könnten wir unsere Schwestern öfter sehen. Iona und Hank wären wahrscheinlich wenig begeistert. Wer weiß, welche Hindernisse sie uns noch in den Weg legen würden. Sie hatten die Mädchen offiziell adoptiert. Aber vielleicht konnten wir sie davon überzeugen, dass es den Mädchen guttun würde, uns zu sehen. So wie es auch uns guttat, sie zu sehen.
Tolliver kam ins Bad und blieb kurz stehen, um mich auf die Schulter zu küssen. Ich lächelte, als sich unsere Blicke im Spiegel trafen.
»Unten auf der Straße ist Polizei zu sehen«, sagte er. »Hast du irgendeine Erklärung dafür?«
»Allerdings!«, sagte ich mit einem schlechten Gewissen. Ich hatte keine Gelegenheit gehabt, Tolliver alles zu erläutern, bevor ich unter die Dusche ging, und dann hatte er mich abgelenkt. Jetzt erzählte ich Tolliver die Sache mit dem Toten, dem Stein und dem Fenster.
»Die Cops dürften ihn mittlerweile gefunden haben, du hast also das Richtige getan. Lieber wäre es mir allerdings gewesen, du hättest ihn ignoriert«, sagte Tolliver.
Ich hatte nichts anderes erwartet. Er ließ sich nur ungern in Situationen verwickeln, bei denen unser Eingreifen nicht bezahlt wurde. Da ich ihn im Spiegel beobachtete, fiel mir auf, wie sich seine Körpersprache abrupt änderte. Anscheinend wollte er das Thema wechseln und etwas Wichtiges mit mir besprechen.
»Meinst du nicht auch, wir sollten einfach loslassen?«, fragte Tolliver.
»Loslassen?« Ich schminkte mein rechtes Auge fertig und hielt das Mascara-Bürstchen an die Wimpern meines linken Auges. »Was meinst du damit?«
»Mariella und Gracie.«
Ich drehte mich um und sah ihn an. »Ich verstehe nicht«, sagte ich, verstand ihn aber leider nur zu gut.
»Vielleicht sollten wir sie nur einmal im Jahr besuchen. Und ihnen ansonsten einfach nur Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke schicken.«
Ich war entsetzt. »Warum sollten wir das tun?« Sparten wir nicht deshalb jeden Cent, um ein fester Bestandteil ihres Lebens zu werden?
»Wir bringen sie völlig durcheinander.« Tolliver kam näher und legte seine Hand auf meine Schulter. »Die Mädchen mögen ihre Probleme haben, aber bei Iona geht es ihnen besser als bei uns. Wir können uns nicht um sie kümmern. Wir sind zu oft unterwegs. Iona und Hank sind verantwortungsbewusste Menschen, sie trinken keinen Alkohol und konsumieren keine Drogen. Sie nehmen die Mädchen mit in die Kirche und achten darauf, dass sie zur Schule gehen.«
»Das ist doch nicht dein Ernst?«, sagte ich, obwohl Tolliver nie scherzte, wenn es um Familienangelegenheiten ging. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. »Du weißt, dass ich nie vorhatte, die Mädchen da wegzuholen, selbst wenn das rechtlich möglich wäre. Meinst du wirklich, wir sollten unsere Besuche auf ein Minimum beschränken? Und sie noch seltener sehen?«
»Ja«, sagte er.
»Erklär mir das bitte.«
»Wenn wir kommen – nun, dann kommen wir in sehr unregelmäßigen Abständen und bleiben nur kurz. Wir reißen sie aus ihrem gewohnten Leben, versuchen ihnen Dinge zu zeigen, die ihnen fremd sind. Wir versuchen, sie für Sachen zu interessieren, die nicht Teil ihres Alltags sind. Und dann verschwinden wir wieder und überlassen es ihren ›Eltern‹, mit den Folgen fertig zu werden.«
»Mit den Folgen fertig zu werden? Mit was für Folgen, bitteschön? Wir sind doch keine Monster oder so was!« Ich musste mich schwer beherrschen, um nicht wütend zu werden.
»Beim letzten Mal – du weißt schon, als du mit den Mädchen ins Kino gegangen bist –, hat mir Iona erzählt, dass Hank und sie für gewöhnlich eine Woche brauchen, bis die Mädchen wieder normal sind.«
»Aber …« Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Ich schüttelte den Kopf, als könnte ich so meine Gedanken ordnen. »Sollen wir uns vielleicht ausschließlich nach Iona richten? Du bist der Bruder und ich die Schwester der Mädchen. Wir lieben sie. Sie müssen wissen, dass es in ihrer Familie auch andere Menschen als Iona und Hank gibt.« Ich wurde laut.
Tolliver setzte sich auf den Badewannenrand. »Harper, Iona und Hank ziehen sie groß. Sie hätten sie nicht bei sich aufnehmen müssen. Der Staat hätte sich um sie gekümmert, wenn sich Iona und Hank nicht angeboten hätten. Ich wette, das Gericht hätte Mariella und Gracie eher ins Heim gesteckt, als sie uns zu geben. Wir können froh sein, dass Iona und Hank den Versuch gewagt haben. Sie sind älter als die meisten mit Kindern in diesem Alter. Sie sind streng, weil sie Angst haben, dass die Mädchen so werden wie deine Mom oder mein Vater. Aber sie haben die Mädchen adoptiert. Sie sind ihre Eltern.«
Ich öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder. Es brach förmlich aus Tolliver heraus, und ich hörte Dinge, die ich noch nie zuvor gehört hatte.
»Natürlich sind sie engstirnig«, fuhr er fort. »Aber sie müssen Tag für Tag mit Gracie und Mariella zurechtkommen. Sie gehen zu den Lehrersprechstunden, sie gehen zum Direktor, sie sorgen dafür, dass die Mädchen ihre Spritzen bekommen, und sie bringen sie zum Arzt, wenn sie krank sind. Sie bestimmen, wann ins Bett gegangen und wann gelernt wird. Sie kaufen ihre Kleider. Sie zahlen für die Zahnspangen.« Er zuckte die Achseln. »Und so weiter. Wir könnten das gar nicht.«
»Was sollen wir dann deiner Meinung nach tun?« Ich verließ das Bad und setzte mich auf die Kante des ungemachten Bettes. Er kam mir nach und setzte sich neben mich. Ich legte meine Hände auf die Knie. Ich bemühte mich, nicht zu weinen. »Du willst also, dass wir unsere Schwestern im Stich lassen? Die einzige Familie, die wir noch haben?« Meinen oder Tollivers Vater zählte ich nicht mit, weil sie für mich einfach nicht dazugehörten.
Tolliver ging vor mir in die Hocke. »Vielleicht sollten wir sie an Thanksgiving und Weihnachten oder an Ostern beziehungsweise an ihren Geburtstagen besuchen … Dann, wenn man uns erwartet und wir uns rechtzeitig angekündigt haben. Maximal zweimal im Jahr. Ich finde, wir sollten mehr aufpassen, was wir in Gegenwart der Mädchen sagen. Gracie hat Iona erzählt, sie wäre deiner Meinung nach zu rigide. Nur leider hat Gracie ›frigide‹ gesagt.«
Ich versuchte, nicht zu grinsen, konnte aber nicht anders. »Na gut, in diesem Punkt hast du recht. Es ist nicht sehr nett, über diejenigen zu lästern, die sich um die Mädchen kümmern. Dabei dachte ich, ich passe auf.«
»Du hast dich bemüht«, sagte er schmunzelnd. »Es ist eher dein Gesichtsausdruck, der eine andere Sprache spricht …«
»Gut, ich verstehe, was du meinst. Aber ich dachte, wir könnten ihnen näherkommen, wenn wir hierher ziehen. Und ein paar Mauern zwischen Ina, Hank und uns einreißen. Wir könnten die Mädchen öfter sehen, die Situation würde sich entspannen. Vielleicht könnten die Mädchen manchmal das Wochenende bei uns verbringen. Iona und Hank wollen bestimmt auch mal allein sein.«
Tolliver reagierte darauf mit einem anderen Einwand. »Glaubst du wirklich, Iona könnte uns akzeptieren? Jetzt, wo wir zusammen sind?«
Ich verstummte. Dass wir jetzt ein Paar waren, würde meine Tante und ihren Mann schockieren, und das war noch milde ausgedrückt. Ich konnte sie sogar verstehen. Schließlich waren Tolliver und ich als Teenager zusammen aufgewachsen. Wir hatten unter einem Dach gelebt. Meine Mutter war mit seinem Vater verheiratet gewesen. Ich hatte ihn jahrelang als meinen Bruder vorgestellt. Manchmal nannte ich ihn immer noch so, aus alter Gewohnheit. Obwohl wir keine Blutsverwandten waren, hatte unsere sexuelle Beziehung für Außenstehende etwas Anstößiges. Wir wären naiv, wenn wir das nicht eingestehen würden.
»Keine Ahnung«, sagte ich aus reinem Widerspruchsgeist. »Vielleicht akzeptieren sie es einfach.« Aber ich machte mir etwas vor.
»Du machst dir etwas vor«, sagte Tolliver. »Du weißt genau, dass Hank und Iona ausflippen werden.«
Wenn Iona ausflippte, zürnte Gott. Wenn Iona etwas moralisch fragwürdig fand, war Gott derselben Meinung. Und Gott, verkörpert durch Iona, führte diesen Haushalt.
»Aber wir können doch nicht vor ihnen verheimlichen, was wir einander bedeuten«, sagte ich hilflos.
»Das müssen und werden wir auch nicht. Mal sehen, was passiert.«
Ich versuchte, das Thema zu wechseln, denn ich musste in Ruhe darüber nachdenken. »Wann besuchen wir Mark?« Mark Lang war Tollivers älterer Bruder.
»Wir treffen ihn voraussichtlich morgen Abend im Texas Roadhouse.«
»Oh, prima.« Ich schaffte es, zu lächeln, wenn auch nicht sehr überzeugend. Ich habe Mark immer gemocht, obwohl ich ihm nie so nahestand wie Tolliver. Er hatte uns alle damals so gut wie möglich beschützt. Wir schafften es nicht, Mark bei jedem Texasbesuch zu treffen, also freute ich mich, dass er Zeit hatte, mit uns zu Abend zu essen. »Und heute sind wir für eine kurze Stippvisite bei Iona eingeladen? Dort werden wir einfach sehen, was passiert, ohne jeden Plan?«
»Ohne jeden Plan«, bestätigte Tolliver, und wir lächelten uns an.
Ich versuchte, das Lächeln aufrechtzuerhalten, während wir ins Auto stiegen und zu dem kleinen Haus in Garland fuhren, in dem unsere Schwestern lebten. Obwohl das Wetter schön war, sagte ich keine rosigen Zeiten voraus.
Iona Gorham (geborene Howe) hatte strikt darauf geachtet, bloß nicht so zu werden wie Laurel. Laurel Howe Connelly Lang, meine Mutter, war Ionas einzige, zehn Jahre ältere Schwester gewesen. Als meine Mutter noch ein Teenager und Twen war und keine Drogen nahm, war sie ziemlich attraktiv, beliebt und bestimmt kein Kind von Traurigkeit gewesen. Sie hatte auch gute Noten gehabt und Jura studiert. Dort hatte sie meinen Dad, Cliff Connelly, kennengelernt und ihn geheiratet. Meine Mutter war schon immer ein rechter Wildfang gewesen – na gut, ein extremer Wildfang –, aber eben auch extrem erfolgreich.
Um mit ihr mithalten und sich von ihr abgrenzen zu können, hatte Iona den braven, gottesfürchtigen Weg gewählt.
Als ich in Ionas Gesicht sah, während sie uns aufmachte, stellte ich fest, dass sie heute nicht ganz so säuerlich wirkte wie sonst, und ich fragte mich, warum. Normalerweise sah sie bei unseren Besuchen aus, als hätte sie soeben in eine Zitrone gebissen. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie alt Iona war, und entschied, dass sie knapp vierzig sein musste.
»Kommt herein«, sagte meine Tante und trat einen Schritt zurück in ihr Wohnzimmer.
Ich hatte stets das Gefühl, nur widerwillig hereingebeten zu werden, ja, dass uns Iona am liebsten die Tür vor der Nase zugeknallt hätte. Ich bin 1,70 Meter groß, und meine Tante ist kleiner als ich. Iona hat wohlgeformte Rundungen, und ihre Haare werden auf eine attraktive Weise grau, so als würde ihr hellbraunes Haar einfach verblassen. Ihre Augen sind dunkelgrau wie meine.
»Wie geht es dir?«, fragte Tolliver höflich.
»Prächtig«, sagte Iona, und uns fiel gleichzeitig die Kinnlade herunter. Nie hat Iona auch nur ansatzweise so etwas gesagt. »Hank leidet gerade wieder sehr unter seiner Arthritis«, fuhr sie fort, ohne unsere Reaktion zu beachten, »aber er kann Gott sei Dank zur Arbeit gehen.« Iona arbeitete Teilzeit bei Sam’s Club, und Hank leitete die Fleischabteilung eines Wal-Mart-Supercenters.
»Wie machen sich die Mädchen so in der Schule?«, stellte ich meine Standardfrage. Ich zwang mich weiterhin, nicht zu Tolliver hinüberzusehen. Ich wusste, dass er genauso geplättet war wie ich. Iona ging uns voraus in die Küche, wo wir uns normalerweise unterhielten. Das Wohnzimmer hob Iona für echte Freunde auf.
»Mariella entwickelt sich recht ordentlich. Sie ist eine durchschnittliche Schülerin«, sagte Iona. »Und Gracie, heißt es, hinkt den anderen immer ein klein wenig hinterher. Möchtet ihr Kaffee? Ich habe gerade Wasser aufgesetzt.«
»Das wäre toll«, sagte ich. »Ich trinke ihn schwarz.«
»Ich weiß«, sagte sie mit einer gewissen Schärfe, als unterstellte ich ihr, eine schlechte Gastgeberin zu sein. Das klang schon eher nach der Iona, die ich kannte, und ich begann, mich wohler zu fühlen.
»Und ich trinke meinen mit etwas Zucker«, sagte Tolliver. Während sie uns den Rücken zukehrte, sah er mich an und zog die Brauen hoch. Iona führte irgendetwas im Schilde.
Kurz nacheinander stellte sie Tolliver einen Becher und eine Zuckerdose hin und legte einen Löffel und eine Serviette dazu. Ich wurde als Zweite bedient und bekam einfach nur den Becher. Iona schenkte sich ebenfalls Kaffee ein und ließ sich auf den Stuhl sinken, der der Kaffeemaschine am nächsten war. Dabei sah man, dass sie wirklich sehr erschöpft war. Eine Weile sagte sie nichts. Sie schien über etwas nachzudenken. Der Tisch war rund, und in der Mitte lag ein Stapel Briefe. Ich überflog ihn unwillkürlich: die Telefonrechnung, die Rechnung für das Kabelfernsehen und ein handgeschriebener Brief, der aus seinem Umschlag hervorsah. Die Schrift kam mir unangenehm bekannt vor.
»Ich bin erledigt«, sagte Iona. »Ich habe sechs Stunden am Stück im Laden gestanden.« Sie trug ein T-Shirt, eine Baumwollhose und Turnschuhe. Sie hatte sich nie so viel aus Mode gemacht wie meine Mutter, bis die sich für gar nichts mehr interessierte außer für Drogen beziehungsweise dafür, wo sie sie als Nächstes herbekam. Eine unerwartete Sympathie für Iona wallte in mir auf.
»Das ist wirklich anstrengend«, sagte ich, aber sie hörte mir gar nicht zu.
»Da kommen die Mädchen«, sagte sie, und meine Ohren registrierten, was ihre längst gehört hatten: den Klang von Schritten vor der Garagentür.
Kurz darauf stürmten unsere Schwestern herein und ließen ihre Schulranzen an der Garderobe fallen. Sie hängten ihre Jacken an den Haken, zogen ihre Schuhe aus und stellten sie neben ihre Ranzen. Ich überlegte, wie lange Iona wohl gebraucht hatte, um ihnen das beizubringen.
Ich betrachtete meine Schwestern aufmerksam. Bei jedem Besuch hatten sie sich wieder verändert. Ich brauchte dann immer eine Weile, um alles in mich aufzunehmen. Mariella war jetzt zwölf und Gracie drei Jahre jünger.
Die Mädchen waren überrascht, uns zu sehen, aber nicht sehr. Keine Ahnung, ob Iona sie überhaupt vorgewarnt hatte. Mariella und Gracie umarmten uns pflichtbewusst, aber ohne große Begeisterung. Das wunderte mich nicht, wenn man bedenkt, wie sehr sich Iona bemüht hatte, uns in den Augen der Mädchen als nebensächlich erscheinen zu lassen, vielleicht sogar als schlechten Einfluss. Und da sie sich nicht mehr an Cameron erinnerten, waren wohl auch ihre Erinnerungen an den Wohnwagen nur noch schwach bis gar nicht mehr vorhanden.
Ich wünschte es ihnen.
Mariella sah immer mädchenhafter und nicht mehr so schwerfällig aus. Sie hatte braune Haare und braune Augen und war so robust gebaut wie ihr Vater. Gracie war schon immer recht klein für ihr Alter, aber auch launischer gewesen als Mariella. Zum ersten Mal küsste sie mich von sich aus.
Es ist nie einfach, Kontakt zu unseren Schwestern herzustellen. Man muss sich ins Zeug legen, um eine Bindung aufzubauen, die von Anfang an belastet war. Sie saßen mit uns und der Frau, die wie eine Mutter für sie war, am Tisch und beantworteten Fragen. Und sie freuten sich über ihre kleinen Geschenke. Wir kauften immer jeder ein Buch, um sie zum Lesen zu ermutigen – eine Freizeitbeschäftigung, die im Hause Gorham eher selten gepflegt wurde. Aber wir brachten ihnen auch immer etwas anderes mit, irgendeinen Schnickschnack, den man im Haar tragen kann, oder Modeschmuck, nichts Übertriebenes. Es fiel schwer, nicht zu strahlen wie ein Weihnachtsbaum, als Mariella sagte: »Oh, ich habe die anderen beiden Bücher gelesen, die die Frau geschrieben hat! Danke!« Ich verschluckte mein »Gern geschehen« und lächelte stattdessen zufrieden.
Gracie sagte nichts, sondern strahlte uns an. Das sprach Bände, denn sie lächelt nicht oft. Sie sieht Mariella kein bisschen ähnlich, andererseits hatten meine Schwester und ich uns auch nicht ähnlich gesehen. Gracie sieht aus wie eine kleine Elfe: Sie hat eher grüne Augen, langes, dünnes helles Haar, ein kleines Stupsnäschen und herzförmige Lippen.
Vielleicht kann ich einfach nicht sehr gut mit Kindern umgehen. Ich finde Gracie interessanter als Mariella, auch wenn das herzlos klingt. Soweit ich weiß, haben auch echte Mütter heimliche Vorlieben. Ich bin mir sicher, dass ich mir meine nicht anmerken lasse. Ich warte immer darauf, dass Mariella etwas tut, was ich interessant finde, und war entzückt, dass sie sich über das Buch freute. Wenn sich Mariella als Leseratte entpuppte, würde ich einen Weg finden, ihr näherzukommen. Gracie war sehr krank gewesen, zu einem Zeitpunkt, an dem ich ebenfalls krank war. Das lag an der unzureichenden Pflege. Mich hatte der Blitz niedergestreckt, während Gracie an chronischen Brust- und Atemproblemen litt.
»Bist du eine böse Frau, Tante Harper?«, fragte Gracie. Die Frage kam aus heiterem Himmel.
Diese »Tante«-Anrede stammte von Iona. Sie fand, dass wir so viel älter waren als unsere Schwestern, dass sie uns respektvoll anreden sollten. Aber das war nicht der Grund, warum ich so entgeistert war. »Ich bemühe mich, nicht böse zu sein«, sagte ich, um etwas Zeit zu schinden, bis ich den Grund ihrer Frage kannte.
Iona beschäftigte sich mit ihrem Kaffee und hörte nicht auf, mit einem Löffel darin zu rühren. Ich spürte, wie sich meine Mundwinkel senkten, und ich strengte mich an, kein böses Wort zu verlieren. Als klar wurde, dass Iona so tat, als ginge sie das Ganze nichts an, fuhr ich fort: »Ich versuche aufrichtig zu den Menschen zu sein, für die ich arbeite«, sagte ich. »Ich glaube an Gott.« (Aber mit Sicherheit nicht an denselben Gott wie Iona.) »Ich arbeite hart, und ich zahle meine Steuern. Ich bin so gut, wie ich kann.« Und das war die Wahrheit.
»Aber wenn du Geld von Leuten nimmst, ohne dein Versprechen einzulösen, ist das doch böse, oder?«, sagte Gracie.
»Natürlich ist das böse«, schaltete sich Tolliver ein. »So etwas nennt man Betrug, und das würden Harper und ich niemals tun.« Seine dunklen Augen bohrten sich in Iona. Auch Gracie schaute ihre Adoptivmutter an. Bestimmt sahen sie zwei ganz verschiedene Menschen.
Iona wich unseren Blicken nach wie vor aus und rührte immer noch in ihrem verdammten Kaffee.
In diesem Moment kam Hank herein, genau zum richtigen Zeitpunkt. Hank war ein hochgewachsener Mann mit einem breiten Gesicht, dunklem Teint und sich lichtendem blondem Haar. Er hatte einmal sehr gut ausgesehen und war mit vierzig immer noch attraktiv. Seine Taille war seit seiner Hochzeit mit Iona kaum dicker geworden.
»Harper! Tolliver! Wie schön, dass ihr da seid! Wir sehen uns viel zu selten.«
Lügner.
Er küsste Gracie auf den Scheitel und kniff Mariella in die Wange. »Na, ihr beiden?«, sagte er zu den Mädchen. »Wie lief das Diktat heute, Mariella?«
Mariella sagte: »Hallo, Daddy! Ich habe acht von zehn Sätzen richtig geschrieben.«
»Das höre ich gern«, sagte Hank. Er schenkte sich Cola aus einer Zweiliterflasche ein, warf ein paar Eiswürfel ins Glas und holte einen Klappstuhl, der neben dem Kühlschrank stand. »Und, war’s schön im Chor, Gracie?«
»Wir haben gut gesungen«, sagte sie. Sie schien erleichtert zu sein, wieder ein vertrautes Gesprächsthema zu haben.
Falls Hank die angespannte Atmosphäre in der Küche bemerkt hatte, kommentierte er sie nicht.
»Wie geht es euch beiden?«, fragte er mich. »Ein paar interessante Leichen gefunden in letzter Zeit?« Hank pflegte über unsere Arbeit zu sprechen, als wäre sie ein einziger Witz.
Ich lächelte schwach. »Ein paar«, sagte ich. Offensichtlich las Hank keine Zeitung und sah auch keine Nachrichten. Im letzten Monat hatte ich dort öfter Erwähnung gefunden, als mir lieb war.
»Wo wart ihr?« Hank schien es auch amüsant zu finden, dass Tolliver und ich wegen unseres merkwürdigen Berufs ständig unterwegs waren. Hank hatte Texas während seiner Armeezeit verlassen, aber das war auch seine einzige Reiseerfahrung.
»Wir waren in den Bergen von North Carolina«, sagte Tolliver und machte eine Pause, um zu hören, ob Iona oder Hank von unserem letzten, berüchtigten Fall wussten.
Nein.
»Dann hatten wir einen anderen Auftrag, auf halber Strecke zwischen Texarkana und hier. In Clear Creek. Und jetzt sind wir in Garland, um euch zu besuchen.«
»Und, gibt’s was Neues im Leichensuchgeschäft?« Wieder dieses provozierende Lächeln.
»Nein, aber es gibt andere Neuigkeiten«, sagte Tolliver irritiert über Hanks Blödeleien. Ich sah zu Tolliver hinüber und merkte, wie konzentriert er Hank fixierte.
Oh je!, dachte ich nur.
»Du hast endlich eine Freundin gefunden und wirst sesshaft!«, witzelte Hank. Tollivers nicht vorhandene Freundin hatte ihm schon viele spöttische Bemerkungen vonseiten Ionas und ihres Mannes eingetragen.
»Ich habe tatsächlich eine«, sagte Tolliver ungerührt, mit einem Strahlen, das mich fast blendete.
»Na, das sind ja wirklich tolle Neuigkeiten, was Mädels? Euer Onkel Tolliver hat eine Freundin. Wer ist es denn, Tol?«
Mein Bruder konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn sein Name abgekürzt wurde.
»Harper«, sagte Tolliver. Er griff über den Tisch und nahm meine Hand. Wir warteten.
»Deine …« Beinahe hätte Iona ›Schwester‹ gesagt, konnte sich aber gerade noch beherrschen. »Aber … ihr beide?« Sie sah von mir zu Tolliver. »Irgendwie gehört sich das nicht«, sagte sie zögernd. »Ihr seid …«
»Nicht miteinander verwandt«, beendete ich ihren Satz und strahlte meine Tante an.
Die Mädchen sahen verwirrt von einem Erwachsenen zum anderen.
»Du bist meine Schwester«, sagte Mariella plötzlich.
»Ja«, sagte ich und lächelte sie an.
»Und Tolliver ist mein Bruder«, stellte sie fest.
»Auch das ist richtig. Aber wir sind keine Blutsverwandten. Das weißt du doch, oder? Ich hatte andere Eltern als Tolliver.«
»Und jetzt?«, fragte Gracie. »Heiratet ihr?« Sie wirkte zufrieden. Verwirrt, aber zufrieden.
Tolliver sah mich über den Tisch hinweg an. Sein Lächeln wurde zärtlicher. »Ich hoffe doch!«, sagte er.
»Wahnsinn! Darf ich dann Brautjungfer sein?«, fragte Mariella. »Meine Freundin Brianna war Brautjungfer auf der Hochzeit ihrer Schwester. Darf ich ein langes Kleid tragen? Und mir die Haare machen lassen? Briannas Mutter hat ihr erlaubt, Lippenstift zu tragen. Darf ich Lippenstift tragen, Mom?«
»Wahrscheinlich wird es gar keine große Hochzeit geben, Mariella«, sagte ich, denn das würde ich ganz bestimmt nicht zulassen. »Wahrscheinlich gehen wir nur zu einem Friedensrichter. Wir werden also nicht kirchlich heiraten, und ich werde kein langes weißes Kleid tragen.«
»Aber ganz unabhängig davon, wie wir heiraten werden: Du darfst dabei sein, und du kannst anziehen, was du willst«, sagte Tolliver.
»Um Himmels willen!«, sagte Iona plötzlich angewidert. »Ihr beide dürft nicht heiraten! Und wenn ihr das tut, obwohl es Gott verboten hat, werden Mariella und Gracie bestimmt nicht dabei sein!«
»Warum nicht?«, fragte Tolliver mit drohendem Unterton. »Sie sind unsere Familie.«
»Das wäre einfach unpassend«, sagte Hank ernst, womit er unsere Beziehung ein für allemal verurteilte. »Ihr beide seid viel zu eng miteinander aufgewachsen.«
»Wir sind nicht blutsverwandt«, sagte ich. »Und wenn wir heiraten wollen, tun wir das auch.« In dem Moment wurde mir bewusst, dass ich mich mehr in eine Diskussion hatte verwickeln lassen, als mir lieb war. Tolliver strahlte mich an. Ich schloss die Augen.
Tolliver hatte doch tatsächlich um meine Hand angehalten, und ich hatte Ja gesagt.
»Nun«, sagte Iona und zog eine für sie typische Schnute. »Auch wir haben Neuigkeiten.«
»Und zwar?« Ich wollte Interesse bekunden. Ich wollte die unangenehme Atmosphäre vertreiben, die meine Schwestern so unglücklich gemacht hatte. Ich zwang mich, meine Tante anzulächeln und so etwas wie freudige Erwartung zu zeigen.
»Hank und ich bekommen ein Baby«, sagte Iona. »Die Mädchen werden einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester bekommen.«
Nachdem ich mich gerade noch beherrschen konnte, nicht mit einem »Was, nach so viel Jahren?!« herauszuplatzen, rang ich mir ein »Oh, das sind ja tolle Neuigkeiten!« ab. »Freut ihr euch schon, Mädels?«
Tollivers Hand fand meine unter dem Tisch und drückte sie.
Wir hatten uns nie Gedanken darüber gemacht, dass Iona und Hank eigene Kinder haben könnten. Und ehrlich gesagt hatte ich auch nie groß über ihre Kinderlosigkeit nachgedacht. Ich hatte sie eigentlich ausschließlich als Störenfriede betrachtet, die uns im Weg standen, wenn wir unsere Schwestern besuchen wollten. Andererseits konnten wir froh sein, dass sie sich Tag für Tag um diese beiden kleinen Mädchen kümmerten, die nicht gerade einfach waren.
In einem Moment seltener Klarheit erkannte ich das und begriff, dass wir uns nicht in Ionas und Hanks Beziehung zu den Mädchen einmischen durften. Ich musterte Mariellas Gesicht und sah ihre Verunsicherung. Weder sie noch Gracie konnten jetzt weitere Probleme gebrauchen. Die Mädchen versuchten, sich auf das Baby zu freuen, waren aber erst einmal erschüttert.
Ich konnte sie gut verstehen.