4

Am nächsten Nachmittag, einem Sonntag, wollten wir mit Gracie und Mariella eislaufen gehen, aber nicht vor zwei Uhr. Samstagvormittags mussten sie ihre Zimmer aufräumen und Haushaltspflichten erledigen, bevor sie ausgehen durften. Und am Sonntag ging die ganze Familie in die Kirche und aß gemeinsam zu Mittag. So lauteten Ionas eiserne Regeln. Die zugegebenermaßen gar nicht mal so schlecht waren. Ich hatte gejoggt und geduscht und wollte mich gerade anziehen, als Tollivers Handy klingelte. Er war faul und lag noch im Bett, also ging ich dran.

»Hallo, du musst Harper sein.«

Ich erkannte die Stimme. »Ja, Victoria. Tolliver ist noch nicht aufgestanden. Wie geht’s dir so?«

Victorias Urgroßeltern waren Einwanderer gewesen, doch die in Texas geborene und aufgewachsene Victoria hatte keinerlei Akzent. »Wie schön, dich zu hören«, sagte sie. »Über deine Schwester gibt es leider nichts Neues. Ich rufe wegen der Kunden an, die ihr mir geschickt habt. Wegen der Joyces.«

»Sie haben sich schon gemeldet?«

»Die waren sogar schon bei mir im Büro, Schätzchen, und haben mir einen Scheck ausgestellt.«

»Ah, prima. Die Empfehlung hast du allerdings nicht mir zu verdanken. Tolliver hat ihnen deinen Namen und deine Telefonnummer gegeben.«

»Das hat mir Lizzie auch erzählt. Diese Frau ist wirklich eine Texanerin wie aus dem Bilderbuch, was? Und ihre Schwester Kate? Ich glaube, die interessiert sich für deinen Bruder.«

»Er ist nicht mein Bruder«, sagte ich automatisch, obwohl ich ihn meist so nannte. Ich atmete tief durch. »In Wahrheit sind wir verlobt.«

Tolliver kam und warf mir einen warnenden Blick zu.

»Oh … na ja, das ist ja … toll. Ich gratuliere.« Victoria klang nicht sehr entzückt. War sie ebenfalls an Tolliver interessiert?

»Sagt mir Bescheid, wann und wo ihr heiratet, einverstanden?«, sagte Victoria dann, schon etwas fröhlicher.

»So weit im Voraus haben wir noch gar nicht geplant«, sagte ich etwas verwirrt und versuchte, mich wieder zu sammeln. »Willst du kurz mit Tolliver sprechen? Er steht neben mir.« Tolliver schüttelte den Kopf, nahm mir das Telefon aber mit mürrischem Gesicht ab, als Victoria ihn unbedingt sprechen wollte.

»Hallo, Victoria. Nein, ich war schon wach. Ja, wir sind ein Paar. Wir haben allerdings noch kein Hochzeitsdatum festgelegt. Das kommt noch, keine Eile.« Er nickte mir vielsagend zu und sah mir dabei in die Augen.

Ich hab schon verstanden, Tolliver. Bloß keinen Druck. Aber wer hat denn damit angefangen und Iona erzählt, dass wir heiraten? Ich kehrte ihm den Rücken zu und bückte mich, um in meinem Koffer nach Klamotten zu suchen.

Gleich darauf spürte ich, wie mich ein Finger an einem sehr reizvollen Ort streichelte. Ich erstarrte. Sex aus dem Hinterhalt. Mal ganz was Neues. Mein Körper signalisierte Wohlgefallen, also zog ich mich nicht zurück und schlug auch nicht nach Tollivers Hand. Das Streicheln wurde aggressiver, rhythmischer. Oh, oh, oh. Ich zuckte. Dann spürte ich seine Wärme hinter mir. Obwohl er nach wie vor mit Victoria sprach, klang er doch ziemlich abgelenkt.

»Ja … äh … ich ruf dich zurück«, sagte er. »Mein anderes Telefon klingelt gerade.«

Das Handy wurde zugeklappt. Etwas Handfesteres ersetzte die Finger.

»Bist du bereit?«, fragte er heiser.

»Ja«, sagte ich und stützte mich mit beiden Händen an der Wand ab. Dann drang sein nach oben gekrümmter Penis in mich ein, und wir wiegten uns gemeinsam hin und her.

Tolliver ließ nichts anbrennen.

Ich hatte nicht viel Erfahrung gehabt, als wir uns unsere Liebe gestanden. Aber ich lernte viel von ihm, und dieses Abenteuer verschaffte mir einen ganz neuen Einblick in seinen Charakter. Dabei hatte ich geglaubt, dass mich bei ihm so schnell nichts mehr überraschen konnte. Ich hatte mich geirrt.

Ich stieß einen lauten Schrei aus, ein Geräusch, das mich selbst überraschte und das gleich darauf von ihm erwidert wurde.

»Warum, glaubst du, hat Victoria angerufen?«, fragte ich, als ich wieder sprechen konnte. Nachdem wir uns voneinander gelöst hatten, waren wir aufs Bett gefallen und hielten uns eng umschlungen. »Es kommt mir etwas komisch vor, dass sie extra anrief, um sich zu bedanken. Eine Mail oder eine SMS hätten es auch getan.« Ich küsste seinen Hals.

»Sie fand dich schon immer faszinierend«, sagte Tolliver zu meiner großen Überraschung.

»Ach so?«

»Nein, ich glaube nicht, dass sie lesbisch oder bi ist. Aber sie findet deine Gabe und die Sache mit dem Blitz einfach interessant. Vielleicht sogar faszinierend. In den letzten Jahren hat mir Victoria bestimmt Hunderte von Fragen über dich gestellt. Sie wollte wissen, wie du das machst, wie es sich anfühlt, was für körperliche Auswirkungen es hat.

»Mich hat sie nie gefragt.«

»Sie hat mir mal erzählt, dass sie Angst hätte, dir solche Fragen zu stellen, weil du dann vielleicht denkst, dass sie dich für eine Gestörte oder Behinderte hält.«

»So als säße ich im Rollstuhl oder hätte ein riesiges Feuermal im Gesicht? Etwas, wofür ich mich schämen müsste?«

»Ich glaube, sie war nur so feinfühlig, dich nicht verletzen oder in Verlegenheit bringen zu wollen. Meiner Meinung nach begegnet dir Victoria fast mit einer Art Ehrfurcht.« Tolliver klang ein wenig tadelnd, was ich vielleicht auch verdiente. Wenn Victoria sich dermaßen bemüht hatte, mich nicht zu verletzen, sollte ich mich lieber nicht darüber lustig machen.

»Ich wundere mich nur, dass sie nicht direkt zur Sache kam.« Damit wollte ich andeuten, dass Victoria einen Grund gehabt hatte, warum sie mit Tolliver reden wollte und sich eher peripher für mein Problem interessierte.

»Vielleicht hatte sie beides im Kopf«, sagte Tolliver, was mich erst recht misstrauisch machte. »Ich glaube nicht, dass sie sich jemals aufrichtig für mich interessiert hat. Das Hauptinteresse hast du geweckt. Meiner Meinung nach hat Victoria einfach eine Schwäche für Übersinnliches. Und in diese Kategorie fallen auch deine Fähigkeiten.«

»So als würde mir die Jungfrau Maria auf einem Toast erscheinen?«

»So ähnlich.«

»Ha, ha.« Ich wandte den Kopf ab. »Dann soll sie mal mit auf den Friedhof gehen, wenn sie das wirklich so sehr interessiert. Und die Sache aus nächster Nähe beobachten. Sie hat uns in all den Jahren sehr geholfen. Ich hätte nichts dagegen.«

Jetzt war Tolliver an der Reihe, überrascht zu sein. »Gut, ich werde es ihr ausrichten. Ich kann mir vorstellen, dass sie begeistert ist.«

Er fuhr mit seinem Kinn über meinen Scheitel. Ich strich mit dem Daumen über eine seiner flachen Brustwarzen. Er gab einen leisen Lustlaut von sich. Ich wusste, dass ich eigentlich duschen müsste, da wir bald die Mädchen trafen, schob es aber noch ein paar Minuten hinaus. Wir hatten Zeit. Ich versuchte mir vorzustellen, wie uns Victoria Flores auf einen Friedhof begleitete. Am besten, wenn wir gerade keinen Auftrag hatten, wenn ich einen normalen Friedhofsbesuch … Gut, ich weiß, das klingt komisch. Aber wenn ich längere Zeit keinen Auftrag habe, gehe ich auf Friedhöfe, um in Form zu bleiben und meine merkwürdige Gabe zu trainieren.

Victorias Gesellschaft würde sich komisch anfühlen, aber ich ging nicht davon aus, dass mich ihre Anwesenheit stören würde. »Sie kennt sich mit Computern aus, nehme ich an. Das muss man wohl heutzutage, wenn man als Detektiv arbeitet«, sagte ich.

»Redest du immer noch von Victoria? Ich denke schon«, sagte Tolliver. »Sie hat einen Techniker erwähnt, der stundenweise für sie arbeitet.«

Ich lag da und dachte nach, während Tolliver aufstand, duschte und sich anzog.

Plötzlich fand ich Victoria Flores deutlich interessanter. Ich fragte mich, ob sie das vermisste Baby finden würde. Das Baby, von dem wir nicht einmal wussten, ob es überhaupt existierte. Ob Mariah Parish nun ein lebendes Kind zur Welt gebracht hatte oder nicht, sollte mich eigentlich kaltlassen. Aber ich ertappte mich dabei, dass ich den Joyces wünschte, es zu finden. Ich hatte so den Verdacht, dass es nicht von ihrem Großvater war. Andererseits: Wenn die beiden Enkelinnen so schnell zu dem Schluss gekommen waren, dass Richard Joyce ein Kind mit seiner Pflegerin gehabt hatte, war das Baby vielleicht doch von ihm. Aber Lizzie und Katie hatten nicht in dieselbe Richtung geschaut wie ich, nachdem ich ihnen Mariah Parishs Todesursache genannt hatte. Ich hatte ihren Bruder und Lizzies Freund angesehen, die beide verdammt beunruhigt gewirkt hatten. Warum, wusste ich auch nicht und würde es wahrscheinlich niemals erfahren. Aber Victoria hoffentlich schon.

Vielleicht hatten beide Sex mit Richards Pflegerin gehabt. Vielleicht hatte sie einer von beiden geschwängert. Oder aber sie hatten ein schlechtes Gewissen, weil sie geholfen hatten, das Baby zu verscharren oder zur Adoption freizugeben.

Egal, was der Bruder – Drexell hieß er, glaube ich – getan hatte: Es ging mich nichts an. Dasselbe galt für die Suche nach dem Parish-Baby, so etwas lag schließlich nicht in meinem Kompetenzbereich. Außer, das Baby war tot. Ich überlegte, Victoria vorzuschlagen, nach einem toten Kind Ausschau zu halten. Aber Kleinkinder sind am schwierigsten. Sie haben so leise Stimmchen. Wenn sie mit ihren Eltern begraben sind, hört man sie besser.

Ich verscheuchte den Gedanken an das Kind, das höchstwahrscheinlich tot war, um die lebenden Kinder abzuholen, mit denen wir verwandt waren. Beide Mädchen rannten uns entgegen, als wir in der Auffahrt der Gorhams hielten. Sie wirkten glücklich, schienen sich auf den Nachmittag zu freuen.

»Ich habe eine Eins im Diktat bekommen«, sagte Gracie. Tolliver lobte sie, und ich lächelte. Aber als ich mich zu ihr umdrehte, sah ich Mariella neben ihr auf dem Rücksitz. Sie schwieg und wirkte ein wenig bedrückt.

»Was ist, Mariella?«, fragte ich.

»Nichts«, sagte sie, was eindeutig gelogen war.

Gracie sagte: »Mariella muss nachsitzen und hat eine Strafarbeit bekommen.«

»Warum denn, Mariella?«, fragte ich sachlich.

»Der Direktor hat mir vorgeworfen, die Klasse aufgewiegelt zu haben.« Mariella wich meinen Blicken aus.

»Und, stimmt das?«

»Es war diese Lindsay.«

»Lindsay tyrannisiert alle«, sagte Gracie. »Dabei müssen wir uns von niemandem tyrannisieren lassen, stimmt’s? So etwas tut man nicht.« Gracie wirkte selbstbewusst, aber auch selbstgerecht.

Ich wollte, dass sie einen Moment schwieg. »Wir reden später darüber«, sagte ich, woraufhin sich Mariella etwas zu entspannen schien. Ich war solche Probleme nicht gewohnt. Ich war Kinder nicht gewohnt. Aber ich erinnerte mich, dass so etwas in Mariellas Alter ein Riesendrama gewesen war.

Als wir die Eisbahn erreichten, sah mich Tolliver fragend an, und ich wies mit dem Kinn auf Gracie. »Komm schon, Gracie, lass uns die Schlittschuhe holen«, sagte er, woraufhin sie fröhlich aus dem Auto hüpfte, seine Hand nahm und mit ihm auf die Anlage zuging.

Mariella stieg ebenfalls aus, und wir folgten ihnen langsam.

»Erzähl mir davon«, schlug ich vor.

Wie erwartet, war es keine große Sache: Lindsay hatte eine gehässige Bemerkung gegenüber Mariella gemacht. Dass sie bloß adoptiert wäre und ihr Vater im Gefängnis säße. Mariella hatte Lindsay einen Magenschwinger versetzt, was meiner Meinung nach völlig angemessen war. Aus Sicht des Direktors hätte sie allerdings weinen und sich bei der Lehrerin beschweren sollen. Mir gefiel Mariellas Reaktion besser. Das brachte mich in eine Zwickmühle. Sollte ich auf meinen Bauch hören oder die Position der Schule vertreten? Wäre ich die Mutter gewesen, hätte ich vielleicht eine Antwort gewusst. Aber so holte ich nur tief Luft und bemühte mich um die richtigen Worte.

»Das war wirklich gemein von Lindsay«, sagte ich. »Du kannst schließlich nichts für deinen Vater.«

Mariella nickte, und ihre Kiefer mahlten. Ich kam nicht umhin festzustellen, dass sie große Ähnlichkeit mit Matthew hatte.

»Genau das habe ich dem Direktor auch gesagt«, meinte Mariella. »Mom hat mir dazu geraten. Das hätte ich auch Lindsay sagen sollen. Aber sie hat mich dermaßen verletzt.«

Iona stieg in meiner Achtung. Sie hatte Mariella gut auf die Grausamkeiten anderer Kinder vorbereitet. »Wahrscheinlich wäre ich an deiner Stelle auch auf Lindsay losgegangen«, sagte ich. »Andererseits: Wenn man jemanden schlägt, gibt es Ärger.«

»Man soll sich also nicht prügeln?«

»Es gibt bessere Möglichkeiten, Probleme zu lösen«, zog ich mich aus der Affäre. »Wie hättest du dich noch verhalten können?« Das erschien mir ausreichend einfühlsam.

»Ich hätte der Lehrerin Bescheid sagen können«, meinte Mariella. »Aber dann hätte ich ihr von meinem richtigen Vater erzählen müssen und sie hätte mich so komisch angesehen.«

»Stimmt.« Hmmmm.

»Ich hätte weggehen können, aber dann hätte Lindsay wieder von vorn angefangen.«

»Auch wahr.« Mariella war verständiger, als ich gedacht hatte. Und sie genoss es, mit jemandem zu reden, der nicht sagte, dass Gott sämtliche Probleme lösen würde.

»Ich hätte … mir fällt nichts mehr ein.« Meine Schwester sah mich erwartungsvoll an.

»Mir auch nicht. Du hast einfach impulsiv reagiert und hast jetzt das Nachsehen. Und was ist mit Lindsay passiert?«

»Sie muss vier Stunden nachsitzen, weil sie mich gemobbt hat«, sagte Mariella.

»Aber das ist doch gut, oder?«

»Ja. Aber noch besser wäre es, wenn sie den Mund gehalten hätte.«

Wow. Was für eine Kämpferin! »Da hast du auch wieder recht. Es ist schließlich nicht deine Schuld, dass dein leiblicher Vater Drogen nimmt. Und das weißt du auch. Aber diese Kinder haben keine Ahnung davon, wie es ist, Eltern zu haben, die böse Dinge tun. Diese Kinder haben Glück, wollen aber einfach nicht verstehen, dass du nicht darüber reden möchtest. Sie wissen instinktiv, dass sie dich damit ärgern können. Und wenn sie dich ärgern wollen, kommen sie als Erstes damit an.« Ich atmete tief durch. »Ich kenne das, Mariella. Als du noch ganz klein warst, ist Tolliver und mir genau dasselbe passiert. Jeder an der Schule wusste, wie schlimm unsere Eltern waren.«

»Sogar die Lehrer?«

»Keine Ahnung, wie viel sie wussten. Aber die anderen Kinder wussten Bescheid. Manche von ihnen haben Drogen in unserem Wohnwagen gekauft.«

»Sie haben dich also auch gehänselt?«

»Ja, einige. Andere waren genauso böse wie Mom und Dad. Sie nahmen Drogen und so.«

»Und hatten Sex?«

»Das auch. Aber die Kinder, die meinten, wir wären genauso wie unsere Eltern, kannten uns einfach nicht. Wir hatten Freunde, die es besser wussten.« Nicht sehr viele, aber ein paar hat es schon gegeben.

»Hattest du einen Freund?«

Puh! Sie hatte noch nicht mal ihre Periode, oder? Ich geriet fast ein bisschen in Panik. »Ja, ich habe mich mit Jungs verabredet. Aber nie mit solchen, die sofort Sex wollten. Je zurückhaltender du bist, desto besser ist dein Ruf. Weil man weiß, dass du noch …«

»Wartest«, sagte Mariella wissend.

»Das nicht unbedingt«, meinte ich. »Denn wenn du von warten redest, heißt das, dass du eines Tages damit aufhörst. Dass du nur darauf wartest, dass irgendein Junge das Richtige sagt, damit du die Beine breit machst. Aber daran darfst du nicht einmal im Entferntesten denken.« Ich wusste, dass Iona explodieren würde, wenn sie uns jetzt hören könnte. Aber genau deshalb sprach meine Schwester mit mir und nicht mit ihr.

»Aber dann will keiner mehr mit einem gehen.«

Das war wirklich furchtbar. »Solche Jungs kannst du f… vergessen«, sagte ich und achtete in letzter Minute auf meine Ausdrucksweise. »Du musst schließlich nicht mit Jungs gehen, die Sex erwarten, wenn sie dich nur oft genug ausführen.«

»Warum sollten sie einen dann noch ausführen?«, fragte sie verwirrt.

Aber das war nichts im Vergleich zu der Verwirrung, die ich empfand. »Ein Junge sollte mit dir ausgehen, weil er gern mit dir zusammen ist«, sagte ich. »Weil ihr über dasselbe lachen könnt oder euch für dieselben Dinge interessiert.« Soweit die Theorie. Aber was war mit der Praxis? Solche Themen waren eigentlich noch gar nichts für Mariella. Sie war schließlich erst zwölf.

»Er sollte also ein Freund sein.«

»Ja, genau.«

»Ist Tolliver dein Freund?«

»Ja, er ist mein bester Freund.«

»Aber ihr, du weißt schon …«

Sie brachte es nicht über sich, das auszusprechen, wofür ich ihr sehr dankbar war.

»Das geht nur uns etwas an«, sagte ich. »Wenn alles passt, bedeutet es einem so viel, dass man nicht mit anderen darüber reden will.«

»Oh.« Mariella wurde nachdenklich. Das hoffte ich zumindest. Ich hoffte, dass ich mir nicht gerade einen Riesenschnitzer geleistet hatte. Ich hatte ihr eben erst gesagt, dass sie keinen Sex mit Jungs haben sollte, mit denen sie ausging. Und dann hatte ich ihr nicht widersprochen, als sie vermutete, dass Tolliver und ich genau das taten. Ich fühlte mich vollkommen unfähig.

Ich war dermaßen erleichtert, dass Tolliver und Gracie auf uns warteten, dass ich regelrecht auf sie zurannte. Tolliver sah mich misstrauisch an, aber Gracie war einfach nur ungeduldig.

»Kommt, holen wir unsere Schlittschuhe«, sagte sie. »Ich möchte lossausen!«

Nachdem alle ihre Schuhe anhatten, wir den Mädchen auf die Bahn geholfen und festgestellt hatten, dass alles in Ordnung war, solange sie an der Bande blieben, begannen wir selbst eine Runde zu drehen. Wir hielten uns an den Händen und fuhren erst noch ganz langsam, schließlich waren wir bestimmt seit acht Jahren aus der Übung. Ganz in der Nähe des Wohnwagens hatte es auch eine Eisbahn gegeben, und da das Schlittschuhlaufen damals kaum etwas kostete, hatten wir dort viele Stunden verbracht.

Wir genossen die paar gemeinsamen Runden und kehrten anschließend zu unseren Schwestern zurück. Die stritten sich bereits, wer von ihnen die Bessere war. Tolliver nahm Mariella und ich Gracie an die Hand. Wir zogen sie von der Bande weg und fuhren ganz langsam und vorsichtig mit ihnen im Kreis herum. Ich konnte nicht verhindern, dass Gracie einmal stürzte, ein anderes Mal riss sie mich mit zu Boden. Aber am Ende hatte sie Riesenfortschritte gemacht. Mariella, die nach der Schule Basketball spielte, hatte sich deutlich besser angestellt und neigte dazu, damit anzugeben, bis Tolliver sie zum Schweigen brachte.

Wir wollten die Bahn gerade lachend verlassen, als mir auffiel, dass uns jemand beobachtete: ein grauhaariger, etwa 1,78 Meter großer, sehr muskulöser Mann. Mein Blick huschte über ihn und kehrte zu seinem Gesicht zurück. Ich kannte ihn. Ich sah ihm direkt in die dunklen Augen.

»Hallo, Dad«, sagte Tolliver.

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