18

Als Tolliver am nächsten Morgen aufwachte, ging es ihm deutlich besser. Er hatte zwölf Stunden durchgeschlafen, und kaum dass er wach wurde, ließ er mich spüren, wie energiegeladen er war. Wir mussten vorsichtig sein, aber wenn ich oben saß, konnten wir Sex haben. Und zwar völlig problemlos. Ehrlich gesagt, war es herrlich. Ich hatte schon Angst, er könnte explodieren, so sehr genoss er es. Danach lag er keuchend da, als hätte er den anstrengendsten Part gehabt. Ich ließ mich neben ihn plumpsen und lachte erschöpft.

»Jetzt bin ich wieder ganz ich selbst«, sagte er. »Irgendwie fühlt man sich weniger männlich, wenn man bettlägerig und außerstande ist, Sex zu haben. Man verwandelt sich wieder in ein kleines Kind.«

»Lass uns einfach ins Auto steigen und abhauen«, schlug ich vor. »Lass uns nach Hause fahren. Wir könnten einen Tag in St. Louis bleiben. Bis dahin überstehst du die Fahrt bestimmt.«

»Wie wär’s, wenn wir bleiben und die Mädchen noch ein paarmal besuchen? Wie wär’s, wenn wir herausfänden, ob es tatsächlich eine Verbindung zwischen meinem Vater, den Joyces und Cameron gibt?«

»Vielleicht hattest du doch recht. Vielleicht sollten wir die Mädchen Iona und Hank überlassen. Sie sind stabil, und zwar in jeglicher Hinsicht. Wir sind so oft unterwegs. Wir werden niemals eine Konstante in ihrem Leben sein. Und dein Dad? Der wird ohnehin zur Hölle fahren. Wenn wir die Sache nicht weiterverfolgen, wird es bloß ein bisschen länger dauern. Außerdem wären wir ihn los.«

Tolliver wirkte nachdenklich. »Komm her!«, sagte er, und ich legte meinen Kopf auf seine gesunde Schulter. Er zuckte nicht zusammen, also war es in Ordnung. Ich strich über seine Brust, dort, wo er keinen Verband trug. Ich dachte an den Moment, in dem mir klar geworden war, dass ich ihn liebte. An den Moment, in dem ich entdeckt hatte, dass er mich auch liebte, und fragte mich, wie ich es bloß vorher ausgehalten hatte. Wir hatten unglaubliches Glück, und ich wusste, dass ich Persönlichkeitsanteile besaß, die mir Angst machten. Persönlichkeitsanteile, die alles tun würden, um das, was wir miteinander hatten, nicht zu gefährden.

»Weißt du, was wir tun sollten?«, sagte er.

»Was denn?«

»Wir sollten einen Ausflug machen.«

»Oh. Wohin denn?«

»Nach Texarkana.«

Ich erstarrte. »Meinst du das ernst?«, fragte ich und sah ungläubig zu ihm auf.

»Ja. Es wird Zeit, dass wir noch einmal hinfahren, uns dort umsehen und anschließend loslassen.«

»Loslassen.«

»Ja. Wir müssen uns eingestehen, dass wir Cameron nicht finden werden.«

»Ich muss dir diesbezüglich noch etwas erzählen.«

»Hä?«, fragte er besorgt. Wenn mir schon nicht gefiel, was er gerade gesagt hatte, würde ihm das, was ich ihm nun sagen musste, erst recht nicht gefallen.

»Ich habe gestern ein paar Anrufe gemacht«, sagte ich. »Und welche bekommen. Als du geschlafen hast. Ich muss dir davon erzählen.«

Eine Stunde später sagte Tolliver: »Die Frau hat sich geirrt? Wir haben also die ganze Zeit eine falsche Spur verfolgt? Sie hat sich einfach bloß getäuscht

»Sie hat nie behauptet, Cameron erkannt zu haben. Nur, dass da ein Rucksack lag, nachdem sie ein blondes Mädchen in einen blauen Pick-up steigen sah«, sagte ich. »Wir können also wieder ganz von vorne anfangen. Im Grunde …« Ich überlegte kurz. »Im Grunde wirft das den ganzen Zeitplan über den Haufen. Sie sagte, dass Cameron etwa eine halbe Stunde, bevor ich kam, mitgenommen wurde. Und ich habe etwa um Punkt fünf mit meiner Suche nach Cameron begonnen. Aber jetzt müssen wir davon ausgehen, dass Cameron früher entführt wurde.«

»Sie hat die Schule gegen vier Uhr verlassen, stimmt’s?«

»Ja, das stimmt. Das hat ihre Freundin – wie hieß sie noch gleich? – Rebecca erzählt. Aber sie hat auch gesagt, dass sie das so genau nicht beschwören kann. Sie hatten die ganze letzte Schulstunde über die Sporthalle dekoriert und auch nach Unterrichtsschluss noch damit weitergemacht. Ich habe immer angenommen, dass sie noch auf dem Parkplatz geblieben ist und mit Freunden geplaudert hat. Aber jetzt gehe ich davon aus, dass sie direkt danach nach Hause aufbrach. Du hast im Restaurant gearbeitet. Mark fuhr von seinem Job bei Taco Bell zu seinem Job bei Super-Save-a-Lot.«

»Eine siebenminütige Autofahrt«, sagte Tolliver automatisch. Wir hatten so oft darüber gesprochen.

»Dein Dad war etwa von vier bis halb sieben bei Renaldo Simpkin. Meine Mom war bewusstlos wie immer.«

Wir sahen uns an. Nach dem neuen Zeitplan war Matthews Alibi deutlich weniger überzeugend als gedacht.

»Egal, was ich von ihm halte – ich will das einfach nicht glauben«, sagte ich.

»Wir müssen nach Texarkana.«

»Lass uns zuerst im Krankenhaus anrufen und hören, was die Schwester dazu sagt.«

Die Schwester verbot uns die Fahrt und meinte, Tolliver müsse im Hotelzimmer bleiben. Wir könnten so vorsichtig sein, wie wir wollten: Sie verbot es uns. Sie freute sich, dass es ihm schon viel besser ginge, aber er würde im Laufe des Tages immer müder werden.

Natürlich hätten wir uns einfach über ihre Anweisungen hinwegsetzen können, aber das wollte ich nicht. Wahrscheinlich hatte sie recht mit ihrem Verbot. Obwohl ich froh gewesen wäre, wenn Tolliver hätte reisen dürfen, wollte ich es nicht riskieren, im Notfall weit weg von seinem Krankenhaus zu sein. Natürlich gab es auch in Texarkana Ärzte. Es gab dort sogar Krankenhäuser. Aber mein gesunder Menschenverstand sagte mir, dass er in dem Krankenhaus, das ihn ursprünglich behandelt hatte, am besten aufgehoben wäre.

Wir sahen uns an. Wir hatten kaum eine Wahl: Entweder wir verschoben die Fahrt nach Texarkana, bis es Tolliver besser ging. Oder wir fragten Manfred, ob er mich begleiten könnte. Ansonsten konnten wir noch Mark bitten, sich einen Tag frei zu nehmen und mit mir zu fahren. »Mir ist noch etwas eingefallen: Ich könnte auch allein fahren«, sagte ich. Tolliver schüttelte heftig den Kopf. »Ich weiß, und du würdest das bestimmt auch hinkriegen. Aber wenn es um Cameron geht, sollten wir beide fahren. Wir warten noch bis morgen, maximal bis übermorgen, wenn es sein muss. Aber dann fahren wir.«

Ich war froh, einen Plan zu haben, und ganz besonders froh, dass Tolliver fit genug war, diesen Plan zu schmieden. Iona rief an und lud uns zum Abendessen ein, vorausgesetzt, Tolliver wäre dazu in der Lage. Er nickte, also sagte ich zu. Ich fragte nicht, ob wir etwas mitbringen sollten, denn mir wäre ohnehin nichts eingefallen. Außerdem hatte sie meine Angebote bisher stets abgelehnt, so als wären meine Mitbringsel per se suspekt. Der Tag zog sich hin wie Kaugummi.

Endlich gingen wir zum Wagen, wobei sich Tolliver mit äußerster Vorsicht bewegte. Ich fuhr betont umsichtig zu Iona und Hank und versuchte niemandem reinzufahren, was in Dallas gar nicht so leicht ist. Ich war froh, dass wir in der Stadt bleiben konnten und nicht in den Abendverkehr auf der Interstate kamen.

Die Gegend östlich von Dallas ist Peripherie pur. Dort gibt es sämtliche Läden, die man auch in allen anderen Vororten findet: Bed Bath & Beyond, Home Depot, Staples, Old Navy, Wal-Mart … Kaum hat man eine solche Abfolge von Ladenketten hinter sich gelassen, beginnt die nächste. Einerseits bekommt man dort alles, was man will, vorausgesetzt man hat nicht allzu exotische Bedürfnisse. Andererseits … sieht man überall in Amerika dieselben Läden. Wir sind viel unterwegs, aber wenn es keine größeren Klimaunterschiede gibt, lassen sich die jeweiligen Gegenden kaum auseinanderhalten, obwohl Tausende von Kilometern dazwischen liegen.

Und was für die Ladenketten gilt, gilt auch für die Architektur: Wir haben Ionas und Hanks Haus schon überall gesehen – von Memphis bis Tallahassee, von St. Louis bis Seattle.

Tolliver erwähnte das gerade wieder, während ich mich auf den Verkehr konzentrierte. Ich war erleichtert über seine vertrauten Beschwerden, weil ich dann nur in regelmäßigen Abständen ein »Stimmt« oder »Genau« einwerfen musste.

Die Mädchen waren völlig aus dem Häuschen wegen Tollivers Verband. Sie bestürmten ihn mit Fragen und wollten ganz genau wissen, was ihm zugestoßen war. Iona hatte ihnen erzählt, dass jemand unvorsichtig gewesen war und aus Versehen auf ihn geschossen hätte. Auf diese Weise konnten sie und Hank ihnen noch einmal unter die Nase reiben, wie wichtig es war, sich an die Regeln zu halten. Hank besaß ebenfalls eine Waffe, wie er uns erzählte, hielt sie aber sicher unter Verschluss. Da sie versuchten, perfekte Eltern zu sein, hatten er und Iona den Mädchen von klein auf die Sicherheitsregeln im Umgang mit Waffen erklärt. Ich wusste das sehr zu schätzen, hätte es aber noch besser gefunden, den Waffenbesitz generell infrage zu stellen. Aber das passte nicht zu Hanks Vorstellungen von einem echten Amerikaner, sodass ein solcher Vorschlag bei meiner Tante und bei meinem Onkel nur auf wenig Gegenliebe gestoßen wäre.

Nachdem ihre Neugierde gestillt war, verschwanden Mariella und Gracie und beschäftigten sich selbst. Mariella machte Hausaufgaben, und Gracie übte ein Lied für den Chor ein. Iona dagegen kümmerte sich noch um das Essen. Tolliver und Hank gingen ins Wohnzimmer, um die Nachrichten zu sehen, und ich bot Iona an, das Geschirr zu spülen, das während des Kochens schmutzig geworden war. Sie nickte lächelnd, und ich krempelte die Ärmel hoch und machte mich an die Arbeit. Ich spüle gern. Dabei kann ich nachdenken, mich mit einem Leidensgenossen unterhalten oder mich anschließend einfach nur am sauberen Geschirr erfreuen.

»Matthew war heute da.« Iona rührte in einem Topf auf dem Herd. Sie machte Chili. »Er hat vor ein paar Tagen angerufen und gefragt, ob er herkommen könnte. Wir haben darüber nachgedacht. Er hat den Mädels neulich auf der Eisbahn einen gehörigen Schrecken eingejagt. Wir glaubten, dass sie sich weniger Sorgen machen, wenn sie ihm in unserem Beisein begegnen. Vielleicht lauert er ihnen dann auch nicht mehr auf, wenn er merkt, dass er mit uns reden kann.«

Das zeugte von gesundem Menschenverstand. Ich ertappte mich dabei, zustimmend zu nicken, obwohl sie sicherlich keinen großen Wert auf meine Meinung legte. »Ich wette, er ist nicht bloß gekommen, um die Mädels zu besuchen. Was wollte er?« Matthew war ziemlich beschäftigt. Ich fragte mich, wann er da noch Zeit fand, um zu arbeiten.

»Er wollte ein paar Fotos von den Mädchen machen. Er hatte keine aktuellen. Wir haben ihm ihre Klassenfotos geschickt, aber er meinte, die wären ihm im Gefängnis gestohlen worden. Diese Männer stehlen einfach alles.«

»Matthew ist einer von ihnen.«

Sie musste doch tatsächlich lachen. »Ja, da hast du auch wieder recht. Trotzdem, wenn er sich Fotos von seinen Töchtern wünscht, werde ich sie ihm nicht vorenthalten. Obwohl sie jetzt unsere Töchter sind, und daran haben wir auch keinen Zweifel gelassen.«

»Hat er viel mit ihnen geredet?«, fragte ich gespannt.

»Nein«, sagte Iona. Sie ging in den Flur und hörte, dass die Mädchen ein Videospiel in ihrem Zimmer spielten. Dann kehrte sie an ihren Platz am Herd zurück. »Ich verstehe diesen Mann einfach nicht. Er war mit solch wunderbaren Kindern gesegnet! Tolliver und Mark sind beide gute Jungen, und dann hatte er noch dich und Cameron als Stieftöchter. Ihr wart beide intelligent, hübsch und nahmt keine Drogen. Anschließend bekommt er noch diese zwei Mädchen! Mariellas Noten werden immer besser. Abgesehen davon, dass sie im letzten Herbst mal kurz geschwänzt hat, macht sie sich gut in der Schule. Die arme Gracie hinkt ihren Mitschülern zwar immer etwas hinterher, aber sie beklagt sich nie, und sie bemüht sich wirklich sehr bei den Hausaufgaben. Aber Matthew scheint sie gar nicht wirklich kennenlernen zu wollen. Er hat Fotos gemacht und sich dann mit Hank und mir unterhalten. Die Mädchen wissen nicht recht, was sie von ihm halten sollen.«

»Sie können sich nicht mehr an Texarkana erinnern.«

»Eigentlich nicht«, sagte Iona. »Manchmal reden sie darüber, aber nie über einen konkreten Vorfall. Gracie war natürlich noch ein Baby, und Mariella gerade aus dem Kleinkindalter heraus.« Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß, dass meine Schwester und Matthew oft nicht da waren, wenn man sie brauchte.«

Und das war noch stark untertrieben.

»Ich habe dir noch nie gesagt, wie froh ich war, dass Hank und du bereit wart, sie aufzunehmen«, gestand ich ihr zu meiner eigenen Überraschung. »Es muss ganz schön heftig gewesen sein, von heute auf morgen zwei Kinder zu haben.«

Ionas Löffel erstarrte im Topf, und sie drehte sich zu mir um. Ich trocknete die Teller ab und stellte sie auf die Anrichte, damit Iona sie aufräumen konnte. »Schön, dass du das sagst«, erwiderte sie. »Aber ich habe mich gefreut, sie aufnehmen zu dürfen. Außerdem war es das Beste, sie zu uns zu holen. Wir haben darum gebetet und diese Antwort erhalten. Wir lieben diese Kinder wie unsere eigenen. Ich kann es kaum fassen, dass wir doch noch ein Baby bekommen! In meinem Alter! Manchmal komme ich mir vor wie Abrahams Frau. Wie eine Siebzigjährige mit Kind.«

Bis das Essen fertig war, sprachen wir über Ionas unverhoffte Schwangerschaft. Wir sprachen über ihren Frauenarzt, über spezielle Untersuchungen, die sie als Risikoschwangere machen lassen musste, und über andere Schwangerschaftsthemen. Iona war glücklicher, als ich sie je erlebt hatte, und alles, was ihre »anderen Umstände« betraf, war ein ergiebiges Gesprächsthema. Ich versuchte, mich für sie zu freuen und die richtigen Fragen zu stellen, aber unterschwellig machte ich mir Sorgen über Matthews Auftauchen. Darüber, dass er die Mädchen fotografiert hatte. Er wollte die Fotos bestimmt nicht für sich, weil er so stolz auf seine beiden gesunden Töchter war. So etwas Normales, Offensichtliches passte einfach nicht zu Matthew.

Der gehandicapte Tolliver nahm zuerst am Esstisch Platz, gefolgt von Hank. Die Mädchen wuschen sich die Hände und setzten sich ebenfalls, anschließend trug Iona das Essen auf. Iona hatte Chili und Maisbrot zubereitet, und ich rieb Käse, um ihn über die dampfenden Schüsseln zu streuen. Wir sprachen ein Dankgebet und ließen uns das Essen schmecken. Iona besitzt keine Eigenschaften, die ich mit guten Köchen verbinde – sie kocht weder mit Leidenschaft, noch liebt sie frische Zutaten wie all die Fernsehköche. Sie verreist selten und mag keine exotischen Gerichte. Aber ihr Chili war köstlich, und bei ihrem Maisbrot lief mir das Wasser im Munde zusammen.

Tolliver und ich verlangten mehrmals Nachschlag, und Iona freute sich über unser Lob. Mariella und Gracie erzählten ausführlich von der Schule und von ihren Freunden, und ich freute mich, dass sie sich so gut mit den anderen Kindern zu verstehen schienen. Gracie trug ein grünes Oberteil, das zu ihrer Augenfarbe passte. Sie wirkte wie eine kleine Elfe, obwohl ihr freches Stupsnäschen ahnen ließ, dass sie alles andere als harmlos war. Sie war ein drolliges kleines Ding. An diesem Abend kam sie regelrecht in Fahrt: Sie erzählte Witze, die sie in der Schule gehört hatte, und bat Iona, am nächsten Tag Chili Dogs zu machen, falls noch etwas Chili übrig blieb. Mariella erwähnte Matthews Besuch mehrmals, er schien sie zu beunruhigen. Jedes Mal reagierten Iona und Hank gelassen, und ich konnte zusehen, wie Mariellas Angst nachließ.

Tolliver und ich gingen bald nach dem Essen, um das Gutenachtritual der Mädchen nicht zu stören. Unsere Schwestern waren dermaßen damit beschäftigt, sich einen Namen für das Baby auszudenken, dass sie Tollivers und meine Hochzeit anscheinend ganz vergessen hatten. Ich war sehr erleichtert darüber.

Ich fuhr zurück zum Hotel, und Tolliver saß schweigend neben mir. Jetzt, wo es dunkel war, musste ich mich mehr auf die Strecke konzentrieren, und ich bog einmal falsch ab. Der Fehler ließ sich leicht korrigieren, und bald darauf half ich Tolliver aus dem Wagen. Ich sah, dass er müde war, aber er war schon ein wenig beweglicher.

Wir durchquerten gerade die Lobby, als er sagte: »Hank hat erzählt, dass Dad Fotos von den Mädchen gemacht hat.«

»Dasselbe hat mir Iona auch gesagt. Ich finde es vernünftig, dass sie Matthew und die Kinder in ihrem Beisein zusammengebracht haben. So hatten sie ihn wenigstens unter Kontrolle.«

»Ja, das war ein kluger Schachzug«, sagte Tolliver, schien das Thema aber nicht weiter vertiefen zu wollen. »Aber warum wollte er sie wirklich fotografieren?«

»Ich glaube nicht, dass dein Dad der Typ ist, der Fotos von seinen Kindern auf Facebook hochlädt. Ich habe nicht den leisesten Schimmer.«

»Nein, auf die Idee würde er bestimmt nicht kommen«, sagte Tolliver nüchtern. »Hör mal, du hast dich doch um die Mädchen gekümmert, als sie noch klein waren …«

»Ja, aber das weißt du doch. Cameron und ich haben uns beide um sie gekümmert. Vor allem um Gracie, sie war so anfällig.« Die automatischen Schiebetüren gingen auf, und wir betraten die Lobby. Die Frau an der Rezeption aß ein Plätzchen. Sie sah flüchtig auf, als wir hereinkamen, und vertiefte sich dann wieder in ihr Buch.

»Kannst du dich noch an damals erinnern, als Gracie ins Krankenhaus musste?«, fragte Tolliver.

»Na klar! Ich habe mich zu Tode geängstigt. Sie war vielleicht drei Monate alt und wirklich noch klein. Sie hatte ein ganz niedriges Geburtsgewicht, weißt du noch? Sie war so krank und hatte vier Tage lang wahnsinnig hohes Fieber. Wir haben auf deinen Dad eingeredet, dass er sie in die Notaufnahme bringen soll. Mom war so daneben, dass sie es nicht selbst tun konnte. Kein Arzt hätte sie das Baby wieder mitnehmen lassen. Dein Dad war wirklich sauer auf uns, aber dann hat ihn ein Freund angerufen. Ich nehme an, der Typ hat Schulden zurückbezahlt oder Dope gekauft. Denn plötzlich beschloss Matthew, Gracie wegzubringen. Wir hatten kaum noch Zeit, ihre Windeln zu wechseln und ihm zu erklären, wie er den Kindersitz anschnallen muss, bevor er losfuhr. Er hat sie ins Wadley-Krankenhaus gebracht.«

»Woher weißt du das?«

Ich öffnete die Tür zu unserem Zimmer. »Na, woher wohl? Er hat sie ins Krankenhaus gebracht und sie nach ein paar Wochen wieder abgeholt. Sie lag auf der Intensivstation, deshalb konnten wir sie nicht besuchen. Er ist bei ihr geblieben. Wieso sollte das nicht stimmen? Als er sie zurückbrachte, sah Gracie so viel besser aus, dass ich kaum glauben konnte, dass …« Ich erstarrte.

»Dass es Gracie war, stimmt’s?«, sagte Tolliver nach langem Schweigen.

Ich schlug eine Hand vor den Mund. Tolliver ließ sich vorsichtig auf die Sofakante sinken.

Als ich mich aus meiner Erstarrung gelöst hatte, nahm ich auf dem Sessel Platz, und unsere Blicke trafen sich.

»Nein«, sagte ich. »Ich konnte kaum glauben, dass es Gracie war. Ihre Augen waren hellblau, aber nach ihrem Krankenhausaufenthalt waren sie grün. Ich dachte, sie wäre in das Alter gekommen, in dem Babys ihre eigentliche Augenfarbe entwickeln. Aber Matthew meinte, die Ärzte hätten ihm empfohlen, ihr wieder die Flasche zu geben, obwohl sie bereits angefangen hatte, Babynahrung zu essen …«

»Du hast dich mehr um Gracie gekümmert als Cameron.«

»Ja, das stimmt. Cameron hatte in dem Jahr viel um die Ohren. Es war ihr Abschlussjahr, und ich war ohnehin meist zu Hause, wegen des Blitzschlags.«

»Du hast damals noch sehr an den Nachwirkungen gelitten, oder?«

»Und ob! Noch monatelang. Bevor ich lernte, damit umzugehen. Ich hatte furchtbare Kopfschmerzen, alle möglichen Schmerzen. Aber für Gracie und Mariella habe ich mein Bestes gegeben«, sagte ich, wie um mich zu verteidigen.

»Natürlich hast du das. Du hast den Laden am Laufen gehalten. Aber was ich sagen will, ist Folgendes: Es gab vielleicht Dinge, die du nicht bemerkt hast. Eben weil du so viele Probleme hattest und abgelenkt warst, weil du Tote spüren konntest.«

Das war wirklich eine schlimme Zeit gewesen. Teenager können nicht damit umgehen, wenn sie anders sind als ihre Altersgenossen. »Und du glaubst, dass mir die Veränderungen an dem Baby deshalb nicht aufgefallen sind? Du glaubst, dass Matthew mit dem einen Baby verschwunden und mit einem anderen zurückgekehrt ist? Du glaubst, dass die echte Gracie tot ist?«

Er nickte. »Es war Chip, der manchmal zum Wohnwagen kam«, sagte er. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass er es war. Drex vielleicht auch, aber Chip mit Sicherheit. Er hat bei meinem Dad Drogen gekauft.«

»Oh mein Gott!«, sagte ich. »Deshalb kamen sie mir irgendwie bekannt vor. Und wenn einer von ihnen Dr. Bowden in jener Nacht zur Ranch gebracht hat und sie das Baby loswerden wollten, ohne es umzubringen …«

»Dann haben sie vielleicht Matthew angerufen, der ein schwer krankes Baby zu Hause hatte, das ohnehin nicht durchkommen würde.«

»Wie konnten sie nur? Wie kamen sie bloß auf die Idee, dass Matthew Babys vertauschen würde? Warum sollten sie überhaupt ein Interesse daran haben?«

»Wenn das Baby von Rich Joyce und Mariah Parish war, ist es buchstäblich Millionen wert.«

Mir verschlug es einen Moment lang die Sprache. »Aber warum haben sie es dann nicht einfach umgebracht, damit die Millionen blieben, wo sie waren? Nämlich bei den drei Joyce-Enkeln?«

»Vielleicht wollten sie kein Kleinkind umbringen.«

»Sie waren auch bereit, Mariah sterben zu lassen, obwohl man sie hätte retten können.«

»Es ist ein Unterschied, ob man jemanden sterben lässt oder jemanden umbringt. Ob es sich um eine ziemlich skrupellose Frau handelt oder um einen Säugling. Außerdem war ihnen vielleicht gar nicht klar, wie schlimm es um Mariah bestellt war.«

Ich schüttelte benommen den Kopf. »Aber wenn das stimmt, was hat Matthew dann mit der echten Gracie, seiner tatsächlichen Tochter getan? Meinst du, er ist an jenem Abend absichtlich mit ihr verschwunden und hat sie ausgesetzt oder so was?«

»Das weiß ich nicht und möchte es auch lieber gar nicht wissen … obwohl wir das herausfinden sollten«, sagte Tolliver, der plötzlich klang wie ein alter Mann. »Ich frage mich, ob er je vorhatte, sie ins Krankenhaus zu bringen.«

»Und die Fotos?«

»Er will Fotos von Gracie. Er hat nur welche von Mariella gemacht, damit man ihm seine Geschichte abnimmt«, sagte Tolliver.

»Wie kommst du darauf?«

»Vielleicht ist er zur Eisbahn gekommen, weil er dachte, dort unbemerkt Fotos von Gracie machen zu können. Aber wir haben ihn vorher entdeckt, und die Mädchen hatten Angst vor ihm. Er hatte schon damit begonnen, Kontakt zu Iona und Hank aufzunehmen, indem er ihnen einen Brief schrieb. Als er nichts von ihnen hörte, wollte er sie wahrscheinlich umgehen. Nachdem das auch nicht funktioniert hatte, versuchte er eine erneute Annäherung, und diesmal klappte es. Iona und Hank wollten ihn entmystifizieren, damit sich die Mädchen nicht mehr so fürchten müssen. Also taten sie so, als wäre sein Besuch völlig normal. Sie haben das Richtige getan, allerdings ohne sein wahres Motiv zu kennen.«

»Und was sollen wir jetzt machen?« Ich hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich kann es einfach nicht fassen. Und was hat Cameron mit alldem zu tun? War es nur ein Zufall, dass sie damals verschwand?«

»Vielleicht bilden wir uns das alles bloß ein«, sagte Tolliver. »Vielleicht sind wir genauso blöd wie die Leute, die glauben, JFK wäre von Marsmenschen erschossen worden.«

»Ich wünschte, es wäre so«, sagte ich. »Ich wünschte es wirklich

»Ob Mark irgendwas weiß?«, überlegte Tolliver laut.

»Wir könnten ihn anrufen.«

»Ja, aber Dad wohnt bei ihm.«

»Vielleicht kann er uns irgendwo treffen.«

»Wir rufen ihn morgen an. Danach fahren wir nach Texarkana.«

»Traust du dir das wirklich zu? Du hast die Antibiotika noch nicht zu Ende genommen.«

»Ich glaube, dafür geht es mir gut genug.«

»Logisch, Dr. Lang.«

»He, es gibt Wichtigeres, worüber wir uns Gedanken machen müssen, als meine Schulter!«

»Mal sehen, was der Arzt morgen sagt«, meinte ich, woraufhin er sich von mir gegängelt fühlte. Ich fand es schön, mich um ihn zu kümmern. So sehr mich der Verdacht gegen Tollivers Dad umtrieb, so stolz war ich auch, alles so gut hinbekommen zu haben. Nach weiteren ergebnislosen Gesprächen gingen wir ins Bett, doch in dieser Nacht dürfte keiner von uns beiden besonders gut geschlafen haben. Als Tolliver eindöste, redete er im Schlaf, und das tut er nur, wenn er wirklich erschüttert ist.

»Rette sie!«, sagte er.

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