5
Unsere Schwestern schmiegten sich an uns und starrten ihren leiblichen Vater mit einer Mischung aus Hass und Sehnsucht an – zumindest Gracie. Mariella schien ihm noch feindlicher gesinnt zu sein. Sie ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten.
Er war nicht mein Vater. Meine Gefühle waren relativ eindeutig. »Matthew«, sagte ich. »Was machst du denn hier?«
Er warf Tolliver und Mariella einen sehnsüchtigen Blick zu. Mich musterte er nur kurz, ohne jede Zuneigung. Gracie versteckte sich hinter mir. »Ich möchte meine Kinder sehen«, sagte er. »Und zwar alle.«
Ein langes Schweigen entstand. Ich musste erst einmal die Tatsache verdauen, dass seine Stimme klar war. Er lallte nicht und sprach in zusammenhängenden Sätzen. Vielleicht nahm er tatsächlich keine Drogen mehr, so wie Mark gesagt hatte. Aber es war bestimmt nur eine Frage der Zeit, bis er wieder damit anfing.
»Aber wir wollen dich nicht sehen!«, sagte Tolliver leise. »Wir haben nicht reagiert, als du über Mark versucht hast, Kontakt zu uns aufzunehmen. Ich habe deine Briefe nicht beantwortet. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Iona dir erlaubt hat, die Mädchen zu sehen – jetzt wo sie auch offiziell die Mutter ist. Und Hank ihr Vater.«
»Aber ich bin ihr leiblicher Vater«, sagte Matthew.
»Du hast sie im Stich gelassen«, rief ich ihm wieder ins Gedächtnis, wobei ich jedes Wort einzeln betonte.
»Ich stand enorm unter Druck.« Er streckte die Hand aus, wie um Mariella übers Haar zu streichen. Aber sie zuckte zurück und klammerte sich nach wie vor an die Hand ihres Bruders, als hätte sie Angst, ihn zu verlieren.
Auf der Bahn war nicht besonders viel los, aber die Leute begannen unser angespanntes kleines Grüppchen zu beobachten. Mir waren die Zuschauer egal, aber vor den Mädchen wollte ich es auf keinen Fall zu irgendeiner Konfrontation kommen lassen, sei sie nun körperlicher oder verbaler Art.
»Du solltest jetzt gehen«, sagte ich. »Und wir bringen die Mädchen wieder nach Hause. Du hast uns einen schönen Tag verdorben. Mach es bitte nicht noch schlimmer.«
»Ich möchte meine Kinder sehen«, wiederholte er.
»Du hast sie vor dir. Du hast sie also gesehen. Und jetzt geh, bitte!«
»Ich gehe nur wegen der Kleinen«, sagte er und nickte Mariella und Gracie zu, die verwirrt waren und sich elend fühlten. »Wir sehen uns bald, Tolliver.« Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und verließ die Bahn.
»Er ist uns gefolgt«, sagte ich überflüssigerweise.
»Wahrscheinlich hat er uns irgendwo bei Ionas Haus abgepasst«, sagte Tolliver. Wir starrten uns an und verschoben jede weitere Diskussion auf später. Gleichzeitig holten wir tief Luft. Wenn wir nicht so verstört gewesen wären, hätten wir beinahe darüber lachen können.
»Gut«, sagte ich bemüht fröhlich zu meinen Schwestern. »Gut, dass wir das hinter uns haben. Wir werden mit eurer Mutter darüber sprechen. Es wird nicht noch mal vorkommen. Aber bis zu diesem Moment hatten wir doch viel Spaß zusammen, stimmt’s?« Ich redete Blödsinn, aber zumindest lösten sich die Mädchen wieder aus ihrer Erstarrung und zogen die Schlittschuhe aus. Sie wirkten nicht mehr wie Rehe, die vom Scheinwerfer eines Autos hypnotisiert werden.
Auf der Heimfahrt waren unsere Schwestern ungewöhnlich schweigsam, was nicht weiter verwunderlich war. Sie purzelten aus dem Wagen und stürmten ins Haus, als hätten sie Angst vor Scharfschützen. Tolliver und ich folgten ihnen langsam. Wir waren nicht gerade wild darauf, Iona und Hank von dem Vorfall zu berichten. Dabei konnten wir nicht das Geringste dafür.
Wir wunderten uns nicht, dass unsere Tante und unser Onkel bereits in der Küche auf uns warteten.
»Was ist passiert?«, fragte Iona. Zu meinem Erstaunen wirkte sie nicht böse, höchstens besorgt.
»Mein Dad stand plötzlich auf der Eisbahn«, sagte Tolliver ohne Umschweife. »Keine Ahnung, wie lange er uns beobachtet hat, bis wir ihn entdeckt haben.« Er zuckte die Achseln. »Er war nicht high und auch nicht aggressiv. Aber die Mädchen sind völlig durcheinander.«
»Wir hatten Spaß, bevor wir ihn entdeckt haben«, sagte ich und merkte selbst, wie wenig überzeugend das klang. Aber ich fühlte mich einfach verpflichtet, darauf hinzuweisen.
»Er hat uns letzte Woche geschrieben«, sagte Hank. »Wir haben nicht darauf reagiert. Ich hätte nie gedacht, dass er so etwas tun würde.«
Sie hatten also ebenfalls ein schlechtes Gewissen, weil sie uns nicht vorgewarnt und gesagt hatten, dass Matthew aus dem Gefängnis entlassen worden war.
Obwohl ich diesen Wissensvorsprung ungern verlor, sagte ich: »Er ist schon eine ganze Weile wieder in Freiheit. Als wir mit Mark essen waren, hat er uns davon erzählt. Aber er hat nur gesagt, dass Matthew einen Job hätte und clean wäre.«
»Oh, Mark hat Kontakt zu seinem Dad?« Iona runzelte die Stirn und ließ sich schwerfällig auf einen der Küchenstühle sinken. Zögerlich setzten wir uns ebenfalls. Wir staunten, dass uns die Gorhams nicht hinauswarfen oder für den Vorfall verantwortlich machten. »Dieser Mark ist einfach zu gutherzig, was seinen Vater anbelangt«, sagte Iona.
Insgeheim pflichtete ich ihr bei. Vielleicht doch nicht so insgeheim, denn Tolliver warf mir einen vielsagenden Blick zu. Er durchschaute mich sofort.
»Hast du eine Ahnung, was er will?«, fragte Iona plötzlich.
»Wie meinst du das?«
»Na, wegen deiner besonderen Fähigkeiten!« Iona fuchtelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum, als vertriebe sie eine Schnake.
»Ich kann nicht hellsehen, Iona. Ich wüsste selbst gern, was Matthew will. Aber alles, was ich kann, ist Leichen finden.« Zu spät, ich entdeckte Mariella hinter Ionas Rücken. Sie war soeben aus dem Flur in die Küche gekommen. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Aber das dürfte sie eigentlich nicht so sehr schockieren. Was hatten Iona und Hank dem Kind bloß erzählt? Sie fuhr herum und rannte davon.
Damit war der Tag endgültig verdorben.
»Und, was sagt dir deine Gabe?« Iona konnte wirklich hartnäckig sein.
»Nichts, was uns derzeit weiterhelfen könnte«, erwiderte ich. »Es gibt hier keine Leiche, falls dich das interessiert. Die Nächstgelegene ist so alt, dass sie wahrscheinlich vor der Staatsgründung starb, und sie liegt tief vergraben im Vorgarten deines Nachbarn. Wahrscheinlich ein Indianer. Ich müsste näher herangehen, um mir ganz sicher zu sein.«
Endlich hatte ich sie zum Schweigen gebracht. Meine Tante und mein Onkel starrten mich einfach nur mit offenem Mund an. Aber das half uns auch nicht weiter. »Das hat allerdings nichts damit zu tun, dass Matthew heute auf der Eisbahn aufgetaucht ist«, rief ich ihnen wieder ins Gedächtnis. »Solltet ihr nicht lieber eine einstweilige Verfügung gegen ihn erwirken? Er hat doch schließlich keine Rechte mehr an den Mädchen, oder?«
»Nein, das stimmt«, sagte Hank, der sich schneller erholt hatte als seine Frau. »Wir haben sie adoptiert. Er hat sämtliche Rechte abgetreten.«
»Ich will nicht die Polizei rufen«, sagte Iona. »Wir haben so oft mit der Polizei geredet, dass es uns ein für alle Mal reicht.«
»Wollt ihr, dass er wieder auftaucht? Und den Mädchen erneut einen Schrecken einjagt?«
»Nein! Aber wir hatten genug mit der Polizei zu tun, als deine Schwester entführt wurde! Wir wollen nicht, dass sie hier wieder ein und aus geht.«
Ich konnte gut verstehen, dass sie nichts mit der Polizei zu tun haben wollten. Auch wenn die meisten Gesetzeshüter, die ich kennengelernt habe, auch nur Menschen sind, die versuchen, ihren harten Job zu erledigen und noch dazu schlecht dafür bezahlt werden. Aber abgesehen davon, dass Iona und Hank nicht wollten, dass ihr Haus erneut von Polizeiautos zugeparkt würde, waren meine Schwestern auch so schon ernsthaft beunruhigt. Wenn dann noch Polizei auftauchte, sahen die Mädchen in Matthew eine größere Bedrohung, als er es tatsächlich war. Er hatte schließlich keinen Grund, Mariella und Gracie wehzutun. Vielleicht hatten Iona und Hank doch recht, wenn auch aus den falschen Gründen.
»Dann gibt es nichts, was wir tun können«, sagte Tolliver, der zum selben Schluss gekommen war wie ich. »Wir fahren dann mal.«
»Wie lange bleibt ihr in der Stadt?«, fragte Iona ein wenig verzweifelt. »Habt ihr schon einen neuen Auftrag?«
Sie hatte nie Wert darauf gelegt, dass wir länger blieben. Im Gegenteil, die anderen Male hatte sie es kaum erwarten können, dass wir wieder fuhren.
»Vielleicht noch ein paar Tage«, sagte ich nach einem Blick auf Tolliver. Wir hatten tatsächlich noch keine Pläne, auch wenn sich das jederzeit ändern konnte.
»Gut«, sagte sie und nickte, als hätten wir eine Vereinbarung getroffen. »Wir rufen euch also an, wenn er wieder auftaucht.«
Und was sollten wir dann tun? Ich wollte schon protestieren, als Tolliver sagte: »Einverstanden. Wir werden euch morgen auf jeden Fall anrufen.«
»Ich werde mit dem Schuldirektor reden«, sagte Iona. »Ich hasse es, wenn über uns geredet wird, aber wenigstens die Lehrer der Mädchen sollten wissen, dass Matthew sich hier rumtreibt.«
Ich war erleichtert. Mir fiel auf, dass meine Tante sehr mitgenommen wirkte, und auch Hank sah besorgt aus. Mir fiel wieder ein, dass sie schwanger war. Hank fing meinen Blick auf und wies mit dem Kinn zur Tür. Ich versuchte, mich nicht aufzuregen. Dachte er etwa, wir merkten nicht, dass wir jetzt lieber gehen sollten?
Tolliver sagte: »Gut, bis morgen also. Tschüs, Mädels!«, rief er in den Flur. Nach einer Sekunde sah ich, wie die Mädchen den Kopf aus Mariellas Zimmer steckten, und ich winkte ihnen zu. Sie winkten zurück, wenn auch etwas zögerlich. Sie lächelten nicht.
Wir stiegen schweigend in unseren Wagen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
»Wir müssen eine Weile bleiben, um sicherzustellen, dass er sie nicht belästigt«, sagte Tolliver, nachdem wir einen Block entfernt waren.
»Aber was sollte ihn davon abhalten, so lange zu warten, bis wir weg sind, um dann wieder aufzutauchen?«
Tolliver schüttelte unwillig den Kopf, als umschwirrte ihn eine Biene. »Nichts kann ihn davon abhalten, sie zu verfolgen, wenn er das will. Ich weiß nicht, was wir tun sollen.«
»Er wird bestimmt warten, bis wir weg sind. Außerdem – wer sind wir schon? Eine Privatarmee? Warum haben wir auf einmal diese Schutzfunktion?«
»Wahrscheinlich halten sie uns für abgeklärter und taffer als sich selbst«, sagte Tolliver nach einigem Nachdenken.
»Nun, damit haben sie recht. Aber was heißt das schon?«
»Er ist mein Vater. Ich fühle mich verpflichtet, etwas zu unternehmen.«
»Das kann ich gut verstehen«, sagte ich, denn taktvoller konnte ich es nicht ausdrücken. »Ich kann auch verstehen, dass du noch ein paar Tage länger bleiben willst. Von mir aus gern. Aber wir können nicht für immer hier bleiben, vor dem Haus zelten und darauf warten, dass sich dein Dad den Mädchen erneut nähert. Es sei denn, er wird wieder verhaftet – und seien wir doch mal ehrlich: Dazu wird es bestimmt kommen, da er wieder Drogen nehmen wird. Wir können nichts dagegen machen, wenn er sie unbedingt sehen will, außer Iona und Hank gehen zur Polizei. Und selbst dann kann die Polizei die Mädchen nicht rund um die Uhr im Auge behalten.«
»Ich weiß.«
Tolliver klang kurz angebunden. Ich machte den Mund zu und verkniff mir den Rest. Auf der übrigen Fahrt zum Motel schwiegen wir.
Wenn es etwas gibt, das mich nervös macht und irritiert, dann Meinungsverschiedenheiten mit meinem Bruder. Ich versuche zwar, Tolliver nicht mehr als meinen Bruder zu bezeichnen, denn das ist irgendwie gruselig. Aber eine alte Gewohnheit gibt man nicht so schnell auf.
Zurück im Motelzimmer, konnte ich mich auf nichts konzentrieren. Ich wollte nicht lesen, und das Fernsehen ist sonntagabends eine einzige Katastrophe, außer man interessiert sich für Sport. Ich schaffte es nicht, mich in mein Kreuzworträtsel zu vertiefen. Ich griff zu unseren Wäschesäcken. »Ich suche einen Waschsalon«, sagte ich und ging. Ich war so schnell draußen, dass ich nicht mehr mitbekam, ob Tolliver etwas darauf erwiderte. Wir brauchten ein wenig Abstand.
Ich erkundigte mich an der Rezeption, und der Angestellte gab mir eine ausgezeichnete Wegbeschreibung zu einem großen, sauberen Salon, etwa anderthalb Kilometer vom Motel entfernt. Wir haben immer einen Vorrat von 25-Cent-Münzen, Waschpulver und Trocknertüchern im Kofferraum. Ich konnte also losziehen.
Im Waschsalon gab es eine Aufsicht, eine ältere Frau mit krisseligen weißen Haaren und einer rundlichen Figur. Sie saß an einem kleinen Tisch, sah auf, als ich hereinkam, und nickte mir anstelle einer Begrüßung zu. Da Wochenende war, war im Salon viel Betrieb. Aber nachdem ich mich umgesehen hatte, entdeckte ich zwei leere Maschinen nebeneinander. Ich fand einen Plastikstuhl und trug ihn dorthin. Nachdem ich die Maschinen gefüllt und angestellt hatte, setzte ich mich und zog mein Buch aus der Tasche.
Jetzt, wo kein grübelnder Tolliver in der Nähe war, konnte ich sehr wohl lesen. Keine Ahnung, warum. Aber es tat gut, Menschen um mich zu haben und bald wieder saubere Kleidung zu besitzen.
Ich war ganz bei mir. Es gab keine Leichen in der Nähe. Einen köstlichen Moment lang war da keinerlei Summen in meinem Kopf.
Von Zeit zu Zeit sah ich mich um, damit ich niemandem im Weg war. Eine etwa gleichaltrige Frau starrte mich an, als ich den Kopf hob und der Schleudergang fast fertig war.
»Sind Sie diese Frau?«, fragte sie. »Sind Sie diese Hellseherin, die Leichen findet?«
»Nein«, erwiderte ich prompt. »Man hat mich schon mehrmals darauf angesprochen, aber ich arbeite im Einkaufszentrum.«
Das sage ich immer, wenn ich in einer städtischen Gegend unterwegs bin. Bisher hat es immer funktioniert. Es gibt immer ein Einkaufszentrum, und es erklärt auch, warum mich der Fragende schon mal irgendwo gesehen hat.
»Welches Einkaufszentrum?«, fragte die Frau. Sie war hübsch, sogar in ihren Freizeitklamotten. Und sie war hartnäckig.
»Tut mir leid«, sagte ich mit dem entsprechenden Lächeln. »Aber ich kenne Sie nicht.« Ich zuckte die Achseln, was in etwa heißen sollte: Sie sind bestimmt ganz in Ordnung, aber ich habe keine Lust, mit Ihnen über meine Privatangelegenheiten zu reden.
Die junge Frau reagierte nicht darauf. »Sie sehen genauso aus wie sie«, sagte sie und lächelte mich an, als müsste ich mich darüber freuen.
»Aha«, sagte ich und zog meine Wäsche aus den Maschinen. Ich hatte mir bereits eines dieser Rollwägelchen geschnappt.
»Wenn Sie es sind, müsste Ihr Bruder auch irgendwo in der Nähe sein«, verkündete die Frau. »Ich würde ihn gern kennenlernen. Er sieht scharf aus.«
»Aber ich bin nicht die, für die Sie mich halten.« Ich rollte meinen Wagen weg, in den ich außer der nassen Wäsche auch noch alles andere geworfen hatte. Ich musste noch so lange bleiben, bis meine Sachen trocken waren. Ich konnte nicht weg. Aber wenn ich etwas nicht wollte, dann mit dieser Frau über mein Leben, meinen Beruf und meinen Tolliver reden.
Die Frau behielt mich die ganze Zeit über im Auge, auch wenn sie mich Gott sei Dank nicht wieder ansprach. Ich gab vor zu lesen, während die Kleidung durch den Trockner wirbelte. Danach gab ich vor, mich ganz auf das Zusammenlegen meiner Sachen zu konzentrieren. Und beschloss, dass sie für mich einfach nicht existierte. Diese Technik hatte in der Vergangenheit jedes Mal funktioniert.
Als ich so weit war, die saubere Wäsche zum Auto bringen zu können, glaubte ich, noch einmal davongekommen zu sein. Aber nein, da kam sie auch schon und folgte mir auf den Parkplatz.
»Sprechen Sie mich nicht noch einmal an«, sagte ich erschöpft und völlig am Ende mit den Nerven.
»Sie sind es!«, sagte sie mit einem selbstgefälligen Nicken.
»Lassen Sie mich in Ruhe«, sagte ich, stieg in den Wagen und betätigte die Zentralverriegelung. Ich fuhr erst los, als sie wieder im Waschsalon verschwunden war. Hoffentlich waren ihre Sachen in der Zwischenzeit gestohlen worden.
Jetzt konnte ich mir zumindest sicher sein, dass sie mich nicht verfolgte. Trotzdem sah ich ein paarmal in den Rückspiegel, nur um auf Nummer sicher zu gehen. Dabei merkte ich, dass mir tatsächlich ein Wagen folgte. Da es bereits dunkel war, war ich mir nicht ganz sicher. Aber da die Gegend städtisch und gut beleuchtet war, glaubte ich, stets denselben grauen Miata in meinem Rückspiegel zu erkennen. Ich drückte die Kurzwahl für Tolliver.
»Hi«, sagte er.
»Jemand folgt mir.«
»Dann komm sofort hierher. Ich gehe nach draußen und warte auf dich.«
Ich fuhr also direkt zum Motel, und er besetzte schon einmal einen Parkplatz direkt vor unserem Zimmer, um ihn für mich zu reservieren. Ich parkte, sprang aus dem Wagen und rannte ins Zimmer, während Tolliver noch draußen blieb.
Nach einer Minute rief Tolliver meinen Namen. Ich sah durch das Guckloch. Er war nicht allein.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte er, klang aber nicht sehr glücklich.
Also machte ich die Tür auf, und er kam mit seinem Vater im Schlepptau herein. Mist!
Tolliver drehte sich zu seinem Vater um und stand jetzt neben mir.
»Was willst du?«, fragte er Matthew. »Warum bist du Harper bis hierher gefolgt?«
»Ich will bloß mit dir reden, mein Sohn.« Matthew sah mich an und versuchte, ein entschuldigendes Gesicht aufzusetzen. »Möglichst unter vier Augen. Das ist eine reine Familienangelegenheit, Harper.«
Er wollte, dass ich mein Motelzimmer verlasse.
»Das geht nicht!«, sagte Tolliver. Er legte den Arm um mich. »Sie ist meine Familie.«
Matthews Augen wanderten von Tolliver zu mir und wieder zurück. »Ich verstehe«, sagte er. »Hör zu, ich möchte mich bei dir entschuldigen. Ich war ein furchtbarer Vater. Ich habe dich und Laurels Kinder im Stich gelassen. Aber was noch viel schlimmer ist: Ich habe unsere gemeinsamen Kinder im Stich gelassen.«
Tolliver und ich standen schweigend da, während sich unsere Körper berührten. Ich musste nicht einmal zu meinem Bruder aufsehen, um zu wissen, wie er sich fühlte. Matthew musste uns nicht erzählen, wen er alles enttäuscht hatte. Wir wussten Bescheid.
Und trotzdem schien er auf eine Reaktion zu warten.
»Das wissen wir bereits«, sagte Tolliver.
»Laurel und ich waren drogensüchtig«, erklärte Matthew. »Das ist keine Entschuldigung dafür, euch so zu vernachlässigen, aber … ein Eingeständnis, nehme ich an. Wir haben schlimme Dinge getan. Ich bitte dich um Vergebung.«
Ich fragte mich, ob das eine Aktion war, zu der sich Matthew im Rahmen eines Entziehungsprogramms verpflichtet hatte oder so was. Wenn ja, hatte er es vollkommen falsch angefangen. Indem man seine Kinder stalkt und mich verfolgt, um an Tolliver heranzukommen, drückt man keinerlei Reue aus.
Nach kurzem Schweigen sagte ich: »Weißt du noch, wie Mariella eines Abends furchtbar krank wurde und wir uns aus dem Wohnwagen schleichen wollten, um sie zum Arzt zu bringen? Weißt du noch, wie du die Tür blockiertest und uns nicht gehen ließt, weil du nicht wolltest, dass das Krankenhaus den Sozialdienst verständigt? Wir waren an jenem Abend bereit, getrennt zu werden, nur um Hilfe holen zu können.«
»Sie wurde wieder gesund!«
»Weil wir die ganze Nacht aufgeblieben sind, ihr kalte Bäder und Paracetamol verabreicht haben!«
Matthew sah uns verständnislos an.
»Du kannst dich kein bisschen daran erinnern«, sagte Tolliver. »Auch nicht daran, dass wir unter dem Wohnwagen schlafen mussten, weil lauter Freunde von dir da waren. Oder daran, dass du keinen Krankenwagen rufen wolltest, als Harper vom Blitz getroffen wurde.«
»Daran erinnere ich mich durchaus.« Matthew sah Tolliver direkt in die Augen. »Du hast ihr an jenem Tag das Leben gerettet. Du hast sie wiederbelebt.«
»Und du hast gar nichts getan«, sagte ich.
»Ich habe deine Mutter geliebt«, verkündete er.
»Ja, und ich weiß es auch sehr zu schätzen, dass du für sie da warst, als es mit ihr zu Ende ging«, erwiderte ich. »Als sie allein starb und du mal wieder im Knast warst.«
»Und wo warst du?«, schoss es blitzschnell aus ihm hervor.
»Ich habe nie behauptet, sie zu lieben.«
»Warst du auf der Beerdigung?«
Wenn er glaubte, mich so mit Schmutz bewerfen zu können, würde ich ihn eines Besseren belehren. »Nein. Ich gehe grundsätzlich nicht auf Beerdigungen. Aus verständlichen Gründen.«
Matthew begriff immer noch nicht. Er musste in den letzten Jahren einige graue Zellen verloren haben. Anstelle einer Frage sah er mich mit zusammengekniffenen Augen an.
»Die vielen Toten. Das ist wirklich ein Problem für mich.«
»Ach, Quatsch! Mach mir doch nichts vor! Ich bin’s, Matthew. Ich kenne dich. Du kannst andere übers Ohr hauen, aber nicht mich.« Matthew zwinkerte mir zu, als wären wir Teil einer Verschwörung.
»Verschwinde!«, sagte Tolliver.
»Ach, komm schon, Sohn!«, sagte Matthew ungläubig. »Du willst mir doch nicht weismachen, dass die Sache mit dem Leichenfinden stimmt? Das kannst du sonst wem erzählen! In Wahrheit ist deine Schwester doch bloß so eine esoterische Spinnerin.«
»Sie ist nicht meine Schwester, zumindest nicht direkt«, sagte Tolliver. »Wir sind ein Paar.«
Matthew wurde puterrot. Er sah aus, als müsste er sich gleich übergeben. »Du machst mich krank!«, sagte er und bereute es auf der Stelle.
Nun, jeder, den wir davon unterrichtet hatten, hatte irgendwie negativ darauf reagiert. Wenn ich Wert auf fremde Meinungen gelegt hätte, hätte ich mir Sorgen über unsere Beziehung gemacht.
Glücklicherweise war mir das vollkommen egal.
»Es wird Zeit, zu gehen, Matthew«, sagte ich und löste mich von Tolliver. »Als ehemaliger Junkie und Alkoholiker bist du nicht sehr tolerant.« Ich hielt ihm die Tür auf.
Matthew sah von mir zu seinem Sohn und wartete, dass Tolliver widersprach. Tolliver wies mit dem Kinn zur Tür. »Ich glaube, es ist besser, du gehst jetzt, bevor ich noch wütender werde«, sagte er tonlos.
Matthew ging an mir vorbei zur Tür und warf mir einen erbosten Blick zu.
Ich schloss sie hinter ihm und drehte den Schlüssel im Schloss. Ich ging zu Tolliver, umarmte ihn und sah in sein verschlossenes Gesicht. »Es könnte sich zur Abwechslung auch mal jemand für uns freuen«, sagte ich, um das Schweigen zu brechen. Keine Ahnung, was in Tolliver vorging. Wollte er es sich lieber noch mal anders überlegen?
Draußen war es inzwischen vollkommen dunkel, und das Fenster sah aus wie ein riesiges Auge, zumal wir im Erdgeschoss wohnten. Tolliver drückte mich kurz und ging zum Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen. Wenn die Nacht draußen blieb und Tolliver und ich allein waren, würde es mir gleich besser gehen.
Tolliver stand mitten vor dem Fenster und streckte die Arme zu den Vorhängen. Ich stand seitlich hinter ihm und wollte mich gerade aufs Bett setzen, um die Schnürsenkel aufzumachen, als alles auf einmal geschah: Es gab einen lauten Knall, mein Gesicht und meine Brust brannten, und ich spürte etwas Feuchtes. Ein kalter Luftzug strich über mein Gesicht, während Tolliver zurückstolperte und mich aufs Bett warf. Er landete auf mir und glitt dann wie eine leblose Puppe zu Boden.
Ich sprang so schnell auf, dass ich wankte und merkte, dass unerklärlicherweise kalte Luft durch das Fenster kam. Ich sah an meiner Brust herunter. Sie war nass – aber es war kein Regen, sondern rote Flüssigkeit. Mein T-Shirt war hinüber. Keine Ahnung, warum mich das störte. Ich muss geschrien haben. Unbewusst begriff ich, dass Tolliver angeschossen worden war. Dass ich mit Glassplittern übersät war und blutete. Ja, dass plötzlich nichts mehr war wie zuvor.