17
Tolliver war erschöpft und wie betäubt. Ich musste ihm helfen, ins Bett zu klettern. Ich rief den Zimmerservice an und bestellte Suppe und Salat. Dann setzte ich mich auf die Bettkante, und wir warteten auf das Essen.
»Matthew ist zu vielem fähig«, sagte er, »aber ich glaube nicht, dass er Cameron etwas angetan hat.«
»Der Gedanke ist mir auch noch nie gekommen«, sagte ich. »Ehrlich gesagt, möchte ich es auch nicht glauben. Aber wenn er etwas mit ihrem Verschwinden zu tun und uns all die Jahre im Unklaren gelassen hat, will ich ihn tot sehen.« Bei Tolliver brauchte ich nicht zu fürchten, dass er die Aussage in den falschen Hals bekäme. Er kannte mich. Und jetzt kannte er mich noch ein bisschen besser.
Tolliver verstand. »Wenn er Cameron etwas angetan hat, hätte er es verdient, zu sterben«, sagte er. »Aber es gibt nichts, was ihn mit Camerons Verschwinden in Verbindung bringt. Außerdem hatte er keinerlei Motiv. So gesehen haben wir keinen Beweis dafür, dass er in die Sache mit den Joyces verwickelt ist. Wir brauchen mehr als die Rückenansicht eines Mannes, der ein öffentliches Gebäude verlässt.«
»Verstehe«, sagte ich – und ich verstand ihn wirklich. »Also müssen wir der Sache tiefer auf den Grund gehen. Wir können schließlich nicht so tun, als wenn nichts wäre.«
»Ja«, sagte Tolliver und schloss die Augen. Zu meiner Überraschung schlief er ein.
Ich aß allein zu Abend, ließ ihm aber etwas übrig, falls er wieder aufwachte und doch etwas essen wollte. Nachdem ich meinen Salat intus hatte, tat ich etwas, das ich bestimmt schon seit einem Jahr nicht mehr getan hatte: Ich ging zu unserem Wagen, öffnete den Kofferraum und holte den Rucksack meiner Schwester heraus. Zurück auf unserem Zimmer setzte ich mich aufs Sofa und machte ihn auf. Wir fanden ihn so niedlich, als Cameron ihn sich aussuchte. Er war pink mit schwarzen Pünktchen. Cameron hatte eine schwarze Jacke und schwarze Stiefel aufgetrieben und sah fantastisch darin aus. Niemand brauchte zu wissen, dass alles aus einem Secondhandladen stammte.
Die Polizei hatte uns den Rucksack schließlich überlassen, nach sechs Jahren. Man hatte ihn auf Fingerabdrücke untersucht, sein Innerstes nach außen gekehrt, ihn unter dem Mikroskop betrachtet … Soweit ich wusste, hatte man ihn sogar geröntgt.
Cameron müsste jetzt knapp sechsundzwanzig sein. Sie war seit fast acht Jahren verschwunden.
Es war Spätfrühling, als sie entführt wurde. Sie hatte die Sporthalle der Schule für den Abschlussball dekoriert. Sie hatte eine Verabredung gehabt, und zwar mit – oh Gott, ich konnte mich nicht mehr an seinen Namen erinnern. Mit Todd? Ja, mit Todd Battista. Keine Ahnung, ob ich ebenfalls eine Verabredung gehabt hatte. Wahrscheinlich nicht, denn nach dem Blitzschlag war meine Beliebtheit schlagartig gesunken. Meine neue Gabe hatte mich völlig außer Gefecht gesetzt. Ich brauchte fast ein Jahr, um mich an das Summen der Toten zu gewöhnen. Und dann musste ich lernen, meine seltsame Gabe zu verbergen. In dieser schlimmen Zeit galt ich zu Recht als reichlich merkwürdig.
Sie hatte sich an jenem Tag wahnsinnig verspätet, was so gar nicht Camerons Art war. Ich weiß noch, wie ich meine Mutter so weit wach bekam, dass sie auf die Mädchen aufpassen konnte, die ich bei der Tagesmutter abgeholt hatte. Obwohl es nicht gerade schlau war, meine Mom mit ihnen allein zu lassen, konnte ich sie nicht mitnehmen. Ich lief die Straße hinunter, vorbei an den anderen Wohnwagen, und nahm den Weg, den wir immer von der Schule nach Hause gingen.
Tolliver und Mark arbeiteten, und Matthew hatte bei einem seiner reizenden Freunde Billard gespielt, wie sich später herausstellte. Bei einem Junkie namens Renaldo Simpkins. Die Polizei hätte Renaldo nie geglaubt, aber seine Freundin Tammy war ebenfalls dabei gewesen. Sie sagte aus, dass sie während der Billardpartie mindestens fünf Mal ins Zimmer gekommen wäre. Sie war sich ganz sicher, dass Matthew das Haus zwischen vier und halb sieben nicht verlassen hatte. (Halb sieben deshalb, weil da eine Nachbarin angerufen und gesagt hatte, dass der Wohnwagen der Langs von Streifenwagen umstellt sei. Matthew solle seinen Arsch schleunigst nach Hause bewegen.)
Gegen halb sechs hatte ich den Rucksack meiner Schwester gefunden – der, der jetzt vor mir auf dem Couchtisch stand. Und zwar am Straßenrand. Die Straße führte durch ein Wohngebiet mit einfachen Häuschen. Die Hälfte davon stand leer. Aber gegenüber der Stelle, wo ich Camerons Rucksack gefunden hatte, wohnte eine Frau. Sie hieß Ida Beaumont.
Ich hatte mich vorher noch nie mit Ida Beaumont unterhalten, und obwohl ich oft an ihrem Haus vorbeigekommen war, hatte ich sie so gut wie nie im Garten gesehen. Sie hatte Angst vor den vielen Teenagern in ihrer Nachbarschaft – vielleicht sogar aus gutem Grund. Das war ein Viertel, in dem sogar die Polizei auf der Hut war. Aber an jenem Tag lernte ich Ida Beaumont kennen. Ich überquerte die Straße und klopfte an ihre Tür.
»Guten Tag, entschuldigen Sie bitte die Störung. Aber meine Schwester ist heute nicht von der Schule nach Hause gekommen, und ihr Rucksack liegt da unter diesem Baum.« Ich zeigte zu dem bunten Farbfleck hinüber. Ida Beaumont starrte darauf, ihr Blick folgte meinem Finger.
»Ja«, sagte sie vorsichtig. Sie war Anfang sechzig, und aus der Zeitung erfuhr ich später, dass sie von einer Art Behindertenrente lebte sowie von dem, was ihr noch von der Rente ihres Mannes übrig geblieben war. Ich konnte hören, dass ihr Fernseher lief. Sie sah sich eine Talkshow an. »Wer ist Ihre Schwester?«, fragte sie. »Ist sie das hübsche blonde Mädchen? Ich sehe euch immer zusammen von der Schule kommen.«
»Ja, Ma’am. Das ist sie. Ich suche sie. Haben Sie dort drüben heute Nachmittag irgendetwas beobachtet? Sie hätte eigentlich im Lauf der letzten Stunde nach Hause kommen müssen.«
»Normalerweise halte ich mich im hinteren Teil des Hauses auf.« Ida schien das bewusst zu betonen, wahrscheinlich, damit ich sie nicht als Wichtigtuerin abtat. »Aber ich habe etwa vor einer halben Stunde einen blauen Pick-up gesehen, einen alten Dodge. Der Mann darin sprach mit dem Mädchen. Ich konnte sie nicht richtig erkennen, weil sie auf der anderen Seite des Pick-ups stand. Aber sie stieg ein, und dann sind sie losgefahren.«
»Oh.« Ich versuchte, mir einen Reim darauf zu machen. Versuchte, mich daran zu erinnern, ob einer unserer Bekannten einen blauen Pick-up hatte. Aber mir fiel keiner ein. »Danke. Und das war ungefähr vor einer halben Stunde?«
»Ja«, sagte sie sehr bestimmt. »Ganz genau.«
»Und sie sah nicht so aus, als … als hätte er sie dazu gezwungen?«
»Dazu kann ich nichts sagen. Sie haben sich unterhalten, sie ist eingestiegen, und dann sind sie davongefahren.«
»Gut. Vielen Dank für Ihre Auskunft.« Dann machte ich kehrt und überquerte erneut die Straße. Ich drehte mich um. Ida Beaumont stand immer noch in ihrer Haustür.
»Haben Sie Telefon?«, fragte ich. Wir lebten in einem Viertel, wo das nicht selbstverständlich war.
»Ja.«
»Würden Sie die Polizei rufen und ihr ausrichten, was ich Ihnen gerade über meine Schwester erzählt habe? Würden Sie sie bitten, herzukommen? Ich stehe da drüben, neben dem Rucksack.«
Ich konnte so etwas wie Widerwillen auf Ida Beaumonts Gesicht erkennen und wusste, dass sich die alte Frau wünschte, nicht an die Tür gegangen zu sein. »Na, gut«, sagte sie schließlich und seufzte laut. »Ich rufe sie an.« Ohne die hölzerne Haustür zu schließen, ging sie zu einem an der Wand montierten Telefon. Ich konnte sehen, wie sie die Nummer der Polizei wählte, und hörte auch, was sie sagte.
Eines muss ich der Polizei lassen: Sie kam sehr schnell. Anfangs zweifelte sie natürlich daran, dass Cameron wirklich vermisst wurde. Teenagermädchen haben of Besseres zu tun, als nach Hause zu gehen, vor allem wenn sie in so einem Viertel wohnen. Aber der zurückgelassene Rucksack sprach eine andere Sprache, nämlich die, dass meine Schwester nicht freiwillig mitgefahren war.
Schließlich war ich weinend zusammengebrochen und hatte ihnen erklärt, dass ich nach Hause müsse. Dass man meine Schwestern meiner Mom nicht anvertrauen könne, was alles nur noch schlimmer gemacht hatte. Ich durfte meine Brüder anrufen, die sofort alles stehen und liegen ließen und nach Hause kamen. Dass weder Mark noch Tolliver an Camerons Entführung zweifelten, überzeugte die Polizei zusätzlich, dass meine Schwester nicht freiwillig mitgegangen oder absichtlich weggelaufen war.
Die Polizei zum Wohnwagen zu bringen, wäre auch unter normalen Umständen eine erniedrigende Erfahrung gewesen. Aber inzwischen hatte ich solche Angst, dass ich froh war über ihre Anwesenheit. Die Polizisten sahen, dass meine Mutter wieder bewusstlos auf dem Sofa lag, und die Mädchen weinten. Sie hatte angefangen, Gracie eine Windel anzulegen, sie aber nicht mehr zugemacht. Mariella versuchte, ein Stückchen Banane für Gracie zu zerdrücken, die erst seit Kurzem feste Nahrung zu sich nahm. Sie stand auf einem Stuhl, um die Arbeitsfläche zu erreichen. Die Küche war sauber, soweit sie das in einem alten, maroden Wohnwagen überhaupt sein konnte. Aber natürlich war es dort sehr beengt, und unsere vielen Sachen riefen den Eindruck einer totalen Unordnung hervor.
»Sieht es hier immer so aus?«, fragte der jüngere Polizist, während er sich umsah.
»Sei ruhig, Ken!«, sagte sein Partner.
»Cameron und ich tun, was wir können«, erwiderte ich und fing erneut an, zu weinen. Meine Verbitterung machte sich in einem erklärenden Wortschwall Luft. Ein Teil von mir hatte längst begriffen, dass unser bisheriges Leben vorbei war, also brauchte ich auch niemandem mehr etwas vorzumachen.
Während ich weinte und redete, wickelte ich Gracie und machte Mariella ein Sandwich mit Erdnussbutter. Ich zerdrückte die Banane für Gracie, vermischte sie mit etwas Babynahrung und gab alles in eine Schale. Ich holte ihr einen kleinen Löffel aus dem Abtropfgestell. Meine Mutter rührte sich nicht. Nur einmal tastete ihre Hand nach der Stelle, an der Gracie gelegen hatte, und fuchtelte suchend herum. Ich setzte Gracie in ihren Kinderstuhl und fing an, sie zu füttern, wobei ich Pausen machte, um mir die Tränen abzuwischen.
»Sie kümmern sich um Ihre Schwestern«, sagte der ältere Polizist freundlich.
»Meine Brüder verdienen genug, dass wir sie zu einer Tagesmutter bringen können, während wir in der Schule sind«, sagte ich. »Wir haben uns wirklich bemüht.«
»Das sehe ich«, sagte er. Der jüngere Polizist wandte sein Gesicht ab. Seine Lippen waren nur noch ein schmaler Strich, und seine Augen funkelten wütend. »Wo ist dein Daddy?«, fragte er nach einer Minute.
»Mein Stiefvater«, verbesserte ich ihn automatisch. »Ich habe keine Ahnung.«
Als Matthew nach Hause kam, gab er sich erstaunt, dass die Polizei da war. Entsetzt, dass Cameron verschwunden war. Und bestürzt, dass seine Frau trotz des Tumults nichts davon mitbekommen hatte.
So etwas wäre noch nie passiert, behauptete er vor den Cops. Inzwischen war Verstärkung eingetroffen. Ein Cop, der Matthew schon einmal verhaftet hatte, schnaubte verächtlich, nachdem dieser seine Vorstellung beendet hatte.
»Klar, Kumpel«, sagte der Officer. »Und wo warst du heute Nachmittag?«
Nachdem meine Mutter ins Krankenhaus gebracht worden war, saßen Tolliver und ich auf dem Sofa. Mark lief nervös auf und ab, soweit das in einem Wohnwagen überhaupt möglich ist. Eine Sozialarbeiterin war gekommen, um unsere Schwestern mitzunehmen. Matthew war festgenommen worden, weil er ein paar Joints in seinem Auto liegen hatte. Aber die Drogen waren nur ein Vorwand: Nachdem sie den Wohnwagen gesehen und mit mir geredet hatten, wollten sie ihn bloß noch verhaften. Mark und Tolliver hatten alles bestätigt: Mark sehr widerwillig, Tolliver ganz sachlich, was viel über unser Leben aussagte. Aber als die Polizei weg war, traf ich Mark weinend vor dem Wohnwagen an. Er saß im Gartenstuhl vor den Stufen zum Wohnwagen und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen.
»Wir haben uns so bemüht, zusammenzubleiben«, sagte er, als müsste er seine Verfassung erklären.
»Damit ist es jetzt ein für allemal vorbei«, sagte ich. »Jetzt, wo Cameron entführt wurde. Wir können nichts mehr verheimlichen.«
Im darauffolgenden Monat war Cameron mehrmals in Texarkana, Dallas, Corpus Christi, Houston und Little Rock »gesehen« worden. Man hatte sogar eine junge Stadtstreicherin aus Los Angeles hergeschafft, weil sie aussah wie Cameron. Aber keiner dieser Hinweise hatte irgendetwas ergeben, und ihre Leiche war nie gefunden worden. Drei Jahre nach ihrem Verschwinden war ich ganz aufgeregt, weil ein Jäger eine Mädchenleiche in irgendwelchen Wäldern rund um Lewisville, Arkansas, gefunden hatte. Die Leiche – beziehungsweise das, was noch davon übrig war – war die einer Frau, auch die Größe passte zu Cameron. Aber nach einer genaueren Untersuchung stellte sich heraus, dass das Skelett zu einer deutlich älteren Frau gehörte, und auch die DNA stimmte nicht überein. Die Leiche war nie identifiziert worden, aber nachdem man mich in ihre Nähe gelassen hatte, erfuhr ich, dass sie Selbstmord begangen hatte. Ich erzählte es nicht weiter, weil mir die Polizei ohnehin nicht geglaubt hätte.
Tolliver und ich hatten damals schon mit dem Reisen begonnen und bauten gerade unsere Firma auf. Es hatte lange gedauert, bis sich herumsprach, was ich tat, und das Internet darüber berichtete. Die Cops hielten mich für eine Betrügerin. Die ersten zwei Jahre waren hart. Doch danach kam meine Karriere in Schwung.
Aber ich wollte jetzt nicht über meine Biografie, sondern über die von Cameron nachdenken. Ich strich liebevoll über den Rucksack und nahm alles heraus, was darin war. Ich hatte jeden einzelnen Gegenstand hundertfach untersucht. Wir hatten jedes Buch Seite für Seite durchgeschaut und nach einer Botschaft, nach irgendeinem Hinweis gesucht. Alle Zettel, die Cameron von anderen Schülern bekommen hatte, steckten in einer Tasche. Wir hatten sie wieder und wieder gelesen, um eine Erklärung für das zu finden, was unserer Schwester zugestoßen war.
Tanya hatte Camerons Aufmerksamkeit auf Heathers bescheuertes Outfit lenken wollen. Tanya hatte auch Jerrys Bemerkung über Heather kommentiert, der behauptet hatte, SEX mit Heather gehabt zu haben. Jennifer fand Camerons Bruder SCHARF, hatte er eine Freundin? Und war Mr Arden nicht ein furchtbarer Schwachkopf?
Todd hatte wissen wollen, wann er sie zum Abschlussball abholen solle. Würde sie sich bei Jennifer umziehen so wie beim letzten Mal? (Wenn Cameron es irgendwie einrichten konnte, ließ sie sich woanders abholen. Ich konnte das gut verstehen.)
Es war auch ein Zettel von Mr Arden dabei gewesen: Cameron solle ihren Eltern ausrichten, dass einer von ihnen in die Schule kommen und erklären müsse, dass er über die Anwesenheitspflicht informiert sei. Eine schriftliche Entschuldigung reiche einfach nicht. (Mr Arden hatte der Polizei erzählt, dass Cameron einmal zu oft nicht zum Unterricht erschienen sei. Deshalb hätte er sich Camerons Eltern einmal vorknöpfen wollen, um sicherzustellen, dass Cameron nicht noch öfter die Schule schwänzte und ihren Abschluss gefährdete.)
Sie hatte nicht aus Faulheit geschwänzt. Wenn sie fehlte, dann in der letzten Stunde, denn manchmal mussten wir früher weg und die Mädchen von der Tagesmutter holen, falls Tolliver oder Mark verhindert waren.
Natürlich zeigten sich alle unsere Lehrer entsetzt von unseren Lebensbedingungen, nur nicht Miss Briarly. Miss Briarly hatte gesagt: »Und was hätten wir tun sollen? Die Polizei verständigen, damit die Kinder getrennt werden?«
Genau darauf hatte sich die Presse gestürzt, sodass Miss Briarly vom Rektor verwarnt wurde. Darüber hatte ich mich wahnsinnig aufgeregt. Miss Briarly hatte Camerons Lieblingsfach unterrichtet, Biologie. Ich weiß noch, wie sehr Cameron für ihr Genetikprojekt geschuftet hatte, für das sie die Augenfarbe sämtlicher Nachbarn notiert hatte. Sie hatte eine Eins bekommen, und Miss Briarly hatte mir die Arbeit nach Camerons Verschwinden ausgehändigt.
Ida Beaumont musste ihre Geschichte immer wieder aufs Neue erzählen. Im Zuge dessen wurde sie zur totalen Einsiedlerin und ging nicht einmal mehr an die Tür. Die Einkäufe ließ sie sich von der Kirche bringen.
Meine Mutter und Tollivers Vater waren zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Man legte ihnen alles Mögliche zur Last, angefangen von Kindesvernachlässigung bis hin zu Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz.
Tolliver hatte man erlaubt, zu Mark zu ziehen. Ich war in eine Pflegefamilie gekommen, in der man mich sehr gut behandelte. Ich fand es herrlich, in einem richtigen Haus zu wohnen und mir das Zimmer nur noch mit einem anderen Mädchen teilen zu müssen. In einem Haushalt, in dem alles sauber war, ohne dass ich vorher saubermachen musste, und in dem es feste Hausaufgabenzeiten gab. Ich schreibe den Clevelands immer noch zu Weihnachten. Sie erlaubten, dass mich Tolliver samstags besuchte, wenn er nicht gerade arbeiten musste.
Als ich meinen Schulabschluss machte, planten wir bereits, uns mit meiner seltsamen Gabe den Lebensunterhalt zu verdienen. Wir verbrachten Stunden auf dem Friedhof, wo wir übten und die Grenzen meiner Fähigkeiten ausloteten. Noch merkwürdiger als unser Plan war die Tatsache, dass das eine sehr schöne Zeit in meinem Leben gewesen war, und ich glaube, auch in dem von Tolliver. Das Traurigste daran war, dass ich alle meine Schwestern verloren hatte. Cameron war verschwunden, und Mariella und Gracie lebten bei Iona und Hank.
Ich schlug Camerons Mathematikbuch auf. Sie hatte das Fach gehasst. Cameron war nicht besonders gut in Mathe. Dafür war sie gut in Geschichte, das weiß ich noch. Geschichte hatte ihr gefallen. Es war leichter, sich mit dem Leben von Personen zu befassen, die bereits tot waren und deren Probleme der Vergangenheit angehörten. Cameron war gut in Rechtschreibung und in Naturwissenschaften, vor allem aber in Biologie.
Die Zeitungen hatten seitenweise über die schlimmen Zustände im Wohnwagen berichtet. Über Laurels und Matthews Lasterleben, über das Strafregister ihrer Besucher und über die Anstrengungen, die wir Kinder unternommen hatten, um zusammenbleiben zu können. Doch ehrlich gesagt fand ich unser Zuhause so ungewöhnlich auch wieder nicht. In der stillschweigenden Art, wie Kinder miteinander kommunizieren, wussten wir von einem Dutzend oder mehr Kindern, dass sie unter ähnlichen oder sogar noch schlimmeren Umständen lebten.
Viele Leute können nichts dafür, dass sie arm sind. Aber sie können etwas dafür, dass sie schlecht sind. Wir hatten leider Eltern, die beides waren.
Ich schlug eines der Hefte meiner Schwester auf. Ihre Schulhefte waren alle noch da. Die schmuddeligen linierten Seiten mit ihrer Handschrift waren alles, was mir noch von ihr geblieben war. Cameron war außer mir die einzige gewesen, die sich noch an die guten Zeiten erinnern konnte. An jene Zeiten, in denen unsere Eltern noch verheiratet und nicht drogensüchtig waren. Wenn mein Vater noch lebte, würde er sich wahrscheinlich kaum noch daran erinnern können.
Ich schüttelte mich. Ich wollte nicht sentimental werden. Aber ich musste mich an den Tag zurückerinnern, an dem Cameron verschwand. Wenn sie freiwillig in diesen Pick-up gestiegen war, sollte ich vielleicht aufhören, nach ihr zu suchen. Denn dann wäre sie mir nicht nur fremd, sondern es gäbe auch keine Leiche aufzuspüren – außer ihr war in der Zwischenzeit etwas zugestoßen. Die Ironie des Schicksals bestand darin, dass ich Cameron erst finden konnte, wenn sie tot war.
Ich fragte mich, ob Ida Beaumont noch lebte. Ich war damals so jung gewesen, dass sie für mich schon mit einem Bein im Grab zu stehen schien. Jetzt wurde mir klar, dass sie höchstens fünfundsechzig gewesen war.
Aus einem unerklärlichen Impuls heraus rief ich die Auskunft von Texarkana an und erfuhr, dass sie noch immer im Telefonbuch stand. Meine Finger wählten die Nummer, bevor ich überhaupt wusste, was ich mir davon versprach.
»Hallo?«, sagte eine Quietschstimme misstrauisch.
»Mrs Beaumont?«
»Ja, hier spricht Ida Beaumont.«
»Sie erinnern sich vielleicht nicht mehr an mich«, sagte ich. »Ich bin Harper Connelly.«
Schweigen.
»Was wollen Sie?«, sagte die Stimme.
Das war nicht unbedingt die Frage, die ich erwartet hatte.
»Wohnen Sie noch in demselben Haus, Mrs Beaumont? Ich würde Sie gern besuchen«, sagte ich spontan. »Ich würde gern einen meiner Brüder mitbringen.«
»Nein«, sagte sie. »Bleiben Sie bloß weg! Als Sie das letzte Mal hier waren, haben die Leute noch wochenlang an meine Tür geklopft. Die Polizei schaut immer noch manchmal vorbei. Bleiben Sie weg.«
»Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen«, sagte ich ebenso wütend wie bestimmt.
»Die Polizei hat mir bereits jede Menge Fragen gestellt«, giftete sie zurück. In diesem Moment merkte ich, dass ich es völlig falsch angestellt hatte. »Ich wünschte, ich wäre damals nie an die Tür gegangen.«
»Aber dann hätten Sie mir das mit dem blauen Pick-up nicht erzählen können«, sagte ich.
»Ich habe Ihnen aber auch gesagt, dass ich das Mädchen nicht richtig erkannt habe.«
»Ja«, sagte ich, obwohl ich das nach all den Jahren mehr oder weniger verdrängt hatte. Ich vermisste ein Mädchen, und sie hatte gesehen, wie ein Mädchen in einen Pick-up stieg. Außerdem lag Camerons Rucksack dort.
Über die Leitung hörte ich ein lautes Seufzen. Dann begann Ida Beaumont zu reden. »Eine junge Frau bringt mir seit einem halben Jahr Essen auf Rädern«, sagte sie. »Das Essen schmeckt zwar nicht, ist aber dafür umsonst. Manchmal bringt sie mir sogar so viel, dass es für zwei Tage reicht. Sie heißt Missy Klein.«
»Aha«, sagte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte. Mein Herz sackte mir in die Hose, weil ich wusste, dass sie schlechte Nachrichten für mich hatte.
»Und sie sagte zu mir: ›Mrs Beaumont, wissen Sie noch, wie Sie vor all den Jahren das Mädchen in den blauen Pick-up steigen sahen?‹ Und ich sagte: ›Na klar, und es hat mir nichts als Ärger eingebracht.‹«
»Ja.« Die böse Vorahnung wurde immer stärker.
»Und dann hat sie mir erzählt, dass sie damals zu ihrem Freund in den Truck gestiegen ist, den sie eigentlich gar nicht treffen durfte, weil er schon über zwanzig war.«
»Es war nicht meine Schwester?«
»Nein. Es war diese Missy Klein, und jetzt bringt sie mir Essen auf Rädern.«
»Sie haben meine Schwester nie gesehen.«
»Nein. Und Missy hat mir erzählt, dass dieser Rucksack bereits dort lag, als sie vorbeikam, um in seinen Wagen zu steigen.«
Ich drohte unter einer Riesenlast zusammenzubrechen. »Haben Sie das schon der Polizei erzählt?«, fragte ich schließlich.
»Nein, ich rufe die Polizei nicht an. Das hätte ich wahrscheinlich tun sollen, aber na ja, sie ist schon so oft gekommen und hat mich nach jenem Tag befragt … Peter Gresham schaut immer noch in regelmäßigen Abständen vorbei. Ich dachte, ich sage es ihm, wenn er das nächste Mal da ist.«
»Danke«, sagte ich. »Ich wünschte, ich hätte das früher gewusst. Trotzdem danke, dass Sie es mir gesagt haben.«
»Aber das ist doch selbstverständlich. Ich dachte, Sie wären wütend auf mich«, sagte sie zu meinem Erstaunen.
»Ich bin froh, dass ich Sie angerufen habe. Auf Wiederhören«, sagte ich. Meine Stimme war genauso betäubt wie mein Herz. Jede Minute konnte das Gefühl zurückkehren. Ich wollte nicht mehr mit dieser Frau telefonieren, wenn es so weit war.
Ida Beaumont sagte noch etwas über Essen auf Rädern, als ich auflegte.
Im selben Moment rief mich Lizzie Joyce an, ohne dass ich die Konsequenzen des soeben Gehörten überhaupt richtig begriffen hatte. »Oh Gott!«, sagte sie. »Ich kann es kaum fassen, dass Victoria tot ist. Sie waren mit ihr befreundet, oder? Kannten Sie sich schon lange? Harper, es tut mir so leid! Was, glauben Sie, ist ihr zugestoßen? Hatte es etwas mit der Suche nach dem Baby zu tun?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, erwiderte ich, auch wenn das gelogen war. Ich glaubte nicht, dass Lizzie Joyce etwas mit dem Mord an Victoria zu tun hatte, aber jemand aus ihrem Umfeld sehr wohl. Ich wunderte mich, warum sie mich anrief. Hatte Lizzie Joyce, die Geld wie Heu hatte, denn keine beste Freundin? Und was war mit der Schwester, dem Freund und dem Bruder? Warum rief sie nicht Leute an, mit denen sie in irgendwelchen Vorständen saß? Leute, die für sie arbeiteten, ihr die Haare und Fingernägel machten, bevor sie fein ausging? Leute, die die Tonnen für ihre Turniere aufstellten?
Nachdem ich ihr kurz zugehört hatte, merkte ich, dass Lizzie mit jemandem sprechen wollte, den sie nicht erst noch einweihen musste. Mit jemandem, der Victoria gekannt hatte. Und ich war nun mal diejenige, auf die beides zutraf.
»Ich glaube, ich werde mich an die Detektei wenden, die die Firma meines Großvaters immer beauftragt«, sagte sie. »Dabei dachte ich, es wäre besser, eine unabhängige Frau zu beschäftigen. Jemanden, der sich nicht mit unseren Geschäften auskennt und nicht in unsere Familiengeschichte verwickelt ist. Doch vermutlich bin ich für ihren Tod verantwortlich. Wäre ich zu unserer üblichen Detektei gegangen, wäre sie noch am Leben.«
Dem konnte ich nicht widersprechen. »Wieso arbeiten Sie überhaupt mit einer Detektei zusammen?«, erkundigte ich mich stattdessen.
»Granddaddy begann damit, als er Chef einer riesigen Firma wurde. Mehr als nur ein Rancher. Er wusste gern, wen er einstellte, wenigstens bei den Schlüsselpositionen.« Lizzie schien sich zu wundern, dass ich überhaupt fragte.
»Warum hat er sie dann nicht beauftragt, Erkundigungen über Mariah Parish einzuholen?«
»Granddaddy hatte sie kennengelernt, als sie noch für die Peadens arbeitete. Und als er jemanden brauchte und sie zur Verfügung stand, schien das die ideale Lösung zu sein. Wahrscheinlich hatte er das Gefühl, sie zu kennen, und wollte deshalb keinerlei Erkundigungen mehr über sie einholen. Schließlich stellte sie keine Schecks für uns aus oder so etwas.«
Er hätte ihr nicht sein Scheckbuch anvertraut. Aber er vertraute ihren Kochkünsten, ohne Angst zu haben, vergiftet zu werden. Und er vertraute ihren Putzkünsten, ohne Angst zu haben, bestohlen zu werden. Selbst misstrauische reiche Leute haben ihre Achillesferse. Nach allem, was wir aus den Unterlagen über Mariah wussten, war das wirklich eine Ironie des Schicksals.
Ich hatte nicht gewusst, dass Rich Joyce Mariah bereits begegnet war, bevor sie bei ihm einzog. Drexell hatte das bei dem Abendessen mit Victoria gar nicht erwähnt. Vielleicht hatte Rich das als gute Gelegenheit gesehen, eine heimliche Geliebte einzuschleusen. Vielleicht hatte ihm sein Freund, bei dem Mariah zuerst gearbeitet hatte, erzählt, dass er mit ihr im Bett gewesen sei. Stups, stups, zwinker, zwinker. Ich habe hier eine gute Frau für dich, die kochen, deine Tabletten zählen und dein Bett wärmen kann, Rich. Sie kann sofort bei dir einziehen.
»Und Sie haben nicht im Traum daran gedacht, Erkundigungen über sie einzuholen wie bei jedem anderen Angestellten auch?«
»Na ja«, sagte Lizzie mit wachsendem Unbehagen. »Sie war sich längst mit Granddaddy einig geworden, als wir davon erfuhren. Da er noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war, konnten wir uns da nicht einmischen.«
Alle Joyce-Enkel hatten Angst vor dem Patriarchen gehabt. »Und im Nachhinein haben Sie auch keine Erkundigungen einholen lassen?«
»Na ja, dann hätte er davon erfahren. Damals hätte ich eine unabhängige Detektivin anheuern sollen. Aber um ehrlich zu sein, habe ich mir zu der Zeit nicht viele Gedanken darüber gemacht. Das Ganze ist so lange her, ich war noch jung und nicht so selbstbewusst. Außerdem glaubte ich natürlich, Granddaddy würde ewig leben.« Lizzie verstummte, wahrscheinlich weil sie merkte, dass sie zu viel von sich preisgab. »Na ja, ich wollte Ihnen nur sagen, wie leid mir das mit Ihrer Freundin tut. Wie geht es eigentlich Ihrem Bruder? Die ganze Sache nimmt immer dramatischere Formen an.«
»Wünschten Sie, Sie hätten mich niemals engagiert?«
Schweigen. »Ehrlich gesagt, ja«, sagte sie. »So wie es aussieht, sind viele Menschen gestorben, und das vollkommen umsonst. Was hat sich schon geändert? Welche neuen Erkenntnisse habe ich gewonnen? Gar keine. Mein Großvater sah eine Klapperschlange und starb. Wir wissen nicht genau, ob noch jemand dabei war. Er ist und bleibt tot. Mariah ist ebenfalls tot. Nur dass sie in meiner Vorstellung jetzt nicht mehr in Frieden ruht, seit ich weiß, dass sie im Kindbett starb. Wo ist das Baby? Ist das Baby eine Tante oder ein Onkel von mir? Ich habe keine Ahnung. Vielleicht werde ich es niemals herausfinden.«
»Irgendjemand scheint dafür zu sorgen, dass Sie es niemals herausfinden werden«, sagte ich. »Auf Wiederhören, Lizzie.« Dann legte ich auf.
Manfred kam vorbei, und ich war froh, ihn zu sehen. Aber ich hatte keine große Lust zu reden. Er fragte mich nach dem Rucksack.
»Der gehört meiner Schwester«, sagte ich. »Sie hat ihn an dem Tag zurückgelassen, an dem sie verschwand.«
Ich drehte mich um, um auf Tollivers Rufe zu reagieren. Er war kurz aufgewacht und bat um eine Schmerztablette. Noch bevor er sie einnehmen konnte, schlief er wieder ein.
Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, ließ Manfred den Rucksack los. Er sah traurig aus. »Tut mir leid, dass dir das passiert ist, Harper.«
»Danke für deine Anteilnahme, Manfred, aber es ist meiner Schwester passiert. Ich habe nur mit den Folgen zu kämpfen.«
»Wir sehen uns bald. Mach dir keine Sorgen, wenn ich mich für ein paar Tage nicht melde. Ich habe noch etwas zu erledigen.«
»Oh … na gut.« Ich wäre nie auf die Idee gekommen, mir um Manfred Sorgen zu machen. Bevor er ging, gab er mir noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange, und ich war froh, die Tür hinter ihm zumachen zu können. Ich setzte mich und dachte über meine Schwester nach.