20
Nachdem der Sheriff und seine Leute mit uns fertig waren, war ich dermaßen müde, dass ich mich auf der Rückfahrt nach Dallas kaum noch konzentrieren konnte. Und tatsächlich sollten wir nie in Garland ankommen. Als mir klar wurde, dass es keinen Grund gab, dorthin zu fahren, nahm ich die nächste Ausfahrt und buchte uns ein Zimmer. Wir waren mitten im Nirgendwo, nur dass dieses Nirgendwo an der Interstate lag und über ein Motel verfügte. Es war kein besonders gutes Motel, dafür konnten wir uns einigermaßen sicher sein, dass niemand durchs Fenster auf uns schießen würde.
Ein paar Dinge verwirrten mich immer noch, aber beide Schützen waren tot.
Tolliver nahm seine Medikamente, und wir kletterten ins Bett. Die Laken fühlten sich kalt und beinahe feucht an, sodass ich noch einmal aus dem Bett stieg, um die Heizung aufzudrehen. Was zur Folge hatte, dass sich die Vorhänge unangenehm bauschten. Weil ich das kenne, habe ich immer eine große Klammer im Gepäck, die uns auch in dieser Nacht sehr zupass kam. Als ich wieder zwischen die Laken schlüpfte, merkte ich, dass Tolliver bereits schlief.
Beim Aufwachen schien die Sonne. Tolliver war im Bad, machte Katzenwäsche und murrte vor sich hin.
»Was murrst du da?«, fragte ich, setzte mich auf und schwang meine Beine aus dem Bett.
»Ich möchte endlich duschen«, sagte er. »Ich wünsche mir nichts mehr als eine Dusche.«
»Tut mir leid«, sagte ich und meinte es ernst. »Aber noch darf deine Schulter nicht nass werden.«
»Heute Abend können wir versuchen, eine Müll- oder Einkaufstüte darüber zu kleben«, schlug er vor. »Wenn wir sie richtig befestigen, bin ich mit dem Duschen fertig, bevor das Klebeband aufweicht.«
»Wir können es ja mal probieren«, willigte ich ein. »Und, was steht heute auf dem Programm?«
Keine Antwort.
»Tolliver?«
Schweigen.
Ich stand auf und ging zum Bad. »Was ist denn?«
»Heute«, sagte er, »müssen wir mit meinem Dad reden.«
»Müssen wir das wirklich?«, fragte ich vorsichtig.
»Ja«, erwiderte er fest entschlossen.
»Und dann?«
»Dann werden wir in den Sonnenuntergang reiten«, sagte er. »Wir werden nach St. Louis zurückfahren und eine Weile allein sein.«
»Oh, das klingt gut. Ich wünschte, wir könnten das mit deinem Dad ausfallen lassen und gleich ›allein sein‹.«
»Ich dachte, du brennst darauf, mit ihm abzurechnen.« Er begann, sich seinen Bartstoppeln zu widmen, und hielt kurz inne, während eine Wange noch vor Rasiergel glänzte.
Das hatte ich eigentlich auch erwartet. »Es gibt vieles, was ich lieber nicht wissen will«, sagte ich. »Dabei hätte ich mir das nie vorstellen können. Ich habe so lange auf diesen Moment gewartet.«
Er legte seinen gesunden Arm um mich und drückte mich. »Ich habe auch schon überlegt, Texas noch heute zu verlassen«, sagte er. »Wirklich. Aber das geht nicht.«
»Nein«, pflichtete ich ihm bei.
Ich hatte wie vereinbart Dr. Spradlings Krankenschwester angerufen und ihr erzählt, dass Tolliver keine erhöhte Temperatur hatte, nicht blutete und dass seine Wunde nicht entzündet aussah. Sie ermahnte mich, gut darauf zu achten, dass er seine Medikamente nahm, mehr nicht. Trotz der schockierenden Ereignisse vom Vortag sah Tolliver besser aus denn je, seit er angeschossen worden war. Ich war mir sicher, dass er wieder ganz gesund würde.
Die Fahrt nach Dallas ging ohne Probleme vonstatten, von ein paar kleinen Staus einmal abgesehen. Wir mussten Marks Haus finden, wo wir erst ein Mal gewesen waren. Mark war ein Einzelgänger, und ich fragte mich, wie er und Matthew miteinander auskamen.
Zu meiner Überraschung stand Marks Wagen in der kleinen Auffahrt. Sein Haus war kleiner als das von Iona und damit wirklich winzig. Ich erkannte sofort dieses Summen in der Nachbarschaft, aber es war schwach. Keine Toten in unmittelbarer Nähe.
Schmale Betonplatten führten von der Auffahrt zur Haustür. Die beiden Außenleuchten daneben waren voller Spinnweben, und so etwas wie Gartenpflege war hier unbekannt. Das Haus schien seinem Besitzer völlig egal zu sein.
Mark öffnete uns. »He, was macht ihr denn hier?«, sagte er. »Wollt ihr Dad besuchen?«
»Ja, in der Tat«, sagte Tolliver. »Ist er da?«
»Ja. Dad!«, rief Mark. »Tolliver und Harper sind hier.« Er trat einen Schritt zurück, um uns hereinzulassen. Er trug eine Jogginghose und ein altes T-Shirt. Offensichtlich musste er heute nicht arbeiten. Ich ertappte mich dabei, ihn anzustarren. »Tut mir leid«, sagte er. »Aber heute ist mein freier Tag. Ich habe keinen Besuch erwartet.«
»Wir haben uns ja auch nicht angemeldet«, sagte ich. Das Wohnzimmer war ungefähr genauso schlicht eingerichtet wie das von Renaldo: Es gab eine große Ledercouch und einen dazu passenden Sessel, einen großen Fernseher und einen Couchtisch, aber keine Leselampen und keine Bücher. Dafür sah ich ein gerahmtes Foto, das uns fünf Kinder zeigte und vor dem Wohnwagen aufgenommen worden war.
»Wer hat denn das gemacht?«, fragte ich überrascht.
»Ein Freund deiner Mutter«, erwiderte Mark. »Dad hat es zusammen mit den anderen Sachen einlagern lassen, als er ins Gefängnis musste. Er hat es sofort ausgepackt, nachdem er seine Sachen wiederhatte.«
Mit Tränen in den Augen sah ich mir das Foto an. Tolliver und Mark standen nebeneinander. Mark lächelte nicht. Tollivers Mundwinkel waren zwar leicht nach oben gezogen, aber sein Blick war finster. Cameron stand neben Mark und hatte einen Arm um ihn gelegt. Gleichzeitig hielt sie Mariellas Hand. Mariella lächelte. Wie die meisten kleinen Kinder liebte sie es, sich fotografieren zu lassen. Ich hielt Gracie im Arm. Wie klein sie war! Welche Gracie war es? Die Gracie nach dem Krankenhausaufenthalt.
»Dieses Foto wurde kurz davor aufgenommen«, sagte ich.
»Kurz wovor?«
»Du weißt schon«, sagte ich erstaunt. »Kurz bevor Cameron verschwand.«
Er zuckte die Achseln, als hätte ich von etwas anderem gesprochen.
Wir standen immer noch, als Matthew hereinkam. Er trug Jeans und ein Flanellhemd. »Ich muss in einer Stunde zur Arbeit, aber ich freue mich, euch zu sehen«, sagte er zu Tolliver und drehte dann den Kopf, damit sein Lächeln auch mir galt.
Danke, aber ich nicht.
»Wir waren gestern bei den Joyces«, sagte ich. »Chip und Drex haben von dir erzählt.«
Mit dem Entsetzen, das nun auf Matthews Gesicht erschien, hatte ich nicht gerechnet. »Ach ja? Und was hatten sie zu sagen? Das ist doch diese reiche Familie, oder? Die mit der Ranch?«
»Du weißt genau, wen wir meinen«, sagte Tolliver. »Du weißt, dass sie zum Wohnwagen kamen.«
Mark sah von seinem Bruder zu seinem Vater. »Diese reichen Jungs?«, sagte er. »Sind das die, für die Harper und du letzte Woche gearbeitet habt?«
»Wir haben uns in letzter Zeit mit einer ganzen Reihe von Leuten unterhalten«, sagte ich. »Auch mit Ida, weißt du noch?«
»Mit der alten Frau, die deine Schwester in einen blauen Truck steigen sah«, sagte Matthew.
»Nur, dass das nicht stimmt!«, sagte ich. »Wie sich herausstellte, war es gar nicht Cameron.«
Das Erstaunen auf ihren Gesichtern wirkte mehr oder weniger aufrichtig. Zumindest staunten sie, worüber auch immer.
»Ich habe dich in der Arztpraxis gesehen«, sagte ich zu Matthew.
Er staunte erneut. »Ich war vor ein paar Tagen beim Arzt«, sagte er vorsichtig. »Wegen dieses Hustens, den ich seit dem …«
»Ach, halt den Mund!«, herrschte ich ihn an. »Wir wissen, dass du Mariahs Baby genommen hast. Wir wissen nur nicht, was mit der echten Gracie passiert ist.«
Ein langes Schweigen entstand, und der Sauerstoff in dem winzigen Wohnzimmer schien immer knapper zu werden.
»Was redest du denn da«, sagte Mark, »und wer soll diese Mariah sein?«
»Dad weiß Bescheid, Mark«, sagte Tolliver. »Los, Dad, erzähl uns, wer das kleine Mädchen ist, das bei Hank und Iona lebt!«
»Dieses kleine Mädchen«, sagte Matthew, »ist die Tochter von Mariah Parish und Chip Moseley.«
Wir hatten etwas anderes erwartet. »Nicht die von Rich Joyce?«, fragte ich, nur um ganz sicher zu gehen.
»Chip hat mir erzählt, dass der alte Mr Joyce nie Sex mit Mariah hatte«, sagte Matthew. »Chip sagte, das Baby sei von ihm.«
Mark sah von einem zum anderen. Er schien wirklich nicht zu wissen, wovon wir sprachen.
»Chip hat Drogen von mir gekauft«, sagte Matthew. »Drex und er kamen gern in unser Viertel, um abzufeiern. Chip war schon immer recht gewieft. Er ist in Pflegefamilien aufgewachsen und war fest entschlossen, sich einen Platz unter den oberen Zehntausend zu erobern. Also begann er, für Rich Joyce zu arbeiten. Er fing ganz unten an und riss sich den Arsch auf, bis Rich tatsächlich abhängig von ihm war. Nach seiner Scheidung gelang es ihm, Lizzie auf sich aufmerksam zu machen. Er kannte Mariah, weil sie in derselben Pflegefamilie gewesen war wie er. Chip verschaffte ihr den Job bei den Peadens, wo sie viel lernte. Chip sorgte auch dafür, dass Rich die Peadens so weit kennenlernte, dass sie ihm Mariah vorstellten. Als dann der alte Mr Peaden starb, war es nur logisch, dass Mariah Rich um einen Job bat. Er hatte einen Herzinfarkt gehabt und wusste, dass seine Familie eine Pflegerin für ihn engagieren wollte. Ihm gefiel die Vorstellung, eine so junge, hübsche Frau wie Mariah um sich zu haben, auch wenn er nicht vorhatte, sie anzumachen. Sie wusste, dass er ein schwaches Herz hatte. Sie wusste, dass er sie mochte. Sie hat einfach nur gehofft, dass er ihr etwas Geld vererbt. Sie mochte den alten Mann.«
»Und was ist dann passiert?«
»Sie hatte nicht vor, schwanger zu werden. Aber als es so weit war, unternahm sie nichts dagegen, bis es zu spät war. Sie trug weite Kleidung, Overalls und solche Sachen, da der alte Mann nicht wissen sollte, dass sie einen Liebhaber hatte. Und sie befürchtete, dass er es mitbekommen würde, wenn sie eine Abtreibung hätte. Sie war taff, aber so taff auch wieder nicht. Chip drehte durch, als er es erfuhr. Doch da war sie bestimmt schon im achten Monat. Er kam zu mir nach Texarkana, um Marihuana zu besorgen. Er wollte sich eine Weile betäuben und nicht mehr daran denken. Als er bei mir war, rief ihn Drex auf dem Handy an und sagte, er sei mit Mariah allein zu Hause und irgendwas wäre schiefgegangen. Mariah hat das Baby ganz allein bekommen, aber sie hörte einfach nicht auf zu bluten. Als er die Nabelschnur durchschnitt und das Baby versorgte – er hatte schon bei der Geburt von Kälbern und Fohlen geholfen –, war sie so gut wie tot. Chip stürmte davon, und als er mich das nächste Mal anrief, wollte er, dass ich ihm das Kind abnehme.«
»Chip wollte das Baby gar nicht.«
»Nein«, sagte Matthew. »Er wollte es nicht.«
»Und da hast du angeboten, ihm zu helfen, und gehofft, eines Tages Geld von den Joyce-Frauen erpressen zu können, indem du behauptest, das Kind stamme von ihrem Großvater.«
»Ich weiß, dass das ziemlich niederträchtig war«, sagte Matthew. Seine tief liegenden Augen wirkten überschattet. »Das ist mir durchaus klar. Aber ihr wisst ja, wie ich damals war. Ich hielt es für eine gute Gelegenheit, an Geld zu kommen. Ich konnte warten, bis wir es brauchen würden.«
»Und dein eigenes Baby lag im Sterben, nur weil du es nicht zum Arzt gebracht hast!«, sagte ich. »Oder war Gracie schon tot, als Chip anrief?«
»Daher hattest du das andere Baby!«, sagte Mark. Ich hatte ihn noch nie so aufgewühlt gesehen. »Dad, warum hast du mir nie etwas gesagt?«
Jetzt war Matthew an der Reihe, verwirrt zu sein. »Du wusstest, dass sie nicht Gracie ist?«, fragte er seinen Sohn. »Über dich habe ich mir nie Gedanken gemacht! Du warst doch kaum da. Wie hast du das bloß herausgefunden?«
Und plötzlich war mir alles klar.
»Ich weiß, wie!«, sagte ich. »Cameron hat es ihm gesagt. Sie hat es auch nicht gleich gemerkt. Sie brauchte eine Weile, um den Tausch zu erkennen. Aber als sie an ihrem Biologieprojekt arbeitete, schrieb sie über Augenfarben und Gene. Du und Mom, ihr hättet niemals ein grünäugiges Kind bekommen können.«
Mark ließ sich aufs Sofa fallen. Seine Beine gaben einfach unter ihm nach. »Dad, sie wollte die Polizei rufen«, sagte er. »Sie wollte melden, dass du ein Kind entführt hast, um Gracie zu ersetzen, weil Gracie gestorben war.«
»Du warst es, Mark!«, sagte ich und hörte meine Stimme nur noch wie aus weiter Ferne. »Du warst es! Du hast sie auf dem Heimweg von der Schule aufgelesen. Du hast ihr erzählt – was hast du ihr erzählt?«
»Ich habe ihr erzählt, dass du einen Unfall hattest«, sagte er. »Ich war an jenem Tag mit dem Motorrad unterwegs, also bat ich sie, den Rucksack am Straßenrand zurückzulassen. Sie hat mir keinerlei Fragen gestellt. Sie ist aufgestiegen. Ich bin in Richtung Krankenhaus gefahren, hielt aber an einer verlassenen Tankstelle und behauptete, mit meinem Motorrad stimme was nicht. Ich bat sie, um das Gebäude herum zu gehen und nach einer Aufpumpstation zu suchen. Ich bin ihr gefolgt.«
»Wie hast du es gemacht?«, fragte ich ganz leise.
Er sah mich mit einem Gesichtsausdruck an, den ich hoffentlich nie mehr sehen muss. Er war beschämt, entsetzt, aber auch stolz. »Ich habe sie erwürgt«, sagte er. »Ich habe große Hände, und sie war so klein. Es hat nicht lange gedauert. Ich musste sie dort lassen, ich konnte sie schließlich nicht auf dem Motorrad transportieren. Ich bin später mit Dads Truck zurückgekehrt. Ich wollte sie dort lassen, hatte aber Angst, du Freak könntest sie finden.«
In meinem Kopf schwirrte alles durcheinander, und ich musste mich abrupt setzen. Tolliver ohrfeigte Mark so fest er konnte, und Mark fiel zur Seite und blutete aus dem Mund. Matthew rührte sich nicht von der Stelle und starrte ihn nur mit offenem Mund an.
»Ich habe es für dich getan, Dad«, murmelte Mark. Er spuckte Blut und einen Zahn aus. »Dad, ich habe es für dich getan.«
»Und dann wurde ich trotzdem verhaftet«, sagte Matthew, als wäre das das Entscheidende.
»Wo ist sie, Mark?«
»Du und deine Familie!«, fuhr er mich an. »Ihr habt nur Probleme gebracht! Erst das Baby, dann Cameron, die Dad bei der Polizei anzeigen wollte. Und jetzt hast du Tolliver auch noch dazu gebracht, dich zu heiraten.«
»Wo ist meine Schwester, Mark?« Ich wollte sie endlich beerdigen. Ich wollte wissen, wo ihre Gebeine lagen. Ich wollte sie ein letztes Mal spüren. Irgendwo in Texarkana wartete sie auf mich. Ich wollte nur den Ort wissen, damit ich ins Auto steigen und hinfahren konnte. Ich würde Pete Gresham Bescheid geben und ihn bitten, mich dort zu treffen.
»Das werde ich dir wohl kaum verraten«, sagte er. »Du kannst mich nicht verhaften lassen, bevor du sie nicht gefunden hast. Also werde ich es dir nicht verraten. Mein Dad wird kein Sterbenswörtchen verlauten lassen, und mein Bruder auch nicht. Unser Wort steht gegen deines.«
»Wo ist meine Schwester?«
Matthew starrte Mark nach wie vor an, so als sähe er ihn zum ersten Mal.
»Natürlich werde ich die Polizei verständigen«, sagte Tolliver. »Warum auch nicht, Mark?«
»Wir sind eine Familie, Tol. Wenn du ihnen das mit Cameron sagst, müssen wir ihnen auch das mit Gracie erzählen. Und die hat niemanden mehr außer Chip. Iona und Hank müssten sie abgeben. Du kannst dir ja vorstellen, was Chip mit ihr tun wird.«
»Chip ist tot, Mark. Er hat sich gestern umgebracht.«
Mark sah ihn eine Weile verständnislos an. Dann sagte er: »Dann kommt sie eben in eine Pflegefamilie, so wie Harper damals.«
»Du versuchst mich zu erpressen und willst, dass ich über den Tod meiner Schwester schweige, indem du meine andere Schwester bedrohst? Mark, du bist wirklich das Allerletzte!«, sagte ich. »Ich kann es kaum fassen, dass du mit Tolliver verwandt bist.«
»So ist es nun mal«, sagte Mark stur.
Es klopfte an der Tür. So viel zum Thema schlechtes Timing.
Da ich die Einzige zu sein schien, die sich noch rühren konnte, stand ich auf und ging zur Tür. Es tat gut, Mark und Matthew nicht mehr ansehen zu müssen.
Ich war dermaßen betäubt, dass ich mich kein bisschen wunderte, Manfred zu sehen. »Das ist ein extrem ungünstiger Moment«, sagte ich, wartete aber, bis er mir den Grund für seinen Besuch genannt hatte.
»Er hat unter anderem Namen einen Schuppen angemietet«, sagte Manfred. »Er hat ihre Leiche dorthin gebracht. Ich weiß, wo sie ist.«
Wir alle erstarrten. Schließlich sagte ich, »Oh, Gott sei Dank!« Tränen liefen über meine Wangen.
Wir riefen die Polizei. Nach meinem Gefühl dauerte es Stunden, bis sie da war, obwohl nur wenige Minuten vergingen. Es war wirklich kompliziert, zu erklären, was passiert war.
Wir hatten Marks Schlüsselkarte aus seinem Geldbeutel genommen, bevor wir in Manfreds Wagen stiegen. Tolliver saß auf der Rückbank. Er hatte den Streifenbeamten erklärt, dass sein Bruder soeben den Mord an seiner Stiefschwester gestanden habe. Sein Dad wolle jetzt sicher bei seinem Sohn bleiben. Und schon waren wir aus der Tür. Die Schlüsselkarte verschaffte uns Zugang zu dem Gelände mit den Lagerschuppen, und als das Tor aufging, fuhren wir hinein. Ein Streifenwagen war bereits unterwegs, aber wir konnten nicht länger warten.
»Nachdem ich den Rucksack angefasst hatte, wusste ich, dass er es war«, sagte Manfred und versuchte, den Stolz in seiner Stimme zu unterdrücken. »Also bin ich ihm gefolgt.«
»Damit warst du also in den letzten Tagen beschäftigt!«
»Er kam während dieser Zeit zwei Mal hierher«, sagte Manfred.
Ich fand das erstaunlich. Fühlte sich Mark dermaßen schuldig, dass er Camerons Leichnam immer wieder einen Besuch abstatten musste? Oder war er wie ein Eichhörnchen, das Wintervorräte anlegt und ständig nachsehen muss, ob sie noch da sind?
Ich hatte Mark nie richtig gekannt. Und wenn mir das schon so ging – wie musste sich dann erst sein Bruder fühlen? Ich drehte mich zu Tolliver um, doch seine Miene war undurchdringlich.
Manfred hielt vor der garagenartigen Einheit mit der Nummer 26 und benutzte die Schlüsselkarte.
Der Raum war nicht einmal zur Hälfte gefüllt. Es gab dort Dinge, an die ich mich noch vage aus der Zeit im Wohnwagen erinnerte. Ich wunderte mich, warum man so etwas aufbewahrte. Anscheinend war Mark davon ausgegangen, dass Matthew die Sachen eines Tages zurückhaben wollte. Ich warf einen Blick auf das Gerümpel, schloss die Augen und machte mich auf die Suche.
Das Summen kam aus einer großen Wäschetruhe, ganz hinten an der Wand. Darauf standen ein Karton mit Zeitschriften und einige Töpfe und Pfannen. Ich fegte sie hinunter. Ich legte meine Hände auf den Deckel. Ich konnte ihn nicht öffnen. Ich spürte mit meiner mir vom Blitz geschenkten Gabe hinein und ...
... fand meine Schwester.