19

Anstatt eine Schwester zu fragen, sprach ich am nächsten Morgen direkt mit Dr. Spradling. Zu meiner Überraschung fand auch er, dass es Tolliver gut genug ginge, um einen kurzen Ausflug unternehmen zu können – vorausgesetzt, er musste nichts heben und überanstrengte sich nicht.

Die Aussicht auf den Ausflug veränderte Tolliver vollkommen. Zur Tatenlosigkeit verdammt, hatte er sich vorher wie ein Todkranker gefühlt. Jetzt hielt er sich für einen Gesunden mit vorübergehenden Beschwerden. Ich war entzückt (und erleichtert), dass sein Gesicht und sein Körper erneut Energie und Entschlossenheit ausstrahlten. Aber ich ermahnte mich, nicht zu vergessen, dass ich mich um ihn kümmern musste.

Da wir nicht mehr ans Krankenhaus gefesselt waren, checkten wir aus dem Hotel aus. Wir wussten nicht, was der Tag bringen würde, und auch nicht, ob wir nach Garland zurückkämen, um dort zu übernachten.

Es tat so gut, den Vorstadtsiedlungen zu entrinnen! Wir waren wieder gemeinsam auf der Interstate unterwegs. Für eine Stunde gelang es uns, unsere Probleme zu vergessen. Aber je näher Texarkana kam, desto mehr verstörende Fragen quälten uns.

Wir fuhren an der Ausfahrt Clear Creek vorbei, und ich sagte: »Vielleicht müssen wir nachher hier anhalten.«

Tolliver nickte. Wir waren inzwischen kurz vor Texarkana und nicht sehr gesprächig.

Texarkana liegt bekanntlich an der Staatsgrenze zu Arkansas und hat etwa fünfzigtausend Einwohner. Entlang der Interstate, die eine Schneise durch den Norden der Stadt schlägt, sind Gewerbegebiete entstanden. Gewerbegebiete mit den üblichen Verdächtigen. Wir hatten nicht dort gewohnt, sondern in einem heruntergekommeneren Teil. Dabei ist Texarkana auch nicht besser oder schlechter als jede andere Südstaatenstadt. Die meisten unserer Mitschüler stammten aus normalen Familien und hatten normale Eltern. Wir hatten einfach Pech gehabt.

Die Straße, in der wir gelebt hatten, war von Wohnwagen gesäumt. Das hatte den Vorteil, dass sie sich nicht zu kleinen Parks zusammendrängten, zumindest nicht dort, wo unserer gestanden hatte. Jeder hatte sein eigenes Grundstück. Unser Wohnwagen stand so auf dem Grundstück, dass sein Heck zur Straße zeigte. Man bog also in eine zerfurchte Auffahrt ein und wendete, um im Vorgarten zu parken. Ein Vorgarten insofern, als es eine freie Fläche vor dem Wohnwagen gab, allerdings ohne Rasen. Und die Azaleen, die einmal beidseitig der Betonstufen zum Wohnwagen gestanden hatten, waren zu mickrigen Büschen verkümmert, die keine Pflege mehr lohnten.

Das wiederzusehen, war merkwürdig. Wir saßen im Auto am Straßenrand und betrachteten alles wortlos. Ein Latino ging vorbei und starrte uns wütend an. Wir sahen nicht mehr so aus, als gehörten wir hierher.

»Was empfindest du?«, fragte Tolliver.

»Ich spüre keinerlei Leichen«, sagte ich, und mir wurde fast schwindelig vor Erleichterung. »Keine Ahnung, warum ich mich so davor gefürchtet habe. Wenn hier irgendjemand verscharrt worden wäre, hätte ich es gemerkt, als wir noch hier wohnten.«

Tolliver schloss kurz die Augen und spürte seiner eigenen Erleichterung nach. »Na, das ist doch schon mal was«, sagte er. »Wo sollten wir uns deiner Meinung nach als Nächstes umsehen?«

»Ich weiß gar nicht mehr, warum wir unbedingt herkommen wollten«, sagte ich. »Wohin als Nächstes? Am besten zu Renaldo. Es ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, dass Tammy und er immer noch dort wohnen, aber einen Versuch ist es wert.«

»Weißt du noch, wie man dahin kommt?«

Das war eine gute Frage, und ich brauchte zehn Minuten länger als erwartet, um das heruntergekommene, kleine Mietshaus zu finden, in dem Renaldo und Tammy zum Zeitpunkt von Camerons Entführung gewohnt hatten.

Ich war nicht überrascht, als mir eine Unbekannte die Tür öffnete. Es handelte sich um eine Afroamerikanerin, die ungefähr in meinem Alter war und zwei noch nicht schulpflichtige Kinder hatte. Sie machten sich gerade mit Kinderscheren über einen alten Versandhauskatalog her und bastelten irgendwas. »Schneidet nur aus, was ihr in eurem Haus haben wollt, falls ihr euch mal eines bauen werdet«, ermahnte die Frau sie, bevor sie sich wieder an mich wandte. »Was kann ich für Sie tun?«, erkundigte sie sich.

»Ich bin Harper Connelly, und ich habe hier früher ganz in der Nähe gewohnt«, sagte ich. »Mein Stiefvater hatte Freunde, die in diesem Haus lebten. Vielleicht wissen Sie ja, wo sie hingezogen sind? Es geht um Renaldo Simpkins und seine Freundin Tammy.« An Tammys Nachnamen konnte ich mich nicht mehr erinnern.

Ihr Gesichtsausdruck änderte sich. »Ja, die kenne ich«, sagte sie. »Sie wohnen in einem anderen Haus, etwa sechs Straßen weiter. In der Malden Street. Aber das sind üble Leute, wissen Sie.«

Ich nickte. »Ich weiß, aber ich muss mit ihnen reden. Sie sind immer noch zusammen?«

»Ja, obwohl ich nicht verstehe, wie man freiwillig mit Renaldo zusammenbleiben kann. Aber er hatte einen Unfall, und Tammy kümmert sich um ihn.«

Die Frau warf einen Blick über ihre Schulter, und ich merkte, dass sie es eilig hatte, zu ihren Kindern zurückzukommen.

»Wissen Sie ihre Hausnummer?«

»Nein, aber es ist die Malden Street, etwa ein, zwei Blocks westlich von hier«, sagte sie. »Es ist ein braunes Haus mit weißen Fensterläden. Tammy fährt einen weißen Wagen.«

»Danke.«

Sie nickte und schloss die Tür.

Ich erstattete Tolliver Bericht, der im Auto geblieben war.

Mit einigen Schwierigkeiten fanden wir ein Haus, das der Beschreibung ähnelte. »Braun« kann vieles bedeuten. Aber wir fanden, dass ein ungefähr fleischfarbenes Haus noch in die Kategorie Braun gehört. Außerdem stand ein weißes Auto davor.

»Tammy«, sagte ich, als sie die Tür aufmachte. Tammy – die mit Nachnamen Murray hieß, wie mir plötzlich einfiel – war um mehr als jene acht Jahre gealtert, die seit Camerons Verschwinden vergangen waren. Sie war eine üppige Mulattin mit rotgewelltem Haar und grellen Outfits gewesen. Jetzt trug sie die Haare ultrakurz und eng an den Kopf gegelt. Tätowierungen bedeckten ihre nackten Arme. Sie war mager.

»Wer sind Sie?«, fragte sie nicht ohne Neugier. »Kennen wir uns?«

»Ich bin’s, Harper«, sagte ich. »Matthew Langs Stieftochter. Mein Bruder sitzt im Wagen.« Ich zeigte darauf.

»Komm rein«, sagte sie. »Und sag deinem Bruder, dass er mitkommen soll.«

Ich ging zurück zum Wagen und hielt Tolliver die Tür auf. »Sie will, dass wir reinkommen«, flüsterte ich leise. »Ist das in Ordnung?«

»Ja«, sagte er, und wir gingen zur Veranda.

»Was ist denn mit dir passiert, Tolliver?«, fragte Tammy. »Du bist ja verletzt.«

»Ich wurde angeschossen«, erwiderte er.

In diesem Haushalt wunderte das niemanden, sodass Tammy bloß sagte: »So ein Pech aber auch!«, bevor sie zur Seite trat und uns hereinließ.

Das Haus war winzig, aber da es nicht viele Möbel gab, fühlte man sich nicht übermäßig beengt. Das Wohnzimmer bot Platz für ein Sofa, auf dem eine in Decken gehüllte Gestalt lag, sowie für einen durchgesessenen Lehnstuhl. Darin pflegte sich Tammy aufzuhalten. Daneben stand ein altes Fernsehmöbel samt Fernbedienung, Kleenex und einer Schachtel Zigaretten. Es roch nach Rauch.

Wir umrundeten das Sofa und warfen einen Blick auf den darauf liegenden Mann. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass es Renaldo war, hätte ich ihn nicht wiedererkannt. Renaldo, ebenfalls ein Mulatte, hatte helle Haut, einen dünnen Schnurrbart und einen Zopf gehabt. Jetzt trug er einen Kurzhaarschnitt. Irgendwann einmal hatte Renaldo für hiesige Verhältnisse viel Geld besessen. Damals hatte er als Mechaniker bei einem Autohaus gearbeitet, aber seine Drogensucht hatte ihn den Job gekostet.

Renaldos Augen waren geöffnet, aber ich wusste nicht, ob er unsere Anwesenheit mitbekam.

»He, Schatz!«, rief Tammy. »Schau mal, wer da ist. Tolliver und seine Schwester, weißt du noch? Matthews Kinder?«

Renaldos Lider flatterten, und er murmelte: »Natürlich erinnere ich mich.«

»Es tut mir leid, dass es dir so schlecht geht«, sagte Tolliver ebenso aufrichtig wie taktvoll.

»Ich kann nicht mehr laufen«, erwiderte Renaldo. Ich sah mich nach einem Rollstuhl um und entdeckte einen zusammengeklappt vor der Hintertür in der Küche. Da das Haus so klein war, schien das Aufklappen des Rollstuhls reine Zeitverschwendung zu sein, aber wahrscheinlich konnte Tammy Renaldo nicht heben.

»Wir hatten einen Unfall«, sagte Tammy. »Vor ungefähr drei Jahren. Wir sind wirklich ganz schöne Pechvögel. Hier, Harper, nimm diesen Stuhl, ich hole noch zwei aus der Küche.«

Tolliver war frustriert, weil er das nicht tun konnte, aber Tammy machte es nichts aus, selbst zu gehen. Sie war einen hilflosen Mann gewohnt. Ich stellte keine weiteren Fragen zu Renaldos Gesundheitszustand, denn mehr wollte ich lieber gar nicht wissen. Er sah schlimm aus.

»Tammy«, begann Tolliver, nachdem er und unsere Gastgeberin sich in die Klappstühle gequetscht hatten, die kaum noch ins Zimmer passten. »Wir müssen uns über den Tag unterhalten, an dem mein Vater hier war. Der Tag, an dem Cameron entführt wurde.«

»Oh, logisch, worüber solltet ihr sonst reden wollen«, sagte sie und verzog das Gesicht. »Wir sind es leid, darüber zu reden, stimmt’s, Renaldo?«

»Ich bin es nicht leid«, sagte er mit einer merkwürdig gedämpften Stimme. »Diese Cameron war ein hübsches Mädchen. Wirklich schlimm, dass sie verschwand.«

Ich fühlte mich, als hätte ich in eine Zitrone gebissen. Bei der Vorstellung, dass jemand wie Renaldo meine Schwester angaffte, zog sich alles in mir zusammen. Aber ich versuchte, freundlich zu bleiben. »Kannst du uns bitte noch einmal erzählen, was an jenem Tag passiert ist?«, sagte ich.

Tammy zuckte die Achseln. Sie zündete sich eine Zigarette an, und ich versuchte, so lange wie möglich die Luft anzuhalten. »Das ist schon lange her«, sagte sie. »Ich kann es kaum fassen, dass Renny und ich schon so lange zusammen sind, stimmt’s, mein Schatz?«

»Das war eine schöne Zeit«, sagte er angestrengt.

»Ja, wir hatten auch gute Zeiten«, sagte sie gnädig. »Aber die sind jetzt vorbei. Nun, an jenem Nachmittag rief euer Vater an. Er wollte irgendwelche Geschäfte mit Renny machen. Den Cops hat er erzählt, dass er mit Renny Sachen zum Recyclinghof bringen wollte, aber das stimmt nicht. Wir hatten zu viele Oxys da, und dein Dad besaß Ritalin, das er dagegen eintauschen wollte. Deine Mom liebte Oxys.«

»Meine Mom liebte alles«, sagte ich.

»Das kannst du laut sagen, mein Kind«, erwiderte Tammy. »Sie liebte ihre Pillen.«

»Und Alkohol«, sagte ich.

»Das auch«, meinte Tammy. Sie sah mich an. »Aber du bist nicht wegen deiner Mutter gekommen. Sie ist tot.«

Ich verstummte.

»Mein Dad wollte also vorbeischauen«, sprang Tolliver ein.

»Ja«, sagte Tammy und zog so fest an ihrer Zigarette, dass ich einen Hustenanfall befürchtete. »Er kam gegen vier vorbei. Vielleicht auch eine Viertelstunde früher oder später. Maximal fünfundzwanzig Minuten später, aber auf keinen Fall mehr, weil die Fernsehsendung, die ich mir gerade ansah, um halb fünf vorbei war. Und während sie noch lief, war er schon mit Renaldo im Billardzimmer. Sie spielten eine Partie. Damals hatten wir ein schöneres Haus.« Sie sah sich in dem winzigen Raum um. »Ein größeres. Ich sagte der Polizei, dass er ungefähr kurz nach vier gekommen sei. Aber ich achtete nicht weiter auf ihn, bis meine Sendung vorbei war. Und dann wollten sie, dass ich ihnen ein Bier bringe.«

Renaldo lachte, ein unheimliches Hahaha. »Wir haben ein paar Bier getrunken«, sagte er. »Ich habe die Partie gewonnen. Wir haben Pillen getauscht und ein Geschäft gemacht. Wir haben uns amüsiert.«

»Und er blieb hier, bis er einen Anruf bekam?«

»Ja, er hatte ein Handy, wisst ihr. Fürs Geschäft«, sagte Tammy. »Der Typ, der neben euch wohnte, rief an, um Matthew zu sagen, er solle seinen Arsch gefälligst nach Hause bewegen. Dort sei alles voll Polizei.«

»War er überrascht?«

»Ja«, sagte Tammy zu meinem Erstaunen. »Er dachte, sie wären wegen der Drogen gekommen, und ist ausgeflippt. Aber er beeilte sich, schleunigst nach Hause zu kommen, weil er wusste, wie sehr es eure Mutter hasste, verhört zu werden.«

»Ach ja?« Ich staunte aufrichtig.

»Allerdings«, sagte Tammy. »Er hat Laurel abgöttisch geliebt, mein Kind.«

Tolliver und ich tauschten einen Blick. Wenn Renaldo und Tammy recht hatten, konnte Matthew nichts von Camerons Verschwinden gewusst haben. Vielleicht hatte er aber auch nur eine Show abgezogen, um sich ein Alibi zu verschaffen?

»Er ist ausgeflippt«, nuschelte Renaldo. »Er war verzweifelt, dass das Mädchen weg war. Ich habe ihn im Gefängnis besucht. Er meinte, sie wäre bestimmt weggelaufen.«

»Hast du ihm geglaubt?« Ich beugte mich vor und sah Renaldo an, was schmerzhaft, aber notwendig war.

»Ja«, sagte Renaldo deutlich. »Ich habe ihm geglaubt.«

Danach gab es nicht mehr viel zu reden, und wir waren froh, aus dem stinkenden Haus und von seinen hoffnungslosen Bewohnern wegzukommen.

Ich konnte es kaum erwarten, bis Tolliver sich angeschnallt hatte. Ich fuhr rückwärts vom Grundstück, ohne zu wissen, wohin es als Nächstes gehen würde. Ich nahm den Texas Boulevard, um mich orientieren zu können. »Und, was denkst du?«, fragte ich.

»Ich glaube, dass Tammy nur wiederholt, was ihr mein Dad gesagt hat«, erwiderte Tolliver. »Ob das die Wahrheit ist, steht auf einem anderen Blatt.«

»Sie hat ihm geglaubt.«

Tolliver lachte verächtlich, es klang wie ein Schnauben. »Mal sehen, ob wir mit Pete Gresham reden können«, sagte er, und ich fuhr zum Polizeirevier. Auf der State Line Avenue sind zwei Reviere in einem Gebäude untergebracht: das von der texanischen Polizei und das von der von Arkansas. Es gibt zwei verschiedene Polizeichefs. Keine Ahnung, wie das genau funktioniert und wer wofür zahlt.

Wir fanden Pete Gresham an seinem Schreibtisch vor. Man hatte uns erlaubt, ihn in seinem Büro aufzusuchen, und er brütete gerade über einer Akte, die er schloss, als wir vor ihm standen.

»Das ist ja eine Überraschung! Wie schön, euch zu sehen! Es tut mir so leid, dass die Videobänder nichts ergeben haben«, sagte er, stand auf und beugte sich vor, um Tollivers gesunde Hand zu schütteln. »Wie ich hörte, hattet ihr ein paar Probleme in Big D.«

»Na ja, an der Peripherie von Big D«, sagte ich. »Wir waren ganz in der Nähe und dachten, wir schauen mal vorbei. Wir wollten fragen, was du über den anonymen Anrufer weißt, der dir den Tipp mit Cameron gegeben hat.«

»Es war ein Mann, der von einer öffentlichen Telefonzelle aus anrief.« Pete Gresham, ein Riese, der jedes Mal noch riesiger zu sein schien, wenn ich ihn sah, zuckte die Achseln. Er hatte noch immer keine Brille, aber wie uns Rudy Flemmons bereits berichtet hatte, war er vollkommen kahl. »Da gibt es nicht viel zu erzählen.«

»Können wir uns das Band anhören?«, fragte Tolliver. Ich drehte mich um und sah ihn an. Das kam völlig überraschend.

»Na ja, ich muss die Aufnahme erst einmal heraussuchen«, sagte Pete. Er stand auf und ging zum Lift, während ich Tolliver fragte: »Wie bist du bloß da drauf gekommen?«

»Jetzt, wo wir schon mal da sind …«, meinte er.

Aber Pete war auffällig schnell wieder da. Ich kenne meine Bürokraten: Er konnte das Band unmöglich so schnell gefunden haben. »Tut mir leid, ihr zwei«, sagte er. »Der Typ, der das Zeug aufbewahrt, hat heute frei. Aber morgen ist er wieder da. Kann ich euch anrufen und es euch übers Telefon vorspielen?«

»Klar, kein Problem«, sagte ich. Ich gab ihm meine Handynummer.

»Verdient ihr gut mit eurer Leichensuche?«, fragte er.

»Ja, wir kommen zurecht«, sagte Tolliver.

»Wie ich hörte, hast du dir eine Kugel eingefangen«, bemerkte Pete. »Wem bist du da auf die Zehen getreten?«

»Schwer zu sagen«, meinte Tolliver grinsend. »Matthew ist übrigens aus dem Gefängnis entlassen worden.«

Sofort wurde der Detective wieder ernst. »Ich habe ganz vergessen, dass er kurz vor der Entlassung stand. Ich kenne diese Typen und kann aus Erfahrung sagen, dass sie sich nicht ändern.«

»Ganz meine Meinung«, bemerkte ich. »Wir bemühen uns, ihm so weit als möglich aus dem Weg zu gehen.«

»Wie geht’s den kleinen Schwestern?« Wir gingen inzwischen zum Lift, und Pete begleitete uns.

»Gut. Mariella ist gerade zwölf geworden, und Gracie wird bald neun.« Aber sie war jünger. Ich war mir sicher, dass sie jünger war. Das war nicht der richtige Zeitpunkt, um mir darüber Gedanken zu machen, aber mir wurde klar, dass Gracie ihrer Altersgruppe kein bisschen hinterherhinkte. Ihre verzögerte Entwicklung, die wir ihrem niedrigen Geburtsgewicht und ihren ständigen Gesundheitsproblemen zugeschrieben hatten, war wahrscheinlich keine: Ihr wahres Geburtsdatum war bloß drei oder vier Monate später als gedacht.

»Ich kann sie mir in dem Alter gar nicht vorstellen.« Pete schüttelte den Kopf darüber, wie viel Zeit seitdem vergangen war, und ich zwang mich, ins Hier und Jetzt zurückzukehren.

»Ich habe übrigens neulich mit Ida gesprochen«, bemerkte ich.

»Mit Ida? Mit der Frau, die den blauen Pick-up gesehen hat? Was hatte sie zu erzählen?«

Als ich ihm von Idas Unterhaltung mit der Essen-auf-Rädern-Frau berichtete, fluchte er laut. Dann entschuldigte er sich. »Idioten!«, sagte er. »Jetzt muss ich diese Frau anrufen und Ida erneut besuchen. Irgendwann einmal werde ich gar nicht mehr aus ihrem Haus herauskommen. Sie behauptet zwar, keinen Besuch zu wollen, aber wenn ich erst einmal da bin, redete sie und redet, bis ich ganz taub bin.«

Ich versuchte vergeblich, mir ein Lächeln abzuringen. Tolliver nickte nur.

»Ich werde schauen, welche Auswirkungen das auf die Alibis hat, Harper. Sobald ich irgendeine Spur habe, werde ich sie verfolgen, das schwöre ich dir. Ich bin genauso daran interessiert wie ihr, endlich herauszufinden, was eurer Schwester zugestoßen ist. Und es tut mir leid, dass dieser Mistkerl von eurem Vater überhaupt aus dem Gefängnis entlassen wurde.«

»Mir auch«, sagte ich, nicht wissend, ob ich damit auch im Namen Tollivers sprach oder nicht. »Aber wir glauben nicht, dass er Cameron entführt hat.«

»Ich auch nicht«, erwiderte Pete, was mich ein wenig überraschte. »Ich weiß um deine Gabe, Harper. Und ich weiß auch noch, wie du mit Tolliver nach der Highschool herumgefahren bist, um nach ihr zu suchen. Wenn ihr sie nicht gefunden habt, wird sie auch nicht hier sein. Wenn es Matthew war, hätte er sie ganz in der Nähe verscharren müssen, und er hatte nicht viel Zeit. Ihr hättet sie längst gefunden.«

Ich nickte. »Wir haben es versucht«, sagte ich. »Aber vielleicht hat sie ja jemand direkt vom Parkplatz vor der Schule entführt und ihren Rucksack weggeworfen. Das würde das Fahndungsgebiet deutlich vergrößern.«

»Daran haben wir auch schon gedacht«, sagte Pete nachsichtig.

Ich wurde rot. »Damit wollte ich nicht andeuten, dass …«

»Ist schon gut. Du willst deine Schwester finden. Und ich will es auch.«

»Danke, Pete«, sagte Tolliver und schüttelte ihm erneut die Hand.

»Und du werd wieder gesund, hörst du?«, ermahnte ihn Pete und kehrte an seinen Arbeitsplatz zurück.

»Wir haben hier heute viel Zeit verschwendet«, sagte ich. Ich war deprimiert und fragte mich, was wohl als Nächstes kam.

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, meinte Tolliver. »Wir haben so einiges geklärt. Möchtest du kurz bei den Clevelands vorbeischauen?«

Ich überlegte. Meine Pflegeeltern waren nett, und ich respektierte sie, aber ich war nicht in der Stimmung, um Konversation zu machen.

»Lieber nicht«, sagte ich. »Lass uns lieber nach Garland zurückfahren.«

Das Handy klingelte. »Hallo«, sagte ich.

»Harper, hier spricht Lizzie.«

Ihre Stimme klang zittrig. Obwohl wir uns nicht besonders gut kannten, hatte ich Lizzie nie anders als optimistisch und selbstbewusst erlebt.

»Was ist los, Lizzie?«

»Ach, gar nichts! Ich wollte nur wissen, ob Sie … ob Sie kurz auf der Ranch vorbeischauen könnten.«

Auf der Ranch vorbeischauen? Wo sie doch wusste, dass wir in Garland wohnten und damit mindestens zwei Autostunden von ihr entfernt waren?

»Wir sind gerade in Texarkana«, sagte ich und versuchte verzweifelt, den Grund ihres Anrufs zu erraten. Ohne Erfolg. »Wir könnten schon vorbeischauen. Worum geht es?«

»Ich wollte mich nur mit Ihnen austauschen. Über die arme Victoria und noch ein paar Dinge.«

Ich fasste ihr Anliegen für Tolliver zusammen. Der wirkte genauso überrascht wie ich. »Fühlst du dich dem gewachsen? Ich kann auch Nein sagen«, flüsterte ich.

»Wir könnten schon bei ihnen vorbeischauen. Wir sind in der Nähe, und sie kennen viele Leute.« Die Joyces kannten viele wichtige Leute, die vielleicht auch die eine oder andere Grablesung buchen wollten.

Ich ertappte mich bei der Frage, ob wir auch Chip sehen würden. Dieser Ranchmanager/Freund hatte eindeutig etwas an sich, das mich interessierte, auch wenn ich mich nicht körperlich von ihm angezogen fühlte. Zumindest nicht so, dass er mir durch Mark und Bein gegangen wäre. Obwohl Mark und Bein durchaus etwas damit zu tun hatten …

Wir sprachen nicht viel, als wir aus Texarkana herausfuhren. Ich wunderte mich über Lizzies merkwürdiges Anliegen, es machte mich nervös. Auch Tolliver war beunruhigt. Das merkte ich an seiner verkrampften Haltung und an seinem mahlenden Kiefer. Wir nahmen die Ausfahrt, ohne weiter darüber zu diskutieren.

Wir fuhren am Pioneer Rest Cemetery vorbei und bogen in die lange Auffahrt zur Ranch ein, die von einer weitläufigen Hügellandschaft umgeben war. Obwohl es bereits dämmerte, konnte man meilenweit in jede Richtung sehen. Schließlich erreichten wir das Tor zur RJ Ranch, und Tolliver bestand darauf, aus dem Wagen zu springen, es zu öffnen und hinter mir zu schließen.

Mir fiel auf, dass weit und breit keine Menschenseele zu sehen war. Bei unserem vorherigen Besuch hatten wir wenigstens in der Ferne Menschen entdecken können.

Wir hielten auf dem gepflasterten Parkplatz vor dem großen Haus. Wir stiegen aus dem Wagen und sahen uns um. Alles wirkte ruhig. Es war ein warmer, frühlingshafter Tag. Aber die Stille wirkte ungewöhnlich. Ich schüttelte zweifelnd den Kopf, aber nach einem Achselzucken ging mir Tolliver auf dem gepflasterten Weg voraus.

Die große Haustür schwang auf, und Lizzie stand im Türrahmen. Die Halle hinter ihr lag im Dunkeln. Und noch etwas war ungewöhnlich: Obwohl sie sich sichtlich anstrengte, uns anzulächeln, wirkte es eher wie das Grinsen eines Totenschädels. Ihre Augen waren merkwürdig geweitet, und ihr ganzer Körper wirkte angespannt.

Alarmstufe eins. Unsere Schritte verlangsamten sich.

»Hallo, ihr Lieben, kommt doch rein!« Die spontane Herzlichkeit, die sie bei unserem ersten Besuch ausgestrahlt hatte, war einer enormen Angst gewichen.

»Wir hätten gar nicht in den Besuch einwilligen dürfen. Wir haben noch einen Termin in Dallas«, sagte ich. »Können wir morgen noch mal wiederkommen, Lizzie? Wir dürfen diesen Termin auf keinen Fall verpassen.«

Ich sah die Erleichterung in Lizzies schmalem Gesicht. »Na gut, ruft mich einfach heute Abend an«, sagte sie. »Fahrt weiter nach Dallas.«

»Ach, kommt doch rein und trinkt etwas!«, sagte Chip hinter ihr.

Sie zuckte zusammen, und ihr angestrengtes Lächeln erstarb. »Steigt in euren Wagen«, rief sie. »Macht, dass ihr wegkommt!«

»Das würde ich euch lieber nicht raten«, sagte Chip gelassen. »Kommt rein.« Wir sahen den Revolver in seiner Hand, uns blieb also keine andere Wahl.

Chip und Lizzie traten zurück. »Es tut mir leid«, sagte sie zu mir.

»Es tut mir leid. Er wollte Kate erschießen, wenn ich Sie nicht anrufe.«

»Und das hätte ich auch getan«, sagte Chip.

»Ich weiß«, erwiderte ich. Während wir an Lizzie vorbeigingen, in der quadratischen Halle stehen blieben und auf weitere Anweisungen warteten, begriff ich, was mich an Chip so fasziniert hatte: seine Knochen. Seine Knochen waren tot. Das war eine merkwürdige Vorstellung, etwas, das ich noch nie zuvor empfunden hatte. Und wenn doch, war es nicht bis zu mir durchgedrungen.

»Wo sind die anderen?«, fragte Tolliver. Seine Stimme war genauso ruhig wie die von Chip.

»Ich habe alle an die entlegensten Enden der Ranch geschickt, und Rosita hat heute frei«, sagte Chip. Er lächelte wieder sein breites, strahlendes Lächeln, das ich ihm am liebsten aus dem Gesicht geschlagen hätte. »Nur ich und die Familie sind hier.«

Mist.

Chip trieb uns in die Waffenkammer. Noch fiel Tageslicht durch die Terrassentüren, und der Ausblick war genauso schön wie damals, nur dass ich nicht in der Stimmung war, ihn zu bewundern.

Drex war ebenfalls anwesend. Auch er war bewaffnet, was mich erstaunte. Kate war an einen Stuhl gefesselt. Lizzie hatten sie losgemacht, damit sie uns ins Haus lockte. Stricke hingen lose um einen weiteren Stuhl.

»Schön, Sie wiederzusehen, Harper«, sagte Drex. »Wir haben uns im Outback ganz gut amüsiert.«

»Es ging so«, sagte ich. »Nur schade, dass Victoria anschließend ermordet wurde. Das hat mir die Erinnerung an den Abend doch ein bisschen verdorben.«

Er schluckte und wirkte für den Bruchteil einer Sekunde nervös. »Ja, sie war eine sympathische Frau«, bemerkte er. »Sie schien … sie schien etwas von ihrem Geschäft zu verstehen.«

»Sie hat hart für Sie alle gearbeitet«, sagte ich.

»Glauben Sie, dass ihr Mörder jemals gefunden wird?«, fragte Chip und lächelte noch breiter.

»Haben Sie auf Tolliver geschossen?«, antwortete ich mit einer Gegenfrage. Ich hielt es nicht für sinnvoll, das zu übergehen.

»Nö«, sagte er. »Das war mein Kumpel Drex. Drex taugt nicht viel, aber schießen kann er. Ich habe Drex befohlen, Sie zu erschießen. Aber er hatte seine Skrupel.« Er sprach ganz langsam, so als hätte er die Worte gerade erst auswendig gelernt. »Er wollte keine Frau erschießen. Der gute alte Drex ist auf seine Art doch sehr galant. Ich habe versucht, seinen Fehler kurz darauf zu korrigieren, als Sie gerade laufen waren. Doch dann hat sich dummerweise dieser Cop vor Sie geworfen und die Kugel abbekommen. Ich hätte nicht geschossen, wenn ich gewusst hätte, dass er ein Bulle ist. Er kam mir irgendwie bekannt vor, und mir wurde ganz schlecht, als ich erfuhr, dass ich einen Football-Spieler erschossen hatte.«

»Warum wollten Sie uns überhaupt erschießen?«

»Weil Sie das von Mariah wussten und darüber geredet haben. Und wenn Sie gestorben wären, hätte Lizzie die Sache bestimmt wieder vergessen. Ansonsten würde sie immer wieder über das nachdenken, was Sie auf dem Friedhof gesagt haben. Sie würde über den Tod ihres Großvaters nachgrübeln und sich fragen, wer wohl ein Interesse an seinem Tod haben könnte. Und wenn sie das mit dem Baby tatsächlich glaubte, würde sie Nachforschungen anstellen. Lizzie würde liebend gern ein Kind großziehen, sie ist der totale Familienmensch.« Er drückte die Waffe in Lizzies Nacken und küsste sie auf den Mund. Danach spuckte sie aus, woraufhin er lachte.

»Warum sollte ich unbedingt sterben?« Jetzt war ich wirklich neugierig.

»So ist meine Süße nun mal: Sie geht den Dingen auf den Grund, aber nur, solange sie sie vor sich hat. Ansonsten gilt für sie das Sprichwort: Aus den Augen, aus dem Sinn.«

Da unterschätzte er Lizzie meiner Meinung nach, andererseits kannte er sie besser als ich. Bei näherer Betrachtung verstand ich: Chips größter Fehler war der gewesen, mich überhaupt aus Texas herkommen zu lassen. Aber wenn ich starb, würde mein Tod diesen Fehler ungeschehen machen. Natürlich nicht wirklich, aber danach wäre ihm wohler gewesen.

»Lizzie, irgendjemand muss Sie auf meine Webseite aufmerksam gemacht haben«, sagte ich. »Irgendjemand hat Ihnen den entscheidenden Tipp gegeben, nämlich, dass es interessant sein könnte, mich einen Blick auf Ihren Friedhof werfen zu lassen.«

»Ja«, sagte Lizzie. Die Sonne fiel schräg auf die Terrasse, es war etwa halb vier Uhr nachmittags. »Ja, das war Kate.«

»Wie kamen Sie dazu, Kate?«, fragte ich.

Kate war eindeutig in einer schlimmen Verfassung. Ihr Gesicht war kalkweiß, ihre Atmung flach. Ihre Hände waren an den Armlehnen festgebunden, und ich sah, dass ihre Handgelenke wundgescheuert waren. Sie brauchte einen Moment, bis sie meine Frage verstand.

»Drex«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Drex hat mir erzählt, dass er Ihnen mal begegnet ist.«

Chips Kopf fuhr herum wie der einer Klapperschlange kurz vor dem Angriff.

»Drex, deinetwegen haben wir alles verloren!«, sagte er unheilverkündend. »Was hast du dir bloß dabei gedacht?«

»Es kam in den Fernsehnachrichten«, flüsterte Drex. »Dass sie in North Carolina ist und die Leichen von diesen Jungs gefunden hat. Ich erzählte Kate, dass ich an ihrem Wohnwagen gewesen war, als sie noch in Texarkana lebte. Und dass ich ihren Stiefvater kannte.«

»Und das haben Sie Lizzie erzählt«, sagte ich zu Kate.

»Sie ist immer auf der Suche nach etwas Neuem«, sagte Kate. »Nur darum geht es hier: etwas zu finden, das Lizzie amüsieren könnte, damit sie glücklich ist.«

Lizzie wirkte vollkommen erstaunt. Wenn wir diesen Tag überlebten, würde sie viele Dinge in einem ganz neuen Licht betrachten.

»Ein Fernsehmoderator hat mich also zur Strecke gebracht.« Chip lachte, aber es war ein hässliches Lachen.

»Wie gut können Sie mit Schlangen umgehen, Chip?«, fragte ich.

»Oh, das ist Drex’ Spezialgebiet«, sagte er und grinste seinen Nebenmann an.

»Um Himmels willen, nein!«, rief Lizzie völlig schockiert. »Drex? Willst du damit sagen, Chip, dass Drex die Klapperschlange nach Granddaddy geworfen hat?«

»Ganz genau, mein Liebling«, sagte Chip, wobei er Lizzies Schulter nicht aus seinem Klammergriff entließ.

»Bist du jetzt völlig durchgedreht, Mann?«, sagte Drexell mit einem ganz anderen Gesichtsausdruck als kurz zuvor. Er sah jetzt längst nicht mehr so verwirrt und verdattert aus. Und auch nicht mehr so schwach. Er wirkte geistesgegenwärtiger und selbstbewusster. »Warum belügst du meine Schwestern?«

»Weil wir nicht damit davonkommen werden«, sagte Chip. »Aber das hast du anscheinend noch nicht begriffen.« Drexell sah völlig verständnislos drein. »Wir haben zu viele Spuren hinterlassen. Wir hätten den Arzt umbringen sollen. Ja, du Arschloch! Irgendwann in den letzten Jahre hätten wir nach Dallas fahren und uns um den alten Idioten kümmern sollen. Wir wussten auch, dass Matthew früher oder später aus dem Gefängnis entlassen würde. Wir hätten vor dem Gefängnistor mit einer Waffe auf ihn warten sollen.«

In diesem Punkt waren wir uns zur Abwechslung einmal einig.

»Du sagst, dass wir nicht damit davonkommen werden«, erwiderte Drex. »Wozu dann diese Geiselnahme? Ich dachte, du spielst ein raffinierteres Spiel. Ich dachte, du hast einen Plan. Du bist einfach nur durchgeknallt.«

»Ja, das bin ich, und ich werde dir auch sagen, warum«, erwiderte Chip. Er ließ Lizzies Schulter los, und sie wirbelte herum, um ihn anzusehen. Dabei machte sie einen Schritt zurück in Richtung der mit Waffen bedeckten Wand. »Ich hatte letzte Woche einen Termin bei einem viel besseren Arzt als Dr. Bowden. Und wisst ihr, was der mir erzählt hat? Ich bin vom Krebs zerfressen. Mit zweiunddreißig! Es ist mir scheißegal, was passiert, wenn ich mal nicht mehr bin. Ich werde nicht lange genug leben, um eure Rache zu fürchten. Und da ich nicht davonkommen werde, soll Drex auch nicht davonkommen.«

In seinem Blick stand die pure Verschlagenheit.

»Du wirst also sterben?«, fragte Lizzie. »Na, prima. Ich wünschte, Drex hätte auch Krebs. Ich will, dass ihr beide sterben müsst.« Sie schien ihre Angst abgeschüttelt zu haben, und ich wünschte, mir ginge es genauso. Ich sah Tolliver an und glaubte nicht, dass wir das überleben würden. Chip würde uns alle umbringen, weil wir sonst leben würden und er nicht.

Mit einer unglaublich schnellen Handbewegung riss Lizzie ein Gewehr von der Wand. Im Bruchteil einer Sekunde zielte sie damit auf Chip. »Los, erschieß dich selbst, da du ohnehin sterben wirst!« Sie meinte es ernst, und sie hatte das Gewehr entsichert. »Erspar mir die Mühe!«

»Ich werde nicht allein gehen«, sagte ihr Liebhaber und schoss Drexell Joyce in die Brust.

Katie kreischte und kippte mitsamt ihrem Stuhl nach hinten, wobei das Blut ihres Bruders auf sie spritzte. Während wir zuschauten, wie er tot zu Boden fiel und Kate kreischte, steckte sich Chip den Lauf seiner Waffe in den Mund und drückte im selben Moment ab wie Lizzie.

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