14
Manfred brauchte mindestens eine Viertelstunde, bis er nicht mehr Victorias letzte Minuten durchlebte.
»Wen hat sie gesehen?«, fragte Tolliver.
»Das weiß ich nicht«, sagte Manfred. »Ich konnte niemanden erkennen.«
»Na, das hat uns ja wirklich wahnsinnig weitergeholfen«, bemerkte Tolliver, woraufhin ich eine Hand auf seine Schulter legte (auf seine gesunde, natürlich).
»Das hat uns durchaus weitergeholfen«, sagte ich. »Wir wissen, was Victoria gedacht hat, und wir wissen, dass sie wegen dieses Falles umgebracht wurde. Davon ging Victoria aus, denn sonst hätte sie diese Unterlagen nicht versteckt. Sie befürchtete, jemand könnte ihr Büro durchsuchen, sie verfolgen. Deshalb hatte sie die anderen Unterlagen über die Joyces bereits in ihr Auto gebracht. Sie glaubte nicht, dass man ihr etwas antun würde, aber sie hat ihren Ex-Freund Rudy Flemmons angerufen, damit er auf sie aufpasst. Er ist nicht ans Telefon gegangen oder hat ihre Nachricht nicht rechtzeitig erhalten. Kein Wunder, dass er jetzt am Boden zerstört ist.«
»Das alles wissen wir, aber weiterhelfen tut uns das nicht.« Tolliver blieb stur.
»Lass uns Mariahs Akte anschauen. Vielleicht bringt uns das weiter.«
Manfred wirkte erschöpft, ja regelrecht gealtert. Er sah sehr einsam aus. Ich hatte großes Mitleid mit ihm, wollte es aber nicht übertreiben. Mitleid und eine vage körperliche Anziehung reichten nicht aus, um meine Beziehung zu Tolliver aufs Spiel zu setzen. Manfred musste sich eindeutig eine andere suchen.
Ich fragte mich, welche Frau wohl zu Manfred passen würde, bis mir klar wurde, dass die Antwort lautete: jede außer mir.
Inzwischen war es fast fünf Uhr nachmittags. Ich bestellte beim Zimmerservice etwas zu essen und Kaffee, bevor ich nach den Unterlagen griff. Ich blätterte die erste Seite mit Mariahs persönlichen Daten auf und las sie sorgfältig durch. Dann reichte ich sie Tolliver, der sie seinerseits studierte. Während wir uns die Informationen ansahen, die Victoria über Mariah zusammengetragen hatte, las Manfred die Unterlagen über die Joyces.
»Mariah Parish war nicht die, als die sie sich ausgab«, sagte ich, was noch untertrieben war.
Tolliver schüttelte den Kopf. »Das kann man wohl sagen! Hätten die Joyces ihre Referenzen besser überprüft, hätten sie sie niemals eingestellt.«
Mariah war keine Betrügerin. Sie war eine Waise gewesen, genau wie sie gesagt hatte. Sie hatte einen anderen kranken älteren Mann, Arthur Peaden, gepflegt, bevor sie zu Rich Joyce gekommen war. Sie hatte ihre Arbeit gut gemacht, denn es gab großes Lob von Art Peadens Nachkommen. Sie hatten erzählt, wie liebenswert und wie gewissenhaft Mariah gewesen sei, als sie sich um ihren Vater kümmerte.
Sie hatte auch ein Fernstudium absolviert. Irgendwann hatte sie Abende frei bekommen, um die Seminare persönlich zu besuchen. Und schließlich hatte sie einen Abschluss in Betriebswirtschaft gemacht.
Nebenbei hatte Mariah online an der Börse gehandelt, und zwar nicht zu knapp. Anfangs hatte sie Geld verloren, aber dann hatte sie sich trotz der abflauenden Märkte gut gehalten. Die Babysitterin eines Erwachsenen profitierte dermaßen von ihrem Job, wie es niemand für möglich gehalten hätte.
»Wow«, sagte Tolliver bewundernd. »Sie hat sich sämtliche Tricks beigebracht.«
»Ich nehme an, ihr ›Patient‹ hat in ihrem Beisein kein Blatt vor den Mund genommen, genau wie seine Freunde und Familienangehörigen. Und sie hat sich alles zunutze gemacht, was sie so mitbekam.«
»Pflegerin bei Tag und Börsenhändlerin bei Nacht«, sagte Manfred. »Man muss sie direkt für ihre Nerven und ihre Zielstrebigkeit bewundern.«
»Und für ihre Heimlichtuerei«, sagte ich und zog die Nase kraus. »Grenzt das nicht an Betrug?«
»Ich weiß nicht«, sagte Tolliver nach langem Schweigen. »Findest du? Sie hat bestimmt nie behauptet, ungebildet zu sein und keinen besseren Job zu finden. Sie ließ ihre Arbeitgeber zwar in dem Glauben, aber das war nur eine Rolle, die sie spielte. Sie war wirklich clever und wollte so gut, wie es ging, von der Situation profitieren.«
»Clever«, sagte Manfred. Es klang anerkennend.
»Sie hatte zwei Gesichter und war nicht wirklich aufrichtig.«
»Das ist der Neid der Besitzlosen«, sagte Manfred lächelnd. »Das sagst du nur, weil du noch nicht auf die Idee gekommen bist, die Gedanken der Toten auf Börsentipps hin zu durchforsten.«
»Zu dumm, dass ich daran noch gar nicht gedacht habe«, konterte ich. »Ich muss mir also einen Friedhof suchen, dort nach dem Grab eines Finanzgenies Ausschau halten und gucken, ob er mir in den letzten Minuten seines Lebens noch ein paar Tipps geben kann.«
»Mariah hat mehr oder weniger genau das getan«, sagte Manfred.
Wenn ich näher darüber nachdachte, hatte er gar nicht mal so unrecht. »Ich frage mich, ob sie das von Anfang an geplant oder ob es sich bloß so ergeben hat.« Ich betrachtete das Foto der jungen Mariah, die einen kinnlangen Bob mit Pony trug. Sie hatte rotes Haar, Sommersprossen, braune Augen und eine Stupsnase. Fehlten nur noch ein Strohhut, ein Overall und ein Eierkorb am Arm. Doch hinter dieser harmlosen Niedlichkeit steckte ein eiserner Wille.
»Bestimmt hat sie breitesten Dialekt gesprochen«, meinte Manfred. »Und zwar mit Absicht.«
Mariah Parish war scharfsinniger und intelligenter gewesen, als ihr Äußeres vermuten ließ. Sie hatte eine Methode gefunden, mit der sie überleben und gutes Geld verdienen konnte. Und sie hatte sich gewissenhaft um diejenigen gekümmert, die sie engagiert hatten. »Gar nicht so schlecht, Mariah«, sagte ich und prostete ihr mit meinem Kaffeebecher zu. Unsere Sandwiches waren gebracht worden, und wir fielen wie ausgehungert darüber her.
»Und zwar so lange, bis sie schwanger wurde«, sagte Tolliver.
»Ich wünschte, wir wüssten, wer der Vater ist«, sagte ich. »Das ist die Millionenfrage.«
»Ich glaube, es geht weniger um den leiblichen Vater«, korrigierte mich Manfred. »Sondern um denjenigen, der sich dafür hielt.«
»Ich nehme nicht an …?« Ich zeigte auf das Foto. »Kannst du auf deine Weise vielleicht noch mehr über sie herausfinden?«
»Nein, nicht ohne einen Gegenstand, der ihr persönlich gehört hat«, sagte er. »Lebend habe ich sie schließlich nie kennengelernt.«
»Der Vater war entweder Rich Joyce oder Drexell oder vielleicht sogar Chip Moseley.« Ich dachte laut.
»Oder jemand ganz anderes. Wichtig ist nur, dass einer von ihnen glaubt, der Vater zu sein«, meinte Tolliver.
»Wir gehen also davon aus, dass sie Sex mit einem dieser Typen hatte. Wenn sie mit Rich Joyce Sex hatte, wäre es der absolute Coup gewesen, von ihm schwanger zu werden! Gut, er hatte einen Herzinfarkt, von dem er sich allerdings gut erholt hatte. Er war sehr aktiv und noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Dieses Kind hätte wahrscheinlich dieselben Rechte wie die anderen Kinder gehabt, und Lizzie, Kate und Drexell wären Millionen Dollars entgangen.« Ich griff nach einem weiteren Clubsandwich und biss hinein. Danach musste ich mir die Krümel von meiner Bluse fegen. »War Drexell vor neun Jahren noch verheiratet?«
»Das weiß ich nicht. Wir müssen in Victorias Unterlagen nachsehen.« Manfred blätterte mehrere Seiten durch. »Ja, das war er, genauso wie Chip.«
»Aha«, sagte Tolliver und streckte die Beine aus. Er legte seine Füße auf den Couchtisch, der mittlerweile von Papieren, Tellern und Gläsern übersät war. »Warum jetzt? Warum geschieht das alles jetzt? Mariah und Rich liegen schon seit acht Jahren unter der Erde. Warum jetzt?«
»Weil Lizzie Joyce nach dem Fall in North Carolina auf Harpers Webseite gestoßen ist«, sagte Manfred, als wäre das das Selbstverständlichste von der Welt. »Für sie ist das Beste gerade gut genug. Und wenn sich Lizzie Joyce einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann zieht sie das auch durch. Wir wissen nicht, welche Argumente ihre Freunde und Verwandten gegen Harper ins Feld geführt haben. Wir wissen nicht, wie oft sie ihr gesagt haben, dass sie spinnt.«
»Wenn ich mich auf meinen persönlichen Eindruck verlasse«, sagte Tolliver, »schätze ich, dass sie nicht sehr freundlich darauf reagiert hat. Sie wollte, dass Harper kommt, und sie hatte das Geld, uns ein lohnenswertes Geschäft in Aussicht zu stellen. Doch dann unterlief ihr ein furchtbarer Fehler: Sie führte Harper nicht direkt zu Richs Grab. Sie ließ Harper herumlaufen und ihre Fühler nach anderen Gräbern ausstrecken. Und Harper landete auf dem von Mariah. Lizzie konnte Harper glauben oder es lassen. Aber da sie ihr gutes Geld gezahlt hatte, beschloss Lizzie, ihr zu glauben. Jetzt wusste Lizzie, dass Mariah schwanger gewesen war und dass ihr Tod wahrscheinlich hätte verhindert werden können. Oder dass die Geburt zumindest unter Umständen stattfand, die alles andere als günstig oder normal waren, weshalb sie sich nicht davon erholte. Das Baby lag nicht bei ihr im Sarg, also ist etwas mit ihm geschehen. Mariahs Todesursache wurde mit einer Infektion angegeben, aber um welche Infektion es sich dabei handelte, verschwieg man. Ich frage mich, ob der Arzt, der den Totenschein ausstellte, den wahren Grund kannte.«
»Dem können wir nachgehen«, sagte ich. »Wir können ihn aufsuchen und ihm Fragen stellen. Befindet sich eine Kopie des Totenscheins bei Mariahs Unterlagen?«
Mir fiel auf, dass Tolliver müde aussah, und es war Manfred, der die Kopie des Totenscheins fand. »Dr. Tom Bowden«, sagte er. Ich rief die Auskunft an, aber in dem kleinen Ort neben der Joyce-Ranch gab es niemanden dieses Namens. Als Nächstes versuchte ich es in Texarkana, aber auch dort wohnte kein Dr. Tom Bowden. Manfred ging in unser Schlafzimmer und kehrte mit dem riesigen Telefonbuch von Dallas zurück. Er schlug die Rubrik »Ärzte« in den Gelben Seiten auf und verkündete triumphierend, dass ein Dr. Bowden aufgeführt war.
»Den müssen wir morgen aufsuchen«, sagte ich. »Tolliver braucht jetzt Ruhe.«
»Oh, natürlich, klar«, sagte Manfred entwaffnend schuldbewusst. »Tut mir leid, Tolliver. Ich hatte ganz vergessen, wie gehandicapt du bist.«
Tolliver runzelte die Stirn »Mir geht es von Tag zu Tag besser«, sagte er.
»Klar«, versicherte ihm Manfred. »Da ich noch Energie habe, werde ich in der Zwischenzeit die Praxis dieses Arztes ausfindig machen.«
»Bist du dir da wirklich sicher?«, fragte ich. »Vielleicht ist das keine gute Idee.«
»Ich sehe sie mir nur mal kurz an«, meinte Manfred. »Ich habe nicht umsonst ein Navi und werde es einsetzen. Danke für das Abendbrot.« Er schob das Wägelchen vom Zimmerservice für mich hinaus auf den Flur, während ich Tolliver aufhalf. Zum ersten Mal seit Stunden nahm Tolliver zusätzlich zu den anderen Tabletten ein Schmerzmittel. Insgeheim machte ich mir Vorwürfe, dass ich nicht gemerkt hatte, wie müde er geworden war.
Ich half ihm beim Ausziehen, und irgendwann lag er endlich mit seiner Schlafanzughose und seiner Medikamentenration im Bett. Ich fand eine Folge von ›Law and Order‹ und machte es mir gemütlich. Tolliver war keine zehn Minuten später eingeschlafen.
Ich war erschöpft. Ich hatte über die Joyces, über Mariah Parish, über Victoria und ihre Tochter nachgedacht. Den ganzen Tag waren mir fremde Leute im Kopf herumgeschwirrt, und dann noch Rudy Flemmons Trauer. Jetzt wollte ich an nichts mehr denken und nicht die Last fremder Gefühle tragen. Es tat unheimlich gut, ins Wohnzimmer zu gehen und mir den dämlichsten Film anzusehen, den ich finden konnte. Dabei lackierte ich mir Finger- und Fußnägel. Ich rief meine kleinen Schwestern an und telefonierte zwanzig Minuten mit ihnen, bevor Iona meinte, sie müssten in die Badewanne. Iona versuchte das Gespräch auf meine Beziehung mit Tolliver zu bringen, aber ich ließ mich nicht darauf ein. Ich legte auf und war zufrieden mit mir – ein angenehmes Gefühl nach den vielen unerfreulichen Erlebnissen der letzten Tage.
Apropos unerfreuliche Erlebnisse: Ich rief im Krankenhaus an und erkundigte mich nach Detective Powers. Die Rezeption verband mich mit dem Wartezimmer, und ich sagte dem Mann am anderen Ende, dass ich mit Beverly Powers sprechen wolle.
»Sie kann gerade nicht ans Telefon. Parker ist soeben verstorben«, sagte die Männerstimme, danach wurde aufgelegt. Der Mann weinte.
Egal, wie oft ich mir sagte, dass ich Parker Powers nicht umgebracht hatte: Hätte er nicht versucht, mich zu beschützen, wäre er bestimmt noch am Leben.
Leider gab es keine Zauberformel, mit der ich das rückgängig machen konnte. Und auch keine Philosophie, die den Schmerz seiner Freunde und Verwandten lindern konnte. Ich schaffte es nicht, die Erinnerung daran, wie er zusammengebrochen war und das Blut aus seiner Wunde strömte, während ich im Schatten des Wagens kauerte, zu verdrängen. Ganz besonders ärgerlich war, dass ich mich vor dem Mann, der so etwas Abartiges getan hatte, verstecken musste.
Das war der Stolz, der aus mir sprach. Aber wenn jemand versucht, einen umzubringen, ist es sehr wohl sinnvoll, sich zu verstecken.
Trotzdem passte das so gar nicht zu dem Bild, das ich von mir hatte. Vielleicht lag es an den Comics, die ich als Kind gelesen hatte, oder an den Frauenthrillern, die ich jetzt las. Darin ist jede Detektivin oder Polizistin in der Lage, die Bürger ohne Skrupel zu beschützen und den Bösewicht zur Strecke zu bringen. Jede Comic-Heldin agiert völlig angstfrei und vollbringt wahre Heldentaten, wenn es darum geht, die Menschheit zu retten.
Ich dagegen hatte mich von einem abgehalfterten, nicht besonders hellen Ex-Footballspieler beschützen lassen, und er war dabei ums Leben gekommen.
Er wusste, dass er in Gefahr war. Er wusste, dass das zu seinem Job gehört. Er war bereit, das Risiko einzugehen, sagte mir mein gesunder Menschenverstand.
Und ich habe es bereitwillig zugelassen, musste ich mir eingestehen. Ich überlegte, was ich sonst hätte tun können. Wenn ich darauf bestanden hätte, allein zu joggen, wäre er mir dann trotzdem gefolgt? Vielleicht. Was, wenn ich beschlossen hätte, im Hotel zu bleiben? Ja, dann wäre er noch am Leben. Ich fühlte mich Parker Powers verpflichtet und konnte nur hoffen, nicht noch einmal zu versagen.