Dick Francis Reflex

Kapitel 1

Keuchend und hustend lag ich auf einen Ellbogen gestützt auf dem Boden und spuckte einen Mundvoll Gras und Dreck aus. Das Pferd, das ich geritten hatte, hievte sein Gewicht von meinem Knöchel, rappelte sich unbeholfen auf und galoppierte ungerührt davon. Meine Knochen waren gründlich durchgeschüttelt von dem Aufprall, und ich wartete mit bebender Brust darauf, daß alles wieder ins Lot kam, daß ich nach dem FünfzigStundenkilometer-Salto und ein paar Purzelbäumen mein Gleichgewichtsgefühl wiedergewann.

Nichts passiert. Nichts gebrochen. Ein Sturz mehr, nichts weiter.

Zeit und Ort: sechzehntes Hindernis, Drei-MeilenHindernisrennen, Rennbahn Sandown Park, Freitag, November, im kalten Nieseldauerregen. Nachdem ich Atem und Kraft geschöpft hatte, stand ich lustlos auf und dachte voller Inbrunst, daß es verdammt albern war, als erwachsener Mensch auf diese Weise sein Leben zu verbringen.

Der bloße Gedanke versetzte mir einen Schock. Dergleichen war mir noch nie in den Sinn gekommen. In rasendem Tempo auf einem Pferderücken über die unterschiedlichsten Hindernisse zu setzen war die einzige Art, die ich kannte, mir meine Brötchen zu verdienen. Und diesen Job konnte man nur machen, wenn man mit dem

Herzen dabei war. Ein erster kühler Anflug von Desillusionierung meldete sich wie das erste Stechen von Zahnschmerzen, unerwartet, unwillkommen, ein beunruhigender Hinweis auf möglichen Ärger.

Ich unterdrückte das Gefühl, ohne mich groß aufzuregen. Bestätigte mir selbst, daß ich dieses Leben liebte, wie ich es immer geliebt hatte, gar keine Frage. Ich überzeugte mich mühelos davon, daß alles in bester Ordnung war, abgesehen von dem Wetter, von meinem Sturz und dem verlorenen Rennen… nichts weiter von Bedeutung. Alltagskram, wie ihn die Arbeit mit sich brachte.

Während ich in meinen papierdünnen Reitstiefeln, die sich überhaupt nicht zum Wandern eigneten, den Hügel zu den Tribünen hinaufquatschte, dachte ich einzig und allein an das Pferd, auf dem ich gestartet war, und überlegte mir, was ich seinem Trainer sagen konnte und was nicht. Verwarf:»Wie können Sie erwarten, daß es springt, wenn Sie es nicht ordentlich schulen?«zugunsten von:»Die Erfahrung wird ihm guttun.«

«Untaugliches, schreckhaftes, hartmäuliges, unterernährtes Mistvieh «war vielleicht doch nicht so gut, also entschied ich mich für:»Man könnte es mit Scheuklappen versuchen. «Der Trainer würde ohnehin mir den Sturz ankreiden und dem Besitzer erzählen, ich hätte den Sprung falsch eingeschätzt. Für Trainer wie ihn war jeder Absturz ein Pilotenfehler.

Ich war dem Himmel leise dankbar, daß ich nicht oft für diesen Rennstall reiten mußte. Ich war nur für diesen Tag engagiert worden, weil Steve Millace, der Stalljockey, bei der Beerdigung seines Vaters war. Vertretungsritte konnte man nicht ohne weiteres ablehnen, selbst wenn die Katastrophe einem schon aus dem Rennbericht entgegensah. Nicht, wenn man auf das Geld angewiesen war wie ich. Und nicht, wenn man wie ich darauf angewiesen war, daß der eigene Name so oft wie möglich auf den Starterlisten erschien, damit jeder wußte, daß man brauchbar, gefragt und präsent war.

Das einzig Gute bei meinem Sturz an dem Hindernis war, daß Steve Millaces Vater nicht da war, um das Ereignis festzuhalten. George Millace, der gnadenlose Fotograf von Augenblicken, die jeder Jockey am liebsten ungeschehen machen würde, lag sicher verwahrt in seiner Kiste und wurde wahrscheinlich gerade in dieser Minute zur ewigen Ruhe in die Erde versenkt. Ein Glück, daß wir ihn los sind, dachte ich herzlos. Es war ein für allemal vorbei mit dem geringschätzigen, hämischen Vergnügen, das George empfand, wenn er den Pferdebesitzern unwiderlegbare Beweise für das Versagen ihrer Jockeys präsentieren konnte. Ein für allemal vorbei mit der motorisierten Kamera, die mit ihren dreieinhalb Bildern pro Sekunde die falsche Gewichtsverlagerung, den Arm in der Luft, das Gesicht im Matsch einfing.

Während andere Sportfotografen fairerweise von Zeit zu Zeit ein Siegerfoto brachten, handelte George ausschließlich in Schmach und Schande. George war der geborene Ehrabschneider. Die Zeitungen bedauerten es vielleicht, daß es ein Ende hatte mit seinen zum Kichern reizenden Bildern, aber an dem Tag, als Steve erzählte, daß sein Vater gegen einen Baum gefahren war, hielt sich die Trauer in der Jockeystube in Grenzen.

Aus Sympathie für Steve hatte niemand viel gesagt. Allerdings war ihm das Schweigen nicht entgangen, und er hatte sich sein Teil gedacht. Er hatte seinen Vater all die Jahre pflichtschuldig verteidigt; und er wußte Bescheid.

Als ich so im Regen zurücktrottete, kam es mir dennoch sonderbar vor, daß wir George Millace nie wiedersehen sollten. Ich sah seine altvertraute Erscheinung vor meinem inneren Auge: leuchtende, kluge Augen, lange Nase, Hängeschnauzer, zu einem säuerlichen Lächeln verzogener Mund. Zugegeben, ein fantastischer Fotograf mit einem außergewöhnlichen Talent für Vorahnungen und gutes Timing, stets mit dem Objektiv zur rechten Zeit am rechten Ort. Ein Witzbold, auf seine Art: Erst vor knapp einer Woche hatte er mir ein Hochglanz-Schwarzweißfoto gezeigt, das mich im Sturzflug zeigte, Nase nach unten, Hinterteil in der Luft. Die Legende auf der Rückseite lautete: >Philip Nore —… Arsch hoch zum Grashüpfen!< Wenn hinter seinem Humor nicht diese tiefsitzende Mißgunst gesteckt hätte, hätte man lachen können. Wenn nicht diese Grausamkeit in seinen Augen gelauert hätte, hätte man seinen entlarvenden Ansatz zumindest tolerieren können. Er hatte gewissermaßen Bananenschalen verstreut und dann auf der Lauer gelegen, um sich über diejenigen lustig zu machen, die darauf ausrutschten; man würde ihn dankbar vermissen.

Als ich schließlich in den Schutz der Veranda vor dem Waageraum trat, empfingen mich Trainer und Besitzer mit der erwarteten vorwurfsvollen Miene.

«Ziemlich übel verschätzt, wie?«sagte der Trainer aggressiv.

IO

«Er ist einen Schritt zu früh abgesprungen.«

«Ihr Job, ihn richtig ranzuführen.«

Zwecklos, darauf hinzuweisen, daß kein Jockey auf der Welt jedes Pferd jederzeit perfekt springen lassen kann, und ein schlecht geschultes, das bockt, schon gar nicht. Ich nickte nur und lächelte den Besitzer leicht bekümmert an.

«Man könnte es mit Scheuklappen versuchen«, sagte ich.

«Darüber habe ich zu entscheiden«, sagte der Trainer scharf.

«Sie sind doch nicht verletzt?«fragte der Besitzer besorgt. Ich schüttelte den Kopf. Der Trainer würgte diese menschliche, Jockey-bezogene Erkundigung ab und schleuste seine Geldquelle aus der Gefahrenzone hinaus, ehe ich irgend etwas Wahres darüber sagen konnte, warum das Pferd nicht sprang, wenn es dazu aufgefordert wurde. Ich sah ihnen ohne Bitterkeit nach und wandte mich dann zur Tür des Waageraumes.

«Äh, sind Sie nicht Philip Nore?«sagte ein junger Mann und versperrte mir den Weg.

«Bin ich.«

«Tja… könnte ich Sie einen Moment sprechen?«

Er war ungefähr fünfundzwanzig, langbeinig wie ein Storch, ein aufrechter Mensch mit büroblassem Teint. Grauer Flanellanzug, gestreifte Krawatte, kein Fernglas und an diesem Ort hier, wo Unbefugte keinen Zutritt hatten, völlig fehl am Platze.

«Klar«, sagte ich.»Wenn Sie warten wollen, bis der Arzt mich durchgecheckt hat und ich mir was Trockenes angezogen habe.«

«Arzt?«Er schien erschrocken.

«Ach. Routine. Nach einem Sturz. Dauert nicht lang.«

Als ich aufgewärmt und in Straßenkleidung wieder herauskam, stand er immer noch da, und er war mehr oder weniger allein auf der Veranda, weil fast jeder sich das letzte Rennen ansah, das bereits im Gange war.

«Ich… ähm… Mein Name ist Jeremy Folk. «Er zog eine Visitenkarte aus seinem grauen Jackett und hielt sie mir unter die Nase. Ich nahm sie und las: Folk, Langley, Sohn und Folk.

Rechtsanwälte, St. Albans, Hertfordshire.

«Der letzte Folk da«, erklärte Jeremy bescheiden,»das bin ich.«

«Herzlichen Glückwunsch«, sagte ich.

Er lächelte mich scheu an und räusperte sich.

«Man hat mich geschickt… ähm… Ich bin hier, um Sie zu bitten, daß… ähm…«Er stockte, wirkte hilflos und ganz und gar nicht wie ein Anwalt.

«Daß was?«sagte ich ermutigend.

«Die meinten, daß es Ihnen gar nicht recht sein wird. aber, also… Man hat mich geschickt, um Sie zu bitten, ähm…«

«Raus damit«, sagte ich.

«Sie sollen Ihre Großmutter aufsuchen. «Die Worte purzelten überstürzt hervor, und er schien erleichtert, daß er sie los war.

«Nein«, sagte ich.

Er sah mir prüfend ins Gesicht, und meine Gelassenheit schien ihm Mut zu machen.

«Sie liegt im Sterben«, sagte er.»Und sie möchte Sie sehen.«

Vom Tod umgeben, dachte ich. George Millace und die Mutter meiner Mutter. In beiden Fällen war es nicht weiter bedauerlich.

«Haben Sie verstanden?«sagte er.

«Ja.«

«Also dann. Geht es heute?«

«Nein«, sagte ich.»Ich gehe nicht zu ihr.«

«Aber Sie müssen. «Er sah besorgt aus.»Ich meine… Sie ist alt. und stirbt bald und sie will Sie.«

«Sehr bedauerlich.«

«Und wenn ich Sie nicht dazu bringen kann, wird mein Onkel… das ist der Sohn…«Er zeigte wieder auf die Visitenkarte und wurde zunehmend nervöser.»Ähm, Folk ist mein Großvater, und Langley ist mein Großonkel und. ähm… sie haben mich geschickt…«Er schluckte.»Sie sind der Meinung, daß ich absolut nichts tauge, um es ehrlich zu sagen.«

«Und das ist Erpressung«, sagte ich.

Ein schwaches Leuchten in seinen Augen verriet mir, daß er im Grunde nicht so dämlich war, wie er sich gab.

«Ich will sie nicht sehen«, sagte ich.

«Aber sie liegt im Sterben.«

«Haben Sie sich mit eigenen Augen davon überzeugt?«

«Ähm… nein.«

«Wetten, sie stirbt nicht. Wenn sie mich sehen will, behauptet sie einfach, daß sie bald stirbt, nur um mich einzufangen, weil sie denkt, daß sie mich nur so kriegt.«

Er wirkte schockiert.»Sie ist immerhin achtundsiebzig.«

Ich sah düster in den Dauerregen hinaus. Ich war meiner Großmutter nie begegnet und wollte ihr nie begegnen, weder sterbend noch tot. Ich hielt nichts von Reue am Totenbett, Beteuerungen am Höllentor kurz vor Torschluß. Es war verdammt noch mal zu spät.

«Es bleibt bei nein«, sagte ich.

Er zuckte entmutigt die Achseln und schien aufzugeben. Lief ein paar Schritte in den Regen hinaus, barhäuptig, verwundbar, ohne Schirm. Drehte sich nach zehn Schritten wieder um und kam zögernd näher.

«Hören Sie… mein Onkel sagt, sie braucht Sie wirklich. «Er gab sich ernst und eifrig wie ein Missionar.»Sie können sie nicht einfach sterben lassen.«

«Wo ist sie?«sagte ich.

Er strahlte.»In einem Pflegeheim. «Er kramte in einer anderen Jackentasche.»Ich habe die Adresse. Aber ich bringe Sie hin, jetzt gleich, wenn Sie mitkommen. Es ist in St. Albans. Sie wohnen doch in Lambourn? Es liegt also nicht so sehr weit ab von Ihrem Weg. Jedenfalls keine hundert Kilometer oder so was.«

«Aber immerhin gute fünfzig.«

«Tja… nun ja… Sie sind es ja gewohnt, ziemlich viel durch die Gegend zu fahren.«

Ich seufzte. Eins war so schlimm wie das andere. Eine Wahl zwischen duckmäuserischer Kapitulation und eiskalter Ablehnung. Beides ungenießbar. Daß sie mir seit meiner Geburt eiskalte Ablehnung entgegengebracht hatte, war wohl keine Entschuldigung für mich, sie auf dem Sterbebett genauso zu behandeln. Ich konnte sie auch kaum weiterhin selbstgefällig verachten, wie ich es jahre-lang getan hatte, wenn ich ihrem Vorbild folgte. Ärgerlich!

Der Winternachmittag verdämmerte bereits, von Minute zu Minute leuchtete das verschwommene Licht der elektrischen Lampen heller durch den Regen. Ich dachte an mein leeres Häuschen; da gab’s nicht viel, um den Abend auszufüllen, zwei Eier, ein Stück Käse und schwarzen Kaffee zum Abendessen; die Lust, mehr zu essen, und den Zwang, es sich zu verkneifen. Wenn ich mitkam, dachte ich, würde das meine Gedanken zumindest vom Essen ablenken, und wenn mir etwas bei meinem ständigen Kampf gegen die Pfunde half, konnte es nicht nur von Übel sein. Selbst wenn es sich um eine Begegnung mit meiner Großmutter handelte.

«Also gut«, sagte ich resigniert,»bringen Sie mich hin.«

Die alte Frau saß aufrecht in ihrem Bett und starrte mich an. Falls sie im Begriff war zu sterben, dann gewiß nicht an diesem Abend. Aus ihren dunklen Augen sprach größte Lebenskraft und in ihrer Stimme lag keinerlei Todesschwäche.

«Philip«, stellte sie fest und taxierte mich von oben bis unten.

«Ja.«

«Ha!«

In diesem explosiven Laut schwang sowohl Triumph als auch Verachtung mit. Genau das hatte ich erwartet. Mit ihrem eisernen Willen hatte sie meine Kindheit zerstört und bei ihrer eigenen Tochter noch weit größeres Unheil angerichtet, und ich stellte zu meiner Erleichterung fest, daß ich mich auf keinerlei sentimentales Flehen um Verzeihung gefaßt machen mußte. Die Devise war immer noch Ablehnung, wenn auch in gemäßigter Form.

«Ich wußte, daß du sofort angerannt kommst, wenn du von dem Geld hörst«, sagte sie. Ihr kalter Hohn war nicht zu überbieten.

«Was für Geld?«

«Die hunderttausend Pfund natürlich.«

«Von Geld hat niemand was gesagt«, sagte ich.

«Lüg nicht. Was hätte dich sonst hergetrieben?«

«Man hat mir gesagt, daß du im Sterben liegst.«

Sie bedachte mich mit einem verblüfften, boshaften Blitz aus ihren Augen und einem Zähneblecken, das nichts mit einem Lächeln zu tun hatte.»Früher oder später trifft es jeden.«

«Genau«, sagte ich.»Und wir bezahlen alle den gleichen Preis. Eines Tages, wenn die Zeit reif ist.«

Sie entsprach wahrlich nicht dem Idealbild einer lieben, kleinen, rosenwangigen Oma. Ein hartes, stures Gesicht mit tief eingegrabenen Falten der Mißbilligung um den Mund herum. Eisgraues Haar, immer noch kräftig, sauber und gut frisiert. Ihre bleiche Haut war braun gefleckt von Alterssommersprossen, und auf ihren Handrücken wölbten sich dunkle Adern. Eine magere Frau, fast ausgemergelt, und hochgewachsen, soweit ich das beurteilen konnte.

Der große Raum, in dem sie lag, war eher wie ein Wohnzimmer mit Bett als wie ein Krankenzimmer eingerichtet. Das paßte zu dem Gesamteindruck, den ich bei meinem Gang durch das Haus gewonnen hatte. Ein umfunktioniertes Landhaus: Hotel mit Pflegepersonal. Überall Teppiche, lange Chintzvorhänge, Blumensträuße. Kultiviertes Sterben, dachte ich.

«Ich habe Mr. Folk Anweisung gegeben, dir das Angebot zu machen«, sagte sie.

Ich überlegte.»Dem jungen Mr. Folk? Etwa fünfundzwanzig? Jeremy?«

«Unsinn. «Sie war ungehalten.»Mr. Folk, meinem Anwalt. Ich habe ihn beauftragt, dich hierherzuschaffen. Und er hat seinen Auftrag erfüllt. Du bist hier.«

«Er hat seinen Enkel geschickt.«

Ich trat von ihrem Bett zurück und setzte mich unaufgefordert in einen Sessel. Warum hatte Jeremy wohl die hunderttausend Pfund nicht erwähnt? Eine Kleinigkeit, die man eigentlich nicht so leicht vergaß.

Meine Großmutter starrte mich ohne jedes Zeichen der Zuneigung unentwegt an und ich starrte zurück. Mir mißfiel ihre Gewißheit, daß man mich kaufen konnte. Ihre Verachtung stieß mich ab, und ich mißtraute ihren Absichten.

«Ich werde dir in meinem Testament hunderttausend Pfund vermachen, unter gewissen Bedingungen«, sagte sie.

«Nein, das wirst du nicht tun«, sagte ich.

«Wie bitte?«Eiskalte Stimme, versteinerter Blick.

«Ich sagte nein. Kein Geld. Keine Bedingungen.«

«Hör dir erst mal meinen Vorschlag an.«

Ich sagte nichts. Ehrlich gesagt, regte sich eine gewisse Neugier in mir, aber das durfte sie auf keinen Fall merken. Da sie es offenbar nicht eilig hatte, dehnte sich das Schweigen aus. Weitere Bestandsaufnahme ihrerseits, vielleicht. Reine Geduld meinerseits. Da ich unter völlig ungeordneten Umständen aufgewachsen war, besaß ich die nahezu grenzenlose Fähigkeit zu warten. Auf Leute zu warten, die nicht kamen; und auf Versprechen, die nicht erfüllt wurden.

Schließlich sagte sie:»Du bist größer, als ich dachte. Und härter.«

Ich wartete weiter.

«Wo ist deine Mutter?«sagte sie.

Meine Mutter, ihre Tochter.»In den Wind gestreut«, sagte ich.

«Was soll das heißen?«

«Ich glaube, sie ist tot.«

«Du glaubst es!«Sie schien eher ärgerlich als besorgt.»Weißt du es denn nicht?«

«Sie hat’s mir nicht direkt schriftlich gegeben, daß sie tot ist, nein.«

«Deine Frivolität ist unerhört.«

«Dein Verhalten seit meiner Geburt gibt dir nicht das Recht, so etwas zu sagen«, sagte ich.

Sie blinzelte. Ihr Mund öffnete sich und stand volle fünf Sekunden offen. Dann schloß er sich fest, so daß die Muskeln an ihrem Kiefer hervortraten, und sie starrte mich mit einer beängstigenden Mischung aus Zorn und Feindseligkeit finster an. Ich erkannte an diesem Gesichtsausdruck, womit meine arme Mutter sich einst hatte auseinandersetzen müssen, und wurde jäh von Mitleid für diesen hilflosen Schmetterling ergriffen, der mich geboren hatte.

Als ich noch ganz klein war, hatte man mich eines Tages in neue Kleider gesteckt und ermahnt, ganz brav zu sein, weil ich mit meiner Mutter meine Großmutter besu-chen sollte. Meine Mutter hatte mich dort, wo ich damals gerade wohnte, abgeholt, und wir waren mit dem Auto zu einem großen Haus gefahren, wo man mich allein in der Eingangshalle warten ließ. Hinter einer weißgestrichenen, geschlossenen Tür war lautstark gestritten worden. Dann war meine Mutter weinend herausgekommen, hatte mich bei der Hand gepackt und hinter sich her zum Auto gezerrt.

«Komm, Philip. Wir werden sie nie wieder um einen Gefallen bitten. Sie wollte dich nicht einmal sehen. Vergiß das nie, Philip, deine Großmutter ist ein gehässiges Biest.«

Ich hatte es nicht vergessen. Ich hatte selten daran gedacht, aber ich konnte mich noch deutlich erinnern, wie ich auf dem Stuhl in der Halle saß, ohne mit den Füßen bis auf den Boden zu reichen, und steif in meine neuen Kleider eingezwängt wartete und dem Gezeter lauschte.

Von ein, zwei traumatischen Wochen dann und wann einmal abgesehen, hatte ich eigentlich nie richtig mit meiner Mutter zusammengelebt. Wir hatten kein Haus, keine Adresse, keine feste Bleibe. Da sie selbst ständig auf Achse war, hatte sie das Problem meiner Unterbringung einfach gelöst, indem sie mich, mal kürzer, mal länger, bei einer langen Reihe von meist verwunderten verheirateten Freundinnen ablud, die, wenn man’s nachträglich bedenkt, bemerkenswert großzügig gewesen waren.

«Sei so gut und paß ein paar Tage auf Philip auf, Liebes«, sagte sie etwa, wenn sie mich wieder einmal auf eine fremde Dame zuschubste.»Bei mir geht im Moment alles drunter und drüber, und ich weiß beim besten Willen nicht, wohin mit ihm. Du weißt ja, wie das ist, liebe Deborah… (oder Miranda oder Chloe oder Samantha oder wer auch immer unter der Sonne)… sei ein Schatz, ich hol ihn dann am Samstag wieder ab, ganz bestimmt. «Meistens gab sie dann der lieben Deborah oder Miranda oder Chloe oder Samantha einen dicken Schmatz, und weg war sie in einer Wolke von Parfüm.

Der Samstag kam, aber meine Mutter nicht, doch zu guter Letzt tauchte sie immer wieder auf, total aufgekratzt, lachend und überströmend vor Dankbarkeit, und holte sozusagen ihr Paket von der Gepäckaufbewahrung ab. Manchmal wurde ich ein paar Tage, manchmal ein paar Wochen oder gar Monate nicht abgeholt. Ich wußte vorher nie, was auf mich zukam, und ich fürchte, meinen Gastgeberinnen ging es nicht anders. Meistens bezahlte sie wohl etwas für meine Betreuung, aber das wurde alles unter Gekicher abgewickelt.

Sie war sogar in meinen Augen bildhübsch, so daß jeder sie gern in die Arme schloß und ihr alles durchgehen ließ; die Leute blühten in ihrer Gegenwart auf. Erst hinterher, wenn sie buchstäblich mit dem Baby im Arm zurückblieben, meldeten sich Zweifel. Ich wurde ein verschrecktes, stilles Kind, schlich ständig nervös auf Zehenspitzen herum, um niemandem zur Last zu fallen, stets voller Furcht, man könnte mich eines Tages auf der Straße aussetzen.

Rückblickend wurde mir klar, daß ich Samantha, Deborah, Chloe und den anderen eine Menge zu verdanken hatte. Ich mußte nie hungern, wurde nie schlecht behandelt und letztendlich nie total abgelehnt. Gelegentlich nahm jemand mich zwei- oder dreimal auf, manchmal erfreut, meistens resigniert. Als ich drei oder vier war, brach-te mir jemand mit langen Haaren und Armreifen und folkloristischer Kleidung Lesen und Schreiben bei. Aber ich war nie so lange an einem Ort, daß ich richtig zur Schule gehen konnte. Aus diesem außergewöhnlichen, orientierungslosen und entwurzelten Leben kam ich mit zwölf Jahren heraus. Damals wurde ich in mein erstes dauerhaftes Zuhause verfrachtet, fähig zu fast jeder Arbeit, die im Haushalt anfiel, aber unfähig zu lieben.

Sie gab mich bei zwei Fotografen ab, Duncan und Charlie, in deren großem Atelier mit dem nackten Fußboden, der Dunkelkammer, einem Badezimmer, einem Gaskocher und einem Bett hinterm Vorhang.

«Ihr Lieben, paßt doch bitte bis Samstag auf ihn auf, wirklich riesig nett von euch. «Und obwohl in den nächsten drei Jahren Geburtstagskarten und Weihnachtsgeschenke ankamen, sah ich sie in der Zeit nicht wieder. Als Duncan dann auszog, rauschte sie eines Tages herein, holte mich von Charlie weg und brachte mich nach Hampshire zu einem Rennpferdtrainer und seiner Frau. Sie beteuerte ihren überrumpelten Freunden:»Nur bis Samstag, meine Lieben, und er ist fünfzehn und stark, er kann für euch die Ställe ausmisten und all so was.«

Zwei Jahre lang kamen Karten und Geschenke, immer ohne Absender. Zu meinem achtzehnten Geburtstag kam keine Karte, und Weihnachten danach kam kein Geschenk. Seither hatte ich nie wieder von ihr gehört.

Später kam ich zu dem Schluß, daß sie an Drogen gestorben sein mußte. Als ich älter wurde, konnte ich mir einiges zusammenreimen.

Die alte Frau starrte durchs Zimmer, so unversöhnlich und auf Zerstörung aus wie eh und je und immer noch wütend wegen meiner Worte.

«Du kommst bei mir nicht weit, wenn du so daherredest«, sagte sie.

«Ich will gar nicht weit kommen. «Ich stand auf.»Dieser Besuch bringt nichts. Wenn dir daran gelegen war, deine Tochter wiederzufinden, dann hättest du vor zwanzig Jahren suchen müssen. Und was mich betrifft… Ich würde sie nicht für dich ausfindig machen, selbst wenn ich es könnte.«

«Ich will nicht, daß du Caroline suchst. Ich glaube, du hast recht, sie ist tot. «Diese Vorstellung bereitete ihr ersichtlich keinen Kummer.»Ich möchte, daß du deine Schwester suchst.«

«Meine. was?«

Die feindseligen dunklen Augen taxierten mich listig.»Du hast nicht gewußt, daß du eine Schwester hast? Aber du hast eine. Ich vermache dir hunderttausend Pfund in meinem Testament, wenn du sie findest und zu mir bringst. Und glaub ja nicht, daß du mir irgendeine kleine Schwindlerin präsentieren kannst, auf die ich dann hereinfalle«, fuhr sie bissig fort, bevor ich zu Wort kam.»Ich bin zwar alt, aber kein bißchen verkalkt. Du müßtest Mr. Folk eindeutig beweisen, daß das Mädchen meine Enkelin ist. Und Mr. Folk wird nicht leicht zu überzeugen sein.«

Ich hörte die scharfen Worte kaum, sondern spürte nur einen seltsam heftigen Schock. Ich war der einzige gewesen. Die einzige Frucht des Schmetterlings. Ich spürte eine unangebrachte, brennende Eifersucht, weil es eine zweite gab. Sie hatte mir allein gehört, und jetzt mußte ich sie teilen, mußte ihr Andenken revidieren und teilen. Ich dachte verwirrt, daß es lächerlich war, sich mit dreißig zurückgesetzt zu fühlen wie ein Zweijähriger.

«Also?«sagte meine Großmutter scharf.

«Nein«, sagte ich.

«Es ist eine Menge Geld«, fuhr sie mich an.

«Wenn man’s hat.«

Sie war wieder empört.»Du bist unverschämt!«

«Klar doch. Wenn das dann alles ist, geh ich mal lieber wieder. «Ich drehte mich um und ging zur Tür.

«Warte«, sagte sie hastig.»Willst du nicht wenigstens ein Bild von ihr sehen? Da drüben auf der Kommode liegt ein Foto von deiner Schwester.«

Ich blickte über die Schulter zurück und sah, wie sie Richtung Kommode nickte. Sie mußte das Zögern meiner Hand auf der Türklinke bemerkt haben, denn sie sagte zuversichtlicher:»Schau sie dir mal an. Wirf mal einen Blick auf sie.«

Ohne recht zu wollen, aber getrieben von nicht zu leugnender Neugier, trat ich zur Kommode hinüber. Dort lag ein Foto, ein ganz normaler Schnappschuß fürs Familienalbum in Postkartengröße. Ich nahm es auf und hielt es ins Licht.

Ein kleines Mädchen, drei oder vier Jahre alt, auf einem Pony.

Das Kind hatte schulterlanges braunes Haar und trug ein rotweiß gestreiftes T-Shirt und Jeans. Sie saß auf einem unscheinbaren grauen Welsh-Pony mit gepflegtem Sattel und Zaumzeug. Das Foto war offenbar auf einem Reiterhof aufgenommen, beide sahen zufrieden und wohlgenährt aus, aber der Fotograf hatte zu weit weg gestanden, um das Gesicht des Kindes deutlich herauszuholen. Eine Vergrößerung könnte da etwas weiterhelfen.

Ich drehte das Foto um, aber auf der Rückseite stand kein Hinweis darauf, wo es herkam oder wer es aufgenommen hatte.

Etwas enttäuscht legte ich es wieder auf die Kommode zurück. Dabei fiel mein Blick auf einen Briefumschlag, der in der Handschrift meiner Mutter beschriftet war, und ich verspürte einen Stich von Wehmut. Er war an meine Großmutter, Mrs. Lavinia Nore, in dem alten Haus in Northamptonshire adressiert, wo ich einst in der Halle hatte warten müssen.

Im Umschlag ein Brief.

«Was machst du da?«sagte meine Großmutter aufgeregt.

«Lese einen Brief von meiner Mutter.«

«Aber ich. Der Brief sollte nicht da liegen. Leg ihn sofort zurück. Ich dachte, er liegt in der Schublade.«

Ich ignorierte sie. Die schwungvolle, extravagante, ex-trovertierte Schrift sprang mir so lebendig vom Papier ins Auge, als wäre meine Mutter hier im Raum gewesen mit ihrer Überschwenglichkeit und ihrem halben Lachen, wie immer um Hilfe bittend.

Dieser an irgendeinem zweiten Oktober geschriebene Brief war kein Scherz.

Liebe Mutter,

Ich weiß, daß ich gesagt habe, daß ich Dich nie wieder um irgend etwas bitten würde, aber ich versuche es noch einmal, weil ich — dumm wie ich bin — immer noch hoffe, daß Du Deine Meinung eines Tages doch noch änderst. Ich schicke Dir ein Foto von meiner Tochter Amanda, Deiner Enkelin. Sie ist richtig niedlich und lieb und jetzt schon drei, und sie braucht ein ordentliches Zuhause und muß zur Schule gehen und alles, und ich weiß, daß Du kein Kind um Dich haben willst, aber wenn Du einen Beitrag leisten oder vielleicht sogar eine Unterhaltsverpflichtung unterschreiben würdest, könnte sie bei wirklich himmlischen Leuten unterkommen, die sie lieben und bei sich behalten möchten, sich aber kein weiteres Kind leisten können, weil sie selber schon drei haben. Wenn du regelmäßig was auf ihr Konto überweisen würdest, würdest Du das nicht weiter merken, und es würde bedeuten, daß Deine Enkelin in einem glücklichen Heim aufwachsen kann, und ich wünsche ihr das so verzweifelt, daß ich jetzt an Dich schreibe.

Sie hat nicht den gleichen Vater wie Philip, Du kannst sie also nicht aus den gleichen Gründen hassen, und wenn Du sie sehen würdest, würdest Du sie lieben, aber auch wenn Du sie nicht sehen willst, bitte, Mutter, kümmere Dich um sie. Ich hoffe, bald etwas von Dir zu hören. Bitte, bitte, Mutter, antworte auf diesen Brief

Deine Tochter Caroline (z. Zt. in Pine Woods Lodge, Mindle Bridge, Sussex)

Ich hob den Blick und sah zu der harten alten Frau hinüber.

«Wann hat sie das geschrieben?«

«Vor Jahren.«»Und du hast nicht geantwortet«, sagte ich rundheraus.

«Nein.«

Es hatte wenig Sinn, sich über so eine alte Tragödie aufzuregen. Ich sah auf den Umschlag und versuchte, das Datum auf dem Poststempel zu entziffern, aber es war verschmiert und unleserlich. Wie lange sie wohl in Pine Woods Lodge gewartet hatte, hoffend und bangend und verzweifelt? Verzweiflung war allerdings, was meine Mutter anging, immer ein relativer Begriff.

Verzweiflung war ein Lachen und eine ausgestreckte Hand — und der Herrgott (oder Deborah oder Samantha oder Chloe) würden helfen. Verzweiflung war nichts Schreckliches und Auswegloses, aber sie mußte ganz schön tief gewesen sein, wenn sie ihre eigene Mutter um Hilfe bat.

Ich steckte den Brief, den Umschlag und das Foto in meine Jackentasche. Ich fand es widerwärtig, daß die alte Frau das alles aufgehoben hatte, obwohl sie die Bitte nicht erhört hatte, und ich hatte das dunkle Gefühl, daß die Sachen mir gehörten und nicht ihr.

«Du bist also bereit, es zu tun«, sagte sie.

«Nein.«

«Aber du nimmst das Foto mit.«

«Ja.«

«Na also.«

«Wenn du willst, daß… Amanda… gefunden wird, solltest du einen Privatdetektiv engagieren.«

«Habe ich schon«, sagte sie ungeduldig.»Selbstverständlich. Drei Detektive. Waren allesamt nutzlos.«

«Wenn die drei versagt haben, ist sie nicht auffindbar«, sagte ich.»Wie soll ich sie dann finden?«

«Der Anreiz ist größer«, sagte sie triumphierend.»Du wirst dich gehörig ins Zeug legen, für soviel Geld.«

«Du irrst dich. «Ich starrte sie quer durchs Zimmer verbittert an, und sie starrte ohne ein Lächeln von ihrem mit Kissen beladenen Bett zurück.»Wenn ich nur einen Pfennig von deinem Geld annähme, käme mir das kalte Kotzen.«

Ich ging zur Tür und öffnete sie diesmal ohne zu zögern.

Sie sagte zu meinem entschwindenden Rücken:»Amanda wird mein Geld bekommen, wenn du sie findest.«

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