Kapitel 15

Die >Zephyr Farm< war tatsächlich befestigt wie ein Fort, umgeben von einem zwei Meter hohen, stabilen Holzzaun und gesichert durch ein Tor, das dem Hochsicherheitsgefängnis Alcatraz alle Ehre gemacht hätte. Ich saß untätig in meinem Auto auf der gegenüberliegenden Straßenseite und wartete darauf, daß es sich auftat.

Ich wartete, während die Kälte nach und nach durch meinen Anorak kroch und meine Hände und Füße betäubte. Wartete, während ein paar unerschrockene Fußgänger ohne einen Blick auf das Tor den schmalen Weg am Zaun entlangeilten. Wartete in der fast vorstädtischen Straße am Stadtrand von Horley, wo das Licht der letzten Straßenlaternen sich in der Dunkelheit verlor.

Niemand ging am Tor aus oder ein. Es blieb hartnäckig geschlossen, verschwiegen und unfreundlich, und nach zwei fruchtlosen Stunden gab ich die kalte Wache auf und nahm mir ein Zimmer in einem Motel am Ort.

Auf meine Nachfragen erhielt ich eine griesgrämige Antwort. Ja, meinte die Frau an der Rezeption, bei ihnen stiegen manchmal Leute ab, die hofften, daß sie ihre Söhne oder Töchter zur Heimkehr von der >Zephyr Farm< bewegen könnten. Es gelinge so gut wie nie, weil man ihnen nicht gestatte, ihre Kinder unter vier Augen zu sprechen, wenn überhaupt. Richtiger Skandal, sagte die Frau an der Rezeption, und das Gesetz sei völlig machtlos. Alle über achtzehn, die Kleinen, verstehen Sie? Alt genug, um zu wissen, was sie tun. Eine Schande.

«Ich will nur herausfinden, ob jemand bestimmtes sich dort aufhält«, sagte ich.

Sie schüttelte den Kopf und meinte, ich hätte keine Chance.

Ich verbrachte den Abend damit, in Hotels und Pubs herumzuziehen und mit diversen Einheimischen, die sich an den Theken festhielten, über die >Auserwählten< zu sprechen. Im wesentlichen teilte man die Auffassung der Empfangsdame: was oder wen auch immer ich von der >Zephyr Farm< wollte, ich würde es nicht bekommen.

«Kommen die nie da raus?«fragte ich.»Vielleicht zum Einkaufen?«

Ich erntete nur ein bedauerndes, spöttisches Lächeln und wurde belehrt, daß die >Auserwählten< sehr wohl herauskamen, immer in Gruppen und immer mit ihren Sammelbüchsen.

«Sie verkaufen irgendwas«, sagte ein Mann.»Versuchen, einem irgendwelche polierten Steine oder so’n Kram zu verkaufen. Betteln eigentlich eher. Für die Sache, sagen sie. Für die Liebe Gottes. Quatsch, sag ich. Ich sag denen, sie sollen doch in die Kirche gehen, und das hören die gar nicht gern, können Sie mir glauben.«

«Und streng geht’s bei denen zu«, sagte eine Kellnerin.»Keine Zigaretten, kein Alkohol, kein Sex. Ich kapier nicht, was die Schwachköpfe da dran finden.«

«Sie tun niemand was«, sagte jemand.»Sind ständig am Lächeln.«

Ich fragte, ob sie morgen vormittag wohl zum Sammeln rauskommen würden. Und wenn ja, wann?

«Im Sommer treiben sie sich immer am Flughafen rum und schnorren die Urlauber an, und manchmal greifen sie sich einen für sich selber… wie Rekruten… aber am ehesten erwischen Sie sie im Stadtzentrum. Gleich hier. Am Samstag… da sind sie sicher da. Ganz sicher.«

Ich dankte allen und ging schlafen, und am nächsten Morgen parkte ich so nah wie möglich am Zentrum und ging zu Fuß durch die Gegend.

Um zehn Uhr herrschte geschäftiges Treiben in der Stadt, und ich rechnete mir aus, daß ich spätestens um halb zwölf aufbrechen mußte, um rechtzeitig nach Newbury zu gelangen, und selbst das war schon ein bißchen knapp. Das erste Rennen war wegen der kurzen Wintertage um halb eins, und obwohl ich in den ersten beiden Rennen nicht ritt, mußte ich eine Stunde vor dem dritten da sein, sonst würde Harold verrückt spielen.

Ich sah keine Sammelgruppen der >Auserwählten<. Überhaupt keine Gruppen. Keine singenden Leute mit rasierten Köpfen und Glöckchen oder etwas dergleichen. Statt dessen berührte ein lächelndes Mädchen mich am Arm und fragte, ob ich einen hübschen Briefbeschwerer kaufen wollte.

Der Stein lag in ihrer Handfläche, keilförmig, grünbraun und poliert.

«Ja«, sagte ich.»Was kostet er?«

«Es ist für einen wohltätigen Zweck«, sagte sie.»Soviel Sie wollen. «Mit der anderen Hand brachte sie ein hölzernes Kästchen zum Vorschein, mit einem Schlitz im Dek-kel, aber ohne den Namen irgendeines Wohltätigkeitsvereins auf den Seiten.

«Was für ein wohltätiger Zweck?«fragte ich freundlich und angelte nach meiner Brieftasche.

«Für viele gute Zwecke«, sagte sie.

Ich nahm eine Pfundnote heraus, faltete sie und schob sie durch den Schlitz.

«Gibt es hier viele Sammlerinnen?«fragte ich.

Sie drehte unwillkürlich den Kopf zur Seite, und als ich ihrem Blick folgte, sah ich ein anderes Mädchen, das jemandem, der an einer Bushaltestelle wartete, einen Stein anbot, und auf der anderen Straßenseite noch eines. Alle waren hübsch, trugen normale Kleidung und lächelten.

«Wie heißen Sie?«fragte ich.

Sie lächelte noch breiter, als wäre das Antwort genug, und gab mir den Stein.»Vielen Dank«, sagte sie.»Ihre Gabe wird viel Segen bringen.«

Ich beobachtete, wie sie die Straße hinunterging, einen anderen Stein aus der Tasche ihres Glockenrocks zog und eine freundlich aussehende alte Dame ansprach. Für Amanda war sie zu alt, dachte ich, obwohl das nicht immer so leicht einzuschätzen war. Vor allem wegen des überirdisch frommen Gesichts, das offenbar alle Mädchen wie ein Abzeichen zur Schau trugen, wie mir kurz darauf klar wurde, als ich einer anderen Steinverkäuferin vor die Füße lief.

«Möchten Sie einen Briefbeschwerer kaufen?«

«Ja«, sagte ich, und das ganze Spiel wiederholte sich.

«Wie heißen Sie?«fragte ich.

«Susan«, sagte sie.»Und Sie?«

Diesmal lächelte ich sie an, schüttelte den Kopf und ging weiter. Binnen einer halben Stunde kaufte ich vier Briefbeschwerer. Zum vierten Mädchen sagte ich:»Ist Amanda heute morgen unterwegs?«

«Amanda? Bei uns gibt’s keine…«Sie stockte, und auch ihr Blick nahm einen verräterischen Weg.

«Schon gut«, sagte ich, als hätte ich nichts bemerkt.

«Danke für den Stein.«

Sie lächelte das strahlende, leere Lächeln und ging weiter, und ich wartete eine Weile, bis ich mich unauffällig an das Mädchen heranpirschen konnte, in dessen Richtung sie geblickt hatte.

Sie war jung, klein, hatte ein glattes Gesicht, sonderbar leer um die Augen, und trug einen Anorak und einen schwingenden Rock. Sie hatte mittelbraunes Haar wie ich, aber es war glatt, nicht lockig, und ich konnte keine Ähnlichkeit zwischen unseren Gesichtern feststellen. Sie konnte das Kind meiner Mutter sein oder auch nicht.

Der Stein, den sie mir hinhielt, war dunkelblau mit schwarzen Flecken und hatte die Größe einer Pflaume.

«Sehr hübsch«, sagte ich.»Was kostet der?«

Ich bekam die Standardantwort und gab ihr ein Pfund.

«Amanda«, sagte ich.

Sie zuckte zusammen. Sie sah mich zweifelnd an.»Ich heiße nicht Amanda.«

«Wie dann?«

«Mandy.«

«Mandy und weiter?«

«Mandy North.«

Ich atmete sehr ruhig, um sie nicht zu beunruhigen, und lächelte und fragte sie, wie lange sie schon auf der >Zephyr Farm< lebte.

«Mein ganzes Leben lang«, sagte sie einfach.

«Bei deinen Freunden?«

Sie nickte.»Sie beschützen mich.«

«Und bist du glücklich?«

«Ja, natürlich. Wir tun Gottes Werk.«

«Wie alt bist du?«

Ihr Mißtrauen kehrte zurück.»Achtzehn… seit gestern… aber ich darf nicht über mich reden… nur über die Steine.«

Sie wirkte auffallend kindlich. Sie schien nicht direkt geistig zurückgeblieben, aber im hergebrachten Sinne einfältig. Es war kein Leben in ihr, keine Freude, keine erwachende Weiblichkeit. Im Vergleich zu normalen, aufgeweckten Teenagern wirkte sie wie eine Schlafwandlerin, die noch nie mit dem Tag in Berührung gekommen ist.

«Hast du noch mehr Steine?«fragte ich.

Sie nickte und holte noch einen Stein aus ihrem Rock hervor. Ich bewunderte ihn und willigte ein, ihn zu kaufen, und während ich eine weitere Pfundnote herauszog, sagte ich:»Wie heißt deine Mutter, Mandy?«

Sie sah ängstlich drein.»Das weiß ich nicht. Sie dürfen nicht so was fragen.«

«Hast du ein Pony gehabt, als du klein warst?«

Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte eine unauslöschliche Erinnerung in ihren Augen auf, und dann sah sie über meine linke Schulter hinweg jemanden an, und ihre einfältige Freude verwandelte sich in Schamröte.

Ich drehte mich halb um. Da stand ein Mann, nicht jung, nicht lächelnd. Ein hart aussehender Mann, ein paar

Jahre älter als ich, sehr sauber, sehr ordentlich gekleidet und sehr ärgerlich.

«Keine Unterhaltung, Mandy«, sagte er streng zu ihr.»Denk an die Regel. Dein erster Sammeltag, und schon brichst du die Regel. Die Mädchen bringen dich gleich nach Hause. Nach diesem Vorfall wirst du wieder Hausarbeit machen. Geh jetzt. Sie warten da drüben. «Er wies mit einem scharfen Kopfnicken auf eine wartende Gruppe von Mädchen und sah zu, wie sie mit bleiernen Füßen zu ihnen hinüberging. Arme Mandy in Ungnade. Arme Amanda. Arme kleine Schwester.

«Was für ein Spiel spielen Sie?«sagte der Mann zu mir.»Die Mädchen sagen, daß Sie von allen Steine gekauft haben. Worauf sind Sie aus?«

«Auf nichts. «sagte ich.»Die Steine sind hübsch.«

Er starrte mich ungläubig an, und ein zweiter, ähnlich aussehender Mann trat zu ihm, nachdem er mit den Mädchen gesprochen hatte, die jetzt weggingen.

«Der Kerl da hat die Mädchen nach ihren Namen gefragt«, sagte er.»Sucht eine Amanda.«

«Es gibt keine Amanda.«

«Mandy. Er hat mit ihr gesprochen.«

Die beiden sahen mich mit zusammengekniffenen Augen an, und ich befand, daß es Zeit war zu verschwinden. Sie versuchten nicht, mich aufzuhalten, als ich in Richtung Parkplatz losging. Sie versuchten nicht, mich aufzuhalten, aber sie hefteten sich an meine Fersen.

Ich machte mir nicht groß Gedanken darüber und bog in die kurze Seitenstraße ein, die zum Parkplatz führte. Als ich einen Blick zurück warf, um zu überprüfen, ob sie mir immer noch folgten, sah ich nicht nur sie, sondern mittlerweile vier von der Sorte. Die zwei neuen waren so jung wie die Mädchen.

Die Gegend schien nicht unbelebt, deshalb konnte kaum viel passieren, und es passierte auch nicht viel in Anbetracht dessen, was hätte passieren können. Es floß zum Beispiel kein Blut.

Am Eingang zum Parkplatz lungerten noch drei von ihnen herum, und alle sieben kreisten mich ein, bevor ich ihn erreichte. Ich schubste einen von ihnen, um den Weg frei zu bekommen, und wurde daraufhin von einem Wald von Händen gestoßen, ein paar Schritte die Straße entlang und gegen eine Backsteinmauer. Falls irgendeiner der vielgerühmten britischen Bürger sah, was passierte, zog er es vor, auf der andern Straßenseite vorüberzugehen.

Ich sah die sieben >Auserwählten< an und sagte:»Was wollen Sie?«

Der zweite der beiden älteren Männer sagte:»Warum haben Sie nach Mandy gefragt?«

«Sie ist meine Schwester.«

Das verwirrte die beiden älteren. Sie sahen sich an. Dann schüttelte der erste entschieden den Kopf.»Sie hat keine Familie. Ihre Mutter ist vor Jahren gestorben. Sie lügen. Wie kommen Sie darauf, daß sie Ihre Schwester ist?«

«Es paßt uns nicht, daß Sie hier rumschnüffeln und Ärger machen«, sagte der zweite.»Wenn ihr mich fragt, ist das ein Reporter.«

Das Wort stachelte sie dazu an, Gewalt mit ihrer seltsamen Religion in Einklang zu bringen. Sie knallten mich eine Spur zu oft gegen die Wand und stießen und traten mich eine Spur zu stark, aber abgesehen von dem Versuch, alle sieben wie bei einem Rugbygedränge wegzuschubsen, konnte ich körperlich kaum etwas machen, um sie zum Aufhören zu bringen. Es war eine von diesen dummen Raufereien, bei denen keiner zu weit gehen wollte. Sie hätten mich leicht halbtot schlagen können, wenn sie gewollt hätten, und ich hätte sie schlimmer verletzen können, als ich es tat. Eine Eskalation erschien als verrücktes Risiko, wo es ihnen nur darum ging, mich zu warnen, also stieß ich ihre auf mich eindrängenden Körper zurück und trat gegen ein paar Schienbeine, und das war alles.

Die Information, die mir die Prügel erspart hätte, gab ich ihnen nicht: daß Mandy nämlich ein Vermögen erben würde, wenn sie beweisen konnten, daß sie meine Schwester war.

Harold stand vor dem Waageraum und beobachtete mit finsterem Gesicht meine Ankunft.

«Du bist verdammt spät dran«, sagte er.»Und warum humpelst du?«

«Hab mir den Knöchel verstaucht.«

«Kannst du reiten?«

«Ja.«

«Puh.«

«Ist Victor Briggs hier?«

«Nein, ist er nicht. Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen. Sharpener soll gewinnen, und du kannst ihn reiten wie gewohnt. Keine verrückten, blödsinnigen Heldentaten. Klar? Du paßt auf Sharpener auf, oder ich zieh dir das Fell über die Ohren. Bring ihn heil zurück.«

Ich nickte und verkniff mir ein Lächeln, und er bedachte mich erneut mit einem finsteren Blick und entfernte sich.

«Ehrlich, Philip«, sagte Steve Millace im Vorbeigehen.»Er behandelt dich wie den letzten Dreck.«

«Nein… nur auf seine Art.«

«Ich würde mir das nicht bieten lassen.«

Ich sah in sein streitlustiges, blutjunges Gesicht und begriff, daß er keine Ahnung davon hatte, daß sich Zuneigung manchmal in einer rauhen Verpackung zeigte.

«Viel Glück heute«, sagte ich neutral, und er sagte» Danke «und ging in den Waageraum. Er würde nie wie sein Vater werden, dachte ich. Nie so intelligent, so genial, so scharfsinnig, so skrupellos oder so gemein.

Ich folgte ihm nach drinnen, legte Victor Briggs’ Farben an und spürte dabei am ganzen Leib schmerzhaft die Folgen der Aufmerksamkeiten der >Auserwählten<. Nicht weiter dramatisch. Lästig. Nicht so schlimm, daß es mich beim Reiten behinderte, hoffte ich.

Als ich nach draußen kam, fand in nächster Nähe eine lautstarke Unterhaltung zwischen Elgin Yaxley und Bart Underfield statt, die sich gegenseitig auf die Schulter klopften und leicht angetrunken wirkten.

Elgin Yaxley machte sich los und wankte davon, und Bart drehte sich mit einem übermäßigen Mangel an Koordination um und prallte mit mir zusammen.

«Hallo«, sagte er mit einem hochprozentigen Huster.»Sie sollen’s als erster erfahren. Elgin legt sich ein paar neue Pferde zu. Sie kommen natürlich zu mir. Lambourn wird sein blaues Wunder erleben. Die ganze Rennwelt wird ihr blaues Wunder erleben. «Er grinste mich herablassend an.»Elgin ist ein findiger Bursche.«

«Das kann man wohl sagen«, sagte ich trocken.

Bart erinnerte sich daran, daß er mich nicht sonderlich mochte und suchte sich andere, empfänglichere Ohren für seine guten Neuigkeiten. Ich blieb stehen und beobachtete ihn und dachte, daß Elgin nie mehr ein Pferd wegen der Versicherungssumme töten würde. Keine Versicherungsgesellschaft ließe sich das ein zweites Mal gefallen. Aber Elgin Yaxley wiegte sich in Sicherheit. und die Menschen änderten sich nicht. Wer einmal betrogen hatte, würde es wieder tun. Ich hörte es nicht gern, daß Elgin Yaxley findig war.

Das alte Dilemma bestand weiterhin. Wenn ich der Polizei oder der Versicherung den Beweis für Elgin Yaxleys Betrug lieferte, mußte ich offenbaren, wo ich die Fotos herhatte. Von George Millace. der Drohbriefe schrieb. George Millace, der Ehemann von Marie, die sich gerade mit schwacher Hand aus den Trümmern ihres Lebens heraushangelte. Wenn der Gerechtigkeit nur Genüge getan werden konnte, indem sie noch tiefer in herzzerreißendes Elend gestoßen wurde, mußte die Gerechtigkeit noch warten.

Sharpeners Rennen stand als drittes auf dem Programm. Nicht das größte Ereignis des Tages — das war das vierte Rennen, ein von einer Brandy-Firma gestifteter Gold Cup —, aber ein angesehenes Zwei-Meilen-Jagdrennen. Sharpener war aufgrund seines Sieges in Kempton favorisiert und flog fast mit dem gleichen Elan an vierter Stelle über den größten Teil des langen Ovals von Newbury. Beim drittletzten Hindernis lagen wir dann an dritter Stelle, beim zweitletzten an zweiter, und mit dem letzten Sprung setzten wir uns an die Spitze. Ich setzte mich rein und ritt ihn mit Zügel- und Fersenhilfe voll aus und dachte, mein Gott, ich könnte die Muskelkraft gebrauchen, die ich in Horley verloren hatte.

Sharpener gewann, und ich war erschöpft. Es war zum Lachen. Harold strahlte und sah zu, wie ich im Siegerring schwach an den Gurtschnallen fummelte. Das Pferd stampfte umher und warf mich fast um.

«Du bist nur zwei Meilen geritten«, sagte Harold.»Was zum Teufel ist los mit dir?«

Ich bekam die Schnallen auf, zog den Sattel herunter und spürte tatsächlich, wie wieder ein bißchen Kraft durch meine Arme strömte. Ich grinste Harold an und sagte:»Nichts. war ein verdammt gutes Rennen. Prima Form.«

«Ich scheiß auf prima Form. Du hast gewonnen. Jedes Rennen, das du gewinnst, ist prima Form, verdammt noch mal.«

Ich ging zum Wiegen hinein, ließ ihn inmitten von Gratulanten und Sportreportern zurück, und während ich bei meinem Haken auf der Bank saß und darauf wartete, daß meine Kräfte langsam zurückkehrten, kam ich zu einem Entschluß, was mit Elgin Yaxley zu tun war.

Ich hatte mir in den letzten zwei Wochen angewöhnt, nicht nur meine zwei Lieblingskameras im Auto mitzunehmen, sondern auch die Fotos, die ich offenbar ständig brauchte. Lance Kinships Abzüge waren da, obwohl er selbst nicht aufgetaucht war, desgleichen die vier, die Yaxley betrafen. Gleich nach dem großen Rennen ging ich hinaus und holte sie.

Das zweite Pferd, das ich für Harold reiten sollte, war ein junger Hurdler im letzten Rennen, und weil so viele Starter gemeldet hatten, war es in zwei Durchgänge aufgeteilt worden, so daß das letzte Rennen an diesem Tag das siebte und nicht das sechste war. So blieb mir gerade genug Zeit für mein Vorhaben.

Es war nicht schwer, Elgin Yaxley zu finden, es war nur kompliziert, ihn von Bart Underfield loszueisen.

«Kann ich Sie mal kurz sprechen?«sagte ich zu Yaxley.

«Sie werden unsere Pferde nicht reiten«, sagte Bart Underfield herrisch.»Verschwenden Sie also nicht Ihre Zeit mit Fragen.«

«Sie können sie gern behalten«, sagte ich.

«Was wollen Sie dann?«

«Ich möchte Mr. Yaxley etwas ausrichten. «Ich wandte mich an Yaxley.»Es ist privat, nur für Ihre Ohren bestimmt.«

«Na schön. «Er war ungeduldig.»Warten Sie in der Bar auf mich, Bart.«

Bart brummelte und beschwerte sich, ging aber schließlich.

«Kommen Sie lieber da rüber«, sagte ich zu Elgin Yaxley und wies mit dem Kopf zu dem Rasenfleck neben dem Eingangstor, abseits der Riesenmenge mit ihren großen Ohren und neugierigen Augen, die zu dem Spitzenrennen erschienen war.»Es wird Ihnen lieber sein, wenn niemand mithört.«

«Was, zum Teufel, soll das Ganze?«sagte er verstimmt.

«Eine Botschaft von George Millace«, sagte ich.

Seine scharfen Gesichtszüge erstarrten. Sein schmaler Schnurrbart sträubte sich. Aus der Selbstgefälligkeit wurde wilde, nackte Angst.

«Ich habe ein paar Fotos«, sagte ich,»die Sie vielleicht gerne sehen würden.«

Ich übergab ihm den Pappumschlag. Dieses zweite Mal schien es leichter, den Schlag zu landen, dachte ich. Möglicherweise wurde ich langsam abgebrühter. oder vielleicht mochte ich Elgin Yaxley einfach nicht. Völlig mitleidslos sah ich zu, wie er den Umschlag öffnete.

Erst wurde er blaß, dann rot, und große Schweißperlen traten wie Blasen auf seine Stirn. Er sah sich die vier Bilder an und hatte die ganze Geschichte vor sich: das Treffen im Cafe, die zwei Briefe von George und die vernichtende Notiz des Farmers David Parker. Er hob den Blick, sah mich aus gebrochenen, ungläubigen Augen an und hatte große Mühe, die Sprache wiederzufinden.

«Lassen Sie sich Zeit«, sagte ich.»Es ist sicher ein großer Schock für Sie.«

Er bewegte wie zur Probe die Lippen, brachte aber kein Wort hervor.

«Eine beliebige Anzahl von Kopien könnte an die Versicherung und die Polizei und so weiter gehen«, sagte ich.

Er brachte ein ersticktes Stöhnen zustande.

«Es gibt noch einen anderen Weg«, sagte ich.

Er brachte seinen Kehlkopf und seine Zunge dazu, ein einziges heiseres, unerquickliches Wort zu formen:»Schwein.«

«Mhm«, sagte ich.»Der Weg von George Millace.«

Noch nie hatte mich jemand so voller Haß angeblickt, und ich fand es entnervend. Aber ich wollte einfach herausfinden, was George zumindest von einem seiner Opfer erpreßt hatte, und hier lag meine beste Chance.

Ich sagte klipp und klar:»Ich will das gleiche wie George Millace.«

«Nein. «Es war eher ein Wimmern als ein Schrei. Voller Entsetzen, ohne jede Hoffnung.

«Doch«, sagte ich.

«Das kann ich mir nicht leisten. Ich hab’s nicht.«

Die Furcht in seinen Augen war kaum zu ertragen, aber ich spornte meine schwindende Entschlossenheit mit dem Gedanken an fünf erschossene Pferde an und sagte noch einmal:»Das gleiche wie George Millace.«

«Nicht zehn«, sagte er wild.»Ich habe nicht so viel.«

Ich starrte ihn an. Er mißverstand mein Schweigen und brabbelte drauflos, fand seine Stimme in einem Schwall bettelnder, flehender, beschwörender Worte wieder.

«Sie wissen doch, daß ich Unkosten hatte. Es war alles nicht einfach. Können Sie mich nicht in Ruhe lassen? Lassen Sie mich bitte in Ruhe. George hat gesagt, es ist mit dem einen Mal abgetan… und jetzt kommen Sie… Also gut, fünf?«sagte er angesichts meines fortgesetzten Schweigens.»Reichen fünf? Das ist genug. Ich habe nicht mehr. Wirklich nicht.«

Ich starrte weiter und wartete.

«Also gut. In Ordnung. «Er zitterte vor Angst und Wut.»Siebeneinhalb. Reicht das? Das ist alles, was ich habe, Sie Blutsauger. Sie sind schlimmer als George Millace. Scheiß Erpresser

Vor meinen Augen kramte er in seinen Taschen herum und zog ein Scheckbuch und einen Stift hervor. Umständlich legte er das Scheckbuch auf den Pappumschlag, trug das Datum und einen Geldbetrag ein und unterschrieb. Dann trennte er mit zitternden Fingern das Blatt aus dem Buch heraus und hielt es mir hin.

«Nicht nach Hongkong«, sagte er.

Ich verstand nicht gleich, was er meinte, verlegte mich daher wieder aufs Starren.

«Nicht nach Hongkong. Nicht wieder dorthin. Es gefällt mir nicht. «Er flehte wieder, bettelte um Krumen.

«Oh…«Ich versteckte meine Erleuchtung hinter einem Hüsteln.»Irgendwohin«, sagte ich.»Irgendwohin außerhalb von England.«

Es war die richtige Antwort, verschaffte ihm aber keinen Trost. Ich streckte die Hand nach dem Scheck aus.

Er gab ihn mir mit zitternder Hand.

«Danke«, sagte ich.

«Fahr zur Hölle.«

Er drehte sich um und stolperte davon, halb rennend, halb torkelnd, am Boden zerstört. Geschah ihm recht, dachte ich herzlos. Soll er leiden. Es würde nicht allzu lange dauern.

Ich hatte vor, den Scheck zu zerreißen, wenn ich gesehen hatte, wieviel ihm mein Schweigen wert war, wieviel er George bezahlt hatte. Ich hatte es vor, aber ich tat es nicht.

Als ich mir den Scheck ansah, ging mir ein gewaltiges Licht auf, überkam mich ein strahlendes, zunehmend freudiges Gefühl der Ehrfurcht und des Begreifens.

Ich hatte mir Georges Grausamkeit zu eigen gemacht. Ich hatte gefordert, was er selbst gefordert hatte. Sein Alternativvorschlag für Elgin Yaxley.

Ich hatte ihn. Komplett.

Elgin Yaxley ging ins Exil, und ich hielt seinen Scheck über siebeneinhalbtausend Pfund in der Hand.

Er war nicht auf mich oder auf den Überbringer oder gar auf den Nachlaß von George Millace ausgestellt, sondern auf den Fonds für verletzte Jockeys.

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