Kapitel 17

O mein Gott«, sagte sie.

«Ich lebe noch«, sagte ich mit meiner geschwollenen Zunge.

«Er hat gesagt, er will Ihnen. einen Denkzettel verpassen.«

«Das Denken fällt mir im Moment etwas schwer.«

«Offenbar war es ihm egal. Offenbar hat er nicht begriffen. Wenn die Sie getötet hätten. was das bedeuten würde. Er meinte nur, es hätte sie niemand gesehen, sie würden nie geschnappt, also kein Grund zur Sorge.«

«Heißt das, daß Sie wissen, wer es war?«wollte Clare wissen.

Dana warf ihr einen verzweifelten Blick zu.»Ich muß mit ihm reden. Allein. Ist das möglich?«

«Aber er ist…«Sie hielt inne und sagte:»Philip?«

«Das geht in Ordnung.«

«Wir sind in der Küche«, sagte Clare.»Ruf einfach.«

Dana wartete, bis sie gegangen war, und ließ sich dann neben mir auf der Treppe nieder, halb sitzend, halb liegend, um ihren Kopf möglichst nahe an meinen heranzubringen. Ich betrachtete sie durch meinen Sehschlitz, sah, daß sie völlig außer sich und zu Tode geängstigt war, und wußte nicht, warum. Nicht aus Sorge um mein Leben, denn sie sah ja, daß es nicht in Gefahr war. Nicht, weil sie

sich um mein Stillschweigen Sorgen machte, da allein ihre Anwesenheit ein Geständnis war, das die Dinge nur verschlimmern konnte. Das goldgesprenkelte Haar fiel ihr weich nach vorne und berührte fast meine Stirn. Ihr süßes Parfüm erreichte meine Sinne sogar durch meine ramponierte Nase. Ihre Seidenbluse streifte meine Hand. Ihre Stimme mit dem kosmopolitischen Akzent war sanft… und flehend.

«Bitte«, sagte sie.»Bitte.«

«Bitte. was?«

«Wie kann ich Sie nur bitten?«Sogar in ihrer Not war sie umwerfend attraktiv, dachte ich. Ich hatte das bis heute nur gesehen, nicht gefühlt, da sie mir bislang nur ein flüchtiges, uninteressiertes Lächeln geschenkt hatte. Aber jetzt, da sie die volle Stromstärke auf mich ausrichtete, ertappte ich mich bei dem Gedanken, daß ich ihr helfen würde, wenn ich könnte.

Sie sagte drängend:»Bitte geben Sie mir… was ich für George Millace geschrieben habe.«

Ich lag wortlos da und schloß mein ausdauerndes Auge. Sie mißdeutete meine Passivität, die in Wahrheit auf Ahnungslosigkeit zurückzuführen war, und überschüttete mich mit einer Flut leidenschaftlichen Bettelns.

«Ich weiß, daß Sie denken… wie ich Sie fragen kann, nachdem Ivor Sie so zugerichtet hat. wie ich auch nur das geringste Entgegenkommen erwarten kann. oder Vergebung. oder Freundlichkeit. «Aus ihr sprach ein Wirrwarr aus Scham und Verzweiflung und Wut und Beschwörung, jede Empfindung erhob sich wie eine Welle und ebbte ab, um der nächsten Platz zu machen. Es war nicht eben die leichteste Aufgabe, jemanden um einen Gefallen zu bitten, der vom eigenen Vater. Ehemann?. Liebhaber?. halb massakriert worden war, aber sie tat ihr Bestes.»Bitte, bitte, ich flehe Sie an, geben Sie sie mir zurück.«

«Ist er Ihr Vater?«sagte ich.

«Nein. «Ein Hauch, ein Flüstern, ein Seufzer.

«Was dann?«

«Wir haben… eine Beziehung.«

Was du nicht sagst, dachte ich trocken.

Sie sagte:»Bitte geben Sie mir die Zigaretten.«

Die was? Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.

Ich bemühte mich, nicht zu murmeln, meine schwere Zunge geschmeidig zu machen, und sagte:»Erzählen Sie mir von. Ihrer Beziehung. zu den Relgan. und von. Ihrer Beziehung zu Lord White.«

«Wenn ich’s Ihnen erzähle, geben Sie’s mir dann? Bitte, bitte, ja?«

Sie schloß aus meinem Schweigen, daß sie zumindest hoffen konnte. Sie verhaspelte sich in Erklärungen, die Worte purzelten übereinander, immer wieder durchsetzt von stockenden Pausen, und von vorne bis hinten voller Bedauern und Rechtfertigung, mit einem deutlichen Beigeschmack von >Ich Ärmste, man hat mich ausgenutzt, ich kann nichts dafür.<

Ich öffnete meinen Augenschlitz, um sie zu beobachten.

«Ich bin seit zwei Jahren mit ihm zusammen… nicht verheiratet, so eine Beziehung war es nie… nichts Häusliches, nur.«

Nur Sex, dachte ich.

«Sie reden wie er«, sagte ich.

«Ich bin Schauspielerin. «Sie wartete leicht herausfordernd auf meinen Widerspruch, aber da gab es nichts zu widersprechen. Eine sehr gute Schauspielerin, wenn man mich fragte. Gewerkschaftsausweis? dachte ich hämisch, hatte aber keine Lust zu fragen.

«Letzten Sommer kam Ivor eines Tages mit einer fantastischen Idee an«, sagte sie.»Er schäumte über vor Selbstzufriedenheit… wenn ich mitmachte, würde er dafür sorgen, daß es nicht zu meinem Schaden wäre… Ich meine, er meinte…«Sie unterbrach sich, aber es war klar, was er gemeint hatte: nicht zu ihrem finanziellen Schaden. hübscher Euphemismus für eine saftige Bestechung.

«Er hat gesagt, bei den Rennen gebe es einen Mann, der gerne flirte. Vorher hatte er mich nie zur Rennbahn mitgenommen. Aber er hat mich gefragt, ob ich mit ihm hingehen und mich als seine Tochter ausgeben und dem Mann den Kopf verdrehen wolle. Es sollte ein Scherz sein, verstehen Sie, Ivor hat gesagt, der Mann hätte einen untadeligen Ruf und er wolle ihm einen Streich spielen… Das hat er jedenfalls gesagt. Er hat gesagt, dem Mann sei deutlich anzumerken, daß er auf ein Sexabenteuer aus sei… so, wie er den hübschen Mädchen nachsah, ihre Arme tätschelte, Sie wissen schon, was ich meine.«

Ich dachte, wie sonderbar es sein mußte, ein hübsches Mädchen zu sein und es ganz normal zu finden, daß Männer in mittleren Jahren auf der Suche nach Sex durch die Gegend liefen, und damit zu rechnen, daß sie einem die Arme tätschelten.

«Also sind Sie mitgegangen?«sagte ich.

Sie nickte.»Er war süß… John White. Es war ganz leicht. Ich meine… er hat mir gefallen. Ich habe einfach gelächelt… und er hat mir gefallen… und er… also… ich meine, es stimmte, was Ivor gesagt hatte, er war auf der Suche — und ich war zur Stelle.«

Sie war zur Stelle, dachte ich, hübsch und nicht zu beschränkt und bemüht, ihn einzufangen. Armer Lord White, an der Angel, weil er es nicht anders wollte. Zum Narren gemacht durch sein närrisches Alter, durch seine Sehnsucht nach Jugend.

«Ivor wollte John natürlich für seine Zwecke nutzen. Das habe ich gewußt, das war offensichtlich, aber ich fand das nicht so schlimm. Ich meine… was war schon dabei? Alles lief gut, bis Ivor und ich für eine Woche nach St. Tropez gefahren sind. «Das hübsche Gesicht verfinsterte sich vor Wut beim Gedanken daran.»Und dieser widerliche Fotograf hat Ivor geschrieben. ihn aufgefordert, Lord White in Ruhe zu lassen, sonst würde er ihm die Fotos von uns. von Ivor und mir. zeigen. Ivor war fuchsteufelswild, ich habe ihn noch nie so wütend gesehen. außer diese Woche.«

Wir dachten beide an die gleiche Wut, die wir diese Woche bei Ivor den Relgan miterlebt hatten.

«Weiß er, daß Sie hier sind?«sagte ich.

«Um Gottes willen, nein. «Sie sah entsetzt aus.»Er weiß es nicht. er haßt Drogen. deswegen haben wir immer Streit. George Millace hat mich gezwungen, die Liste zu schreiben… hat gesagt, daß er John die Bilder zeigen würde, wenn ich mich weigere… Ich habe George Millace gehaßt. aber Sie. Sie werden sie mir doch zurückgeben?

Bitte… bitte… Sie müssen doch einsehen, daß… daß ich damit bei allen, die eine Rolle für mich spielen, unten-durch wäre… Ich bezahle auch. Ich bezahle dafür… wenn Sie sie mir geben.«

Jetzt kommt der spannende Moment, dachte ich.

«Was soll ich Ihnen eigentlich geben?«sagte ich.

«Die Zigarettenschachtel natürlich. Auf der alles draufsteht.«

«Ja. warum haben Sie auf eine Zigarettenschachtel geschrieben?«

«Ich habe mit dem roten Filzstift auf die Hülle geschrieben. George Millace hat gesagt, ich soll eine Liste machen, und ich habe gesagt, daß ich das nie machen würde, egal was er tut, und er hat gesagt, ich soll’s mit dem Stift auf die Zellophanhülle von den Zigaretten schreiben, dann könnte ich jederzeit abstreiten, daß ich’s getan hätte, weil niemand ein Gekritzel auf einer Zigarettenhülle ernstnehmen würde…«Sie verstummte jäh und sagte mit erwachendem Argwohn:»Sie haben es doch? George Millace hat es Ihnen doch gegeben. zusammen mit den Bildern. oder?«

«Was steht auf. dieser Liste?«

«Mein Gott«, sagte sie.»Sie haben sie gar nicht. Sie haben sie nicht, und ich bin hierhergekommen… habe Ihnen alles erzählt… für nichts und wieder nichts… Sie haben sie nicht…«Sie erhob sich abrupt, aus Schönheit wurde Wut.»Sie gemeines Arschloch. Ivor hätte sie umbringen sollen. Hätte auf Nummer Sicher gehen sollen. Hoffentlich leiden Sie ordentlich.«

Dieser Wunsch wurde ihr erfüllt, dachte ich ruhig. Ich nahm den Relgan seine Rache erstaunlicherweise nicht besonders übel — Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich hatte sein Leben zerschlagen, er hatte meinen Körper zerschlagen. Ich war insgesamt besser davongekommen, fand ich. Meine Nöte waren vorübergehender Natur.

«Sie können dankbar sein.«

Aber sie war zu wütend darüber, daß sie alles ausgeplaudert hatte. Sie rauschte in ihrer Seide und ihrer Duftwolke durch die Diele davon und knallte die Haustür hinter sich zu. Die Luft in ihrem Kielwasser vibrierte vor weiblicher Gewalt. Ganz gut, daß die Welt nicht voller Dana den Relgans war, dachte ich benommen.

Clare und Jeremy kamen aus der Küche.

«Was wollte sie?«sagte Clare.

«Etwas, was ich… nicht habe.«

Sie wollten wissen, was überhaupt passiert sei, aber ich sagte:»Ich erzähl’s euch… morgen. «Und sie gaben sich zufrieden. Clare setzte sich neben mich auf die Treppe und strich mir mit einem Finger über die Hand.

«Dir geht’s ziemlich mies, stimmt’s?«sagte sie.

Ich wollte es nicht bestätigen. Ich sagte:»Wieviel Uhr ist es?«

«Halb vier… geht auf vier zu. «Sie sah auf ihre Uhr.»Zwanzig vor vier.«

«Macht euch was zu essen«, sagte ich.»Du und Jeremy.«

«Willst du auch was?«

«Nein.«

Sie nahmen etwas Suppe und Brot zu sich und hielten das Leben in Gang. Es ist der einzige Tag, den ich je auf der Treppe verbracht habe, dachte ich dümmlich. Ich konnte den Staub im Teppich riechen. Mir tat alles weh, ununterbrochen, ein bohrender, steifer Schmerz, aber immer noch besser als die Krämpfe; und langsam konnte ich mich auch wieder bewegen. Bald war Bewegung unumgänglich, dachte ich. Ein Anzeichen, daß sich die Dinge wieder normalisierten… Ich mußte dringend zur Toilette.

Ich setzte mich auf, den Rücken gegen die Wand gestützt.

Nicht übel. Nicht übel. Kein Krampf.

Ein wahrnehmbarer Fortschritt bei der Funktion der Muskeln. Die Erinnerung an Kraft schien nicht mehr in weiter Ferne. Ich könnte aufstehen, dachte ich, wenn ich es versuchte.

Clare und Jeremy erschienen mit fragenden Gesichtern, und ohne falschen Stolz ergriff ich ihre hilfreichen Hände und zog mich hoch.

Schwankend, aber aufrecht.

Keine Krämpfe.

«Und was jetzt?«sagte Clare.

«Pinkeln.«

Sie lachten. Clare ging in die Küche, und Jeremy sagte was von Wegwischen der angetrockneten Blutlache, während er mich am Arm durch die Diele führte.

«Bemühen Sie sich nicht«, sagte ich.

«Kein Problem.«

Ich hielt mich ein Weilchen an der Handtuchstange im Bad fest, blickte in den Spiegel über dem Waschbecken und sah, in was für einem Zustand sich mein Gesicht befand. Geschwollene, unförmige Landschaft. Nicht wiederzuerkennen. Da und dort sah man das offene Fleisch. Da und dort dunkelrote Flecken. Überkrustet mit angetrocknetem Blut, das Haar stachelig verfilzt davon. Ein Auge in aufgequollenen Falten verloren, das andere als Schlitz sichtbar. Aufgerissene violette Lippen. Zwei eingeschlagene Vorderzähne.

Eine Woche schätzungsweise, dachte ich seufzend. Boxer machten so was ständig, aus freien Stücken, die Blödmänner.

Das Entleeren der Blase machte mir bewußt, daß mein Unterleib schwer traktiert worden war, aber gleichzeitig war ich auch beruhigt: kein Blut im Urin. Meine Eingeweide mochten etwas abgekriegt haben, aber nie waren die Füße von Pferden oder Menschen mit voller Wucht direkt auf einer Niere gelandet. Ich hatte Glück gehabt. Außergewöhnliches Glück. Gott im Himmel sei Dank.

Ich ließ etwas warmes Wasser ins Waschbecken ein und tupfte etwas von dem angetrockneten Blut ab. War mir insgesamt nicht sicher, ob es ein Fortschritt war, weder im Hinblick auf mein Wohlbefinden noch auf mein Aussehen. Wo das Blut gewesen war, sah man jetzt weitere offene Stellen und verklebte Wunden. Ich tupfte die gewaschenen Stellen vorsichtig mit einem Papiertuch trocken. Den Rest laß ich lieber, dachte ich.

Draußen in der Diele gab es einen gewaltigen Schlag.

Ich zog die Badezimmertür auf und sah Clare mit angstvollem Blick aus der Küche kommen.

«Ist alles in Ordnung?«sagte sie.»Du bist nicht gestürzt?«

«Nein. es muß Jeremy gewesen sein.«

Ohne Eile gingen wir in den vorderen Teil des Hauses, um nachzusehen, was ihm runtergefallen war. und sahen, daß Jeremy selbst mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag. In der Tür der Dunkelkammer, halb drin, halb draußen. Der Wassereimer, den er getragen hatte, war um ihn herum verschüttet, und in der Luft lag ein Geruch… ein Gestank nach faulen Eiern. Ich kannte den Geruch. Ich…

«Was…«, setzte Clare an.

Jesus Christus, dachte ich, und es war ein Gebet, kein Fluch. Ich packte sie heftig um die Taille und schob sie zur Eingangstür. Öffnete. Schubste sie nach draußen.

«Bleib dort«, sagte ich nachdrücklich.»Bleib draußen. Es ist Gas.«

Ich pumpte meine Lungen voll mit dunkler Winterluft und kehrte zurück. Fühlte mich so schwach. so verzweifelt. Beugte mich über Jeremy. Packte seine Handgelenke, eins mit jeder Hand, und zog.

Zog und zerrte ihn über die weißen Fliesen, zog ihn, schleifte ihn, verspürte dabei ein tödliches Zittern in meinen schwachen Armen und Beinen. Raus aus der Dunkelkammer, durch die Diele zur Eingangstür. Nicht weit. Knappe vier Meter. Meine Lungen platzten schier, brauchten Luft. aber nicht diese Luft. nicht faule Eier.

Clare ergriff einen Arm von Jeremy und zog mit mir, und zusammen zogen wir die bewußtlose Gestalt auf die Straße hinaus. Ich schubste die Tür hinter mir zu und kniete mich auf die kalte Straße, würgend und japsend, und kam mir vollkommen nutzlos vor.

Clare hämmerte schon gegen die Tür des Nachbarhauses und kam mit dem Lehrer zurück, der dort wohnte.

«Beatmen Sie. ihn«, sagte ich.

«Mund zu Mund?«Ich nickte.»Gut. «Er kniete sich neben Jeremy und fing ohne weitere Fragen an, ihn wiederzubeleben, eine Übung, mit der er sich auskannte.

Clare verschwand und kam gleich wieder zurück.

«Ich hab einen Krankenwagen gerufen«, sagte sie.»Aber sie wollen wissen, um was für ein Gas es sich handelt. Sie sagen, es gibt in Lambourn kein Gas. Sie wollen wissen… was sie mitbringen sollen.«

«Ein Beatmungsgerät. «Meine eigene Brust fühlte sich bleiern an. Das Atmen fiel mir schwer.»Sag ihnen… es handelt sich um Schwefel. Irgendein Schwefelgas. Tödlich. Sie sollen sich beeilen.«

Sie sah entsetzt drein und rannte ins Haus des Lehrers zurück, und ich lehnte mich auf den Knien schwach gegen die Wand meines Hauses und hustete und fühlte mich sterbenselend. Schuld daran waren nicht meine alten Probleme, es waren die neuen. Es war das Gas.

Jeremy rührte sich nicht. Lieber Gott, dachte ich, lieber Herr Jesus, laß ihn leben.

Das Gas in meiner Dunkelkammer war für mich bestimmt gewesen, nicht für ihn. So mußte es sein. Es mußte irgendwie da drin gewesen sein, mußte mich all die Stunden, die ich draußen in der Diele gelegen hatte, erwartet haben.

Mir schwirrte der Kopf: Jeremy, nicht sterben, dachte ich. Jeremy, es ist meine Schuld. Nicht sterben. Ich hätte George Millaces Abfall verbrennen sollen. hätte das Zeug nicht benutzen dürfen… uns nicht in die Nähe… in die Nähe des Todes bringen dürfen.

Aus allen Häusern kamen Leute mit Decken und entsetzten Blicken. Der Lehrer erfüllte weiter seine Pflicht, wenn ich auch aus seinem Verhalten und aus flüchtigen Blicken auf sein Gesicht schließen konnte, daß er es für sinnlos hielt.

Nicht sterben…

Clare fühlte Jeremys Puls. Ihr Gesicht war aschfahl.

«Ist er…?«sagte ich.

«Ein Flattern.«

Nicht sterben.

Der Lehrer faßte wieder Mut und machte unermüdlich weiter. Ich hatte das Gefühl, als zöge sich ein Band um meine Rippen zusammen und quetschte mir die Lungen. Ich hatte nur ein paar Züge Gas und Luft eingeatmet. Jeremy hatte reines Gas eingeatmet. Und Clare.

«Was ist mit deiner Brust?«fragte ich sie.

«Eng«, sagte sie.»Schrecklich.«

Die Menge um uns herum schien anzuwachsen. Der Krankenwagen kam, und ein Streifenwagen und Harold und ein Arzt und halb Lambourn.

Fachkundige Hände lösten den Lehrer ab und pumpten Luft in und aus Jeremys Lungen, und Jeremy selbst lag da wie ein Klotz, während der Arzt ihn untersuchte und während man ihn auf eine Bahre hob und in den Krankenwagen schob.

Sein Puls war zu spüren. Ganz schwach. Das war alles, was sie sagen wollten. Sie schlossen die Tür hinter ihm und fuhren ihn nach Swindon.

Nicht sterben, betete ich. Laß ihn nicht sterben. Es ist meine Schuld.

Ein Feuerwehrauto fuhr vor, mit Männern in Atemschutzgeräten. Sie gingen mit ihren Meßgeräten zur Hinterseite des Hauses und kamen dann durch die Vordertür wieder auf die Straße. Soweit ich mitbekam, was sie zur Polizei sagten, rieten sie von näheren Untersuchungen ab, bis die Giftgaskonzentration sich erheblich verringert hatte.

«Um was für ein Gas handelt es sich?«fragte einer der Polizisten.

«Schwefelwasserstoff.«

«Tödlich?«

«Extrem. Lähmt die Atmung. Gehen Sie nicht hinein, bevor wir Entwarnung geben. Da drin ist irgendeine Quelle, die immer noch Gas produziert.«

Der Polizist wandte sich an mich.»Was ist das?«sagte er.

Ich schüttelte den Kopf.»Ich weiß nicht. Ich besitze nichts in der Richtung.«

Er hatte mich schon vorher gefragt, was mit meinem Gesicht passiert sei.

«Bin beim Pferderennen gestürzt.«

Jedermann hatte das akzeptiert. Demolierte Jockeys waren in Lambourn an der Tagesordnung. Der ganze Zirkus bewegte sich die Straße entlang zu Harolds Haus, und die Ereignisse gerieten durcheinander.

Clare rief zweimal im Krankenhaus an, um sich nach Je-remys Befinden zu erkundigen.

«Er ist auf der Intensivstation… bedenklicher Zustand. Sie wollen wissen, wer seine nächsten Verwandten sind.«

«Eltern«, sagte ich verzweifelt.»Jeremy ist in St. Albans… zu Hause. «Die Nummer war in meinem Haus, beim Gas.

Harold bemühte die Telefonauskunft und bekam die Telefonnummer von Jeremys Vater.

Nicht sterben, dachte ich. Bleib verdammt nochmal am Leben… Bitte bleib am Leben.

Polizisten trampelten rein und raus. Ein Kriminalinspektor kam und stellte Fragen. Ich erzählte ihm, was passiert war. Clare erzählte ihm, was passiert war. Ich wüßte nicht, wie der Schwefelwasserstoff in meine Dunkelkammer geraten sei. Es sei reiner Zufall, daß Jeremy das Gas eingeatmet hatte. Ich hätte keine Ahnung, warum jemand meine Dunkelkammer mit Gas vollgepumpt habe. Ich wüßte nicht, wer.

Der Inspektor sagte, er glaube mir nicht. Solche Todesfallen würden niemandem ohne triftigen Grund ins Haus gelegt. Ich schüttelte den Kopf. Sprechen war immer noch eine Qual. Ich würde ihm den Grund sagen, wenn Jeremy starb. Sonst nicht.

Wie ich so schnell erkannt hätte, daß es sich um Gas handelte? Clare hatte gesagt, ich hätte blitzschnell reagiert. Wie das käme?

«Schwefelsaures Natrium. wurde früher in Fotolabors benutzt. Manchmal auch heute noch… aber sehr selten… wegen des Gestanks. Ich hatte keins. Es stammte nicht… von mir.«

«Ist das ein Gas?«sagte er verwirrt.

«Nein. Es ist kristallisiert. Hochgiftig. Gehört zur Sepiatoner-Ausrüstung. Kodak stellt so was her. Nennt sich T-7A… soweit ich weiß.«

«Aber Sie wußten doch, daß es Gas war.«

«Ja, weil Jeremy… ohnmächtig war. Und ich hab’s eingeatmet. irgendwas war. nicht in Ordnung. Man kann damit Gas produzieren. mit Natriumsulfid. Ich wußte einfach, daß es Gas war… Ich weiß auch nicht, warum… Ich wußte es einfach.«

«Wie macht man Schwefelwasserstoff aus kristallisiertem Natriumsulfid?«

«Weiß ich nicht.«

Er drängte hartnäckig auf eine Antwort, aber ich wußte es wirklich nicht. Und jetzt, Sir, zu Ihren Verletzungen. Ihren offensichtlichen Beschwerden und Ihrer Schwäche. Dem Zustand Ihres Gesichtes. Sind Sie sicher, Sir, daß all das auf einen Sturz beim Pferderennen zurückzuführen ist? Er habe nämlich den Eindruck, daß es eher auf einen schweren Angriff durch Menschen zurückzuführen sei. Er sähe so was nicht zum ersten Mal, sagte er.

Ein Sturz, sagte ich.

Der Inspektor fragte Harold, der besorgt aussah, aber eilfertig antwortete:»Ein gemeiner Sturz, Herr Inspektor. Zig Pferde haben ihn getreten. Wenn Sie Zeugen brauchen… etwa sechstausend Leute haben zugesehen.«

Der Inspektor zuckte die Achseln, wirkte jedoch ernüchtert. Vielleicht hatte er einen Instinkt, dachte ich, der ihm sagte, daß ich aus irgendeinem Grunde log. Als er weg war, sagte Harold:»Ich hoffe, du weißt, was du tust. Dein Gesicht war doch in Ordnung, als wir uns getrennt haben.«

«Ich erzähl’s dir ein andermal«, murmelte ich.

Er sagte zu Clare:»Was ist passiert?«, aber auch sie schüttelte den Kopf und sagte, sie wisse gar nichts, begreife gar nichts und fühle sich selbst schrecklich. Harolds

Frau umsorgte uns, gab uns zu essen und schließlich ein Nachtlager, und Jeremy war um Mitternacht immer noch am Leben.

Etliche elende Stunden später kam Harold in das kleine Zimmer, wo ich im Bett saß. Saß, weil ich so besser atmen konnte und weil ich nicht schlafen konnte und weil mir immer noch alles furchtbar wehtat. Meine junge Dame sei nach London zur Arbeit gefahren, sagte er, und würde heute abend anrufen. Die Polizei wolle mich sprechen. Und Jeremy? Jeremy lebte noch, sei immer noch bewußtlos, immer noch in einem kritischen Zustand.

Der ganze Tag war miserabel.

Die Polizei machte sich in meinem Haus zu schaffen, öffnete Türen und Fenster, damit der Wind durchblasen konnte, und der Inspektor kam zu Harolds Haus und erstattete mir Bericht.

Wir saßen in Harolds Büro, wo sich der Inspektor bei Tageslicht als ziemlich junger blonder Mann mit wachen Augen entpuppte, der die Angewohnheit hatte, mit den Fingerknöcheln zu knacken. Ich hatte ihn am Abend zuvor nicht als Person wahrgenommen, nur seine feindselige Ausstrahlung verspürt, und die war unverändert gegenwärtig.

«An dem Wasserhahn in Ihrer Dunkelkammer ist ein Wasserfilter«, sagte er.»Wozu brauchen Sie den?«

«Wasser, das man für Fotoarbeiten benutzt, muß sauber sein«, sagte ich.

Die schlimmsten Schwellungen um meine Augen und Lippen gingen langsam zurück. Ich konnte besser sehen, besser sprechen, immerhin eine Erleichterung.

«Ihr Wasserfilter ist ein Schwefelwasserstoff-Generator«, sagte der Inspektor.

«Das kann nicht sein.«

«Warum nicht?«

«Weil. ich ihn ständig benutze. Er dient zum Enthärten des Wassers. Er arbeitet mit Salz… wie alle Weichmacher. Er kann unmöglich Gas produzieren.«

Er starrte mich lange nachdenklich an. Dann verschwand er für eine Stunde und kam mit einer Schachtel und einem jungen Mann in Jeans und Pullover zurück.

«Also, Sir«, sagte der Inspektor mit der einstudierten, zweckdienlichen Höflichkeit des mißtrauischen Polizisten,»ist das Ihr Wasserfilter?«

Er öffnete die Schachtel, um mir den Inhalt zu zeigen. Ein Filter, oben angeschraubt der kurze Gummiaufsatz, den man normalerweise auf den Wasserhahn schob.

«Sieht ganz so aus«, sagte ich.»Sieht so aus, wie er aussehen sollte. Stimmt was nicht damit? Er konnte bestimmt kein Gas produzieren.«

Der Inspektor gab dem jungen Mann ein Zeichen, und dieser zog ein Paar Plastikhandschuhe aus seiner Tasche und streifte sie sich über. Dann nahm er den Filter, eine schwarze Plastikkugel von der Größe einer Grapefruit mit durchsichtigen Stellen oben und unten, und schraubte ihn in der Mitte auseinander.

«Hier drin ist normalerweise nur die Filterpatrone«, sagte er.»Aber Sie werden gleich sehen, daß die Dinge bei diesem speziellen Gerät anders liegen. In diesem hier sind zwei Einsätze, einer über dem anderen. Sie sind jetzt beide leer. aber in dem unteren war kristallisiertes Natrium-sulfid, und der hier. «, er hielt mit angeborenem Sinn für Dramatik inne,»… der obere enthielt Schwefelsäure. Eine Art Membran muß die Inhalte der beiden Einsätze getrennt gehalten haben… aber als der Wasserhahn aufgedreht wurde, hat der Wasserdruck die Membran zerstört oder aufgelöst, und die beiden Chemikalien haben sich vermischt. Schwefelsäure und Natriumsulfid, angetrieben von Wasser. ein ausgesprochen effektiver Sulfidgenerator. Er verströmte auch dann noch Gas, als das Wasser abgedreht wurde. Und das wurde es ja… vermutlich von Jeremy Folk.«

Es entstand ein langes, bedeutungsvolles deprimierendes Schweigen.

«Sie sehen also, Sir«, sagte der Inspektor,»es kann unmöglich ein Unfall gewesen sein.«

«Nein«, sagte ich matt.»Aber ich weiß nicht… Ich weiß wirklich nicht. wer so ein Ding installiert haben könnte… Dazu hätte man doch wissen müssen, was für einen Filter ich benutze, oder?«

Wieder Schweigen. Sie schienen darauf zu warten, daß ich auspackte, aber ich hatte keine Ahnung. Den Relgan konnte es nicht gewesen sein. warum sollte er sich mit so einer Vorrichtung abmühen, wenn zwei oder drei Tritte mehr mich ins Jenseits befördert hätten? Elgin Yaxley konnte es auch nicht gewesen sein, er hatte nicht genug Zeit dafür gehabt. Es konnte auch keiner von den anderen gewesen sein, denen George Millace Briefe geschrieben hatte. Bei zweien davon handelte es sich um alte Geschichten, vorbei und vergessen. Ein Fall war immer noch aktuell, aber ich hatte nichts in der Sache unternommen und dem betreffenden Mann nichts von dem Brief erzählt. Er kam sowieso nicht in Frage. Er würde mich sicher nicht töten.

Das alles ließ nur den unerfreulichen Schluß zu, daß jemand annahm, daß ich etwas besaß, was ich nicht hatte. Einer, der wußte, daß ich George Milaces Erpressungspaket geerbt hatte… der wußte, daß ich bereits einiges davon benutzt hatte. und der mich daran hindern wollte, noch mehr davon zu benutzen.

George Millace hatte bestimmt mehr in der Schachtel gehabt, als ich geerbt hatte. Ich hatte zum Beispiel die Zigarettenschachtel nicht, auf die Dana den Relgan ihre Drogenliste notiert hatte. Und außerdem… ja, was sonst noch?

«Nun, Sir«, sagte der Inspektor.

«Niemand war in meinem Haus, seit ich am Mittwoch die Dunkelkammer benutzt habe. Nur meine Nachbarin und der Steuerbeamte. «Ich stockte, und sie stürzten sich darauf.»Was für ein Steuerbeamter?«

Ich sagte, sie sollten Mrs. Jackson fragen, und sie meinten, daß sie das tun würden.

«Sie hat gesagt, daß er nichts angerührt hat.«

«Aber er hätte sehen können, welchen Filtertyp.«

«Ist das denn überhaupt mein Filter?«fragte ich.»Er sieht jedenfalls so aus.«

«Wahrscheinlich«, sagte der junge Mann.»Aber unser Mann hätte ihn sehen müssen. wegen der Maße. Dann konnte er zurückkommen… und ich denke mir, daß es ungefähr dreißig Sekunden gedauert hat, die Filterpatrone rauszunehmen und die Einsätze mit den Chemikalien hineinzutun. Saubere Arbeit.«»Wird Jeremy überleben?«sagte ich.

Der Jüngere zuckte die Achseln.»Ich bin Chemiker, kein Arzt.«

Wenig später gingen sie und nahmen den Filter mit. Ich rief beim Krankenhaus an. Keine Änderung.

Am Nachmittag ging ich selbst ins Krankenhaus, Harolds Frau fuhr mich hin, weil sie darauf beharrte, daß ich nicht in der Lage sei zu fahren.

Ich sah Jeremy nicht. Ich sah seine Eltern. Sie waren außer sich vor Sorge, zu aufgeregt, um böse zu sein. Nicht meine Schuld, sagten sie, allerdings glaubte ich, daß sie es später anders sehen würden. Jeremy wurde durch künstliche Beatmung am Leben gehalten. Seine Atmung war gelähmt. Sein Herz schlug. Sein Gehirn hatte keinen Schaden erlitten.

Seine Mutter weinte.

«Machen Sie sich nicht solche Sorgen«, sagte Harolds Frau auf der Heimfahrt.»Er wird durchkommen.«

Sie hatte die Schwester auf der Unfallstation, die sie kannte, dazu gebracht, ein paar Stellen in meinem Gesicht zu nähen. Mit dem Ergebnis, daß es sich jetzt noch steifer anfühlte als zuvor.

«Wenn er stirbt.«

«Er wird nicht sterben«, sagte Harolds Frau.

Der Inspektor rief an, um mir mitzuteilen, daß ich in mein Haus zurückkönne, aber nicht in die Dunkelkammer; die Polizei hatte sie versiegelt.

Ich wanderte langsam durch mein Haus und fühlte mich in keiner Weise wohl. Körperlich elend, moralisch am Boden zerstört, bis zum Hals in Schuld verstrickt.

Überall sah man Spuren der polizeilichen Durchsuchung. War wohl nicht weiter wunderlich. Die paar Abzüge, die ich noch von Georges Briefen hatte, waren ihnen nicht in die Hände geraten, sie waren im Auto eingeschlossen. Die Schachtel mit den scheinbar leeren Negativen, die auf der Anrichte in der Küche stand, hatten sie nicht durchwühlt.

Die Schachtel.

Ich öffnete sie. Neben den Rätseln, die ich gelöst hatte, enthielt sie das eine, das ich noch nicht gelöst hatte.

Den schwarzen lichtundurchlässigen Umschlag mit dem Ding, das aussah wie durchsichtige Plastikfolie, und zwei unbenutzte Blätter Schreibmaschinenpapier.

Vielleicht. dachte ich. Vielleicht war hier der Grund für den Gasanschlag zu finden.

Aber was… was hatte ich da?

Es half nichts, dachte ich, ich mußte es herausfinden. und zwar ziemlich schnell, bevor wer auch immer den nächsten Versuch startete, mich umzubringen, und Erfolg hatte.

Загрузка...