Ivor den Relgan!«Von allen Seiten hörte ich diesen Namen, in den verschiedensten Klangfarben von Erstaunen bis Unglauben.»Mitglied des Jockey Clubs! Unglaublich!«
Der Jockey Club, dieser exklusive, feine Herrenverein, hatte offenbar heute morgen einen Mann in seine erlesenen Reihen aufgenommen, den man sich jahrelang auf Armeslänge vom Leibe gehalten hatte. Einen reichen, aufgeblasenen Mann, der auf den Rennbahnen mit seinem Geld um sich geworfen und auch manches Gute getan hatte, aber in einer Weise, die die Betroffenen vor den Kopf stieß. Angeblich war er holländischer Herkunft. Das heißt, er sollte aus irgendeiner obskuren ehemaligen holländischen Kolonie stammen. Er hatte einen Akzent, der sich nach einer Mischung aus Südafrika, Australien und Amerika anhörte, eine bunte, polyglotte Mischung aus Vokalen und Konsonanten, die durchaus hätte attraktiv sein können, aber überheblich klang. Die Stimme schien auszudrücken, daß er bei weitem kultivierter war als die verstaubten britischen oberen Zehntausend. Er suchte nicht die Gunst der Etablierten, sondern ihre Bewunderung. Er gab zu verstehen, daß sie davon profitieren würden, wenn sie seinen Rat befolgten. In Briefen an die Zeitschrift Sporting Life bot er ihn häufig gratis an.
Bis zum heutigen Tag hatte der Jockey Club denn auch bei verschiedenen Gelegenheiten erkennbar seinen Rat befolgt, sich aber standhaft geweigert zuzugeben, daß er von ihm stammte. Ich fragte mich flüchtig, was sie wohl zu einer solchen Kehrtwendung veranlaßt hatte. Was hatte sie plötzlich dazu gebracht, den Verschmähten in die Arme zu schließen?
Steve Millace war im Umkleideraum, wartete bei meinem Kleiderhaken.
Seine Anspannung war schon von der Tür aus zu erkennen, aber aus der Nähe war sie überwältigend. Kreidebleich und zitternd stand er da, den Arm in einer schwarzen Schlinge, und sah mich aus tiefliegenden, verzweifelten Augen an.
«Hast du’s gehört?«sagte er. Ich nickte.
«Es ist Montag nacht passiert. Das heißt, gestern, denk ich. so gegen drei. Bis irgendwer was bemerkt hatte, war schon alles hin.«
«Deine Mutter war nicht dort?«
«Sie hatten sie im Krankenhaus behalten. Sie ist immer noch dort. Es ist zuviel für sie. Wirklich…«Er zitterte.». zuviel.«
Ich gab ein paar aufrichtig mitfühlende Laute von mir.
«Was soll ich bloß machen?«sagte er, und ich dachte, er hat mich zu so was wie seinem älteren Bruder erkoren, zu einer inoffiziellen Beratungsstelle.
«Hast du nicht irgendwas von Tanten erzählt?«fragte ich.»Bei der Beerdigung?«
Er schüttelte ungeduldig den Kopf.»Es sind Vaters Schwestern. Ältere Schwestern. Sie können meine Mutter nicht leiden.«
«Trotzdem.«
«Es sind falsche Hexen«, sagte er aufbrausend.»Ich hab sie angerufen… sie meinten: >Wie schreckliche «Er äffte giftig ihre Stimmen nach.»>Sag der armen Marie, daß sie sich von der Versicherungssumme ein hübsches Häuschen am Meer kaufen kann.< Die machen mich krank.«
Ich zog meine Straßenkleidung aus, um in den Renndress zu steigen, im Bewußtsein, daß für Steve die Alltagsarbeit völlig unwichtig war.
«Philip«, sagte er flehentlich.»Du hast sie gesehen. Total zusammengeschlagen… und mein Vater nicht mehr da… und jetzt das ganze Haus… Bitte… bitte hilf mir.«
«Na schön«, sagte ich resigniert. Was blieb mir anderes übrig?» Wenn ich mit dem Reiten fertig bin, überlegen wir uns was.«
Er ließ sich auf die Bank fallen, als würden ihm seine Beine den Dienst versagen, und da blieb er sitzen und starrte ins Leere, während ich mich fertig umzog und zum Wiegen ging.
Harold war wie üblich bei der Waage und wartete darauf, mir den Sattel abzunehmen, nachdem ich gewogen worden war. Seit Montag hatte er zu der lebensverändernden Entscheidung keine Bemerkung gemacht, und vielleicht interpretierte er mein Schweigen nicht als nervenzermürbende Unentschlossenheit, sondern als stillschweigendes Einverständnis, zu den alten Gepflogenheiten zurückzukehren. Als ich ihm den Sattel über den Arm hängte, sagte er jedenfalls in ganz normalem Ton:»Hast du gehört, wen sie in den Jockey Club aufgenommen haben?«
«Klar.«
«Nächstens nehmen sie noch Dschingis-Khan auf.«
Er ging mit dem Sattel hinaus, um ihn Pamphlet aufzulegen, und zu gegebener Zeit ging ich zu ihm in den Führ-ring, wo das Pferd unbekümmert im Kreis herumging, und der Popstar, dem es gehörte, vor Anspannung an den Fingernägeln kaute.
Harold hatte noch ein paar Neuigkeiten in Erfahrung gebracht.»Ich habe gehört, daß der Große Weiße Häuptling persönlich darauf bestanden hat, daß den Relgan in den Club aufgenommen wird.«
«Lord White?«Ich war überrascht.
«Der Alte Schneesturm persönlich.«
Pamphlets junger Besitzer schnippte mit den Fingern und sagte:»Hey, Mann, wie wär’s mit ein paar flotten Tönen auf das Baby hier?«
«Einen Zehner auf Sieg oder Platz«, schlug Harold vor, der mit der Sprache des Popstars vertraut war. Der Popstar benutzte das Pferd für seine Publicity und ließ es nur laufen, wenn das Rennen vom Fernsehen übertragen wurde. Und wie immer wußte er genau, wo die Kameras standen und achtete stets darauf, daß er nicht unvorsichtigerweise von mir oder Harold verdeckt wurde, wenn sie in seine Richtung zeigten. Ich bewunderte sein diesbezügliches Geschick und überhaupt die ganze Show, die er abzog, denn er hatte, wenn er sozusagen hinter der Bühne war, eine starke Tendenz zum kleinbürgerlichen Spießer. Das auf-gepeppte Proletarierimage war seine Masche.
Er war heute mit dunkelblauen Haaren zum Rennen erschienen. Rund um den Führring machten sich Anzeichen für leichte Schlaganfälle bemerkbar, aber Harold tat, als fiele ihm nichts auf, getreu dem Grundsatz, daß Besitzer, die ihre Rechnungen bezahlten, so exzentrisch sein konnten, wie sie wollten.
«Philip, Schätzchen«, sagte der Popstar,»bringen Sie das Baby für Daddy gut über die Runden.«
Er mußte das aus alten Filmen haben, dachte ich. Bestimmt redeten heutzutage nicht einmal Popmusiker so. Er kaute wieder an den Nägeln, und ich schwang mich auf Pamphlet und ritt hinaus, um zu sehen, was ich in Sachen >ein Zehner auf Sieg oder Platz< tun konnte.
Ich galt allgemein nicht als besonders gut am Hindernis, aber vielleicht hatte Pamphlet es sich heute genau wie ich in den Kopf gesetzt zu gewinnen. Er flog nur so dahin, in überschäumender Lebensfreude, und überholte in der Zielgeraden sogar den Favoriten. Bei unserer Rückkehr mußten wir dem Fernsehen zuliebe die Umarmungen von Blauhaar über uns ergehen lassen, und ein besorgt wirkender Schmalspurtrainer fragte mich, ob ich im fünften Rennen als Ersatz einspringen könne. Jockey verletzt… wäre das möglich? Aber sicher ist das möglich. Das mache ich gern. Prima, der Bursche hat den Renndress, bis später dann im Führring. Wunderbar.
Steve brütete immer noch unter meinem Kleiderhaken.
«Ist der Schuppen abgebrannt?«fragte ich.
«Was?«
«Der Schuppen. Die Tiefkühltruhe. Die Fotos von deinem Vater.«
«Ach so, ja… aber das Zeug war nicht mehr drin.«
Ich streifte die orangerosa Popstar-Farben ab und mach-te mich auf die Suche nach dem gedeckteren grünbraunen Dress für den Ersatzritt.
«Wo war es denn?«sagte ich, als ich wiederkam.
«Ich habe meiner Mutter erzählt, daß du gesagt hast, daß die Leute vielleicht was gegen die Bilder haben, die Dad von ihnen gemacht hat, und sie hat gedacht, daß du meinst, daß es den Einbrechern um die Fotos gegangen ist und nicht um ihren Pelz und alles, und sie wollte die Dias nicht dort lassen, wo sie immer noch gestohlen werden konnten, also hat sie mich am Montag gebeten, sie zu den Nachbarn zu bringen. Und da sind sie jetzt, in einem Nebengebäude.«
Gedankenverloren knöpfte ich das grünbraune Hemd zu.
«Soll ich sie im Krankenhaus besuchen?«sagte ich.
Es lag praktisch auf meinem Heimweg. Kein großer Aufwand. Trotzdem dankte er mir so überschwenglich, daß es schon fast peinlich war. Er sagte, er sei mit dem Kneipenwirt aus dem Dorf in Sussex gekommen, wo er in einer Bude in der Nähe des Stalls wohnte, für den er ritt, und wenn ich seine Mutter besuchen würde, könne er wieder mit dem Wirt zurückfahren, eine andere Möglichkeit habe er wegen seines Schlüsselbeins nämlich nicht. Ich hatte seine Mutter eigentlich nicht alleine besuchen wollen, aber wenn ich es mir recht überlegte, machte es mir auch nichts aus.
Nachdem er seine Last abgeladen hatte, hellte sich Steves Miene etwas auf und er bat mich, ihn anzurufen, wenn ich wieder zu Hause war.
«Ja«, sagte ich abwesend.»War dein Vater oft in Frankreich?«»Frankreich?«
«Nie davon gehört?«sagte ich.
«Oh…«Er war nicht zum Scherzen aufgelegt.»Natürlich. Longchamps, Auteuil, St. Cloud. Überall.«
«Auch rund um die Welt?«sagte ich und steckte Bleigewichte in den Sattel.
«Wie?«Er war entschieden verblüfft.»Wie meinst du das?«
«Wofür hat er sein Geld ausgegeben?«
«Für Objektive, hauptsächlich. Teleobjektive, so lang wie dein Arm. Immer die neuesten Modelle.«
Ich schleppte meinen Sattel mit den Aufgewichten zur Prüfwaage hinüber und schob ein weiteres flaches Bleigewicht ein. Steve stand auf und folgte mir.
«Wieso fragst du, wofür er sein Geld ausgegeben hat?«
Ich sagte:»Einfach so. Ohne Grund. Hab mich nur gefragt, womit er sich gern beschäftigt hat, abseits der Rennbahn.«
«Er hat fotografiert. Die ganze Zeit, überall. Er hat sich für nichts anderes interessiert.«
Als es Zeit war, ging ich hinaus, um das grünbraune Pferd zu reiten, und es war einer der seltenen Tage, an denen einfach alles klappte. Mit uneingeschränkter Euphorie stieg ich wieder als Sieger ab und dachte, daß ich dieses Leben unmöglich aufgeben konnte. Unmöglich. Nicht wenn einen das Gewinnen mehr antörnte als Heroin.
Meine Mutter war wahrscheinlich an Heroin gestorben.
Steves Mutter lag allein in einem kleinen Kabuff mit Glaswänden, isoliert, aber den neugierigen Blicken jedes
Fremden, der vorüberkam, schonungslos ausgesetzt. Es waren Vorhänge da, aber sie waren nicht zugezogen. Ich haßte das System, das den Krankenhauspatienten das Recht auf Privatsphäre verweigerte. Wer auf Erden, ob krank oder verletzt, wollte sich in seiner Not auch noch angaffen lassen?
Marie Millace lag mit zwei flachen Kissen unterm Kopf auf dem Rücken, zugedeckt mit einem Laken und einer dünnen blauen Decke. Ihre Augen waren geschlossen. Ihr braunes Haar war fettig und zerzaust. Ihr Gesicht sah schrecklich aus.
Die abgeschürften Stellen von Samstagabend waren jetzt mit dickem dunklem Schorf bedeckt. Das geplatzte Augenlid war genäht; es war monströs geschwollen und blau. Die Nase war purpurrot unter einem Formgips, der an der Stirn und an den Wangen mit weißem Heftpflaster befestigt war. Ihr offener Mund, der ebenfalls geschwollen war, war violett. Und allenthalben sah man die deutlichen Spuren der Schläge: purpurrot, grau, blau und gelb. Frisch hatten die Verletzungen einfach nur scheußlich ausgesehen, erst im Heilungsprozeß zeigte sich ihr wahres Ausmaß.
Ich hatte schon öfters Leute in solchem und in schlimmerem Zustand gesehen, von galoppierenden Pferdehufen übel zugerichtet; aber das hier hatte man einer wehrlosen Frau angetan, in ihrem eigenen Haus, aus reiner Bosheit; das rief andere Reaktionen hervor: Ich fühlte kein Mitleid, sondern Wut. Die Wut von Steves >Ich bringe sie um<.
Sie hörte mich hereinkommen und öffnete ihr weniger ramponiertes Auge einen Spalt, als ich nähertrat. Soweit ich das sehen konnte, sah sie völlig verdattert drein, als hätte sie mich zuallerletzt hier erwartet.
«Steve hat mich gebeten, Sie zu besuchen«, sagte ich.»Er konnte nicht herkommen wegen seiner Schulter. Er kann nicht fahren… ein paar Tage lang.«
Das Auge schloß sich.
Ich zog mir einen Stuhl von der Wand ans Bett, um neben ihr zu sitzen. Das Auge öffnete sich wieder, und dann streckte sie mir langsam ihre Hand entgegen, die auf der Decke geruht hatte. Ich ergriff sie, und sie packte fest zu und umklammerte meine Hand, als suchte sie Halt und Trost und Sicherheit. Nach einer Weile legte sich ihr Schutzbedürfnis langsam, und sie ließ meine Hand los und ließ die ihre schlaff auf die Decke sinken.
«Hat Steve Ihnen von dem Haus erzählt?«sagte sie.
«Ja. Es tut mir leid. «Es klang kläglich. Alles klang kläglich angesichts der Schläge, die sie getroffen hatten.
«Haben Sie es gesehen?«sagte sie.
«Nein. Steve hat mir auf der Rennbahn davon erzählt. In Kempton, heute nachmittag.«
Sie sprach schleppend und war schwer zu verstehen, weil sie ihre Zunge bewegte, als wäre sie steif hinter den geschwollenen Lippen.
«Meine Nase ist gebrochen«, sagte sie und zupfte nervös an ihrer Decke.
«Ja«, sagte ich.»Meine war auch einmal gebrochen. Ich habe auch so einen Gips bekommen wie Sie. In einer Woche sind Sie wieder völlig hergestellt.«
Ihr Schweigen konnte nur als Ungläubigkeit verstanden werden.
«Sie werden überrascht sein.«
Es entstand eine Pause, wie sie nur an Krankenhausbetten entsteht. Vielleicht lagen hier die Vorteile großer Krankensäle, dachte ich: Wenn einem die Platitüden ausgingen, konnte man immer über die grausigen Symptome im Bett nebenan diskutieren.
«George hat erzählt, daß Sie fotografieren wie er«, sagte sie.
«Nicht wie er«, sagte ich.»George war der Beste.«
Diesmal keine Ungläubigkeit. Die erkennbare Absicht zu lächeln.
«Steve hat mir gesagt, daß Sie Georges Kassetten mit den Dias vor dem Brand woanders untergebracht haben«, sagte ich.»So ein Glück.«
Ihr Lächeln verschwand und machte einem bekümmerten Gesichtsausdruck Platz.
«Die Polizei war heute hier«, sagte sie. Eine Art Schauer packte sie, und ihr Atmen wurde mühsamer. Sie bekam keine Luft durch die Nase, deshalb hörte man die Veränderung an dem Rasseln in ihrer Kehle.
«Sie sind hierhergekommen?«fragte ich.
«Ja. Sie haben gesagt… O Gott…«Ihre Brust hob und senkte sich und sie hustete.
Ich legte meine Hand flach auf die ihre über der Decke und sagte eindringlich:»Regen Sie sich nicht auf. Dann tut alles noch viel mehr weh. Atmen Sie dreimal tief durch. Oder vier- oder fünfmal. Reden Sie erst wieder, wenn Sie sich beruhigt haben.«
Sie lag eine Weile ruhig da, bis die Atemnot sich legte. Ich sah, wie sich ihre angespannten Muskeln unter der
Decke entspannten, und schließlich sagte sie:»Sie sind viel älter als Steve.«
«Acht Jahre«, bestätigte ich und ließ ihre Hand los.
«Nein. Viel… viel älter. «Es entstand eine Pause.»Können Sie mir etwas Wasser geben?«
Auf dem Schränkchen neben ihrem Bett stand ein Glas. Im Glas war Wasser und ein abgewinkelter Trinkhalm. Ich steckte ihr den Halm in den Mund, und sie sog ein paar Zentimeter aus dem Glas.
«Danke. «Wieder eine Pause, dann versuchte sie es noch einmal, diesmal ruhiger.»Die Polizei hat… die Polizei hat gesagt, es war Brandstiftung.«
«Tatsächlich?«
«Sie sind. nicht überrascht?«
«Nach zwei Einbrüchen… nein.«
«Paraffin«, sagte sie.»Zwanzig-Liter-Faß. Die Polizei hat es in der Diele gefunden.«
«War das Paraffin von Ihnen?«
«Nein.«
Wieder eine Pause.
«Die Polizei hat gefragt… ob George Feinde hatte. «Sie bewegte ruhelos den Kopf.»Ich habe gesagt, natürlich nicht. und sie haben gefragt. ob er irgendwas besaß, was jemand so. so dringend. haben wollte. oh.«
«Mrs. Millace«, sagte ich sachlich,»haben sie gefragt, ob George irgendwelche Fotos hatte, für die sich ein Einbruch oder eine Brandstiftung lohnte?«
«George hätte nie…«, sagte sie mit Nachdruck.
George hatte sehr wohl, dachte ich.
«Hören Sie«, sagte ich langsam,»es ist Ihnen vielleicht nicht recht. Sie trauen mir vielleicht nicht. aber wenn Sie wollen, könnte ich diese Dias für Sie durchsehen und Ihnen sagen, ob meiner Meinung nach welche dabei sind, die vielleicht in die Kategorie fallen, von der wir reden.«
Nach einer Weile sagte sie nur:»Heute abend?«
«Ja, natürlich. Und wenn alles in Ordnung ist, können Sie der Polizei von ihrer Existenz erzählen. wenn Sie wollen.«
«George ist kein Erpresser«, sagte sie. Aus dem geschwollenen Mund klangen die Worte seltsam verkehrt, wurden aber mit Leidenschaft vorgebracht. Sie sagte nicht:»Ich will einfach nicht glauben, daß George jemanden erpressen konnte«, sondern» George hat es nicht getan«. Trotzdem war sie sich nicht so sicher gewesen, daß sie die Dias der Polizei übergeben hatte. Sicher, aber doch wieder nicht sicher. Gefühlsmäßig sicher. Verstandesmäßig unsicher. Auf eine unsinnige Art, die Sinn ergab. Ihr blieb kaum mehr als ihr instinktiver Glaube. Ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, daß dieser Glaube unangebracht war.
Ich holte die drei Metallkassetten von der Nachbarin, der man offenbar erzählt hatte, daß sie einigen Krimskrams enthielten, den die Einbrecher übersehen hatten, und sie führte mich in den verkohlten Überresten auf dem Nachbargrundstück herum.
Sogar im Dunkeln konnte man sehen, daß da nichts zu retten war. Zwanzig Liter Paraffin hatten ordentliche Arbeit geleistet. Das Haus war nur noch ein Mauergerüst, ohne Dach, ohne Fenster, das Gebälk knackte und verströmte einen beißenden Geruch. Und zu diesem brutal zerstörten Nest mußte Marie zurückkehren.
Ich fuhr mit Georges Lebenswerk nach Hause und verbrachte den Rest des Abends und die halbe Nacht damit, Dias an die glatte weiße Wand des Wohnzimmers zu projizieren.
Sein Talent war umwerfend gewesen. Während ich seine gesammelten Bilder betrachtete, eins nach dem andern und nicht über Jahre verstreut in Büchern und Zeitschriften, staunte ich ununterbrochen über seinen schnellen, treffenden Blick. Er hatte das Leben ein ums andere Mal genau in dem Moment eingefangen, den ein Maler komponiert hätte: nichts fehlte, nichts störte. Ein absoluter Meister.
Seine besten Fotos von der Rennbahn waren dabei, einige in Farbe, andere schwarzweiß, aber auch mehrere atemberaubende Serien, mit überraschenden Themen wie Kartenspieler, Alkoholiker, Giraffen, Bildhauer bei der Arbeit und heiße Sonntage in New York. Diese Serien reichten fast bis in Georges Jugend zurück, auf jedem Rähmchen war in winzigen, federfeinen Buchstaben Datum und Ort notiert.
Es gab dutzendweise Porträtaufnahmen, einige im Studio gestellt, die meisten nicht. Wieder und wieder hatte er den flüchtigen Ausdruck eingefangen, der die Seele offenbart. Vielleicht hatte er ursprünglich zwanzig Aufnahmen gemacht, um nur eine zu behalten, aber davon war jede einzelne atemberaubend.
Bilder aus Frankreich, Paris, St. Tropez, Fahrradrennen, Fischerhäfen. Keine Bilder von Leuten, die vor einem Cafe saßen und mit jemandem sprachen, mit dem sie nicht sprechen sollten.
Als ich am Ende der dritten Kassette angelangt war, überlegte ich eine Weile, was George nicht fotografiert oder jedenfalls nicht aufgehoben hatte.
Kein Krieg. Keine Unruhen. Keine Schreckensbilder. Keine verstümmelten Leichen, keine hungernden Kinder oder Hinrichtungen oder in die Luft gesprengten Autos.
Die Botschaft, die ich stundenlang von meiner Wand empfangen hatte, bestand in einer ironischen Entblößung des Wesens unter der Oberfläche. Und vielleicht hatte George das Gefühl gehabt, daß die äußerliche Ironie der Gewalt ihm keine Ausdrucksmöglichkeit ließ.
Mir war zutiefst bewußt, daß ich die Welt nie wieder mit den gleichen Augen sehen würde wie zuvor: daß Georges durchdringende Sicht der Dinge sich, wenn ich es am wenigsten erwartete, aufdrängen und mich in die Rippen knuffen würde. Aber Mitleid hatte George nicht gekannt. Die Bilder waren brillant. Objektiv, aufregend, phantasievoll und entlarvend; aber kein einziges war wohlwollend.
Und soweit ich es beurteilen konnte, war auch kein einziges in irgendeiner Weise als Material für eine Erpressung geeignet.
Am Morgen rief ich Marie Millace an und erzählte ihr das. Die Erleichterung in ihrer Stimme verriet, daß sie Zweifel gehabt hatte, und sie bemerkte es selbst und versuchte, es schnell zu vertuschen.
«Ich wußte natürlich, daß George niemals…«, sagte sie.
«Natürlich«, sagte ich.»Was soll ich mit den Bildern machen?«
«Ach Gott, das weiß ich nicht. Es wird sie ja nun wohl keiner mehr stehlen wollen, oder?«Die murmelnde Stimme war durchs Telefon noch undeutlicher zu verstehen.»Was würden Sie vorschlagen?«
«Na ja«, sagte ich.»Sie können wohl nicht gerade per Zeitungsanzeige verkünden, daß Georges Bilder zwar noch existieren, sich aber niemand bedroht fühlen muß. Deshalb glaube ich schon, daß sie immer noch gefährdet sein könnten.«
«Aber das heißt ja. das heißt ja.«
«Es tut mir schrecklich leid. Aber das heißt, daß ich der Polizei recht gebe. Daß George irgend etwas hatte, was jemand mit aller Gewalt vernichten wollte. Aber machen Sie sich bitte keine Sorgen. Bitte nicht. Was immer es war, es ist wahrscheinlich mit dem Haus verschwunden… und alles ist überstanden. «Und Gott möge mir verzeihen, dachte ich.
«O Gott… George hat doch nicht… ich weiß, daß er nicht.«
Ich konnte am Geräusch ihres Atems hören, daß ihre Verzweiflung wieder zunahm.
«Hören Sie«, sagte ich,»wegen der Dias. Hören Sie zu?«
«Ja.«
«Ich glaube, es wäre fürs erste am sinnvollsten, sie irgendwo kühl aufzubewahren. Wenn Sie sich dann besser fühlen, können Sie einen Agenten suchen, der eine Ausstellung von Georges Werk veranstaltet. Die Sammlung ist großartig, glauben Sie mir. Eine Ausstellung würde sein Talent würdigen und Ihnen ein bißchen Geld einbringen. und außerdem jeden, der sich vielleicht Sorgen macht, davon überzeugen, daß es nichts gibt, was Anlaß zur. ähm. Sorge sein könnte.«
Es entstand Schweigen, aber ich wußte, daß sie noch an der Leitung war, weil ich ihren Atem hörte.
«George hat nie mit einem Agenten zusammengearbeitet«, sagte sie schließlich.»Wie soll ich einen finden?«
«Ich kenne ein paar. Ich könnte Ihnen die Namen geben.«
«Ach so. «Sie klang schwach, und wieder entstand eine lange Pause. Dann sagte sie:»Ich weiß. daß ich viel verlange… aber könnten Sie… die Dias aufbewahren? Ich würde ja Steve bitten… aber Sie scheinen zu wissen. was zu tun ist.«
Ich erklärte mich bereit, und als wir aufgelegt hatten, wickelte ich die drei Kassetten in ihre Plastikfolien und brachte sie zum örtlichen Fleischer, der bereits einen Kasten von mir in seinem Tiefkühlraum aufbewahrte. Er nahm die Extramieter freundlich auf, schlug eine annehmbare Miete vor und gab mir eine Quittung.
Wieder daheim, sah ich mir das Negativ und den Abzug von Elgin Yaxley im Gespräch mit Terence O’Tree an und fragte mich, was ich um Himmels willen damit anfangen sollte.
Wenn George von Elgin Yaxley den gesamten Profit aus der Affäre mit den erschossenen Pferden erpreßt hatte — und wegen Bart Underfields Trübsinnsanfall und Yaxleys Verschwinden aus der Rennszene sah es ganz danach aus —, dann war es mit Sicherheit Elgin Yaxley, der verzweifelt in den Besitz des Fotos gelangen wollte, bevor ein anderer ihm zuvorkam.
Wenn Elgin Yaxley die Einbrüche, die Prügel und die Brandstiftung zu verantworten hatte, mußte dann nicht Vergeltung folgen? Wenn ich das Foto mit den entsprechenden Erläuterungen der Polizei gab, hatte Elgin Yaxley gute Aussichten, der meisten Verbrechen aus dem Strafgesetzbuch beschuldigt zu werden, nicht zuletzt des Meineids und des Versicherungsbetrugs über 150000 Pfund.
Wenn ich der Polizei das Foto gab, verkündete ich der Welt, daß George Millace ein Erpresser gewesen war.
Ich überlegte, was Marie Millace lieber wäre: nie zu erfahren, wer sie überfallen hatte, oder definitiv zu wissen, daß George ein Schurke war… wobei alle anderen es ebenfalls wüßten.
Die Antwort stand ohne Zweifel fest.
Was Paragraphengerechtigkeit anging, hatte ich keine Skrupel. Ich legte das Negativ dorthin zurück, wo ich es herhatte, in den Umschlag, der auf der Rückseite des schwarzen Abzugs in dem Aktendeckel klebte. Ich legte den Aktendeckel zurück in die Abfallschachtel, die immer noch auf der Anrichte in der Küche stand, und steckte die scharfe Vergrößerung, die ich gemacht hatte, in einen Aktendeckel in dem Aktenschrank in der Diele.
Niemand wußte, daß diese Dinge in meinem Besitz waren. Niemand würde hier danach suchen. Niemand würde in mein Haus einbrechen oder mich zusammenschlagen. Von jetzt an würde nichts mehr passieren.
Ich verschloß mein Haus und fuhr zur Rennbahn, um Tishoo und Sharpener zu reiten und mir über das andere dornige Problem den Kopf zu zermartern: Victor Briggs.