Ich lief eine Weile durch die Gegend, um einen ganz bestimmten Ex-Jockey zu finden, der einer der Hauptverwalter des Fonds war, und spürte ihn schließlich in der Gästeloge einer Fernsehgesellschaft auf. Dort herrschte großes Gedränge, aber ich konnte ihn loseisen.
«Drink gefällig?«sagte er und hob sein Glas.
Ich schüttelte den Kopf. Ich trug Rennfarben, Reithose, Stiefel und Anorak.»Ich bin doch nicht lebensmüde und sauf vor dem Rennen mit euch.«
Er sagte freundlich:»Was kann ich für dich tun?«
«Einen Scheck entgegennehmen«, sagte ich und übergab ihn ihm.
«Puh«, sagte er einen Blick darauf werfend.»Oder besser gesagt, Donnerwetter.«
«Ist Elgin Yaxley zum ersten Mal so großzügig?«
«Nein«, sagte er.»Er hat uns vor ein paar Monaten zehntausend gegeben, kurz bevor er nach Übersee gegangen ist. Wir haben natürlich angenommen, aber einige der Treuhänder haben sich gefragt, ob er nicht vielleicht mit dem Geld sein Gewissen beschwichtigen wollte. Ich meine… die Versicherung hatte ihm gerade hunderttausend ausgezahlt für seine Pferde, die erschossen wurden. Die ganze Geschichte hat ja verdammt faul ausgesehen.«
«Mhm. «Ich nickte.»Tja… Elgin Yaxley sagt, daß er das Land wieder verläßt, und er hat mir den Scheck für euch übergeben. Nimmst du ihn an?«
Er lächelte.»Wenn sein Gewissen ihn wieder plagt, können wir ruhig wieder davon profitieren. «Er faltete den Scheck, steckte ihn ein und klopfte auf die Tasche, in der er sich befand.
«Hast du schon öfter solche hohen Schecks bekommen?«erkundigte ich mich beiläufig.
«Manchmal hinterläßt jemand eine große Summe in seinem Testament, aber nicht. nicht soviel wie Elgin Yaxley.«
«Ist Ivor den Relgan zufällig ein großer Spender?«
«Na ja, er hat uns zu Beginn der Saison tausend gegeben. Irgendwann im September. Sehr großzügig.«
Ich überlegte.»Führt ihr Buch über die Leute, die spenden?«
Er lachte.»Nicht über alle. Tausende von Leuten spenden im Laufe der Jahre. Rentner, Kinder, Hausfrauen. Alle nur erdenklichen Leute. «Er seufzte.»Wir scheinen nie genug zu haben für das, was wir tun müssen, aber wir sind stets für jede noch so kleine Unterstützung dankbar… Aber das weißt du doch alles.«
«Ja. Trotzdem vielen Dank.«
«Nichts zu danken.«
Er ging zu der munteren Gesellschaft zurück, und ich ging zum Waageraum und ließ mich und meinen Sattel für das letzte Rennen wiegen.
Ich war genauso schlimm wie George, dachte ich. Haargenau so schlimm. Ich hatte mittels Drohung Geld erpreßt. Es erschien mir gar nicht mehr so gemein, nachdem ich es selbst getan hatte.
Harold sagte im Führring scharf:»Du wirkst verdammt zufrieden mit dir selbst.«
«Nur mit dem Leben im allgemeinen.«
Ich hatte einen Sieger geritten. Ich hatte mit ziemlicher Sicherheit Amanda gefunden. Ich hatte erheblich mehr über George herausgefunden. Ich hatte zwar auch diverse Tritte und Schläge einstecken müssen, aber das war nicht der Rede wert. Alles in allem kein übler Tag.
«Das hier ist der Hurdler, der bei der Übungsrunde am letzten Samstag Mist gebaut hat. Ich weiß, daß du ihn nicht geritten hast. es war nicht deine Schuld. aber achte bloß darauf, daß er klar und deutlich sieht, wo er drüber muß. Klar? Setz dich an die Spitze und mach das Rennen, damit er freie Sicht hat. Er wird nicht die ganze Strecke durchhalten, aber es ist ein großes Feld, und ich will nicht, daß er gleich am Anfang von der Meute angerempelt wird und die Übersicht verliert. Kapiert?«
Ich nickte. Es gab dreiundzwanzig Teilnehmer, fast die zulässige Höchstzahl für diese Art von Rennen. Harolds Hurdler lief nervös im Führring herum und schwitzte jetzt schon vor Aufregung, und ich wußte aus Erfahrung, daß es ein Tier war, an das man besänftigend und ruhig herangehen mußte.
«Jockeys, bitte aufsitzen«, ertönte die Ansage, und der Hurdler und ich kamen einigermaßen ruhig zusammen und zum Start.
Ich stellte mich darauf ein, mich an die Spitze zu setzen, weg aus der Gefahrenzone, und als das Band hochflog, flitzten wir los. Über das erste Hindernis, in Führung wie befohlen; guter Sprung, kein Problem. Über das zweite
Hindernis, knapp in Führung; passabler Sprung, kein Problem. Über das dritte.
In Führung, wie befohlen, beim dritten. Miserabler, katastrophaler Sprung, alle vier Beine schienen sich im Hindernis zu verfangen, statt darüber hinwegzusetzen, genau der gleiche Mist, den er am Übungshindernis zu Hause angerichtet hatte.
Wir krachten zusammen auf die Bahn, und zweiundzwanzig Pferde setzten nach uns über das Hindernis.
Pferde bemühen sich nach Kräften, nicht auf am Boden liegende Menschen oder Pferde zu treten, aber bei so vielen, die so dicht gedrängt und so schnell waren, wäre es ein Wunder gewesen, wenn mich keins erwischt hätte. Man konnte in solchen Fällen nie sagen, wie viele galoppierende Hufe einen trafen, dazu ging es immer viel zu schnell. Man kam sich vor wie eine Puppe, die unter eine wildgewordene Herde geraten ist.
So etwas war mir schon öfters passiert. Es würde auch in Zukunft passieren. Ich lag schmerzverkrümmt auf der Seite, starrte auf ein Grasbüschel vor meiner Nase und dachte, daß das eine verdammt alberne Art war, sich seine Brötchen zu verdienen.
Ich mußte fast lachen. Ich hatte diesen Gedanken schon öfter gehabt, dachte ich. Jedesmal, wenn ich so im Dreck lag, ging er mir durch den Kopf.
Die Erste Hilfe rückte an, und viele Hände halfen mir auf. Offenbar nichts gebrochen. Dem Himmel sei Dank für starke Knochen. Ich schlang die Arme um meinen Körper, als könnte eine Umarmung meine Schmerzen lindern.
Das Pferd war aufgestanden und hatte sich unverletzt davongemacht. Ich fuhr in einem Krankenwagen zur Tribüne zurück, demonstrierte dem Arzt, daß ich im großen und ganzen intakt war, und quälte mich langsam in meine Straßenkleidung.
Als ich aus dem Waageraum kam, waren die Leute schon nach Hause gegangen, aber Harold stand noch da, zusammen mit Ben, seinem ersten Pferdepfleger.
«Ist alles in Ordnung?«wollte Harold wissen.
«Klar.«
«Ich fahr dich nach Hause«, sagte er.»Ben kann deinen Wagen fahren.«
Ich sah die große Sorge in beiden Gesichtern und protestierte nicht dagegen. Langte in meine Tasche und gab Ben meine Schlüssel.
«Das war ein verdammt übler Sturz«, sagte Harold, als wir zum Tor hinausfuhren.»Echt brutal.«
«Mhm.«
«Ich war froh, wie du wieder aufgestanden bist.«
«Ist das Pferd o.k.?«
«Ja, das blöde Mistvieh.«
Wir fuhren in angenehmem Schweigen Richtung Lam-bourn. Ich fühlte mich völlig zerschlagen und zittrig, aber das würde vorübergehen. Es ging immer vorüber und würde auch in Zukunft vorübergehen, bis ich zu alt dafür war. Bevor mein Körper aufgab, würde ich innerlich zu alt dafür sein, dachte ich.
«Sagst du mir Bescheid, wenn Victor Briggs wieder mal herkommt?«sagte ich.
Er sah mich von der Seite an.»Du willst ihn sprechen? Hat doch sowieso keinen Sinn. Victor macht, was er will.«»Ich will wissen… was er will.«
«Warum läßt du’s nicht einfach gut sein?«
«Weil es nicht gut ist. Ich hab’s versucht… es geht nicht. Ich will mit ihm reden… und keine Bange. Ich geh diplomatisch vor. Ich will den Job nicht verlieren. Ich will nicht, daß du Victors Pferde verlierst. Keine Bange. Mir ist das alles klar. Ich will mit ihm reden.«
«Na schön«, sagte Harold zweifelnd.»Wenn er auftaucht, sag ich dir Bescheid.«
Er hielt vor meiner Haustür.
«Bist du wirklich soweit o.k.?«sagte er.»Du siehst ganz schön durchgeschüttelt aus. häßlicher Sturz. Schrecklich.«
«Ich werd ein heißes Bad nehmen… das löst die Verspannung. Danke fürs Heimbringen.«
«Meinst du, du bist nächste Woche wieder fit? Dienstag in Plumpton?«
«Ganz sicher«, sagte ich.
Es wurde bereits dunkel. Ich ging durchs Haus, zog die Vorhänge zu, knipste das Licht an, setzte Kaffee auf. Bad, Essen, Fernsehen, Aspirin, Bett, dachte ich, und beten, daß ich mich am nächsten Morgen nicht zu zerschlagen fühlen würde.
Ben parkte mein Auto auf dem Abstellplatz, gab mir die Schlüssel durch die Hintertür und sagte gute Nacht.
Mrs. Jackson, die Frau des Pferdetransportfahrers von nebenan, kam herüber, um mir zu sagen, daß ein Steuerbeamter dagewesen sei.
«Ach ja?«sagte ich.
«Ja. Gestern. Ich hoffe, es ist Ihnen recht, daß ich ihn reingelassen hab, oder? Aber keine Sorge, Mr. Nore, ich hab ihn nicht aus den Augen gelassen. Ich hab nämlich mit ihm die Runde gemacht. Er war nur fünf Minuten hier drin. Hat nichts angerührt. Nur die Zimmer gezählt. Ist doch in Ordnung, oder? Hat Papiere vom Amt gehabt.«
«Es hat sicher alles seine Ordnung, Mrs. Jackson.«
«Und Ihr Telefon«, sagte sie.»Es hat dauernd geklingelt, x-mal. Ich hör das nämlich durch die Wand, wenn alles ruhig ist. Ich wußte nicht, ob Sie wollen, daß ich rangehe. Ich mach das gern, jederzeit, wenn Sie wollen.«
«Nett von Ihnen«, sagte ich.»Ich sag Ihnen Bescheid, wenn’s nötig ist.«
Sie nickte mir strahlend zu und ging. Sie würde mich liebend gern bemuttern, wenn ich sie ließe, und sie hatte den Steuerbeamten sicher mit Freuden eingelassen, da sie sich gern in meinem Haus umsah. Neugierige, freundliche, adleräugige Nachbarin, die Päckchen entgegennahm und stets mit Klatsch und Tratsch und Ratschlägen zur Stelle war. Ihre zwei Jungs hatten einmal mit ihrem Fußball mein Küchenfenster kaputtgeschossen.
Ich rief Jeremy Folk an. Er war außer Haus, ob ich eine Nachricht hinterlassen wolle? Richten Sie ihm aus, daß ich gefunden habe, was wir gesucht haben, sagte ich.
In dem Moment, als ich den Hörer auflegte, klingelte das Telefon. Ich nahm wieder ab und hörte eine atemlose Kinderstimme:»Ich kann Ihnen sagen, wo der Reitstall ist. Bin ich die erste?«
Ich mußte bedauernd verneinen. In den nächsten zwei Stunden mußte ich die traurige Nachricht noch zehn anderen Kindern mitteilen. Einige davon fragten enttäuscht nach, ob ich auch wirklich die richtige Auskunft bekommen hatte — >Zephyr Farm Und einige erkundigten sich, ob ich wüßte, daß der Hof schon seit Jahren irgendwelchen religiösen Spinnern gehöre. Ich fragte sie, ob sie wüßten, wie die >Auserwählten< an den Hof gekommen seien, und kam schließlich an einen Vater, der es wußte.
«Wir waren mit den Leuten, die die Reitschule hatten, befreundet«, sagte er.»Sie wollten nach Devon umziehen und suchten nach einem Käufer für den Hof, und diese Fanatiker sind einfach eines Tages mit Koffern voller Geld aufgetaucht und haben das Anwesen auf der Stelle gekauft.«
«Wie haben die Fanatiker denn davon erfahren? War der Hof inseriert?«
«Nein…«Er dachte nach.»Ach, jetzt fällt es mir wieder ein. Durch eins von den Kindern, die die Ponys geritten haben. Ja, richtig. Süßes kleines Mädchen. Mandy Soundso. War immer da. Die Kleine hat oft wochenlang bei unseren Freunden gewohnt. Ich habe sie oft gesehen. Da war irgendwas mit ihrer Mutter, ich glaube, sie lag im Sterben, und dieser religiöse Verein hat sich um sie gekümmert. Durch die Mutter haben sie gehört, daß der Reitstall zum Verkauf stand. Sie haben damals in irgendeiner Ruine gewohnt, glaube ich, und wollten was Besseres.«
«Sie erinnern sich nicht zufällig an den Namen der Mutter?«
«Nein, leider nicht. Ich glaube, ich habe ihn nie gewußt, und nach all den Jahren.«
«Sie haben mir außerordentlich geholfen«, sagte ich.»Ich werde Ihrem Peter die zehn Pfund schicken, obwohl er nicht der erste war.«
Der Vater kicherte.»Da wird er sich freuen.«
Ich ließ mir seine Adresse und auch den Namen der Leute geben, denen der Hof gehört hatte, aber Peters Vater sagte, daß er über die Jahre den Kontakt verloren hatte und nicht mehr wußte, wo sie lebten.
Jeremy konnte sie ausfindig machen, dachte ich, falls es nötig war. Nachdem ich gebadet und gegessen hatte, nahm ich das Telefon aus der Küche mit nach oben und stöpselte es im Wohnzimmer ein, wo es mich eine weitere Stunde lang beim Fernsehen störte. Gott segne die kleinen Kinder, dachte ich und fragte mich, wieviel tausend wohl noch anrufen würden. Kein Kind war je hinter der hohen Holzbarrikade gewesen, es waren immer die Mütter und Väter, die in jungen Jahren dort geritten waren.
Um neun Uhr hatte ich gründlich die Nase voll davon. Trotz des langen heißen Einweichens versteiften sich meine schwer geprellten Muskeln allmählich, und der beste Platz für meine geschundenen Glieder war das Bett. Da mußt du durch, dachte ich. Ich würde mich lausig fühlen. Das war immer so, für etwa vierundzwanzig Stunden, nach so vielen Tritten. Wenn ich ins Bett ging, konnte ich das Schlimmste verschlafen.
Ich zog den Telefonstecker heraus und ging in Hemdsärmeln runter ins Badezimmer, um mir die Zähne zu putzen; da klingelte es an der Haustür.
Fluchend ging ich nachsehen, wer da war.
Öffnete die Tür.
Vor mir stand Ivor den Relgan mit einer Pistole in der Hand.
Ich starrte fassungslos auf die Waffe.
«Zurück«, sagte er.»Ich komme rein.«
Es wäre glatt gelogen, wenn ich behaupten würde, daß ich keine Angst hatte. Ich war sicher, daß er mich töten würde. Ich fühlte mich körperlos. Schwebend. Mein Blut raste.
Zum zweiten Mal an diesem Tag blickte mir der blanke Haß entgegen, und verglichen mit dem von den Relgan war der von Elgin Yaxley bloße Gereiztheit gewesen.
Er scheuchte mich mit der tödlichen schwarzen Waffe zurück, und ich machte ein paar Schritte rückwärts, fast ohne meine Füße zu spüren.
Er trat durch meine Haustür und stieß sie mit dem Fuß hinter sich zu.
«Sie werden bezahlen«, sagte er,»für das, was Sie mir angetan haben.«
Seien Sie vorsichtig, hatte Jeremy gesagt.
Ich war es nicht gewesen.
«George Millace war übel«, sagte er.»Sie sind schlimmer.«
Ich war mir nicht sicher, ob ich überhaupt in der Lage sein würde zu sprechen, aber ich versuchte es. Meine Stimme klang sonderbar, fast piepsig.
«Haben Sie…«, sagte ich,»… sein Haus angesteckt?«
Sein Blick flackerte. Sein von Natur aus arroganter Gesichtsausdruck, der überstanden hatte, was immer Lord White ihm gesagt haben mochte, war durch irgendwelche sinnlosen Fragen in letzter Minute nicht zu erschüttern. Seine Notlage hatte seine Überheblichkeit eher noch gesteigert, als wäre der Glaube an seine eigene Bedeutung das einzige, was ihm geblieben war.
«Eingebrochen, verwüstet, abgebrannt«, sagte er voller
Wut,»und die ganze Zeit hatten Sie das Zeug… Sie falsche Schlange.«
Ich hatte das Fundament seiner Macht zerstört. Ihm seine Autorität geraubt. Nun stand er buchstäblich so nackt da wie auf dem Balkon in St. Tropez.
George mußte die Bilder als Druckmittel benutzt haben, um zu bewirken, daß den Relgan aufhörte, sich an den Jockey Club heranzumachen. Ich hatte sie dazu benutzt, daß man ihn hinauswarf.
Er hatte sich in den Augen der Rennleute etwas Ansehen verschafft, Vertrauen erworben. Jetzt hatte er alles verloren. Nicht drin zu sein war eine Sache, aber drin zu sein und dann wieder draußen, war etwas ganz anderes.
George hatte die Bilder niemandem außer den Relgan gezeigt.
Ich schon.
«Zurück«, sagte er.»Da rüber. Wird’s bald.«
Er wedelte mit der Pistole. Eine Automatic. Blöder Gedanke. Spielte keine Rolle.
«Meine Nachbarn werden den Schuß hören«, sagte ich hoffnungslos.
Er grinste spöttisch und sagte nichts.»Zurück, an der Tür da vorbei.«
Es war die Tür zur Dunkelkammer. Fest geschlossen. Selbst wenn ich lebendig da reinspringen konnte. keine Rettung. Kein Schloß. Ich ging daran vorbei.
«Halt«, sagte er.
Ich mußte rennen, dachte ich wild. Mußte es wenigstens versuchen. Ich drehte mich bereits auf dem Ballen eines Fußes, als krachend die Küchentür aufflog.
Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, den Relgan hätte mich verfehlt, und die Kugel hätte irgendwelches Glas zertrümmert, aber dann ging mir auf, daß er gar nicht geschossen hatte. Durch die Hintertür kamen Leute ins Haus. Zwei Leute. Zwei übereifrige, kräftige junge Männer. mit Strumpfmasken.
Sie hatten es sehr eilig, prallten gegeneinander, schnell, gierig, voller Zerstörungswut.
Ich versuchte, mich zur Wehr zu setzen.
Ich versuchte es.
Allmächtiger Gott, dachte ich, nicht dreimal am Tag. Wie konnte ich es ihnen klarmachen. Es waren schon genug Adern geplatzt und bluteten unter der Haut… schon zu viele Muskelfasern gequetscht und zerrissen… schon zuviel Schaden angerichtet. Wie konnte ich das erklären. und wenn, hätte es doch nichts genützt. Sie eher noch gefreut.
Gedanken zerstreuten sich und verflogen. Ich konnte nicht sehen, nicht schreien, kaum atmen. Sie trugen rauhe Lederhandschuhe, die mir die Haut aufrissen, und die Schläge in mein Gesicht raubten mir die Sinne. Als ich zu Boden ging, benutzten sie ihre Stiefel. Gegen Glieder, Rücken, Magen, Kopf.
Ich trat vollends weg.
Als ich wieder zu mir kam, war alles ruhig. Ich lag auf dem weißen Fliesenboden, die Wange in einer Blutlache. Ich fragte mich umnebelt, wessen Blut es war. Trat wieder weg.
Es ist mein Blut, dachte ich.
Versuchte, die Augen zu öffnen. Irgendwas nicht in
Ordnung mit den Augenlidern. Wenn schon, dachte ich, ich lebe — und trat wieder weg.
Er hat nicht auf mich geschossen, dachte ich. Hat er auf mich geschossen? Ich versuchte, mich zu bewegen, um es herauszufinden. Übler Fehler.
Als ich versuchte, mich zu bewegen, versteifte sich mein ganzer Körper, verspannte sich von Kopf bis Fuß in einem gewaltigen Krampf. Die vernichtende, unerwartete Schmerzensqual raubte mir den Atem. Schlimmer als ein Bruch, schlimmer als ausgekugelte Gelenke, schlimmer als alles andere.
Meine Nerven schreien, dachte ich. Fordern mein Gehirn auf abzuschalten. Meldeten, daß zuviel verletzt war, zuviel zerstört, nichts sich bewegen durfte. Zuviel blutete in meinem Innern.
Herr im Himmel, dachte ich, laß mich, hör auf. Ich bewege mich schon nicht. Ich bleibe einfach hier liegen.
Nach langer Zeit löste sich der Krampf, und ich lag erleichtert da, ein kraftloser Haufen. Zu nichts in der Lage als zu beten, daß der Krampf nicht zurückkam. Zu zerschlagen, um einen vernünftigen Gedanken fassen zu können.
Auf die Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, hätte ich gut und gern verzichten können. Gedanken an Menschen, die an der Verletzung innerer Organe starben… Niere, Leber, Milz. Gedanken daran, wie schwer es mich eigentlich erwischt hatte, daß die Reaktion so heftig ausfiel. Gedanken daran, daß den Relgan zurückkäme, um seinen Job zu Ende zu bringen.
Den Relgans Weltbürgerstimme:»Sie werden für das bezahlen, was Sie mir angetan haben.«
Bezahlen mit Fleischwunden, inneren Blutungen und grauenhaften Schmerzen. Bezahlen mit der Angst, daß ich hier im Sterben lag. Innerlich verblutend. Wie Leute eben starben, die man zu Tode geprügelt hatte.
Jahre vergingen.
Wenn irgendein inneres Organ verletzt war, dachte ich. Leber, Niere, Milz. und blutete, müßte sich das irgendwie bemerkbar machen: flacher Atem, flatternder Puls, Durst, Unruhe, Schweiß. Nichts davon schien einzutreten.
Nach einiger Zeit faßte ich Mut, in dem Bewußtsein, daß es zumindest nicht schlimmer wurde. Vielleicht konnte ich mich sachte und vorsichtig bewegen.
Weit gefehlt. Wieder befiel mich der Starrkrampf, genauso schlimm wie zuvor.
Schon die Absicht, mich zu bewegen, hatte genügt. Schon die ausgesandte Botschaft. Sie wurde nicht in Bewegung umgesetzt, sondern in einen Krampf. Für meinen Körper war es wohl die beste Art der Verteidigung, aber ich konnte es kaum aushalten.
Es dauerte zu lange und ließ nur langsam nach, zögernd, als drohte es, zurückzukommen. Ich rühr mich nicht, versprach ich. Ich rühr mich nicht… nur hör auf… hör auf.
Die Lichter im Haus waren an, aber die Heizung war aus. Mir wurde sehr kalt, ich erstarrte buchstäblich. Kälte stoppt Blutungen, dachte ich. Kälte war nicht das Schlechteste. Kälte würde all die offenen Blutgefäße in meinem Innern verengen und das rote Zeug daran hindern herauszutröpfeln, an Stellen, wo es nicht hingehörte. Die inneren Blutungen würden gestoppt. Die Genesung konnte beginnen.
Ich lag stundenlang ruhig da und wartete. Verwundet, aber lebendig. Zunehmend sicher, daß ich Glück gehabt hatte.
Wenn ich nicht tödlich verletzt war, kam ich mit dem übrigen schon zurecht. Vertrautes Gebiet. Nervtötend, aber bekannt.
Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war. Konnte meine Uhr nicht sehen. Ob ich wohl meinen Arm bewegen kann, dachte ich. Nur meinen Arm. Das könnte ich schaffen, wenn ich vorsichtig war.
Es hörte sich einfach an. Der totale Krampf blieb aus, aber die gezielte Meldung an meinen Arm führte nur zu einem Zucken. Verrückt. Nichts funktionierte. Alle Leitungen blockiert.
Nach einer weiteren langen Pause versuchte ich es noch einmal. Versuchte es zu heftig. Der Krampf kam wieder, raubte mir den Atem, umklammerte mich wie ein Schraubstock, am schlimmsten jetzt im Magen, nicht so heftig in den Armen, aber starr, schrecklich, furchterregend, zu lange anhaltend.
Ich lag die ganze Nacht und weit in den Morgen hinein auf dem Boden. Die Blutlache unter meinem Kopf wurde klebrig und trocknete ein. Mein Gesicht fühlte sich an wie ein klumpig ausgestopftes Kissen. Mein Mund war voller Schnitte, die sich entzündet hatten, und mit der Zunge konnte ich die gezackten Ränder abgebrochener Zähne fühlen.
Schließlich hob ich den Kopf vom Boden.
Kein Krampf.
Ich lag im hinteren Teil der Diele, nicht weit von der
Treppe entfernt. Zu dumm, daß das Schlafzimmer oben war. Genau wie das Telefon. Ich könnte Hilfe herbeirufen. wenn ich die Treppe hinaufkäme.
Vorsichtig versuchte ich, mich zu bewegen, voller Angst vor den möglichen Folgen. Bewegte meine Arme, meine Beine, versuchte, mich aufzusetzen. Es ging nicht. Meine Schwäche war entsetzlich. Meine Muskeln zitterten. Ich schob mich ein paar Zentimeter über den Boden, halb im Liegen. Kam bis zur Treppe. Hüfte auf dem Dielenboden, Schulter auf den Stufen, Kopf auf den Stufen, Arme vor Schwäche versagend. der Krampf kam wieder.
Himmel nochmal, dachte ich, wie oft noch?
Eine Stunde später hatte ich es mit der Hüfte bis zur dritten Stufe geschafft und erstarrte wieder in einem Krampf. Weit genug, dachte ich dumpf. Nicht weiter. Es war auf jeden Fall bequemer, auf der Treppe zu liegen als auf dem Boden, solange ich stillhielt.
Ich hielt still. Dankbar, schwach, träge still. Eine Ewigkeit.
Jemand klingelte an der Haustür.
Wer es auch war, er war mir lästig. Wer es auch war, es würde bedeuten, daß ich mich bewegen mußte. Ich wollte keine Hilfe mehr, nur noch Ruhe und Frieden. Ruhe und Frieden würden mich wieder herstellen mit der Zeit.
Es klingelte noch einmal. Geh weg, dachte ich. Ich will allein sein.
Eine Zeitlang glaubte ich, mein Wunsch wäre in Erfüllung gegangen, aber dann hörte ich jemand hinterm Haus, der durch die Hintertür hereinkam. Die kaputte Hintertür, die auf die kleinste Berührung hin aufging.
Nicht den Relgan, dachte ich flehend. Bitte laß es nicht den Relgan sein. nicht er.
Er war es natürlich nicht. Es war Jeremy Folk.
Es war Jeremy Folk, der zögernd eintrat mit einem:»Ähm…«und» Sind Sie da…«und» Philip?«und wie vom Schlag getroffen stehenblieb, als er die Diele erreichte.
«Mein Gott«, sagte er fassungslos.
Ich sagte:»Hallo.«
«Philip.«. Er beugte sich über mich.»Ihr Gesicht.«
«Ja.«
«Was soll ich machen?«
«Nichts«, sagte ich.»Setzen Sie sich… auf die Treppe. «Meine Lippen und meine Zunge fühlten sich steif an. Wie bei Marie, dachte ich, genau wie bei Marie.
«Aber was ist passiert? Sind Sie beim Rennen gestürzt?«
Er setzte sich auf die unterste Stufe zu meinen Füßen, die Beine schlaksig angewinkelt.
«Aber… das Blut. Ihr ganzes Gesicht… ist völlig blutverschmiert. Ihre Haare. Alles.«
«Macht nichts«, sagte ich.»Es ist angetrocknet.«
«Können Sie sehen?«sagte er.»Ihre Augen sind…«Er stockte, hielt es für besser zu schweigen, wollte es mir lieber nicht sagen.
«Mit einem kann ich sehen«, sagte ich.»Das reicht. «Er wollte mich natürlich woanders hinbringen, das Blut abwaschen, möglichst einen Normalzustand herstellen. Ich wollte bleiben, wo ich war, ohne groß darüber zu diskutieren. Hoffnungsloser Wunsch. Ich konnte ihn nur dazu bringen, mich in Ruhe zu lassen, indem ich ihm von den
Krämpfen erzählte. Sein Entsetzen verstärkte sich.»Ich rufe einen Arzt.«
«Hören Sie bloß auf«, sagte ich.»Es geht schon. Reden Sie, wenn Sie wollen, aber tun Sie nichts.«
«Schön. «Er gab auf.»Wollen Sie etwas? Tee oder irgendwas?«
«Holen Sie Champagner. Im Küchenschrank. «Er sah mich an, als hielte er mich für übergeschnappt, aber Champagner war meiner Erfahrung nach das beste Mittel gegen fast alle Leiden. Ich hörte den Korken knallen, und dann kam er mit zwei Whiskygläsern zurück. Er stellte meins auf die Treppe links neben meinem Kopf.
Na schön, dachte ich. Ich mußte es darauf ankommen lassen. Irgendwann mußte ja Schluß sein mit den Krämpfen. Ich bewegte steif den Arm und schloß die Hand um das plumpe Glas und versuchte, das Ganze zu meinem Mund zu führen, und mir gelangen schließlich drei ordentliche Schlucke, bevor sich alles verkrampfte.
Diesmal war es Jeremy, der erschrak. Er nahm das Glas, das ich fallen ließ und kriegte das große Zittern, und ich sagte durch die Zähne:»Einfach abwarten. «Der Krampf löste sich schließlich, und ich dachte, daß er diesmal schon nicht mehr so lang und schlimm gewesen war und daß es wirklich langsam aufwärts ging.
Jemanden dazu zu bringen, einen in Ruhe zu lassen, kostet immer mehr Energie, als man darauf vergeuden will. Gute Freunde sind anstrengend. Ich war zwar dankbar für Jeremys Gesellschaft, aber ich wünschte, er würde aufhören, so ein Trara zu machen, und sich einfach ruhig verhalten.
Es klingelte wieder an der Haustür, und bevor ich ihn davon abhalten konnte, machte er auf. Mein Mut sank noch tiefer. Besuch war einfach zuviel.
Der Besuch war Clare, die kam, weil ich sie eingeladen hatte.
Sie kniete sich neben mich auf die Treppe und sagte:»Das war doch kein Sturz, oder? Da hat dich jemand übel zugerichtet, stimmt’s? Dich zusammengeschlagen.«
«Trink ein bißchen Champagner«, sagte ich.
«Ja, gut.«
Sie stand auf, holte ein Glas und stritt sich meinetwegen mit Jeremy.
«Wenn er auf der Treppe liegenbleiben will, dann lassen Sie ihn doch. Er war schon tausendmal verletzt. Er weiß, was am besten ist.«
Mein Gott, dachte ich. Ein Mädchen, das durchblickte. Unglaublich.
Jeremy und sie setzten sich in die Küche, machten sich gegenseitig bekannt und tranken meinen Schampus, und auf der Treppe ergaben sich Fortschritte. Kurzes versuchsweises Strecken verursachte keine Krämpfe. Ich trank etwas Champagner. Fühlte mich verwundet, aber weniger krank. Fühlte, daß ich in nicht allzu ferner Zukunft wieder sitzen konnte.
Es klingelte.
Eine Epidemie.
Clare ging durch die Diele, um zu öffnen. Ich war sicher, daß sie den Besucher, wer immer es war, auf der Schwelle festhalten wollte, aber es war unmöglich. Das Mädchen, das geklingelt hatte, ließ sich nicht an der Türschwelle zurückhalten. Sie setzte sich über Clares Protest hinweg und stürmte ins Haus; ich hörte ihre Absätze eilig durch die Diele auf mich zuklappern.
«Ich muß mich überzeugen, ich muß wissen, ob er noch lebt«, sagte sie verzweifelt.
Ich kannte ihre Stimme. Ich mußte das verzweifelte hübsche Gesicht nicht sehen, das nach mir Ausschau hielt, mich sah und vor Schreck erstarrte.
Dana den Relgan.